ser ins Gesicht und waschen uns. Der reine Luxus. Das
Wasser ist eher warm wie alles hier, aber wir können jetzt
nicht wählerisch sein.
Jetzt, wo wir nicht mehr an den Durst denken müssen,
merken wir, wie erschöpft wir sind, und treffen Vorberei-
tungen für die Nacht. Letztes Jahr habe ich nachts im-
mer versucht, meine Sachen zu packen für den Fall, dass
414
ich schnell verschwinden müsste. Diesmal gibt es keinen
Rucksack, den ich bereithalten könnte. Nur meine Waffen,
die ich sowieso immer festhalte. Der Zapfhahn fällt mir
ein und ich hole ihn aus dem Baumstamm. Ich befreie
eine kräftige Ranke von ihren Blättern, ziehe sie durch
die Röhre und binde den Zapfhahn sorgfältig an meinem
Gurt fest.
Finnick will als Erster Wache halten und ich lasse ihn.
Einer von uns beiden muss das übernehmen, bis es Peeta
wieder gut geht. Ich strecke mich in der Hütte neben Peeta
aus und sage Finnick, er soll mich wecken, wenn er müde
wird. Nach ein paar Stunden werde ich von etwas aus dem
Schlaf gerissen, das sich wie ein Glockenschlag anhört.
Dong! Dong! Es klingt nicht genauso wie die Glocke, die
an Neujahr im Justizgebäude läutet, aber doch so ähnlich,
dass ich das Geräusch erkenne. Peeta und Mags schlafen
einfach weiter, aber Finnick scheint genauso wachsam zu
sein wie ich. Die Glocke verstummt.
»Ich hab zwölf gezählt«, sagt er.
Ich nicke. Zwölf. Was bedeutet das? Ein Glockenschlag
für jeden Distrikt? Vielleicht. Aber warum? »Meinst du,
das hat was zu bedeuten?«
»Keine Ahnung«, sagt er.
Wir warten auf weitere Anweisungen, zum Beispiel eine
415
Nachricht von Claudius Templesmith. Eine Einladung
zu einem Festmahl. Das einzig Bemerkenswerte passiert
in weiter Ferne. Ein greller Blitz schlägt in einen hohen
Baum ein und dann bricht ein Gewitter los. Ich vermute,
das kündigt Regen an, eine Wasserquelle für alle, die kei-
nen so schlauen Mentor wie Haymitch haben.
»Leg dich schlafen, Finnick. Ich bin jetzt sowieso mit
der Wache dran«, sage ich.
Finnick zögert, aber niemand kann ewig wach bleiben.
Er legt sich an den Eingang der Hütte, einen Dreizack in
der Hand, und gleitet in einen unruhigen Schlaf.
Ich sitze mit Pfeil und Bogen da und schaue in den
Dschungel, der im Mondlicht gespenstisch bleich und
grün ist. Nach etwa einer Stunde lassen die Blitze nach.
Dann höre ich, wie der Regen einsetzt und ein paar Hun-
dert Meter entfernt auf die Blätter prasselt. Ich warte dar-
auf, dass er bis zu uns kommt, aber das passiert nicht.
Beim Donnern der Kanone zucke ich zusammen, wäh-
rend meine schlafenden Gefährten davon unbeeindruckt
bleiben. Es hat keinen Zweck, sie deswegen zu wecken.
Ein weiterer Sieger tot. Ich will nicht darüber nachdenken,
wer es sein mag.
Der undefinierbare Regen versiegt plötzlich, wie der
Sturm letztes Jahr in der Arena.
416
Wenige Augenblicke darauf sehe ich, wie aus der Rich-
tung, wo eben der Schauer fiel, ein Nebel leise heran-
schwebt. Eine ganz normale Reaktion, denke ich. Kühler
Regen auf dem heißen Boden. Der Nebel kommt gleichmä-
ßig näher. Kleine Zipfel schieben sich vor und formen sich
zu Krallen, als würden sie den Rest hinter sich herziehen.
Plötzlich stellen sich mir die Nackenhaare auf. Irgendet-
was stimmt nicht mit diesem Nebel. Er rollt zu gleichför-
mig heran, um natürlich zu sein. Und wenn er nicht na-
türlich ist …
Ein widerlich süßer Geruch dringt mir in die Nase,
und ich wende mich panisch den anderen zu, rufe, dass sie
aufwachen sollen.
In den paar Sekunden, die es braucht, sie zu wecken,
beginnt meine Haut Blasen zu werfen.
417
21 Kleine glühend heiße Stiche. Überall,
wo die Nebeltröpfchen meine Haut
berühren.
»Weg hier!«, schreie ich den anderen zu. »Schnell!«
Finnick ist sofort auf den Beinen, bereit, sich auf den
Feind zu stürzen. Als er die Nebelwand sieht und begreift,
wirft er sich die noch schlafende Mags über die Schulter
und rennt los. Peeta ist ebenfalls aufgestanden, aber noch
nicht ganz da. Ich packe ihn am Arm und ziehe ihn hinter
Finnick her durch den Dschungel.
»Was ist? Was ist?«, fragt er verwirrt.
»Irgendein Nebel. Giftgas. Schnell, Peeta!«, dränge
ich. Jetzt merke ich, dass die Folgen des Stromschlags
doch gewaltig sind, auch wenn Peeta das am Tag bestrit-
ten hat. Er ist langsam, viel langsamer als sonst. Und das
Gewirr aus Ranken und Gestrüpp, das mich manchmal
aus dem Gleichgewicht bringt, lässt ihn bei jedem Schritt
straucheln.
Ich drehe mich nach dem Nebel um, der sich wie ein
Wall in alle Richtungen erstreckt. Ein schrecklicher Im-
puls zu fliehen, Peeta im Stich zu lassen und meine eigene
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Haut zu retten, durchzuckt mich. Es wäre so leicht, blitz-
schnell wegzurennen, vielleicht sogar auf einen Baum zu
klettern, über die Nebelwand hinweg, die etwa zehn Me-
ter hoch ist. Genau das habe ich bei den letzten Spielen
getan, überlege ich, als die Mutationen auftauchten. Da
bin ich losgerannt und habe erst wieder an Peeta gedacht,
als ich das Füllhorn erreicht hatte. Diesmal bezwinge ich
meine Panik, und bleibe bei ihm. Diesmal geht es nicht
um mein Überleben, sondern um seins. Ich denke an die
Menschen in den Distrikten, die auf die Bildschirme star-
ren, darauf lauern, ob ich wegrenne, wie das Kapitol es
will, oder ob ich bleibe.
Ich verschränke meine Finger fest mit seinen und sage:
»Guck auf meine Füße. Versuch in meine Fußstapfen zu
treten.« Das hilft. So kommen wir ein wenig schneller vor-
an, allerdings nicht schnell genug, um eine Pause einlegen
zu können, der Nebel bleibt uns dicht auf den Fersen. Ein-
zelne Tröpfchen lösen sich aus den Schwaden. Sie brennen,
aber nicht wie Feuer. Es ist weniger heiß als schmerzhaft,
wenn die chemische Substanz auf die Haut trifft, sich fest-
beißt und durch die Hautschichten frisst. Unsere Overalls
helfen kein bisschen. Sie bieten so wenig Schutz, dass wir
ebenso gut in Seidenpapier eingepackt sein könnten.
Finnick, der zunächst losgestürmt war, bleibt stehen,
419
als er mitkriegt, dass wir in Schwierigkeiten stecken. Aber
hier geht es nicht darum, etwas zu bekämpfen, man kann
nur versuchen zu entkommen. Er ruft uns aufmunternde
Worte zu, bemüht sich, uns anzuspornen, und seine Stim-
me ist für uns ein Wegweiser, aber mehr auch nicht.
Peeta verfängt sich mit seinem künstlichen Bein in ei-
nem Knäuel aus Schlingpflanzen, und ehe ich ihn auffan-
gen kann, fällt er hin. Als ich ihm aufhelfe, bemerke ich
etwas, das noch beunruhigender ist als die Blasen, noch
bedrohlicher als die Verbrennungen. Seine linke Gesichts-
hälfte ist erschlafft, als wäre in den Muskeln kein Leben
mehr. Das Lid hängt herab und verdeckt fast sein Auge.
Sein Mund ist in einem merkwürdigen Winkel nach un-
ten verzerrt. »Peeta …«, sage ich. Und in diesem Moment
merke ich, wie ein Krampf meinen Arm durchzuckt.
Aus welchen chemischen Substanzen dieser Nebel auch
besteht, er brennt nicht nur, er zielt auf unsere Nerven.
Eine ganz neue Art von Angst durchfährt mich, und ich
zerre Peeta weiter, was nur dazu führt, dass er erneut stol-
pert. Als ich ihn wieder hochgezogen habe, zucken meine
Arme unkontrollierbar. Der Nebel ist jetzt ganz nah, we-
niger als einen Meter entfernt. Irgendetwas stimmt nicht
mit Peetas Beinen, er versucht zu gehen, aber sie bewegen
sich spastisch, marionettenhaft.
420
Irgendwie taumelt Peeta weiter, und da erst merke ich,
dass Finnick zurückgekommen ist und Peeta mitschleift.
Ich zwänge die eine Schulter, die ich offenbar noch in der
Gewalt habe, unter Peetas Arm und gebe mein Bestes, um
mit Finnicks schnellem Schritt mitzuhalten. Etwa zehn
Meter liegen zwischen uns und dem Nebel, als Finnick
stehen bleibt.
»Das bringt nichts. Ich muss ihn tragen. Kannst du
Mags nehmen?«, fragt er mich.
»Ja«, sage ich entschlossen, obwohl mir das Herz in die
Hose rutscht. Mags wiegt zwar höchstens dreißig Kilo,
aber ich bin auch nicht gerade kräftig. Trotzdem, ich habe
bestimmt schon Schwereres getragen. Wenn nur mei-
ne Arme nicht so wild zucken würden. Ich hocke mich
hin, und sie legt sich über meine Schulter, wie sie es auch
bei Finnick immer macht. Langsam strecke ich die Beine
und mit durchgedrückten Knien schaffe ich es. Finnick
trägt Peeta jetzt auf dem Rücken, und so gehen wir weiter,
Finnick vorneweg, ich in der Spur, die er uns durchs Ge-
strüpp bahnt.
Der Nebel schiebt sich näher heran, still und regelmä-
ßig und gleichförmig bis auf die greifenden Krallen. Wäh-
rend ich instinktiv wegrennen will, geht Finnick den Hü-
gel schräg hinunter. Er versucht das Gas auf Distanz zu
421
halten und zugleich das Wasser um das Füllhorn zu errei-
chen. Ja, Wasser, denke ich, während sich die Säuretropfen
tiefer in mich hineinbohren. Jetzt bin ich so dankbar, dass
ich Finnick nicht umgebracht habe, denn wie hätte ich
Peeta ohne ihn lebend hier rausbekommen? So dankbar,
dass jemand mir beisteht, wenn auch nur vorübergehend.
Mags kann nichts dafür, dass ich ins Straucheln gerate.
Sie versucht sich leicht zu machen, aber Tatsache ist, dass
ich so viel Gewicht nicht tragen kann. Zumal jetzt auch
noch mein rechtes Bein steif zu werden scheint. Die ersten
beiden Male rappele ich mich wieder auf, doch als ich das
dritte Mal hinfalle und wieder hochkommen will, spielt
mein Bein einfach nicht mehr mit. Es versagt und Mags
rollt vor mir auf die Erde. Ich rudere mit den Armen, ver-
suche mich an Ranken und Asten hochzuziehen.
Im Nu ist Finnick wieder bei mir, Peeta auf dem Rü-
cken. »Es hat keinen Zweck«, sage ich. »Kannst du sie bei-
de tragen? Geh nur weiter, ich hole euch schon ein.« Ein
etwas zweifelhafter Vorschlag, aber ich sage es mit aller
Zuversicht, die ich zustande bringe.
Ich sehe Finnicks Augen, grün im Mondlicht. Ich sehe
sie so klar wie den hellen Tag. Fast wie Katzenaugen, selt-
sam reflektierend. Vielleicht, weil Tränen darin glänzen.
»Nein«, sagt er. »Ich kann sie nicht beide tragen. Meine
422
Arme machen nicht mit.« Es stimmt. Seine Arme zucken
unkontrolliert an seinem Körper. Seine Hände sind leer.
Von seinen drei Dreizacken ist nur noch einer übrig und
den hält Peeta. »Es tut mir leid, Mags. Ich schaffe es nicht.«
Was dann passiert, geht so schnell und ist so sinnlos,
dass ich keine Chance habe, es zu verhindern. Mags rap-
pelt sich hoch, drückt Finnick einen Kuss auf die Lippen
und humpelt dann geradewegs in den Nebel hinein. So-
fort wird ihr Körper von wilden Zuckungen erfasst und in
einem schrecklichen Tanz fällt sie zu Boden.
Ich möchte schreien, doch meine Kehle brennt wie Feu-
er. Ich höre den Kanonenschuss und weiß, dass ihr Herz
aufgehört hat zu schlagen, dass sie tot ist, und doch mache
ich einen unsinnigen Schritt in ihre Richtung. »Finnick?«,
rufe ich heiser, aber er hat sich schon abgewandt und ent-
fernt sich von dem Nebel. Weil mir nichts Besseres ein-
fällt, taumele ich hinter ihm her, das unbrauchbare Bein
nachziehend.
Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung, während der
Nebel in mein Gehirn einzudringen scheint, mir die Ge-
danken verwirrt, alles unwirklich macht. Irgendein tief
verwurzelter Überlebenstrieb sorgt dafür, dass ich hinter
Finnick und Peeta herstolpere, mich weiterbewege, ob-
wohl ich wahrscheinlich schon halb tot bin. Teile von mir
423
sind tot oder jedenfalls im Begriff abzusterben. Und Mags
ist tot. Immerhin das weiß ich, oder vielleicht glaube ich
es auch nur zu wissen, denn das alles ist völlig widersinnig.
Mondlicht, das auf Finnicks bronzefarbenem Haar
schimmert, brennend heiße Tropfen wie Nadelstiche,
mein zu Holz gewordenes Bein. Ich gehe Finnick hinter-
her, bis er zusammenbricht, Peeta immer noch auf dem
Rücken. Ich kann einfach nicht anhalten und laufe weiter,
bis ich über ihre liegenden Körper stolpere und wir einen
einzigen Haufen bilden. Jetzt werden wir al e sterben, genau
so, denke ich. Doch das ist nur ein abstrakter Gedanke,
weit weniger beängstigend als die Schmerzen in meinem
Körper. Ich höre Finnick stöhnen und klettere irgendwie
von den anderen herunter. Ich sehe die Nebelwand, die
jetzt perlweiß aussieht. Vielleicht spielen meine Augen mir
einen Streich, oder es liegt am Mondlicht, aber der Nebel
scheint sich zu verwandeln. Ja, er wird dichter, als würde
er gegen eine Glasscheibe gedrückt. Ich kneife die Augen
zusammen und sehe, dass die Krallen nicht mehr da sind.
Der Nebel hat aufgehört, sich vorwärtszubewegen. Wie
andere Schrecken, die ich in der Arena gesehen habe, hat
er die Grenze seines Gebiets erreicht. Entweder das – oder
die Spielmacher haben beschlossen, uns jetzt noch nicht
zu töten.
424
»Es hat aufgehört«, will ich sagen, doch aus meinem ge-
schwollenen Mund kommt nur ein fürchterliches Kräch-
zen. »Es hat aufgehört«, sage ich wieder, offenbar deutli-
cher, denn Peeta und Finnick schauen beide zum Nebel,
der sich jetzt langsam hebt, als würde er von einem riesi-
gen Staubsauger in den Himmel gesaugt. Wir schauen zu,
bis alles weg ist, selbst der letzte Fetzen.
Peeta lässt sich von Finnick herunterrollen und der
dreht sich auf den Rücken. Keuchend und zuckend lie-
gen wir da, Geist und Körper vom Gift durchdrungen.
Nach ein paar Minuten zeigt Peeta undeutlich nach oben.
»Affen.« Ich schaue nach oben und sehe zwei Tiere, ver-
mutlich Affen. Ich habe noch nie einen lebendigen Affen
gesehen – in unserem Wald zu Hause gibt es nichts der-
gleichen. Aber irgendwo muss ich schon mal einen Affen
auf einem Bild gesehen haben oder vielleicht in einer frü-
heren Ausgabe der Spiele, denn beim Anblick der Tiere
kommt mir dasselbe Wort in den Sinn. Es ist schwer zu
erkennen, aber ich glaube, diese hier haben orangefarbe-
nes Fell und sind etwa halb so groß wie ein ausgewachse-
ner Mensch. Ich nehme die Affen als gutes Zeichen. Be-
stimmt würden sie hier nicht herumspringen, wenn die
Luft vergiftet wäre. Eine Weile beobachten wir einander
stumm, Menschen und Affen. Dann rappelt Peeta sich auf
425
die Knie und kriecht den Hügel hinunter. Wir kriechen
alle, denn Gehen ist für uns so unmöglich wie Fliegen;
wir kriechen, bis das Gestrüpp zu einem schmalen Strei-
fen Sandstrand wird und das warme Wasser rings um das
Füllhorn uns das Gesicht benetzt. Ich zucke zurück, als
hätte ich eine offene Flamme berührt.
Salz in die Wunde streuen. Zum ersten Mal verstehe ich
diese Redewendung vol und ganz, denn das Salzwasser in
den Wunden tut so weh, dass ich fast ohnmächtig werde.
Aber ich spüre noch etwas anderes – als würde etwas he-
rausgezogen. Ich probiere es aus, indem ich erst nur eine
Hand behutsam ins Wasser halte. Es ist qualvol , ja, aber
dann schon weniger. Durch die blaue Wasserschicht sehe
ich, wie eine milchige Substanz aus den Wunden tritt. Und
in dem Maß, in dem das Weiß schwächer wird, lässt auch
der Schmerz nach. Ich schnal e den Gurt ab und ziehe den
Overal aus, der kaum mehr ist als ein durchlöcherter Stoff-
fetzen. Meine Schuhe und die Unterwäsche sind erstaunli-
cherweise unversehrt. Nach und nach, Stück für Stück und
einen Körperteil nach dem anderen, wasche ich das Gift aus
meinem Körper. Peeta scheint das Gleiche zu tun. Finnick
dagegen ist bei der ersten Berührung mit dem Wasser zu-
rück gezuckt und liegt jetzt mit dem Gesicht nach unten im
Sand, unwil ig oder unfähig, sich zu säubern.
426
Als ich das Schlimmste überstanden habe, die Augen
unter Wasser geöffnet, Wasser in die Nebenhöhlen ge-
zogen und ausgeschnäuzt und sogar mehrmals gegurgelt
habe, um meine Kehle auszuwaschen, funktioniere ich so
weit, dass ich Finnick helfen kann. Im Bein habe ich jetzt
wieder ein bisschen Gefühl, aber meine Arme werden im-
mer noch von Zuckungen geplagt. Ich kann Finnick nicht
ins Wasser ziehen, vielleicht würde der Schmerz ihn so-
wieso umbringen. Also schöpfe ich mit zittrigen Händen
Wasser und schütte es auf seine Fäuste. Da er nicht unter
Wasser ist, tritt das Gift aus seiner Haut, wie es auch hin-
eingekommen ist, in Nebelschwaden, vor denen ich mich
sehr in Acht nehme. Peeta hat sich jetzt so weit erholt, dass
er mir helfen kann. Er schneidet Finnick aus dem Over-
all heraus. Irgendwo findet er zwei Muscheln, mit denen
man viel besser Wasser schöpfen kann als mit den Hän-
den. Als Erstes nehmen wir uns Finnicks Arme vor, weil
sie so schwer mitgenommen sind, und obwohl eine Menge
weißes Zeug herauskommt, merkt er nichts. Er liegt ein-
fach nur mit geschlossenen Augen da und stöhnt hin und
wieder.
Ich schaue mich um, und mir wird zunehmend be-
wusst, in welch gefährlicher Lage wir uns befinden. Es ist
zwar Nacht, doch der Mond spendet so viel Licht, dass wir
427
leicht entdeckt werden können. Es ist reines Glück, dass
uns noch niemand angegriffen hat. Wenn sie vom Füll-
horn kämen, könnten wir sie zwar kommen sehen, aber
alle vier Karrieros auf einmal würden uns leicht überwälti-
gen. Und selbst wenn sie uns nicht direkt sehen, Finnicks
Stöhnen würde uns bald verraten.
»Wir müssen ihn weiter ins Wasser ziehen«, flüstere
ich. Doch wir können ihn nicht mit dem Gesicht zuerst
eintauchen, nicht solange er in diesem Zustand ist. Peeta
macht eine Kopfbewegung zu Finnicks Füßen. Wir fassen
jeder einen, drehen Finnick ganz herum und ziehen ihn
langsam ins Salzwasser. Immer nur ein paar Zentimeter.
Bis zu den Knöcheln. Ein paar Minuten warten. Dann
bis zur Wade. Warten. Bis zu den Knien. Weiße Wolken
wirbeln um seinen Körper, Finnick stöhnt. Wir entgiften
ihn immer weiter, Stückchen für Stückchen. Ich merke,
dass es mir umso besser geht, je länger ich im Wasser sitze.
Nicht nur meine Haut, auch mein Gehirn erholt sich, und
ich habe meine Muskeln wieder in der Gewalt. Ich sehe,
wie Peetas Gesicht langsam wieder normal wird, sein Lid
zieht sich hoch, der Mund ist nicht mehr so verzerrt.
Allmählich kommt wieder Leben in Finnick. Er öffnet
die Augen, schaut uns an und begreift, dass wir ihm hel-
fen. Ich lege seinen Kopf in meinen Schoß und wir lassen
428
ihn zehn Minuten im Wasser, er ist vom Hals an abwärts
ganz eingetaucht. Als er die Arme übers Wasser hebt, lä-
cheln Peeta und ich uns an.
»Jetzt nur noch der Kopf, Finnick. Das ist das
Schlimmste, aber wenn du das aushältst, wird es dir an-
schließend viel besser gehen«, sagt Peeta. Wir helfen Fin-
nick auf, und er hält sich an unseren Händen fest, wäh-
rend er Augen, Nase und Mund reinigt. Seine Kehle ist
immer noch so rau, dass er nicht sprechen kann.
»Ich versuche mal einen Baum anzuzapfen«, sage ich.
Ich fummele an meinem Gurt herum und finde den Zapf-
hahn, der immer noch an der Ranke hängt.
»Warte, ich bohre erst ein Loch«, sagt Peeta. »Du bleibst
bei ihm. Du bist die Heilerin.«
Haha, denke ich. Aber ich sage es nicht laut, denn Fin-
nick hat so schon genug Probleme. Er hat am meisten von
dem Nebel abbekommen, warum auch immer. Vielleicht,
weil er der Größte von uns ist, oder vielleicht, weil er sich
am meisten anstrengen musste. Und dann natürlich die
Sache mit Mags. Ich verstehe immer noch nicht, was das
sollte. Weshalb er sie praktisch im Stich gelassen hat, um
Peeta zu tragen. Und weshalb sie das nicht nur nicht infra-
ge gestellt hat, sondern, ohne zu zögern, geradewegs in den
Tod gelaufen ist. Vielleicht weil ihre Tage ohnehin gezählt
429
waren? Dachte sie, Finnick hätte mit Peeta und mir als
Verbündeten bessere Chancen zu gewinnen? Ein Blick in
Finnicks verzerrtes Gesicht sagt mir, dass jetzt nicht der
richtige Moment ist zu fragen.
Also versuche ich lieber, mich zu sortieren. Ich rette die
Spotttölpelbrosche von meinem zerfetzten Overal und befes-
tige sie am Träger meines Unterhemds. Der Schwimmgurt
scheint säureresistent zu sein, er sieht aus wie neu. Ich kann
schwimmen, brauche den Gurt also eigentlich nicht, aber da
Brutus meinen Pfeil mit seinem Gurt abgewehrt hat, denke
ich mir, dass er viel eicht etwas Schutz bieten kann, und lege
ihn wieder an. Ich löse den Zopf und kämme die Haare mit
den Fingern, wodurch ich sie ziemlich ausdünne, die Nebel-
tröpfchen haben einigen Schaden angerichtet. Dann flechte
ich die verbliebenen Haare wieder zu einem Zopf.
Etwa zehn Meter von dem schmalen Strand entfernt
hat Peeta einen guten Baum entdeckt. Peeta ist kaum zu
sehen, aber das Geräusch seines Messers am Baumstamm
ist kristallklar. Ich frage mich, was mit der Ahle passiert
ist. Mags muss sie entweder fallen gelassen oder mit sich
in den Nebel genommen haben. So oder so ist sie weg.
Ich bin jetzt ein bisschen weiter im seichten Wasser
und lasse mich abwechselnd auf dem Bauch und auf dem
Rücken treiben. Peeta und mich hat das Salzwasser geheilt,
430
aber Finnick scheint es regelrecht zu verwandeln. Lang-
sam fängt er an, sich zu bewegen, probiert zunächst seine
Glieder aus und schwimmt dann los. Aber nicht so, wie
ich schwimme, gleichmäßig, mit rhythmischen Zügen. Es
ist, als würde ein seltsames Meereswesen zum Leben er-
wachen. Er taucht unter und wieder auf, spuckt Wasser,
kullert in einer verrückten Korkenzieherbewegung her-
um, von der mir schon beim Zuschauen schwindelig wird.
Und dann, als er so lange unter Wasser bleibt, dass ich
schon denke, er ist ertrunken, taucht sein Kopf direkt ne-
ben mir wieder auf, und ich zucke zusammen.
»Lass das«, sage ich.
»Was? Hochkommen oder unter Wasser bleiben?«, sagt
er.
»Beides. Keines von beidem. Egal. Bleib einfach im
Wasser und benimm dich«, sage ich. »Wenn es dir so gut
geht, lass uns lieber Peeta helfen.«
Während wir die paar Schritte zum Rand des Dschun-
gels gehen, merke ich, dass etwas anders ist. Vielleicht liegt
es an der jahrelangen Jagderfahrung, vielleicht funkti-
oniert mein repariertes Ohr wirklich besser, als es sollte.
Jedenfalls nehme ich die vielen warmen Körper wahr, die
über uns lauern. Sie brauchen nicht zu schnattern oder zu
schreien. Ihr bloßes Atmen genügt.
431
Ich berühre Finnick am Arm und er folgt meinem Blick
nach oben. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, sich
so leise anzuschleichen. Vielleicht waren sie auch gar nicht
leise. Wir waren nur damit beschäftigt, uns wiederherzu-
stellen. Währenddessen haben sie sich versammelt. Nicht
fünf oder zehn – es sitzen so viele Affen in den Dschungel-
bäumen, dass sich die Äste biegen. Die beiden, die wir ge-
sehen haben, als wir vor dem Nebel geflohen sind, waren
wohl nur das Empfangskomitee. Von dieser Menge geht
etwas Unheilvolles aus.
Ich hole zwei Pfeile heraus und Finnick hält den Drei-
zack bereit. »Peeta«, sage ich, so ruhig ich kann. »Ich brau-
che mal deine Hilfe.«
»Okay, einen Moment. Ich glaube, ich hab’s gleich«,
sagt er. Er macht sich immer noch an dem Baum zu schaf-
fen. »Na also. Hast du mal den Zapfhahn?«
»Ja. Aber wir haben hier etwas entdeckt, das du dir
besser mal ansehen solltest«, sage ich beherrscht. »Aber
komm ganz ruhig her, damit du es nicht aufschreckst.«
Aus irgendeinem Grund will ich nicht, dass er die Affen
bemerkt oder auch nur in ihre Richtung schaut. Es gibt
Lebewesen, die schon bloßen Blickkontakt als Herausfor-
derung verstehen.
Peeta dreht sich zu uns, er ist außer Atem von der Arbeit
432
an dem Baum. An dem merkwürdigen Ton, in dem ich
gesprochen habe, merkt er, dass irgendetwas nicht stimmt.
»Na gut«, sagt er lässig. Er geht durch den Dschungel, und
ich weiß, dass er sich alle Mühe gibt, leise zu sein, doch
das war noch nie seine Stärke, selbst als er noch zwei ge-
sunde Beine hatte. Aber immerhin kommt er, und die Af-
fen bleiben, wo sie sind. Er ist nur noch fünf Meter vom
Strand entfernt, als er sie bemerkt. Ganz kurz nur schnellt
sein Blick nach oben, doch es ist, als hätte er eine Bombe
gezündet. Die Affen werden zu einer kreischenden Masse
aus orangefarbenem Fell und stürmen auf ihn los.
Noch nie habe ich Tiere gesehen, die sich so schnell
bewegt haben. Sie gleiten an den Lianen herab, als wä-
ren die Dinger geschmiert. Springen über unglaubliche
Entfernungen von Baum zu Baum. Die Zähne gebleckt,
die Nackenhaare gesträubt, die Klauen ausgefahren wie
Springmesser. Ich kenne mich zwar nicht mit Affen aus,
aber so verhalten sich Tiere in der Natur nicht. »Mutati-
onen!«, stoße ich hervor, als Finnick und ich uns ins Ge-
strüpp stürzen.
Ich weiß, dass jeder Pfeil treffen muss, und das gelingt
auch. Einen Affen nach dem anderen bringe ich in dem
gespenstischen Licht zur Strecke, ziele auf Augen, Herz,
Kehle, sodass jeder Treffer den Tod bedeutet. Doch selbst
433
das würde nicht ausreichen, wären da nicht Finnick, der
die Viecher wie Fische aufspießt und zur Seite schleudert,
und Peeta, der mit dem Messer um sich stößt. Ich spüre,
wie sich Klauen in mein Bein und meinen Rücken bohren,
bis jemand den Angreifer erledigt. Die Luft wird schwer
von den zertrampelten Pflanzen, dem Geruch von Blut
und dem muffigen Geruch der Affen. Rücken an Rücken
stellen Peeta, Finnick und ich uns ein paar Meter vonei-
nander entfernt in einem Dreieck auf. Als ich den letzten
Pfeil losschnellen lasse, rutscht mir das Herz in die Hose.
Da fällt mir ein, dass auch Peeta einen Köcher hat. Und er
schießt nicht, er stößt mit dem Messer zu. Jetzt ziehe auch
ich das Messer, doch die Affen sind schneller, sie springen
so schnell hin und her, dass ich kaum reagieren kann.
»Peeta!«, rufe ich. »Deine Pfeile!«
Peeta dreht sich um, sieht meine missliche Lage und
will seinen Köcher abnehmen, als es passiert. Ein Affe
stürzt sich aus einem Baum und wird Peeta im nächsten
Moment auf die Brust springen. Ich habe keinen Pfeil, kei-
ne Möglichkeit zu schießen. Ich höre den dumpfen Schlag
von Finnicks Dreizack und weiß, dass er anderswo im Ein-
satz ist. Peeta kann mit der Hand, in der er das Messer hält,
nichts machen, weil er versucht, den Köcher abzunehmen.
Ich ziele mit meinem Messer auf den heranrasenden Affen,
434
doch er weicht mit einem Purzelbaum aus und prescht
weiter vor.
Hilflos, ohne Waffe, tue ich das Einzige, was mir ein-
fällt. Ich laufe zu Peeta, um ihn umzuwerfen und seinen
Körper mit meinem zu schützen, obwohl ich weiß, dass
ich es nicht rechtzeitig schaffen werde.
Aber sie schafft es. Wie aus dem Nichts taucht sie auf
und wirbelt plötzlich vor Peeta herum. Blutüberströmt,
den Mund zu einem schrillen Schrei geöffnet, die Pupillen
so groß, dass ihre Augen aussehen wie schwarze Löcher.
Die verrückte Morfixerin aus Distrikt 6 reißt die kno-
chigen Arme hoch, als wollte sie den Affen umarmen, und
der Affe schlägt die Zähne in ihre Brust.
435
22 Peeta lässt den Köcher fallen und
stößt dem Affen das Messer in den
Rücken. Immer und immer wieder sticht er auf ihn ein, bis
das Tier den Biss lockert. Mit einem Tritt befördert er die
Mutation beiseite und steht da in Erwartung weiterer. Ich
habe jetzt Peetas Pfeile und einen gespannten Bogen, Fin-
nick steht hinter mir, er keucht, aber er kämpft nicht mehr.
»Los, kommt schon! Kommt schon!«, brüllt Peeta wü-
tend. Doch irgendetwas ist passiert. Die Affen ziehen
sich zurück, wieder rauf auf die Bäume, zurück in den
Dschungel, wie von einer unhörbaren Stimme gerufen.
Der Stimme eines Spielmachers, die sagt, dass es genug ist.
»Trag du sie«, sage ich zu Peeta. »Wir geben dir De-
ckung.« Behutsam hebt Peeta die Morfixerin hoch und
trägt sie die letzten Meter zum Strand. Finnick und ich
lauern schussbereit, doch bis auf die orangefarbenen Kada-
ver auf dem Boden sind die Affen verschwunden. Peeta legt
die Morfixerin auf dem Sand ab. Ich schneide den Stoff
über ihrer Brust auf und lege vier tiefe Bisswunden frei.
Das Blut sickert so langsam heraus, dass sie gar nicht so
gefährlich aussehen. Doch die eigentlichen Verletzungen
436
liegen innen. Die Öffnungen sind an Stellen, wo sich le-
benswichtige Organe befinden, möglicherweise hat das
Biest einen Lungenflügel zerfetzt, vielleicht sogar das Herz.
Wie ein Fisch auf dem Trockenen liegt die Morfixe-
rin auf dem Sand und schnappt nach Luft. Ihre Haut ist
schlaff und blassgrün, die Rippen stehen hervor wie bei
einem hungernden Kind. Bestimmt hätte sie sich Lebens-
mittel leisten können, aber anscheinend hat sie sich dem
Morfix verschrieben, wie Haymitch sich dem Trinken. Al-
les an ihr verrät, dass es zu Ende geht – ihr Körper, der
leere Blick. Ich halte ihre zuckende Hand und weiß nicht,
ob die Bewegung von dem Nervengift herrührt, vom
Schock des Angriffs oder vom Entzug jener Droge, die ihr
Nahrung war. Wir können nichts tun. Nur bei ihr bleiben,
während sie stirbt.
»Ich sehe mich mal bei den Bäumen um«, sagt Finnick
und entfernt sich. Ich möchte auch weg von hier, doch sie
hält meine Hand so fest, dass ich mich gewaltsam befreien
müsste, und für so eine Grausamkeit habe ich nicht die
Kraft. Ich überlege, ob ich ihr wie Rue ein Lied singen
soll. Doch ich kenne nicht mal den Namen der Morfixe-
rin, und ob sie gern Lieder hört, weiß ich schon gar nicht.
Ich weiß nur, dass sie stirbt.
Peeta geht auf der anderen Seite in die Hocke und
437
streicht ihr übers Haar. Als er mit sanfter Stimme zu spre-
chen beginnt, verstehe ich erst nicht, was das soll, aber die
Worte sind auch gar nicht für mich. »Mit meinem Mal-
kasten zu Hause kann ich jede erdenkliche Farbe mischen.
Rosa. So blass wie Babyhaut. Oder so tiefdunkel wie Rha-
barber. Grün wie Frühlingsgras. Blau, das schimmert wie
Eis auf Wasser.«
Die Morfixerin starrt Peeta in die Augen und klam-
mert sich an seine Worte.
»Einmal habe ich drei Tage lang nach dem richtigen
Farbton für Sonnenlicht auf weißem Pelz gesucht. Weißt
du, ich dachte die ganze Zeit, es müsse Gelb sein, aber es
war viel mehr. Alle möglichen Farben. In Schichten, eine
über der anderen«, sagt Peeta.
Die Morfixerin schnappt jetzt nur noch flach nach
Luft. Mit der freien Hand zeichnet sie in dem Blut auf
ihrer Brust die kleinen Wirbel, die sie so gern gemalt hat.
»Den Regenbogen habe ich bis heute nicht rausgekriegt.
Er kommt und geht so plötzlich. Ich habe nie genug Zeit,
um ihn einzufangen. Nur ein bisschen Blau hier und Lila
da. Und schon verblasst er wieder. Geht wieder in der Luft
auf«, sagt Peeta.
Peetas Worte scheinen die Morfixerin zu hypnotisie-
ren. Als wäre sie in Trance. Sie hebt die zitternde Hand
438
und zeichnet auf Peetas Wange etwas, das ich als Blume
deute.
»Danke«, flüstert er. »Sieht wunderschön aus.«
Einen Augenblick lang verzieht sich das Gesicht der Mor-
fixerin zu einem Grinsen und sie gibt ein leises Quieken von
sich. Dann sinkt ihre blutbefleckte Hand zurück auf die
Brust, sie atmet ein letztes Schnaufen aus, und die Kanone
wird abgefeuert. Der Griff um meine Hand lockert sich.
Peeta trägt sie ins Wasser. Dann kommt er zurück und
setzt sich neben mich. Die Morfixerin treibt eine Zeit lang
auf das Füllhorn zu, bis das Hovercraft erscheint und ein
Greifer mit vier Klauen sich herabsenkt, sie packt und in
den Nachthimmel hinaufträgt. Dann ist sie fort.
Finnick gesellt sich wieder zu uns. In der Hand hat er
meine Pfeile, an denen noch das Affenblut klebt. Er wirft
sie neben mich in den Sand. »Dachte, die hättest du viel-
leicht gern wieder.«
»Danke«, sage ich. Ich wate ins Wasser und wasche das
Blut ab, von meinen Waffen, meinen Wunden. Als ich
in den Dschungel gehe, um ein bisschen Moos zum Ab-
trocknen zu sammeln, sind die Affenkörper allesamt ver-
schwunden. »Wo sind sie hin?«, frage ich.
»Ich weiß nicht. Die Ranken haben sich beiseitegescho-
ben und weg waren sie«, sagt Finnick.
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Benommen und erschöpft starren wir in den Dschun-
gel. In der Stille fällt mir auf, dass sich über den Stellen, an
denen die Nebeltropfen meine Haut berührt haben, eine
Kruste gebildet hat. Die Stellen tun nicht mehr weh, sie
jucken jetzt. Und zwar sehr. Ich versuche, das als gutes
Zeichen zu nehmen. Dass sie heilen. Ich schaue zu Peeta
und Finnick und sehe, dass beide sich im lädierten Gesicht
kratzen. Sogar Finnicks Schönheit hat in dieser Nacht
Schaden genommen.
»Nicht kratzen«, sage ich, dabei würde ich es am liebs-
ten selbst tun. Meine Mutter würde das Gleiche raten.
»Dadurch entzündet es sich nur. Meint ihr, wir können es
wagen, noch mal Wasser zu zapfen?«
Wir gehen zurück zu dem Baum, an dem Peeta sich zu
schaffen gemacht hatte, bevor die Affen angriffen. Wäh-
rend er den Zapfhahn einschlägt, stehen Finnick und ich
mit gezückten Waffen da, aber es taucht nichts Bedroh-
liches auf. Peeta hat eine gute Ader gefunden und das
Wasser fließt heraus. Wir stillen unseren Durst, lassen das
warme Wasser über unsere juckenden Körper laufen. Wir
füllen Muschelschalen mit Wasser und gehen zurück zum
Strand.
Es ist immer noch Nacht, obwohl die Dämmerung
nicht mehr weit sein kann. Es sei denn, die Spielmacher
440
haben andere Pläne. »Ruht euch ein bisschen aus«, sage
ich zu den beiden. »Ich halte so lange Wache.«
»Nein, das übernehme ich«, sagt Finnick. Ich schaue
in seine Augen, sein Gesicht und sehe, dass er nur müh-
sam die Tränen zurückhalten kann. Mags. Wenigstens das
kann ich für ihn tun – ihm ein bisschen Raum geben, um
sie zu betrauern.
»Na gut, Finnick, danke«, sage ich. Ich lege mich in
den Sand neben Peeta, der sofort wegdämmert. Während
ich in die Nacht starre, kommt mir der Gedanke, was sich
an einem Tag doch alles verändern kann. Gestern Morgen
stand Finnick noch auf meiner Abschussliste und heute
lasse ich ihn bereitwillig über meinen Schlaf wachen. Er
hat Peeta gerettet und Mags sterben lassen, und ich weiß
nicht, warum. Nur, dass ich es nie wiedergutmachen kann.
In diesem Moment kann ich nur schlafen und ihn in
Ruhe trauern lassen. Also mache ich das.
Als ich die Augen wieder öffne, ist es Vormittag. Pee-
ta liegt neben mir und schläft. An den Zweigen über uns
hat jemand eine Grasmatte befestigt, die unsere Gesichter
vor dem Sonnenlicht schützt. Ich setze mich auf und stelle
fest, dass Finnick auch sonst nicht untätig gewesen ist. In
zwei geflochtenen Schalen schwappt frisches Wasser. Eine
dritte enthält einen Haufen Muscheln.
441
Finnick setzt sich in den Sand und bricht die Schalen
mit einem Stein auf. »Frisch schmecken sie am besten«,
sagt er, während er ein Stück Fleisch aus einer Muschel
reißt und sich in den Mund steckt. Seine Augen sind ge-
schwollen, aber ich tue so, als würde ich es nicht bemerken.
Bei dem Geruch von Essen fängt mein Magen an zu
knurren und ich will mir eine Muschel nehmen. Als ich
meine blutverkrusteten Fingernägel sehe, halte ich inne.
Ich muss mir im Schlaf die Haut aufgekratzt haben.
»Wenn du kratzt, entzündet es sich, das weißt du doch«,
sagt Finnick.
»Ach nee«, sage ich. Ich gehe ins Salzwasser und wa-
sche das Blut ab, während ich überlege, was ich schlimmer
finde, den Schmerz oder das Jucken. Restlos bedient stap-
fe ich auf den Strand, schaue nach oben und blaffe: »He,
Haymitch, falls du nicht zu betrunken bist, wir könnten
was für unsere Haut brauchen.«
Es ist fast schon ulkig, wie schnell der Fallschirm he-
runtergesegelt kommt. Ich strecke den Arm aus und die
Tube landet direkt in meiner geöffneten Hand. »Wurde
aber auch Zeit«, sage ich, schaffe es jedoch nicht, weiter
böse zu gucken. Haymitch. Was gäbe ich darum, nur fünf
Minuten mit ihm reden zu können.
Ich lasse mich neben Finnick in den Sand fallen und
442
schraube den Deckel von der Tube. Darin ist eine dick-
flüssige schwarze Salbe, die einen beißenden Geruch ver-
strömt, eine Mischung aus Teer und Kiefernnadeln. Ich
rümpfe die Nase, während ich einen Klecks Salbe auf die
Handfläche drücke und damit mein Bein einreibe. Im Nu
lässt der Juckreiz nach und ein wohliges Seufzen entfährt
mir. Das Zeug färbt meine schorfige Haut scheußlich
graugrün. Ich nehme mir das zweite Bein vor und werfe
die Tube dann Finnick zu. Er schaut mich skeptisch an.
»Das sieht ja aus, als würdest du verwesen«, sagt er.
Aber offenbar gewinnt das Jucken die Oberhand, denn
kurz darauf reibt auch Finnick seine Haut ein. Die Kom-
bination aus Schorf und Salbe sieht wirklich ekelhaft aus.
Ich kann der Versuchung, mich über seine Verzweiflung
lustig zu machen, nicht widerstehen.
»Armer Finnick. Ist wohl das erste Mal in deinem Le-
ben, dass du nicht hübsch aussiehst, hm?«, sage ich.
»Allerdings. Ein völlig neues Gefühl. Wie hast du das
all die Jahre ausgehalten?«, fragt er.
»Einfach alle Spiegel meiden. Dann vergisst man’s«, er-
widere ich.
»Nicht, wenn man dich dauernd vor Augen hat«, sagt
er.
Wir beschmieren uns tüchtig, reiben uns sogar gegen-
443
seitig den Rücken ein, wo die Unterhemden die Haut
nicht geschützt haben. »Ich wecke jetzt Peeta«, sage ich.
»Nein, warte«, sagt Finnick. »Wir wecken ihn gemein-
sam. Damit er unsere beiden Gesichter sieht.«
In meinem jetzigen Leben gibt es so wenig Raum für
Spaß, dass ich zustimme. Wir hocken uns rechts und
links von Peeta hin, beugen uns vor, bis unsere Gesichter
nur wenige Zentimeter vor seiner Nase sind, und rütteln
ihn wach. »Peeta, Peeta, aufwachen«, säusele ich.
Seine Lider zucken, und als er die Augen öffnet, springt
er auf wie von der Tarantel gestochen. »Aaaa!«
Finnick und ich lassen uns nach hinten in den Sand
fallen und lachen uns kaputt. Immer, wenn wir aufhö-
ren wollen, schauen wir zu Peeta, der sich bemüht, eine
verächtliche Miene zu wahren, und prusten wieder los.
Als wir uns endlich zusammenreißen, kommt mir der
Gedanke, dass Finnick Odair vielleicht doch ganz in
Ordnung ist. Oder zumindest nicht so ein eitler Wich-
tigtuer, wie ich immer dachte. Wirklich gar nicht übel.
Und just in dem Augenblick, als ich zu diesem Schluss
komme, landet ein Fallschirm mit einem Laib Brot ne-
ben uns. Vom letzten Jahr weiß ich noch, dass Haymitch
den Zeitpunkt für seine Geschenke häufig so wählt, dass
er damit eine Botschaft übermittelt, deshalb präge ich
444
mir ein: Freundet euch mit Finnick an. Dann bekommt
ihr Essen.
Finnick dreht das frische Brot in seinen Händen hin
und her und betrachtet die Kruste. Ein bisschen sehr be-
sitzergreifend. Dabei wäre das gar nicht nötig. Das Brot
hat die typische grüne Farbe von Seetang, wie alles Brot
aus Distrikt 4. Jeder weiß, dass es ihm gehört. Vielleicht
ist ihm eben erst klar geworden, wie wertvoll es ist und
dass er jetzt möglicherweise zum letzten Mal einen solchen
Laib zu Gesicht bekommt. Vielleicht ist mit der Kruste
auch irgendeine Erinnerung an Mags verbunden. Doch er
sagt nur: »Das schmeckt bestimmt gut zu den Muscheln.«
Während ich Peeta helfe, seine Haut mit der Salbe ein-
zureiben, löst Finnick geschickt das Fleisch aus den Mu-
scheln. Wir setzen uns zusammen hin und essen das köst-
liche süße Fleisch mit dem salzigen Brot aus Distrikt 4.
Wir sehen zwar fürchterlich aus – die Salbe bewirkt,
dass sich an einigen Stellen der Schorf löst –, aber ich
freue mich über die Arznei. Nicht nur, weil sie den Juck-
reiz lindert, sondern auch, weil sie vor der sengenden wei-
ßen Sonne am rosa Himmel schützt. An ihrem Stand
lese ich ab, dass es fast zehn Uhr sein muss, wir sind also
schon einen ganzen Tag in der Arena. Elf von uns sind tot.
Dreizehn leben. Zehn von ihnen verstecken sich irgendwo
445
im Dschungel. Drei bis vier sind Karrieros. Ich hab keine
Lust, mir die anderen ins Gedächtnis zu rufen.
Der Dschungel hat sich für mich schnell von einem
schützenden Ort in eine teuflische Falle verwandelt.
Mir ist klar, dass wir irgendwann gezwungen sein wer-
den, erneut in seine Tiefen einzutauchen, um zu jagen
oder gejagt zu werden, doch fürs Erste habe ich nicht
vor, unseren kleinen Strand zu verlassen. Peeta und Fin-
nick scheinen das genauso zu sehen. Eine Weile wirkt der
Dschungel fast statisch, summend und schillernd, kei-
ne Spur von den Gefahren, die er birgt. Doch plötzlich
hören wir von fern Schreie und gegenüber beginnt ein
Stück Dschungel zu vibrieren. Eine riesige Welle türmt
sich bis über den Hügel auf, schwappt über die Bäume
hinweg und rast tosend den Abhang hinunter. Sie trifft
mit solcher Wucht auf das Meerwasser, dass die Gischt
trotz der Entfernung um unsere Knie aufschäumt und
unsere wenigen Habseligkeiten mit sich zu reißen droht.
Mit vereinten Kräften gelingt es uns, die Sachen einzu-
sammeln, ehe sie weggeschwemmt werden. Nur unsere
durchlöcherten Overalls lassen wir davonschwimmen,
sie sind von dem Nervengift so zerfressen, dass wir nicht
an ihnen hängen.
Eine Kanone knal t. Über dem Gebiet, wo die Wel e
446
ihren Ausgang nahm, taucht ein Hovercraft auf und pflückt
einen Körper von den Bäumen. Zwölf, denke ich.
Der Ring aus Wasser hat die Riesenwelle geschluckt
und kommt allmählich zur Ruhe. Wir deponieren unsere
Sachen wieder auf dem nassen Sand. Als wir uns schon da-
rauf niederlassen wollen, sehe ich sie. Drei Gestalten, die
zwei Radspeichen entfernt auf den Strand taumeln. »Da«,
sage ich ganz ruhig und nicke in ihre Richtung. Peeta und
Finnick folgen meinem Blick. Wie auf Kommando ziehen
wir uns ins Dunkel des Dschungels zurück.
Das Trio ist reichlich mitgenommen, das sieht man so-
fort. Einer schleift einen anderen mit sich und der Drit-
te torkelt wie geistesgestört in irren Kreisen umher. Ihre
Haut ist knallrot, als hätte jemand sie in Farbe getaucht
und zum Trocknen rausgehängt.
»Wer ist das?«, fragt Peeta. »Oder was? Mutationen?«
Ich lege einen Pfeil ein und mache mich angriffsbe-
reit. Aber nichts geschieht, außer dass der eine, der mit-
geschleppt wurde, plötzlich am Strand zusammenbricht.
Sein Helfer stampft frustriert mit dem Fuß auf. Er fährt
herum, schubst den Verwirrten, der im Kreis gelaufen ist,
vor sich her, lässt seine Wut an ihm aus.
Finnicks Miene hellt sich auf: »Johanna!«, ruft er und
rennt auf die roten Gestalten zu.
447
»Finnick!«, antwortet Johanna.
Ich tausche einen Blick mit Peeta. »Was nun?«, frage
ich.
»Wir können Finnick nicht ziehen lassen«, sagt er.
»Wahrscheinlich nicht. Na, dann komm«, sage ich
missmutig. Selbst wenn ich eine Liste mit möglichen Ver-
bündeten hätte, Johanna Mason stünde bestimmt nicht
darauf. Wir stapfen den Strand entlang dorthin, wo Fin-
nick und Johanna sich gerade treffen. Als wir näher kom-
men, erkenne ich ihre Gefährten und bin verwirrt. Es sind
Beetee und Wiress, der eine liegt rücklings auf dem Boden,
die andere hat sich aufgerappelt und geht wieder im Kreis.
»Sie hat Wiress und Beetee dabei.«
»Plus und Minus?«, fragt Peeta, gleichfalls erstaunt.
»Wie mag es dazu gekommen sein?«
Als wir die anderen erreichen, deutet Johanna zum
Dschungel und redet auf Finnick ein. »Wir dachten, es
wäre Regen, weißt du, wegen der Blitze, und wir hatten
alle solchen Durst. Aber als es herunterprasselte, merkten
wir, dass es Blut war. Dickes, heißes Blut. Man konnte
nichts sehen, und man konnte nichts sagen, weil man es
sonst schluckte. Wir sind herumgeirrt und haben einen
Ausweg gesucht. Und dabei ist Blight in das Kraftfeld
geraten.«
448
»Das tut mir leid, Johanna«, sagt Finnick. Es dauert
einen Augenblick, bis ich Blight eingeordnet habe. Ich
glaube, er war Johannas Mitspieler aus Distrikt 7, aber ich
kann mich kaum an ihn erinnern. Wenn ich mich nicht
irre, hat er sich nicht einmal beim Training blicken lassen.
»Ach, weißt du, er war keine große Hilfe, aber er war
aus der Heimat«, sagt Johanna. »Und er hat mich mit den
beiden da alleingelassen.« Mit dem Schuh stupst sie Beetee
an, der kaum bei Bewusstsein ist. »Er hat am Füllhorn ein
Messer in den Rücken gekriegt. Und die da …«
Wir schauen hinüber zu Wiress, die, mit getrocknetem
Blut bedeckt, im Kreis herumirrt und die ganze Zeit »Tick,
tack. Tick, tack« vor sich hin murmelt.
»Ja, wir haben’s gehört. Tick, tack. Plus hat einen
Schock«, sagt Johanna. Das scheint Wiress anzulocken,
sie torkelt gegen Johanna, die sie grob auf den Sand stößt.
»Einfach unten bleiben, kapiert?«
»Lass sie in Ruhe!«, blaffe ich sie an.
Johannas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen,
durch die sie mich hasserfüllt anschaut. »Ich soll sie in
Ruhe lassen?«, faucht sie. Ehe ich reagieren kann, macht
sie einen Schritt nach vorn und langt mir eine, dass ich
Sternchen sehe. »Was glaubst du eigentlich, wer sie für
dich aus dem blutenden Dschungel rausgeholt hat, du …«
449
Bevor sie weiterreden kann, schnappt Finnick sich Johan-
na, wirft sie trotz heftiger Gegenwehr über die Schulter
und trägt sie ins Wasser. Dort taucht er sie mehrmals
unter, während sie mir üble Beleidigungen an den Kopf
schmeißt. Doch ich schieße nicht. Weil Finnick bei ihr
ist und weil sie gesagt hat, dass sie Wiress und Beetee für
mich rausgeholt hat.
»Was sollte das heißen, sie hat sie für mich da rausge-
holt?«, frage ich Peeta.
»Ich weiß es nicht. Du wolltest die beiden doch als Ver-
bündete«, sagt er.
»Stimmt. Wollte ich mal.« Aber das ist keine Erklärung.
Ich schaue auf Beetees leblosen Körper. »Jedenfalls, lange
werden sie nicht meine Verbündeten sein, wenn wir nicht
bald was unternehmen.«
Peeta hebt Beetee hoch, ich nehme Wiress bei der
Hand und wir gehen zurück zu unserem kleinen Strand-
lager. Ich setze Wiress ins flache Wasser, damit sie sich ein
bisschen säubern kann, doch sie klatscht nur in die Hän-
de und murmelt ab und zu »Tick, tack«. Ich löse Beetees
Gürtel und entdecke, dass er mit Ranken einen schweren
Metallgegenstand daran festgebunden hat. Ich kann nicht
erkennen, was es ist, eine Art Spule vielleicht, doch wenn
Beetee meinte, es retten zu müssen, dann werde ich es
450
nicht einfach wegschmeißen. Ich binde die Spule los und
werfe sie in den Sand. Die blutgetränkten Kleider kleben
so an Beetees Körper, dass Peeta ihn ins Wasser tauchen
muss, während ich sie löse. Als ich endlich den Overall
ausgezogen bekomme, stellen wir fest, dass sich auch die
Unterwäsche mit Blut vollgesogen hat. Wir haben keine
Wahl, wir müssen ihn ganz ausziehen, aber ehrlich gesagt,
lässt mich so etwas mittlerweile ziemlich kalt. Dieses Jahr
haben zu viele nackte Männer auf unserem Küchentisch
gelegen. Nach einer Weile gewöhnt man sich irgendwie
dran.
Wir bauen Finnicks Sonnenschutz ab und legen Beetee
bäuchlings darauf, damit wir seinen Rücken untersuchen
können. Vom Schulterblatt bis unter die Rippen verläuft
eine fünfzehn Zentimeter lange klaffende Wunde. Zum
Glück ist sie nicht allzu tief. Aber er hat eine Menge Blut
verloren – das erkennt man an der blassen Hautfarbe –
und die Wunde eitert.
Ich hocke mich hin und versuche nachzudenken. Wel-
che Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Salzwasser?
Die erste Maßnahme meiner Mutter war immer Schnee,
wenn ich mich recht erinnere. Ich schaue hinüber zum
Dschungel. Dort gäbe es bestimmt eine Menge Arzneien –
wenn ich nur wüsste, wie man sie anwendet. Aber das sind
451
nicht meine Pflanzen. Mir fällt das Moos ein, das Mags
mir zum Naseputzen gegeben hat. »Bin gleich wieder da«,
rufe ich Peeta zu. Zum Glück kommt das Zeug ziemlich
häufig im Dschungel vor. Von den umstehenden Bäumen
rupfe ich ein ordentliches Büschel ab und trage es zurück
zum Strand. Ich forme ein dickes Polster, lege es auf Bee-
tees Wunde und schnüre es mit Ranken an seinem Körper
fest. Wir flößen ihm etwas Wasser ein und legen ihn dann
in den Schatten am Rand des Dschungels.
»Ich fürchte, das ist alles, was wir für ihn tun können«,
sage ich.
»Das reicht. Du bist gut im Verarzten«, sagt Peeta. »Es
liegt dir im Blut.«
»Nein«, sage ich und schüttele den Kopf. »Ich habe das
Blut meines Vaters.« Blut, das beim Jagen schneller fließt,
nicht bei einer Epidemie. »Ich werde mal nach Wiress
sehen.«
Ich gehe zu Wiress ins flache Wasser. Sie wehrt sich
nicht, als ich sie ausziehe und mit einer Handvoll Moos
das Blut abwasche. Doch ihre Augen sind schreckgeweitet,
und als ich sie anspreche, antwortet sie nicht, sagt nur mit
immer größerer Dringlichkeit »Tick, tack«. Offenbar ver-
sucht sie mir etwas damit zu sagen, aber ohne Beetee, der
ihre Gedanken entschlüsselt, bin ich völlig aufgeschmissen.
452
»Ja, tick, tack. Tick, tack«, sage ich. Das scheint sie ein
wenig zu beruhigen. Ich wasche ihren Overall aus, bis
kaum noch etwas von dem Blut zu sehen ist, und helfe ihr,
wieder hineinzuschlüpfen. Er ist nicht so beschädigt wie
unsere. Ihr Gurt ist noch in Ordnung und ich binde ihn
ihr um. Dann befestige ich ihre Unterwäsche mit einem
Stein neben der von Beetee und lasse sie einweichen.
Unterdessen haben sich eine jetzt wieder blitzsaubere
Johanna und ein sich schälender Finnick zu uns gesellt.
Johanna trinkt hastig Wasser und schlingt Muschelfleisch
herunter, und ich versuche, auch Wiress zu überreden,
etwas zu essen. Finnick erzählt mit unbeteiligter, fast ge-
fühlskalter Stimme von dem Nebel und den Affen, ver-
schweigt aber das wichtigste Detail der Geschichte.
Alle bieten an, Wache zu halten, während die anderen
sich ausruhen, doch schließlich fällt die Wahl auf Johanna
und mich. Auf mich, weil ich tatsächlich ausgeruht bin,
auf Johanna, weil sie sich um keinen Preis hinlegen will.
Wir setzen uns ans Wasser und schweigen, bis die anderen
eingeschlafen sind.
Johanna wirft Finnick einen Blick zu, um sicherzuge-
hen, dass er wirklich schläft, und wendet sich dann an
mich: »Wie habt ihr Mags verloren?«
»Im Nebel. Finnick hatte Peeta auf der Schulter, ich
453
Mags. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Finnick meinte,
beide auf einmal könne er nicht tragen. Da gab sie ihm
einen Kuss und ging geradewegs ins Gift«, sage ich.
»Du weißt ja wohl, dass sie Finnicks Mentorin war«,
sagt Johanna anklagend.
»Nein, das wusste ich nicht«, erwidere ich.
»Sie gehörte fast zur Familie«, sagt Johanna nach einer
kurzen Pause, schon etwas versöhnlicher.
Wir schauen zu, wie das Wasser über die Wäsche
schwappt. »Und wie kommt’s, dass du Plus und Minus bei
dir hast?«, frage ich.
»Hab ich doch gesagt – ich habe sie für dich mitge-
schleppt. Haymitch meinte, falls wir uns verbünden,
müsste ich sie zu dir bringen«, sagt Johanna. »Das hast du
ihm doch gesagt, oder?«
Nein, denke ich. Trotzdem nicke ich. »Danke. Ich weiß
es zu schätzen.«
»Das will ich hoffen.« Sie wirft mir einen verächtlichen
Blick zu, als wäre ich die größte Plage in ihrem Leben. So
ähnlich muss es sich wohl anfühlen, wenn man eine große
Schwester hat, die einen aus tiefstem Herzen hasst.
»Tick, tack«, höre ich hinter mir. Ich drehe mich um
und sehe, dass Wiress zu uns herübergekrochen ist. Sie
starrt auf den Dschungel.
454
»Ach du Schreck, da ist sie ja wieder. Okay, ich geh
schlafen. Ihr könnt ja zusammen Wache halten, du und
Plus«, sagt Johanna. Sie geht hinüber zu den anderen und
wirft sich neben Finnick auf den Sand.
»Tick, tack«, flüstert Wiress. Ich ziehe sie zu mir herun-
ter, damit sie sich hinlegt, und streichele ihren Arm, um
sie zu beruhigen. Sie dämmert weg, bewegt sich dabei aber
pausenlos und seufzt ab und zu »Tick, tack«.
»Tick, tack«, sage ich bestätigend. »Schlafenszeit. Tick,
tack. Schön einschlafen.«
Die Sonne klettert weiter, bis sie direkt über uns steht.
Es muss Mittag sein, denke ich abwesend. Nicht, dass es
wichtig wäre. Jenseits des Wassers, zur Rechten, sehe ich
es plötzlich gewaltig aufblitzen. Der Lichtblitz trifft den
Baum und der elektrische Sturm bricht wieder los. Genau
im gleichen Gebiet wie letzte Nacht. Jemand muss in sei-
ne Reichweite gekommen sein und die Attacke ausgelöst
haben. Ich sitze eine Zeit lang da und beobachte den Blitz,
während ich Wiress beruhige, die vom Plätschern des
Wassers in einen Zustand des Friedens gewiegt wird. Ich
denke an letzte Nacht, als der Blitz, unmittelbar nachdem
die Glocke geschlagen hatte, einsetzte. Zwölf Schläge.
»Tick, tack«, sagt Wiress, als sie kurz zu Bewusstsein
kommt. Dann versinkt sie wieder.
455
Zwölf Schläge letzte Nacht. Wie um Mitternacht.
Dann die Blitze. Jetzt die Sonne über uns. Wie um zwölf
Uhr mittags. Und Blitze.
Langsam stehe ich auf und suche die Arena ab. Dort
der Blitz. Im nächsten Sektor kam der Blutregen, in dem
Johanna, Wiress und Beetee gefangen waren. Wir müs-
sen im dritten Abschnitt gewesen sein, gleich rechts da-
von, als der Nebel aufkam. Und als er endlich eingeso-
gen wurde, tauchten im vierten gleich die Affen auf. Tick,
tack. Ich drehe den Kopf schnell zur anderen Seite. Vor
ein paar Stunden, gegen zehn, kam diese Welle aus dem
zweiten Abschnitt, links von der Stelle, wo jetzt der Blitz
einschlägt. Mittag. Mitternacht. Mittag.
»Tick, tack«, sagt Wiress im Schlaf. Als der Blitz erstirbt
und gleich rechts davon der Blutregen einsetzt, erkenne
ich die Logik in ihren Worten.
»Oh«, sage ich leise. »Tick, tack.« Ich lasse den Blick
einmal im Kreis um die ganze Arena schweifen und sehe,
dass sie recht hat: »Tick, tack. Das ist eine Uhr.«
456
23 Eine Uhr. Auf einmal sehe ich
fast, wie die Zeiger über das zwölf-
geteilte Antlitz der Arena laufen. Zu jeder neuen Stun-
de beginnt ein neuer Horror der Spielmacher und löst
den vorangegangenen ab. Blitze, Blutregen, Nebel, Af-
fen – das sind die vier ersten Stunden auf der Uhr. Und
um zehn die Welle. Ich weiß nicht, was in den ande-
ren sieben passiert, aber ich weiß, dass Wiress recht hat.
Gerade in diesem Augenblick fällt der Blutregen und
wir befinden uns am Strand unterhalb des Affensegments,
viel zu nah am Nebel für meinen Geschmack. Ob sich die
Attacken nur innerhalb des Dschungels ereignen? Das ist
nicht gesagt. Bei der Welle war es zum Beispiel nicht so.
Und wenn dieser Nebel über den Dschungel hinauswa-
bern würde oder die Affen herauskämen …
»Aufstehen«, befehle ich und rüttele Peeta, Finnick und
Johanna wach. »Aufstehen, wir müssen los.« Ich kann ih-
nen gerade noch die Theorie mit der Uhr erläutern. Also
was es mit Wiress’ Tick-tack auf sich hat und dass die un-
sichtbaren Zeiger in jedem Sektor eine neue tödliche Ge-
walt auslösen.
457
Alle, die bei Sinnen sind, kann ich überzeugen, bis auf
Johanna, die aus Prinzip gegen alles ist, was ich vorschlage.
Aber selbst sie ist der Meinung, dass man sich besser recht-
zeitig in Sicherheit bringt, als es hinterher zu bereuen.
Während die anderen unsere wenigen Habseligkeiten
einsammeln und Beetee wieder in seinen Overall stecken,
wecke ich Wiress. Sie erwacht mit einem panischen »Tick,
tack!«.
»Ja, tick, tack, die Arena ist eine Uhr. Eine Uhr, Wiress,
du hattest recht«, sage ich. »Du hattest recht.«
In ihrem Gesicht zeichnet sich Erleichterung ab – wahr-
scheinlich, weil endlich jemand begriffen hat, was sie schon
beim ersten Glockenschlag gewusst hat. »Mitternacht.«
»Um Mitternacht geht es los«, bestätige ich.
Eine Erinnerung dringt mit Macht in mein Bewusst-
sein. Ich sehe eine Uhr. Nein, eine Taschenuhr, sie liegt in
Plutarch Heavensbees Hand. »Um Mitternacht geht es los«,
hat Plutarch gesagt. Und dann leuchtete kurz mein Spott-
tölpel auf und verschwand wieder. Im Nachhinein wirkt
das, als wollte er mir einen Tipp für die Arena geben. Aber
warum hätte er das tun sollen? Damals war ich genauso
wenig Tribut in diesen Spielen wie er. Vielleicht dachte
er, das würde mir bei meiner Aufgabe als Mentor helfen.
Oder der Plan stand damals schon fest.
458
Wiress nickt zu dem Blutregen hin. »Halb zwei«, sagt
sie.
»Genau. Halb zwei. Und um zwei erhebt sich dort drü-
ben ein schrecklicher Giftnebel«, sage ich und deute auf
den benachbarten Dschungelabschnitt. »Wir müssen uns
in Sicherheit bringen.« Sie lächelt und steht folgsam auf.
»Hast du Durst?« Ich gebe ihr die geflochtene Schale und
sie trinkt mindestens einen Liter. Finnick reicht ihr den
letzten Rest Brot und sie beginnt daran zu nagen. Nach-
dem die Kommunikationsschwierigkeiten überwunden
sind, funktioniert sie wieder.
Ich kontrolliere meine Waffen. Verschnüre Zapfhahn
und Arzneitube in einem Fallschirm und befestige ihn mit
Ranken an meinem Gürtel.
Beetee ist noch immer ziemlich neben der Spur, doch
als Peeta Anstalten macht, ihn hochzuheben, protestiert er.
»Sie muss auch mit«, sagt er.
»Hier ist sie doch«, sagt Peeta. »Wiress geht’s gut. Sie
kommt auch mit.«
Aber Beetee wehrt sich immer noch. »Sie muss auch
mit«, beharrt er.
»Ach, ich weiß, was er will«, sagt Johanna ungeduldig.
Sie geht über den Strand und hebt die Rolle auf, die wir
von seinem Gürtel gelöst haben, um ihn zu baden. Sie ist
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mit einer dicken Schicht aus geronnenem Blut überzogen.
»Dieses wertlose Ding. Draht oder so was. Dafür hat er
sich abstechen lassen. Am Füllhorn, da musste er das hier
unbedingt holen. Keine Ahnung, was das für eine Waffe
sein soll. Man könnte vielleicht eine Würgeschlinge oder
so was draus machen. Aber mal ehrlich, könnt ihr euch
vorstellen, wie Beetee jemanden erdrosselt?«
»Mithilfe von Draht hat er seine Spiele gewonnen. Er
hat den anderen eine Stromfalle gestellt«, sagt Peeta. »Eine
bessere Waffe gibt’s gar nicht.«
Irgendwie ist es merkwürdig, dass Johanna nicht dar-
auf gekommen ist. Es kommt mir unwahrscheinlich vor.
Verdächtig. »Aber du musst doch so etwas in der Art ge-
dacht haben«, sage ich. »Wo du ihn doch Minus genannt
hast.«
Johannas Augen verengen sich zu Schlitzen, die mich
gefährlich anfunkeln. »Ach, wie dumm von mir, was?«,
sagt sie. »Ich war wohl abgelenkt, als ich deinen kleinen
Freunden hier das Leben gerettet habe. Während du …
was getan hast? Mags hast krepieren lassen?«
Meine Finger schließen sich um den Messergriff am
Gürtel.
»Na, mach schon. Versuch’s doch. Es ist mir egal, ob du
schwanger bist, ich reiß dir die Kehle raus«, sagt Johanna.
460
Ich weiß, dass ich sie hier und jetzt nicht töten kann.
Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwann macht
eine von uns die andere kalt.
»Vielleicht sollten wir alle besser aufpassen, wo wir hin-
treten«, sagt Finnick und blitzt mich an. Er nimmt die
Drahtrolle und legt sie Beetee auf die Brust. »Da ist dein
Draht, Minus. Pass gut auf, wo du ihn reinstöpselst.«
Peeta schultert Beetee, der jetzt keinen Widerstand
mehr leistet. »Wohin?«
»Ich möchte noch mal zum Füllhorn und nachschau-
en. Um sicherzugehen, dass wir mit der Uhr richtigliegen«,
sagt Finnick. Der Plan ist nicht schlechter als jeder andere.
Abgesehen davon würde ich auch gern noch mal die Waf-
fen dort begutachten. Und jetzt sind wir zu sechst. Selbst
wenn man Beetee und Wiress außer Acht lässt, haben wir
vier gute Kämpfer. Eine völlig andere Situation für mich
als vor einem Jahr, damals war ich ganz auf mich allein
gestellt. Ja, Verbündete sind toll. Solange man den Ge-
danken ausblenden kann, dass man sie irgendwann töten
muss.
Beetee und Wiress werden wahrscheinlich schon selbst
dafür sorgen, dass sie sterben. Falls wir vor etwas weg-
rennen müssen, kommen sie nicht weit. Johanna könn-
te ich, ehrlich gesagt, ohne mit der Wimper zu zucken
461
umbringen, wenn ich Peeta beschützen müsste. Oder ihr
das Maul stopfen. Aber ich brauche unbedingt jemanden,
der Finnick für mich aus dem Weg räumt, das würde ich
beim besten Willen nicht über mich bringen. Nicht nach
all dem, was er für Peeta getan hat. Vielleicht könnte ich
ihn in eine Konfrontation mit den Karrieros lotsen. Das
ist kaltblütig, ich weiß. Aber was bleibt mir anderes üb-
rig? Jetzt, da wir über die Uhr Bescheid wissen, wird er
wohl kaum im Dschungel sterben, also muss ihn jemand
im Kampf töten.
Weil der Gedanke daran so abstoßend ist, versuche
ich krampfhaft, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Doch ich kann mich höchstens ablenken, indem ich mir
ausmale, wie ich Präsident Snow töten werde. Keine be-
sonders netten Tagträume für eine Siebzehnjährige, aber
sehr befriedigend.
Wir laufen über den nächstgelegenen Streifen Sand
und nähern uns vorsichtig dem Füllhorn, für den Fall,
dass sich die Karrieros dort verstecken. Ich bezweifle das,
denn wir waren viele Stunden am Strand und es gab kein
Lebenszeichen von ihnen. Wie zu erwarten, ist das Gelän-
de verlassen. Nur das große goldene Horn und der durch-
wühlte Stapel mit den Waffen sind noch da.
Nachdem Peeta Beetee im spärlichen Schatten des
462
Füllhorns abgesetzt hat, ruft der Wiress zu sich. Sie hockt
sich neben ihn und er drückt ihr die Drahtrolle in die
Hände. »Mach sie sauber, ja?«, bittet er sie.
Wiress nickt, trippelt zum Ufer und taucht die Rolle
ins Wasser. Dabei singt sie ein lustiges Liedchen über eine
Maus, die an einer Uhr hochläuft. Offenbar ein Kinder-
lied, aber es scheint sie glücklich zu machen.
»Oh nein, nicht schon wieder dieses Lied«, sagt Johan-
na und verdreht die Augen. »Stundenlang ging das so, bis
sie mit ihrem Tick-tack anfing.«
Plötzlich richtet Wiress sich kerzengerade auf und deu-
tet auf den Dschungel. »Zwei«, sagt sie.
Ich folge ihrem Finger zu der Stelle, wo die Nebelwand
sich gerade auf den Strand wälzt. »Ja, schaut, Wiress hat
recht. Es ist zwei Uhr und der Nebel ist aufgezogen.«
»Wie ein Uhrwerk«, sagt Peeta. »Ganz schön clever,
dass du das herausgefunden hast, Wiress.«
Wiress lächelt und macht sich wieder daran, zu singen
und die Rolle ins Wasser zu tauchen. »Nicht nur clever«,
sagt Beetee. »Sie hat auch Intuition.« Alle schauen zu Bee-
tee, der wieder unter den Lebenden zu weilen scheint. »Sie
spürt die Dinge lange vor allen anderen. Wie ein Kanari-
envogel bei euch im Bergwerk.«
»Was hat es damit auf sich?«, fragt Finnick.
463
»Bei uns nehmen sie einen Kanarienvogel mit runter in
die Kohlestollen. Er soll die Leute warnen, wenn sich die
Luft dort unten mit Gas anreichert«, erkläre ich.
»Und was tut er dann, umfallen und sterben?«, fragt
Johanna.
»Er hört auf zu singen. Dann sollte man schleunigst
machen, dass man rauskommt. Aber wenn die Luft zu
schlecht ist, stirbt er, ja. Und alle anderen auch.« Ich
möchte nicht über sterbende Singvögel reden. Das weckt
Gedanken an den Tod meines Vaters und an den von
Rue und an den von Maysilee Donner und an meine
Mutter, die Maysilees Singvogel geerbt hat. Na toll, und
schon denke ich an Gale, tief unten in dieser schreck-
lichen Mine, und über ihm schwebt Präsident Snows
Drohung. Dort unten ist es so leicht, einen Unfall zu ar-
rangieren. Ein stummer Kanarienvogel, ein Funke, mehr
braucht es nicht.
Jetzt stelle ich mir wieder vor, wie ich den Präsidenten
kaltmache.
Trotz ihres Ärgers über Wiress ist Johanna so vergnügt,
wie ich sie in der Arena noch nie gesehen habe. Während
ich meinen Vorrat an Pfeilen ergänze, wühlt sie in dem
Stapel herum, bis sie mit zwei martialisch aussehenden
Äxten wieder zum Vorschein kommt. Komische Wahl,
464
denke ich, bis ich mit ansehe, wie sie eine davon mit
solcher Kraft schleudert, dass sie in dem von der Sonne
aufgeweichten Gold des Füllhorns stecken bleibt. Natür-
lich. Johanna Mason. Distrikt 7. Holz. Sie hat schon Äxte
durch die Gegend geworfen, ehe sie laufen konnte. Wie
Finnick mit seinem Dreizack. Oder Beetee mit seinem
Draht. Rue mit ihrem Wissen über Pflanzen. Mir wird be-
wusst, dass die Tribute aus Distrikt 12 in all den Jahren
noch mit einem weiteren Nachteil zu kämpfen hatten. Wir
gehen erst mit achtzehn ins Bergwerk. Offenbar erlernen
alle anderen ihr Handwerk viel früher. Im Bergwerk tut
man Dinge, die sich bei den Spielen als nützlich erweisen
könnten. Eine Spitzhacke schwingen. Sprengen. Damit
kann man sich einen Vorteil verschaffen. Wie ich mit dem
Jagen. Aber wir lernen diese Dinge zu spät.
Während ich mich mit den Waffen beschäftigte, hat
Peeta sich auf den Boden gehockt und mit der Messerspit-
ze etwas auf ein großes weiches Blatt gemalt, das er aus
dem Dschungel mitgenommen hat. Ich schaue ihm über
die Schulter. Er zeichnet eine Karte von der Arena. In der
Mitte steht das Füllhorn auf seinem Ring aus Sand mit
den zwölf Strahlen, die davon abgehen. Wie eine in zwölf
gleiche Stücke unterteilte Torte.
Ein weiterer Kreis stellt die Wasserlinie dar und ein
465
noch etwas weiterer bezeichnet den Rand des Dschungels.
»Sieh dir mal die Position des Füllhorns an«, sagt er.
Ich betrachte das Füllhorn und sehe, was er meint.
»Das spitze Ende weist auf zwölf Uhr«, sage ich.
»Genau, das ist also oben bei der Uhr«, sagt er und
ritzt flink die Zahlen eins bis zwölf aufs Ziffernblatt. »Von
zwölf bis eins blitzt es.« In kleinen Buchstaben schreibt er
Blitz in das entsprechende Tortenstück und in die folgen-
den Stücke trägt er im Uhrzeigersinn Blut, Nebel und Af-
fen ein.
»Und zwischen zehn und elf kommt die Welle«, sage
ich. Er fügt auch diese hinzu. Finnick und Johanna stoßen
zu uns, bis an die Zähne mit Dreizacken, Äxten und Mes-
sern bewaffnet.
»Ist euch in den anderen Sektoren irgendwas Unge-
wöhnliches aufgefallen?«, frage ich Johanna und Beetee,
denn vielleicht haben sie ja etwas gesehen, das wir nicht
bemerkt haben. Aber alles, was sie gesehen haben, war eine
Menge Blut. »Da könnte so ziemlich alles auf uns warten.«
»Ich werde markieren, wo die Waffen der Spielmacher
uns auch außerhalb des Dschungels verfolgen, damit wir
diese Abschnitte meiden«, sagt Peeta und streicht die Strän-
de bei Nebel und Wel e durch. Dann setzt er sich wieder.
»Na, da wissen wir doch schon viel mehr als heute Morgen.«
466
Wir nicken und in diesem Augenblick fällt mir plötz-
lich die Stille auf. Unser Kanarienvogel hat aufgehört zu
singen.
Ich verliere keine Zeit. Während ich herumfahre, lege
ich einen Pfeil ein. Ich sehe Gloss, der tropfnass dasteht
und Wiress zu Boden gleiten lässt, ihre aufgeschlitzte Keh-
le sieht aus wie ein hellrotes Lächeln. Die Spitze meines
Pfeils verschwindet in seiner rechten Schläfe, und in dem
kurzen Augenblick, den es braucht, um einen neuen Pfeil
einzulegen, schmettert Johanna eine Axt in Cashmeres
Brust. Finnick wehrt den Speer ab, den Brutus auf Peeta
geschleudert hat, und bekommt dafür Enobarias Messer
in den Oberschenkel. Wäre da nicht das Füllhorn, das ih-
nen Deckung gibt, wären sie jetzt tot, die beiden Tribute
aus Distrikt 2. Ich nehme die Verfolgung auf. Bum! Bum!
Bum! Die Kanone bestätigt, dass für Wiress jede Hilfe
zu spät kommt und es nicht mehr nötig ist, Gloss oder
Cashmere den Rest zu geben. Meine Verbündeten und ich
rennen um das Horn herum, wir machen uns an die Ver-
folgung von Brutus und Enobaria, die über einen Sand-
streifen auf den Dschungel zuhetzen.
Plötzlich ruckt der Boden unter meinen Füßen und
ich werde seitwärts in den Sand geschleudert. Der Ring
aus Land rund um das Füllhorn beginnt sich zu drehen,
467
immer schneller, bis der Dschungel zu einem verschwom-
menen Etwas wird. Ich spüre die Fliehkraft, die mich zum
Wasser zieht, und grabe auf der Suche nach Halt Hän-
de und Füße in den Sand. Umherwirbelnder Sand und
Schwindelgefühl zwingen mich, die Augen fest zu schlie-
ßen. Ich kann buchstäblich nichts tun außer durchhalten,
bis wir ohne Vorankündigung abrupt wieder anhalten.
Hustend und würgend setze ich mich langsam auf und
stelle fest, dass es meinen Gefährten genauso ergangen
ist. Finnick, Johanna und Peeta haben sich halten können.
Die drei Toten sind hinaus ins Salzwasser geschleudert
worden.
Von dem Zeitpunkt an, da Wiress aufgehört hat zu sin-
gen, sind nicht mehr als ein oder zwei Minuten vergangen.
Keuchend sitzen wir da und pulen uns den Sand aus dem
Mund.
»Wo ist Minus?«, fragt Johanna plötzlich. Im Nu sind
wir auf den Beinen, wenn auch wackelig. Ein Gang rund
um das Füllhorn bestätigt, dass er fort ist. Finnick ent-
deckt ihn zwanzig Meter entfernt verzweifelt strampelnd
im Wasser und schwimmt hinaus, um ihn zu bergen.
In diesem Moment fällt mir die Drahtrolle ein, die so
wichtig für Beetee ist. Hektisch schaue ich mich um. Wo
ist sie? Wo ist sie? Dann entdecke ich sie, Wiress hält sie
468
immer noch fest, weit draußen im Wasser. Bei dem Ge-
danken, was ich jetzt tun muss, zieht sich mir der Magen
zusammen. »Gebt mir Deckung«, sage ich zu den anderen.
Ich werfe meine Waffen weg und laufe den Streifen ent-
lang, der ihrem Körper am nächsten ist. Ohne abzubrem-
sen, springe ich ins Wasser und schwimme auf sie zu. Aus
dem Augenwinkel erkenne ich das Hovercraft, das über
uns erscheint, und den Greifer, der heruntergelassen wird,
um Wiress fortzuschaffen. Aber ich werde nicht langsa-
mer. Ich schwimme, so schnell ich kann, rassele in ihren
Körper. Keuchend tauche ich auf, versuche so wenig wie
möglich von dem Wasser zu schlucken, das sich mit dem
Blut aus der offenen Wunde an ihrem Hals vermischt. Wi-
ress treibt auf dem Rücken, ihr Gürtel und der Tod halten
sie über Wasser, die Augen starren in die erbarmungslo-
se Sonne. Während ich Wasser trete, entreiße ich ihren
Fingern, die nichts mehr hergeben wollen, gewaltsam die
Drahtrolle. Ich kann nichts mehr für sie tun, außer ihr
die Lider zu schließen, ihr Lebewohl zuzuflüstern und sie
dann sich selbst zu überlassen. Als ich die Drahtrolle auf
den Sand werfe und mich aus dem Wasser ziehe, ist ihr
Körper schon fort. Aber ich schmecke noch immer ihr
Blut, vermischt mit Meersalz.
Ich gehe zurück zum Füllhorn. Finnick hat Beetee
469
wiederbelebt, der reichlich Wasser geschluckt hat. Er setzt
sich auf und prustet. Zum Glück hat er daran gedacht,
seine Brille festzuhalten, so kann er wenigstens sehen. Ich
lege ihm die Drahtrolle in den Schoß. Sie ist blitzsauber,
kein Blut mehr daran zu sehen. Er wickelt ein Stück Draht
ab und lässt es durch die Finger laufen. Zum ersten Mal
sehe ich genauer hin. Dieser Draht ist ganz anders als der,
den ich kenne. Er ist blassgolden und so dünn wie ein
Haar. Er muss viele Kilometer lang sein, wenn ich mir die
Rolle so anschaue. Aber ich frage nicht, weil ich weiß, dass
Beetee mit den Gedanken bei Wiress ist.
Ich schaue in die ernsten Gesichter der anderen. Alle
haben sie nun ihre Distriktpartner verloren, Finnick, Jo-
hanna und Beetee. Ich gehe hinüber zu Peeta und schlinge
die Arme um ihn und eine Zeit lang sagt keiner was.
»Lasst uns von dieser stinkenden Insel verschwinden«,
sagt Johanna schließlich. Unsere Waffen haben wir weit-
gehend retten können. Zum Glück halten die Ranken
hier was aus und der Fallschirm mit Zapfhahn und Sal-
be hängt noch fest an meinem Gürtel. Finnick zieht das
Unterhemd aus und bindet es um die Wunde, die Eno-
barias Messer in seinem Schenkel hinterlassen hat; sie ist
nicht tief. Beetee meint, dass er jetzt laufen kann, wenn
wir langsam gehen, ich helfe ihm hoch. Wir beschließen,
470
zum Zwölf-Uhr-Strand zu gehen. Dort dürften wir ein
paar Stunden Ruhe haben, ohne mit giftigen Dämpfen
rechnen zu müssen. Aber dann laufen Peeta, Johanna und
Finnick jeder in eine andere Richtung.
»Zwölf Uhr, oder?«, sagt Peeta. »Die Spitze zeigt auf die
Zwölf.«
»Das hat sie, bevor sie uns durcheinandergewirbelt
haben«, sagt Finnick. »Ich orientiere mich lieber an der
Sonne.«
»Die Sonne sagt dir nur, dass es bald vier Uhr ist, Fin-
nick«, sage ich.
»Wenn ich recht verstehe«, mischt Beetee sich ein, »will
Katniss sagen, dass wir zwar wissen, wie viel Uhr es ist,
aber nicht unbedingt, wo auf der Uhr sich die Vier befin-
det. Wir haben vielleicht eine ungefähre Ahnung, in wel-
che Richtung es geht. Vorausgesetzt, sie haben den äuße-
ren Ring nicht auch versetzt.«
Nein, Katniss wollte nichts derart Ausgefeiltes sagen.
Beetees Theorie geht weit über meine Bemerkung zur Son-
ne hinaus. Aber ich nicke nur, als wäre genau das mein
Gedanke gewesen. »Ja, und das bedeutet, dass jeder dieser
Sandstreifen zur Zwölf führen könnte«, sage ich.
Wir umrunden das Füllhorn und erforschen den
Dschungel. Er ist verwirrend gleichförmig. Ich erinnere
471
mich an den großen Baum, in den um zwölf Uhr der erste
Blitz einschlug, doch in jedem Sektor gibt es einen ähnli-
chen Baum. Johanna schlägt vor, den Spuren von Brutus
und Enobaria zu folgen, aber sie sind verweht oder weg-
gewaschen worden. Es ist unmöglich, irgendetwas zu er-
kennen. »Hätte ich die Uhr doch nie erwähnt«, sage ich
verbittert. »Jetzt haben sie uns auch noch diesen Vorteil
genommen.«
»Nur vorübergehend«, sagt Beetee. »Um zehn, wenn
die Welle kommt, sind wir wieder auf Kurs.«
»Genau, die ganze Arena können sie nicht neu desig-
nen«, stimmt Peeta zu.
»Was soll’s«, sagt Johanna ungeduldig. »Du musstest
es uns sagen, sonst hätten wir doch nie unser Lager ab-
gebrochen, Dummerchen.« Eigenartig, aber ihre logische,
wenn auch erniedrigende Antwort ist die einzige, die mich
tröstet. Ja, ich musste es ihnen sagen, damit sie sich auf-
raffen. »Vorwärts, ich brauche Wasser. Hat einer ein gutes
Bauchgefühl?«
Wir entscheiden uns für irgendeinen Streifen und fol-
gen ihm, ohne zu wissen, auf welche Ziffer wir uns zube-
wegen. Als wir den Dschungel erreichen, spähen wir hin-
ein und versuchen zu erraten, was uns dort erwarten mag.
»Müsste eigentlich die Affenstunde sein. Aber ich kann
472
keine Affen entdecken«, sagt Peeta. »Ich schau mal, ob ich
einen Baum anzapfen kann.«
»Nein, ich bin dran«, sagt Finnick.
»Dann gebe ich dir wenigstens Rückendeckung«, er-
klärt Peeta.
»Das kann Katniss übernehmen«, sagt Johanna. »Dich
brauchen wir, um eine neue Karte zu zeichnen. Die andere
ist doch weggespült worden.« Sie reißt ein großes Blatt von
einem Baum und reicht es ihm.
Einen Augenblick lang keimt in mir der Verdacht auf,
sie wollen Peeta und mich trennen und uns beide töten.
Aber das ist unlogisch. Solange Finnick sich an dem Baum
zu schaffen macht, bin ich im Vorteil, und Peeta ist viel
stärker als Johanna. Also folge ich Finnick etwa fünfzehn
Meter in den Dschungel hinein, wo er einen brauchbaren
Baum findet und mit seinem Messer ein Loch hineinzu-
stechen beginnt.
Wie ich so dastehe, mit schussbereitem Bogen, werde
ich das beklemmende Gefühl nicht los, dass hier etwas
vorgeht und dass es mit Peeta zu tun hat. Ich gehe die Er-
eignisse durch, von dem Moment an, als der Gong ertönte,
und suche nach dem Grund für mein Unbehagen. Fin-
nick, der Peeta von seiner Metallscheibe wegzieht. Finnick,
der Peeta wiederbelebt, nachdem das Kraftfeld sein Herz
473
zum Stillstand brachte. Mags, die in den Nebel rennt, da-
mit Finnick Peeta tragen kann. Die Morfixerin, die sich
zwischen Peeta und den Affen wirft. Der Kampf mit den
Karrieros ging so schnell und war im Nu wieder vorbei,
aber hat Finnick nicht Brutus’ Speer abgefangen, bevor er
Peeta traf, obwohl er dadurch Enobaria Gelegenheit gab,
ihm ihr Messer ins Bein zu rammen? Und jetzt will Johan-
na, dass er eine Karte zeichnet, anstatt sich den Gefahren
des Dschungels auszusetzen …
Keine Frage. Aus mir völ ig unerklärlichen Gründen ver-
suchen einige der anderen Sieger, Peeta das Leben zu retten,
selbst wenn es bedeutet, dass sie ihr eigenes opfern müssen.
Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Zum einen ist das
doch meine Aufgabe. Und zum anderen weiß ich über-
haupt nicht, was das soll. Nur einer von uns kommt hier
heraus. Wieso haben sie dann beschlossen, Peeta zu be-
schützen? Was mag Haymitch ihnen gesagt haben, was
hat er zum Tausch angeboten, damit sie Peetas Leben über
ihr eigenes stellen?
Ich kenne meine ganz persönlichen Gründe, weshalb
ich will, dass Peeta überlebt. Er ist mein Freund, auf die-
se Weise biete ich dem Kapitol die Stirn, untergrabe ihre
schrecklichen Spiele. Doch wenn mich nichts mit ihm
verbinden würde, weshalb sollte ich ihn retten wollen,
474
damit er überlebt und nicht ich? Er ist tapfer, sicher, aber
alle anderen sind auch tapfer genug gewesen, ihre Spie-
le zu überleben. Er hat ein besonders gutes Herz, das ist
kaum zu übersehen, aber trotzdem … und da endlich fällt
mir ein, was Peeta so viel besser kann als wir anderen. Er
kann mit Worten umgehen. In beiden Interviews hat er
die Konkurrenz in Grund und Boden geredet. Und viel-
leicht liegt es an seinem guten Herzen, dass er durch seine
Art zu reden eine Menschenmenge auf seine Seite ziehen
kann. Ein ganzes Land.
Ich weiß noch, dass ich mal dachte, genau diese Gabe
müsse der Führer unserer Revolution haben. Hat Hay-
mitch die anderen davon überzeugt? Dass Peetas Zunge
eine viel mächtigere Waffe gegen das Kapitol wäre als alle
physische Stärke, die wir anderen geltend machen könn-
ten? Ich weiß es nicht. Es erscheint mir immer noch ein
sehr großer Sprung über den eigenen Schatten für eini-
ge der Tribute. Für Johanna Mason zum Beispiel. Doch
welche andere Erklärung kann es für ihre entschlossenen
Bemühungen, sein Leben zu retten, geben?
»Gibst du mir mal den Zapfhahn, Katniss?«, fragt Fin-
nick und holt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich schnei-
de die Ranke durch, mit der ich den Hahn an meinem
Gürtel befestigt habe, und reiche ihn Finnick.
475
In diesem Augenblick höre ich sie schreien. So voller
Angst und Schmerz, dass mir das Blut in den Adern ge-
friert. Und so vertraut. Ich lasse den Hahn fallen, vergesse,
wo ich bin und was vor mir liegt, ich weiß nur, dass ich zu
ihr muss, sie beschützen. Wie wild geworden renne ich in
den Dschungel hinein, der Stimme nach, achtlos gegen-
über der Gefahr, breche durch Ranken und Geäst, durch
alles, was mir den Weg zu ihr versperrt.
Den Weg zu meiner kleinen Schwester.
476
24 Wo ist sie? Was machen sie mit ihr?
»Prim!«, schreie ich. »Prim!« Die
Antwort ist nur ein weiterer gequälter Schrei. Wie ist
sie hergekommen? Warum ist sie Teil der Spiele? »Prim!«
Zweige schneiden mir in Gesicht und Arme, Kriech-
pflanzen greifen nach meinen Füßen. Aber ich komme ihr
näher. Immer näher. Bin ihr jetzt ganz nah. Der Schweiß
rinnt mir übers Gesicht, sticht in die halb verheilten Säu-
rewunden. In der feuchtwarmen, sauerstoffarmen Luft
ringe ich nach Atem. Prim gibt einen Laut von sich, so
ein verlorenes, endgültiges Geräusch, dass ich mir nicht
vorstellen mag, was sie mit ihr gemacht haben.
»Prim!« Ich breche durch eine grüne Wand auf eine
kleine Lichtung, und der Laut erklingt erneut, direkt über
mir. Abrupt lege ich den Kopf in den Nacken. Hängt sie
gefangen in den Bäumen? Verzweifelt suche ich das Geäst
ab, aber ich kann nichts entdecken. »Prim?«, flehe ich. Ich
höre sie, doch ich kann sie nicht sehen. Der nächste Kla-
gelaut erklingt, klar wie eine Glocke, und da besteht kein
Zweifel mehr. Er kommt aus dem Schnabel eines kleinen
schwarzen Vogels mit einer Haube auf dem Kopf, der sich
477
etwa drei Meter über mir auf einem Zweig niedergelassen
hat. Und dann begreife ich.
Es ist ein Schnattertölpel.
Ich habe noch nie einen gesehen, ich hatte gedacht, es
gäbe keine mehr. Ich lehne mich gegen einen Baumstamm,
presse die Hand auf meine stechenden Seiten und betrach-
te ihn. Die Mutation, die Urversion, der Stammvater. Vor
meinem inneren Auge lasse ich eine Spottdrossel erstehen,
verschmelze sie mit einem Schnattertölpel und erkenne,
wie aus den beiden mein Spotttölpel geworden ist. Nichts
an dem Vogel verrät, dass er eine Mutation ist. Nichts au-
ßer der täuschend echten Imitation von Prims Stimme,
die aus seinem Schnabel kommt. Mit einem Pfeil in die
Kehle bringe ich ihn zum Schweigen. Der Vogel fällt zu
Boden. Ich ziehe den Pfeil heraus und drehe dem Vogel
den Hals um, sicherheitshalber. Dann schleudere ich das
widerliche Ding in den Dschungel. Kein Hunger der Welt
könnte mich in Versuchung führen, ihn zu essen.
Das war nicht real, sage ich mir. So wie letztes Jahr die
mutierten Wölfe nicht die echten toten Tribute waren. Das
ist nur ein sadistischer Trick der Spielmacher.
Finnick bricht auf die Lichtung, als ich gerade meinen
Pfeil mit Moos abwische. »Katniss?«
»Alles in Ordnung. Ich bin okay«, sage ich, obwohl ich
478
mich ganz und gar nicht okay fühle. »Ich dachte, ich hät-
te meine Schwester gehört, aber …« Ein durchdringender
Schrei unterbricht mich. Diesmal ist es eine andere Stim-
me, nicht die von Prim, vielleicht von einer jungen Frau.
Ich erkenne sie nicht. Doch auf Finnick macht sie unmit-
telbar Eindruck. Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht und
die Pupillen weiten sich vor Schreck. »Bleib hier, Finnick!«,
rufe ich und strecke die Hand aus, um ihn zu beruhigen,
doch er ist schon auf und davon. Losgestürzt auf der Su-
che nach dem Opfer, genauso kopflos wie ich, als ich Prim
hinterherjagte. »Finnick!«, rufe ich, aber ich weiß, dass er
nicht umkehren und warten wird, um sich eine vernünf-
tige Erklärung anzuhören. Mir bleibt nur, mich an seine
Fersen zu heften.
Er ist schnell, aber es ist nicht schwer, ihm zu folgen,
denn er hinterlässt eine deutliche Bresche. Doch der Vo-
gel ist gut einen halben Kilometer entfernt, meist geht es
bergauf, und als ich Finnick endlich einhole, bin ich völlig
außer Atem. Er läuft um einen riesigen Baum herum. Der
Stamm ist über einen Meter dick, die ersten Äste beginnen
in gut sieben Metern Höhe. Der Schrei der Frau kommt
irgendwo aus dem Grün über uns, doch der Schnatter-
tölpel ist gut versteckt. Auch Finnick schreit, immer und
immer wieder: »Annie! Annie!« Er ist voller Panik, nicht
479
ansprechbar, deshalb tue ich, was ich sowieso getan hät-
te. Ich besteige einen benachbarten Baum, suche, bis ich
den Schnattertölpel ausfindig gemacht habe, und erledige
ihn mit einem Pfeil. Er fällt Finnick direkt vor die Füße.
Finnick hebt ihn auf, langsam dämmert es ihm, doch als
ich mich herunterlasse und zu ihm gehe, sieht er noch ver-
zweifelter aus.
»Alles in Ordnung, Finnick. Das ist nur ein Schnat-
tertölpel. Sie spielen uns einen Streich«, sage ich. »Das ist
nicht real. Es ist nicht deine … Annie.«
»Nein, es ist nicht Annie. Aber die Stimme gehörte ihr.
Schnattertölpel imitieren, was sie hören. Woher haben sie
diese Schreie, Katniss?«, fragt er.
Als mir klar wird, was das bedeutet, spüre ich, wie
jetzt ich blass werde. »Finnick, du meinst doch nicht
etwa, die …«
»Doch. Meine ich. Genau das denke ich«, sagt er.
Ich stelle mir Prim vor, in einem weißen Raum, an ei-
nem Tisch festgeschnallt, während maskierte Gestalten in
langen Gewändern ihr diese Laute entlocken. Irgendwo
foltern sie sie oder haben sie gefoltert, um an diese Lau-
te zu kommen. Meine Knie geben nach und ich sinke zu
Boden. Finnick will mir etwas sagen, doch ich kann ihn
nicht verstehen. Dafür höre ich plötzlich einen Vogel, der
480
irgendwo zu meiner Linken anfängt zu singen. Und dies-
mal gehört die Stimme Gale.
Ehe ich losrennen kann, packt Finnick mich am
Arm. »Nein. Das ist er nicht.« Er zerrt mich bergab, zum
Strand. »Wir müssen hier raus!« Doch Gales Stimme ist
so voller Schmerz, dass ich versuche, mich loszureißen
und zu ihm zu laufen. »Das ist nicht er, Katniss! Das
ist eine Mutation!«, schreit Finnick mich an. »Los jetzt!«
Halb schleift er mich, halb trägt er mich weiter, bis ich
begreife, was er gesagt hat. Er hat recht, das ist nur ein
Schnattertölpel. Gale hat nichts davon, wenn ich den Vo-
gel töte. Trotzdem, es ist Gales Stimme, und irgendwer
hat ihn irgendwo und irgendwann dazu gebracht, solche
Laute auszustoßen.
Aber ich wehre mich nicht mehr gegen Finnick. Wie
in der Nacht mit dem Nebel fliehe ich vor etwas, gegen
das ich nicht ankämpfen kann. Das mir nur Leid zufügen
kann. Nur dass es diesmal mein Herz ist, das verätzt wird,
und nicht mein Körper. Mit Sicherheit sind die Vögel eine
weitere Waffe der Uhr. Vier Uhr, vermute ich mal. Wenn
die Zeiger auf vier Uhr rücken, gehen die Affen nach Hau-
se und die Schnattertölpel kommen hervor und spielen auf.
Finnick hat recht: Wir müssen so schnell wie möglich raus
hier. Nur dass Haymitch uns diesmal todsicher nichts per
481
Fallschirm wird schicken können, das Finnick und mir
hilft, diese Wunden zu heilen.
Am Dschungelrand stehen Peeta und Johanna, was
mich erleichtert und zugleich wütend macht. Wieso ist
Peeta mir nicht zu Hilfe gekommen? Wieso ist uns kei-
ner gefolgt? Selbst jetzt noch zögert er, die Hände erhoben,
die Handflächen uns zugewandt, die Lippen bewegen sich,
doch die Worte erreichen uns nicht. Warum?
Die Wand ist so transparent, dass wir in vollem Lauf
dagegenprallen und auf den Dschungelboden zurückge-
schleudert werden. Ich habe Glück, meine Schulter hat
den Aufprall weitgehend abgefangen. Aber Finnick ist mit
dem Gesicht voll dagegengeknallt und jetzt schießt das
Blut nur so aus seiner Nase. Deshalb also sind Peeta und
Johanna und auch Beetee, der hinter ihnen traurig den
Kopf schüttelt, uns nicht zu Hilfe gekommen. Eine un-
sichtbare Barriere versperrt den Zugang zum Strand. Kein
Kraftfeld diesmal. Man kann die harte, glatte Oberfläche
nach Belieben berühren. Doch weder Peetas Messer noch
Johannas Axt vermag ihr auch nur einen Kratzer zuzufü-
gen. Ich gehe ein paar Meter nach einer Seite und stelle
fest, dass die Wand wohl den gesamten Sektor zwischen
vier und fünf Uhr einschließt. Dass wir wie die Mäuse in
der Falle sitzen, bis die Stunde vorbei ist.
482
Peeta presst die Hand gegen die Oberfläche, und ich
halte meine dagegen, als könnte ich ihn durch die Wand
hindurch spüren. Ich sehe, dass er die Lippen bewegt,
doch ich kann ihn nicht hören, kann überhaupt nichts
hören außerhalb unseres Segments. Ich versuche zu erra-
ten, was er sagt, aber ich kann mich nicht konzentrieren,
deshalb starre ich nur auf sein Gesicht und bemühe mich,
meine fünf Sinne beisammenzuhalten.
Dann kommen die Vögel angeflogen. Einer nach dem
anderen. Lassen sich auf den Ästen um uns herum nieder.
Und aus ihren Schnäbeln ergießt sich ein sorgsam abge-
stimmter Chor des Grauens. Finnick kapituliert sofort, er
sinkt zu Boden und presst die Hände auf die Ohren, als
wol te er seinen Schädel zerquetschen. Eine Zeit lang versu-
che ich mich zu wehren. Ich verschieße den Inhalt meines
Köchers auf die verhassten Vögel. Doch sobald einer tot he-
runterfäl t, nimmt ein anderer seinen Platz ein. Schließlich
gebe auch ich auf. Ich rol e mich neben Finnick zusammen
und versuche die unerträglichen Schreie auszublenden, die
Schreie von Prim, Gale, meiner Mutter, Madge, Rory, Vick
und sogar Posy, der wehrlosen kleinen Posy …
Als ich Peetas Hand spüre, weiß ich, dass es vorbei ist.
Ich merke, wie ich hochgehoben und aus dem Dschun-
gel getragen werde. Trotzdem habe ich die Augen noch
483
immer fest geschlossen, halte mir die Ohren zu, bleibe ver-
krampft und kann nicht locker lassen. Peeta bettet mich
in seinen Schoß, wiegt mich sanft und redet beruhigend
auf mich ein. Es dauert lange, bis sich der eiserne Griff, in
dem sich mein Körper befindet, lockert. Und da fange ich
an zu zittern.
»Es ist alles gut, Katniss«, flüstert er.
»Du hast sie nicht gehört«, antworte ich.
»Ich hab Prim gehört. Gleich am Anfang. Aber das war
nicht sie«, sagt er. »Es war ein Schnattertölpel.«
»Das war sie. Irgendwo. Der Schnattertölpel hat es sich
nur gemerkt«, sage ich.
»Nein, sie wollen, dass du das denkst. So wie ich mich
letztes Jahr gefragt habe, ob diese Mutation wirklich
Glimmers Augen hatte. Aber es waren nicht Glimmers
Augen. Und das hier war nicht Prims Stimme. Oder wenn
doch, dann haben sie sie vielleicht aus einem Interview
und den Klang verzerrt. Damit sie sich so anhörte, wie sie
es wollten«, sagt er.
»Nein, sie haben sie gefoltert«, erwidere ich. »Wahr-
scheinlich ist sie tot.«
»Prim ist nicht tot, Katniss. Wie könnten sie Prim tö-
ten? Bald sind nur noch acht von uns übrig. Du weißt
doch, was dann geschieht, oder?«, sagt Peeta.
484
»Sieben von uns werden sterben«, sage ich ohne
Hoffnung.
»Nein, zu Hause, meine ich. Was geschieht, wenn nur
noch acht Tribute dabei sind?« Er hebt mein Kinn hoch, so-
dass ich ihn ansehen muss. Zwingt mich, ihm in die Augen
zu schauen. »Was geschieht dann? Bei den letzten acht?«
Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, also überlege
ich. »Bei den letzten acht?«, wiederhole ich. »Sie interview-
en unsere Familien und Freunde in der Heimat.«
»Stimmt genau«, sagt Peeta. »Sie interviewen unsere Fa-
milien und Freunde. Und wäre das möglich, wenn sie alle
getötet hätten?«
»Nicht?«, frage ich, immer noch unsicher.
»Nein. Daher wissen wir, dass Prim noch lebt. Sie wird
ja wohl die Erste sein, die sie interviewen, oder?«, sagt er.
Ich möchte ihm glauben. Unbedingt. Es ist nur … die-
se Stimmen …
»Erst Prim. Dann deine Mutter. Deinen Cousin, Gale.
Madge«, fährt er fort. »Es war ein Trick, Katniss. Ein
grausamer Trick. Aber nur wir können dadurch verletzt
werden. Wir sind in den Spielen. Nicht sie.«
»Glaubst du wirklich?«, frage ich.
»Ja, das glaube ich wirklich«, sagt Peeta. Ich schwanke,
ich denke daran, dass Peeta die Menschen dazu bringen
485
kann, alles zu glauben. Ich schaue zu Finnick hinüber und
warte auf eine Bestätigung, sehe, dass er Peetas Worten
gebannt lauscht. »Glaubst du das, Finnick?«, frage ich.
»Möglich wär’s. Ich weiß nicht«, sagt er. »Könnten sie
das, Beetee? Die echte Stimme von jemandem nehmen
und sie so verändern, dass sie …«
»Aber ja. Das ist gar nicht mal so schwer, Finnick. Bei
uns lernen die Kinder so was in der Schule«, sagt Beetee.
»Natürlich hat Peeta recht«, sagt Johanna im Brustton
der Überzeugung. »Das ganze Land vergöttert Katniss’
kleine Schwester. Wenn sie sie wirklich auf diese Weise
getötet hätten, dann hätten sie wahrscheinlich einen Auf-
stand am Hals. Und das wollen sie doch nicht, was?« Sie
wirft ihren Kopf zurück und schreit. »Das ganze Land in
Aufruhr? Das würden sie bestimmt nicht wollen!«
Mir bleibt der Mund offen stehen, so geschockt bin ich.
Niemand spricht so etwas in den Spielen aus. Nie. Tod-
sicher haben sie Johanna ausgeblendet und schneiden sie
jetzt eilig heraus. Doch ich habe sie gehört und ich wer-
de nie mehr so über sie denken können wie bisher. Einen
Preis für Freundlichkeit wird sie niemals bekommen, aber
mutig ist sie auf jeden Fall. Oder verrückt. Sie hebt ein
paar Muschelschalen auf, sagt: »Ich geh mal Wasser ho-
len«, und macht sich auf den Weg in den Dschungel.
486
Als sie an mir vorübergeht, greife ich unwil kürlich nach
ihrer Hand. »Geh nicht da rein. Die Vögel …« Die Vögel
müssen zwar verschwunden sein, aber ich möchte trotzdem
nicht, dass wieder jemand hineingeht. Nicht mal sie.
»Die können mir nichts anhaben. Ich bin nicht wie ihr.
Von meinen Lieben ist keiner mehr da«, sagt Johanna und
schüttelt mich ungeduldig ab. Als sie zurückkommt und
mir eine Muschelschale voll Wasser reicht, nicke ich zum
Dank, sage aber nichts, denn ich weiß, dass sie für das
Mitleid in meiner Stimme nur Verachtung übrig hätte.
Während Johanna Wasser und meine Pfeile holt, fum-
melt Beetee an seinem Draht herum, und Finnick macht
sich auf den Weg ans Ufer. Ich müsste mich auch mal wa-
schen, aber ich bleibe in Peetas Armen, ich bin noch im-
mer zu aufgewühlt, um mich zu bewegen.
»Wen haben sie auf Finnick angesetzt?«, fragt er.
»Jemanden namens Annie«, sage ich.
»Das muss Annie Cresta sein«, sagt er.
»Wer?«, frage ich.
»Annie Cresta. Das Mädchen, an deren Stelle Mags
sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat vor fünf oder sechs
Jahren gewonnen«, sagt Peeta.
Das müsste dann der Sommer nach dem Tod meines
Vaters gewesen sein, als ich begann, meine Familie zu
487
ernähren, als meine ganze Existenz damit ausgefüllt war,
gegen den Hunger zu kämpfen. »An diese Spiele kann
ich mich kaum erinnern«, sage ich. »War das das Jahr mit
dem Erdbeben?«
»Ja. Annie ist durchgedreht, als ihr Distriktpartner
enthauptet wurde. Rannte allein los und versteckte sich.
Doch bei dem Erdbeben brach ein Damm und der größte
Teil der Arena wurde überflutet. Sie gewann, weil sie am
besten schwimmen konnte«, sagt Peeta.
»Hat sich ihr Zustand seitdem gebessert?«, frage ich.
»Ihr Geisteszustand, meine ich.«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern, sie je-
mals noch bei den Spielen gesehen zu haben. Aber bei der
Ernte neulich wirkte sie nicht gerade stabil.«
Das also ist die Frau, die Finnick liebt, denke ich. Nicht
die schicken Mätressen im Kapitol. Sondern ein armes, ver-
rücktes Mädchen in der Heimat.
Eine Kanone ertönt und wir laufen alle am Strand zu-
sammen. Ein Hovercraft erscheint dort, wo wir den Sechs-
bis-sieben-Sektor vermuten. Wir schauen zu, wie der Grei-
fer fünfmal herunterfährt, um die verschiedenen Teile
eines zerfetzten Körpers aufzusammeln. Unmöglich zu
erkennen, um wen es sich handelt. Was immer um sechs
in diesem Sektor passiert, ich möchte es nie erfahren.
488
Auf einem Blatt zeichnet Peeta eine neue Karte und
fügt im Vier-bis-fünf-Feld ST für Schnattertölpel ein, und
in das Feld, wo gerade die Einzelteile des Tributs einge-
sammelt wurden, schreibt er einfach nur Bestie. Von sie-
ben Stunden der Uhr haben wir jetzt eine recht genaue
Vorstellung. Und wenn der Angriff der Schnattertölpel
irgendetwas Gutes hat, dann dass wir wieder wissen, an
welcher Stelle der Uhr wir uns befinden.
Finnick flicht einen neuen Wasserkorb und knüpft ein
Netz zum Fischen. Ich schwimme ein bisschen und reibe
meine Haut mit Salbe ein. Dann setze ich mich ans Ufer,
säubere die Fische, die Finnick fängt, und schaue zu, wie
die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Der helle Mond
geht bereits auf und taucht die Arena in dieses seltsame
Zwielicht. Wir wollen uns gerade zu unserem Mahl aus
rohem Fisch niederlassen, als die Hymne erklingt. Dann
erscheinen die Gesichter …
Cashmere. Gloss. Wiress. Mags. Die Frau aus Distrikt
5. Die Morfixerin, die sich für Peeta geopfert hat. Blight.
Der Mann aus Distrikt 10.
Acht tot. Plus die acht vom ersten Abend. Innerhalb
von anderthalb Tagen sind zwei Drittel von uns gestorben.
Das dürfte Rekord sein.
»Die verheizen uns ja regelrecht«, sagt Johanna.
489
»Wer ist noch übrig? Abgesehen von uns fünf und den
beiden aus Distrikt 2?«, fragt Finnick.
»Chaff«, sagt Peeta, ohne darüber nachdenken zu müs-
sen. Vielleicht hat er nach ihm Ausschau gehalten, wegen
Haymitch.
Ein Fallschirm mit einem Stapel mundgerechter vier-
eckiger Brötchen segelt herab. »Die sind aus deinem Dist-
rikt, stimmt’s, Beetee?«, fragt Peeta.
»Ja, aus Distrikt 3«, sagt er. »Wie viele sind es?«
Finnick zählt sie, wobei er jedes Einzelne in den Hän-
den dreht und wendet, bevor er sie nach einem bestimm-
ten Muster anordnet. Keine Ahnung, was Finnick mit
Brot hat, aber irgendwie scheint er davon besessen zu sein.
»Vierundzwanzig«, sagt er.
»Genau zwei Dutzend also?«, fragt Beetee. »Exakt vier-
undzwanzig«, sagt Finnick. »Wie sollen wir sie teilen?«
»Jeder isst drei, und wer beim Frühstück noch am Le-
ben ist, kann über den Rest bestimmen«, sagt Johanna.
Ich weiß nicht, warum ich darüber kichern muss. Wahr-
scheinlich, weil es aufrichtig ist. Johanna wirft mir einen
fast anerkennenden Blick zu. Nein, nicht anerkennend.
Aber leicht erfreut vielleicht.
Wir warten, bis die Riesenwelle den Zehn-bis-elf-Sek-
tor überrollt hat und das Wasser zurückgewichen ist, dann
490
gehen wir an den Strand dort, um unser Lager aufzu-
schlagen. Theoretisch müssten wir jetzt zwölf Stunden vor
dem Dschungel in Sicherheit sein. Aus dem Elf-bis-zwölf-
Sektor kommt ein unangenehmer Chor aus Klicklauten,
wahrscheinlich irgendeine üble Insektenart. Doch was
dieses Geräusch auch verursachen mag, es bleibt innerhalb
des Dschungels, und wir meiden diesen Teil des Strandes,
falls die Viecher doch nur auf einen unvorsichtigen Schritt
warten, um auszuschwärmen.
Ich begreife nicht, wie Johanna sich noch auf den Bei-
nen halten kann. Seit Beginn der Spiele hat sie nur eine
Stunde geschlafen. Peeta und ich melden uns freiwillig
für die erste Wache, weil wir ausgeruhter sind und weil
wir ein bisschen Zeit für uns haben möchten. Die anderen
schlafen sofort tief und fest. Nur Finnicks Schlaf ist unru-
hig, ab und zu höre ich, wie er Annies Namen flüstert.
Peeta und ich setzen uns nebeneinander, aber vonei-
nander abgewandt auf den feuchten Sand, meine rechte
Schulter und Hüfte berühren seine. Er schaut auf den
Dschungel und ich aufs Wasser, was mir guttut. Die Stim-
men der Schnattertölpel verfolgen mich noch immer und
die Insekten können das nicht übertönen. Nach einer
Weile lehne ich den Kopf gegen Peetas Schulter. Er streicht
mir über das Haar.
491
»Katniss«, sagt er sanft, »es hat keinen Sinn, so zu tun,
als wüssten wir nicht, was der andere vorhat.« Nein, wahr-
scheinlich nicht. Aber darüber reden ist auch nicht gerade
angenehm. Zumindest nicht für uns. Dafür werden die
Zuschauer im Kapitol jetzt an ihren Geräten kleben, um
nur ja kein Wort zu verpassen.
»Ich weiß nicht, was für einen Deal du mit Haymitch
gemacht zu haben glaubst, aber du sollst wissen, dass er
mir auch Versprechungen gemacht hat.« Natürlich, das
weiß ich selbst. Er hat Peeta eingeflüstert, sie könnten
irgendwie mein Leben retten, damit er keinen Verdacht
schöpft. »Wir können daher davon ausgehen, dass er einen
von uns angelogen hat.«
Jetzt horche ich auf. Ein Doppeldeal. Ein doppeltes
Versprechen. Und nur Haymitch weiß, welches ernst ge-
meint ist. Ich hebe den Kopf und begegne Peetas Blick.
»Warum fängst du ausgerechnet jetzt davon an?«
»Weil du nicht vergessen sollst, dass ich in einer ganz
anderen Lage bin als du. Wenn du stirbst und ich überle-
be, gibt es für mich zu Hause in Distrikt 12 keinen Grund
zum Weiterleben mehr. Du bist mein ganzes Leben. Ich
könnte nie mehr glücklich sein.« Ich versuche zu wider-
sprechen, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen.
»Für dich ist das anders. Ich sage nicht, dass es nicht hart
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wäre für dich. Aber du hast andere Menschen, für die es
sich lohnen würde weiterzuleben.«
Peeta zieht die Kette mit dem flachen Goldanhänger an
seinem Hals hervor. Er hält sie ins Mondlicht, sodass ich
den Spotttölpel deutlich sehen kann. Dann fährt er mit
dem Daumen über einen Verschluss, der mir bisher nicht
aufgefallen ist, und ein Deckel springt auf. Der Anhän-
ger ist nicht massiv, wie ich dachte, er ist ein Medaillon.
Mit Fotos darin. Rechts meine Mutter und Prim, beide
lachend. Links Gale. Tatsächlich lächelnd.
Nichts auf der Welt könnte mich in diesem Augenblick
mürber machen als diese drei Gesichter. Nach allem, was
ich heute Nachmittag mit anhören musste … ist das die
perfekte Waffe.
»Deine Familie braucht dich, Katniss«, sagt Peeta.
Meine Familie. Meine Mutter. Meine Schwester. Und
Gale, mein angeblicher Cousin. Es ist offensichtlich, was
Peeta damit sagen will. Gale ist Teil meiner Familie, oder
er wird es sein, falls ich überlebe. Ich werde ihn heiraten.
Peeta schenkt mir also sein Leben und Gale obendrein.
Damit ich weiß, dass ich daran nie zweifeln soll. Alles soll
ich von Peeta nehmen.
Ich erwarte eigentlich, dass er das Baby erwähnt, für
die Kameras, doch er schweigt. Und da wird mir bewusst,
493
dass das hier nichts mit den Spielen zu tun hat. Dass er
mir seine wahren Gefühle offenbart.
»Mich braucht eigentlich keiner«, sagt er, ganz ohne
Selbstmitleid. Es stimmt, seine Familie braucht ihn
nicht. Sie werden ihn beweinen, zusammen mit ein paar
Freunden, die man an einer Hand abzählen kann. Aber
sie werden darüber hinwegkommen. Wie auch Haymitch,
mithilfe einer Menge klarem Schnaps. Nur ein einziger
Mensch würde unwiderruflich Schaden nehmen, wenn
Peeta stirbt. Ich.
»Doch, ich«, sage ich. »Ich brauche dich.« Er wirkt er-
schrocken. Er atmet tief ein, als wol te er zu einer langen Er-
klärung ansetzen, und das ist nicht gut, ganz und gar nicht,
denn dann spricht er wieder von Prim und meiner Mutter
und al em, und das würde mich nur verwirren. Deshalb
verschließe ich seine Lippen schnel mit einem Kuss.
Ich spüre es wieder. Was ich erst einmal gespürt habe.
Letztes Jahr, in der Höhle, als ich Haymitch dazu bewegen
wollte, uns Nahrung zu schicken. Während dieser Spiele
und danach habe ich Peeta tausendmal geküsst. Aber nur
bei einem Kuss hat sich in mir drin etwas gerührt. Nur
bei diesem einen Kuss wollte ich mehr. Doch dann fing
meine Kopfwunde wieder an zu bluten, und er meinte, ich
solle mich hinlegen.
494
Diesmal unterbricht uns nichts. Und nach ein paar An-
sätzen gibt Peeta auf. In mir wird es immer wärmer, und
die Wärme strömt von meiner Brust durch den ganzen
Körper, durch Arme und Beine bis in die Spitzen. Doch
die Küsse stellen mich nicht zufrieden, im Gegenteil, ich
will immer mehr. Ich dachte, in Sachen Hunger wüsste
ich Bescheid, aber dies hier ist etwas ganz Neues.
Das erste Krachen des Gewitters – der Blitz, der um
Mitternacht in den Baum einschlägt – bringt uns in die
Wirklichkeit zurück. Auch Finnick wacht davon auf. Mit
einem gellenden Schrei fährt er hoch. Er gräbt die Fin-
ger in den Sand und vergewissert sich, dass sein Albtraum
nicht Wirklichkeit ist.
»Ich kann sowieso nicht mehr schlafen«, sagt er. »Ei-
ner von euch soll sich ausruhen.« Erst dann sieht er unsere
Gesichter und dass wir eng umschlungen dasitzen. »Oder
beide. Ich kann allein Wache halten.«
Doch das lässt Peeta nicht zu. »Zu gefährlich«, sagt
er. »Ich bin nicht müde. Leg du dich hin, Katniss.« Ich
protestiere nicht, denn wenn ich dafür sorgen soll, dass
er am Leben bleibt, muss ich jetzt schlafen. Er begleitet
mich zu den anderen. Dann legt er mir die Kette mit dem
Medaillon um und hält seine Hand auf die Stelle, wo an-
geblich unser Baby heranwächst. »Du wirst bestimmt eine
495
großartige Mutter«, sagt er. Er küsst mich ein letztes Mal
und geht zurück zu Finnick.
Seine Bemerkung über das Baby zeigt mir, dass unsere
Auszeit von den Spielen vorbei ist. Dass er weiß, dass die
Zuschauer sich fragen, wieso er nicht das überzeugends-
te Argument eingesetzt hat, das ihm zur Verfügung steht.
Dass die Sponsoren manipuliert werden müssen.
Oder steckt noch mehr dahinter?, frage ich mich, als ich
mich in den Sand lege. Wollte er mich daran erinnern,
dass ich eines Tages auch mit Gale Kinder haben könnte?
Falls es das gewesen sein sollte, dann war es ein Fehler.
Denn erstens hatte ich sowieso nie vor, Kinder zu bekom-
men. Und zweitens: Wenn einer von uns Kinder haben
sollte, dann Peeta, das sieht jeder.
Während ich wegdämmere, versuche ich mir diese Welt
vorzustellen, irgendwann in der Zukunft, ohne die Spiele,
ohne das Kapitol. Ein Ort wie die Weide in dem Lied, das
ich für Rue sang, als sie starb. Wo Peetas Kind in Sicher-
heit wäre.
496
25 Als ich aufwache, verspüre ich ein
kurzes, köstliches Glücksgefühl, das
irgendwie mit Peeta zusammenhängt. Ein absurdes Ge-
fühl, natürlich, denn so, wie die Dinge stehen, werde ich
innerhalb des nächsten Tages tot sein. Jedenfalls, wenn
alles nach Plan läuft und ich die übrigen Mitspieler ein-
schließlich meiner selbst eliminieren kann, damit Peeta
zum Sieger des Jubel-Jubiläums gekürt wird. Trotzdem,
dieses Gefühl kommt so unerwartet und ist so süß, dass
ich es festhalte, wenn auch nur für wenige Augenblicke.
Bis der grobe Sand, die heiße Sonne und meine jucken-
de Haut mich zwingen, in die Wirklichkeit zurückzu-
kehren.
Die anderen sind schon aufgestanden und beobach-
ten einen Fallschirm, der gerade auf den Strand gesegelt
kommt. Ich geselle mich zu ihnen. Wieder eine Lieferung
Brot. Exakt das gleiche wie gestern Abend. Vierundzwan-
zig Brötchen aus Distrikt 3. Damit haben wir insgesamt
dreiunddreißig. Jeder nimmt fünf, acht bleiben als Reser-
ve. Nach dem nächsten Toten unter uns ließe sich acht
prima teilen, aber das spricht keiner aus. Irgendwie ist der
497
Scherz, wer noch da sein wird, um diese Brötchen zu essen,
bei Tageslicht nicht mehr so witzig.
Wie lange können wir dieses Bündnis aufrechterhalten?
Es hat wohl keiner damit gerechnet, dass die Anzahl der
Tribute so schnel zusammenschmelzen würde. Was, wenn
ich mich geirrt habe und die anderen Peeta gar nicht be-
schützen wol ten? Wenn al es nur Zufal war oder Strategie,
um unser Vertrauen zu gewinnen, uns zur leichten Beute zu
machen, oder wenn ich überhaupt nicht durchblicke, was
hier eigentlich vor sich geht? Halt, da gibt es nichts zu deu-
teln. Ich blicke tatsächlich nicht durch. Und deshalb ist es
höchste Zeit für Peeta und mich, von hier zu verschwinden.
Ich setze mich neben Peeta in den Sand und esse meine
Brötchen. Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, ihn
anzuschauen. Vielleicht wegen der Küsserei gestern Abend,
obwohl das Küssen ja eigentlich nichts Neues für uns ist.
Für ihn hat es sich womöglich auch gar nicht anders ange-
fühlt. Vielleicht liegt es auch an dem Wissen, dass uns nur
noch so wenig Zeit bleibt. Und dass wir diametral entge-
gengesetzte Ziele verfolgen werden, sollten nur noch wir
beide übrig bleiben.
Nach dem Essen nehme ich seine Hand und ziehe ihn
zum Wasser. »Komm, ich bring dir Schwimmen bei.« Ich
muss ihn von den anderen weglotsen, um in Ruhe zu
498
besprechen, wie wir von hier verschwinden. Es wird nicht
leicht werden, denn sobald die anderen mitbekommen,
dass wir uns davonmachen wollen, werden wir umgehend
von Verbündeten zu Gejagten.
Wenn ich ihm wirklich das Schwimmen beibringen
wollte, müsste er den Gurt ausziehen, der ihn oben hält,
aber was spielt das jetzt für eine Rolle? Ich zeige ihm also
nur die grundlegenden Bewegungen und lasse ihn zur
Übung in hüfthohem Wasser hin und her schwimmen.
Anfangs, bemerke ich, lässt Johanna uns nicht aus den Au-
gen, doch irgendwann verliert sie das Interesse und legt
sich hin. Finnick knüpft aus Ranken ein neues Netz und
Beetee spielt mit seinem Draht. Jetzt.
Während Peeta seine Schwimmübungen macht, fällt
mir etwas auf. Der verbliebene Schorf beginnt sich zu
lösen. Ich nehme etwas Sand und reibe damit vorsichtig
über meinen Arm, bis ich die restliche Kruste abgerubbelt
und die darunterliegende neue Haut freigelegt habe. Ich
rufe Peeta und zeige ihm, wie auch er sich vom juckenden
Schorf befreien kann, und als wir so schrubben, lenke ich
das Gespräch auf die Flucht.
»Hör zu, jetzt sind wir nur noch zu acht. Ich denke, es
ist Zeit abzuhauen«, flüstere ich, obwohl mich keiner der
Tribute hören könnte.
499
Peeta nickt, und ich sehe, wie er über meinen Vorschlag
nachdenkt. Abwägt, wie die Chancen für uns stehen.
»Pass auf«, sagt er. »Lass uns hierbleiben, bis Brutus und
Enobaria tot sind. Wenn ich richtigliege, tüftelt Beetee ge-
rade an einer Falle für sie. Danach werden wir gehen, ich
verspreche es.«
Ich bin nicht ganz überzeugt. Doch wenn wir jetzt
gehen, sitzen uns zwei gegnerische Gruppen im Nacken.
Vielleicht sogar drei, denn wer weiß, was Chaff im Schilde
führt. Plus die Uhr, mit der wir zu kämpfen haben. Und
dann ist da noch Beetee. Johanna hat ihn nur meinet-
wegen hergebracht, und wenn wir weg sind, wird sie ihn
mit Sicherheit töten. Da fällt es mir wieder ein. Ich kann
Beetee sowieso nicht beschützen. Es kann nur einen Sieger
geben und das muss Peeta sein. Das muss ich akzeptieren.
Alle Entscheidungen, die ich treffe, müssen auf sein Über-
leben ausgerichtet sein.
»In Ordnung«, sage ich. »Wir bleiben hier, bis die Kar-
rieros tot sind. Aber dann ist Schluss.« Ich drehe mich
um und winke Finnick zu. »He, Finnick, komm ins Was-
ser! Wir wissen jetzt, wie wir dich wieder schön machen
können!«
Zu dritt scheuern wir uns die Krusten vom Körper,
helfen einander mit dem Rücken, und als wir aus dem
500
Wasser steigen, sind wir so rosig wie der Himmel. Noch
einmal tragen wir die Salbe auf, weil die Haut so wirkt, als
brauchte sie einen Sonnenschutz, doch auf weicher Haut
sieht sie nicht halb so schlimm aus, und im Dschungel
wird sie eine gute Tarnung sein.
Beetee ruft uns zu sich, und wir erfahren, dass er wäh-
rend all der Stunden, die er dagesessen und an seinem
Draht gefummelt hat, tatsächlich einen Plan ausgeheckt
hat. »Wir dürften uns einig sein, dass wir als Nächstes Bru-
tus und Enobaria töten müssen«, sagt er sanft. »Ich glau-
be nicht, dass sie uns noch einmal offen angreifen werden,
jetzt, da sie so in der Minderheit sind. Wir könnten uns
wohl an ihre Fersen heften, aber das wäre gefährlich und
anstrengend.«
»Meinst du, sie haben das mit der Uhr rausgekriegt?«,
frage ich.
»Wenn nicht, werden sie es bald rauskriegen. Vielleicht
nicht so exakt wie wir. Aber sie müssten wissen, dass zu-
mindest einige Sektoren für Angriffe ausgerüstet sind und
diese in regelmäßigen Abständen immer wieder auftreten.
Und es wird ihnen nicht entgangen sein, dass unser letzter
Kampf durch das Eingreifen der Spielmacher unterbunden
wurde. Wir wissen, dass das ein Versuch war, uns die Ori-
entierung zu nehmen, doch auch sie werden sich fragen,
501
was der Grund dafür war, und am Schluss könnten sie zu
der Erkenntnis gelangen, dass die Arena eine Uhr ist«, sagt
Beetee. »Daher denke ich, dass wir ihnen am besten eine
Falle stellen.«
»Warte, ich gehe Johanna holen«, sagt Finnick. »Sie
wird stinksauer sein, wenn sie mitbekommt, dass wir ohne
sie über so wichtige Dinge sprechen.«
»Oder auch nicht«, brumme ich in mich hinein, denn
eigentlich ist sie immer sauer. Aber ich halte ihn nicht
auf, denn wenn man mich in diesem Augenblick von ei-
nem Plan ausschließen würde, wäre ich auch ganz schön
stinkig.
Als sie dazugestoßen ist, scheucht Beetee uns allesamt
ein Stück zurück, damit er mehr Platz hat. Rasch zeich-
net er einen Kreis in den Sand und unterteilt ihn in zwölf
Segmente. Das ist die Arena, nicht mit Peetas präzisen
Strichen, sondern mit den groben Strichen eines Mannes,
der mit anderen, weit komplexeren Dingen beschäftigt ist.
»Wenn ihr Brutus und Enobaria wärt und nun über den
Dschungel Bescheid wusstest, wo würdet ihr euch am si-
chersten fühlen?«, fragt Beetee. Seine Stimme hat nichts
Herablassendes, trotzdem erinnert er mich an einen Leh-
rer, der die Schüler zum Mitmachen animieren will. Viel-
leicht liegt es am Altersunterschied oder einfach daran,
502
dass Beetee wahrscheinlich hunderttausendmal schlauer
ist als wir anderen.
»Wo wir sind, am Strand«, sagt Peeta. »Das ist der si-
cherste Ort.«
»Und warum sind sie dann nicht am Strand?«, fragt
Beetee.
»Weil wir hier sind«, sagt Johanna ungeduldig.
»Exakt. Wir sind hier und beanspruchen den Strand für
uns. Und wo würdet ihr dann hingehen?«, fragt Beetee.
Ich denke an den tödlichen Dschungel, den besetzten
Strand. »Ich würde mich am Rand des Dschungels verste-
cken. Dann könnte ich fliehen, wenn eine Attacke kommt.
Und ich könnte uns ausspionieren.«
»Auch um zu essen«, sagt Finnick. »Im Dschungel wim-
melt es von unbekannten Tieren und Pflanzen. Aber wer uns
beobachtet, weiß, dass die Nahrung aus dem Meer sicher ist.«
Beetee lächelt uns an, als hätten wir seine Erwartun-
gen übertroffen. »Sehr gut. Ihr habt’s begriffen. Jetzt hört
euch meinen Vorschlag an: Wir schlagen um zwölf Uhr
zu. Was passiert genau um Mittag und um Mitternacht?«
»Der Blitz schlägt in den Baum ein«, sage ich.
»Genau. Deshalb schlage ich vor, dass wir nach dem
nächsten Mittagsblitz und vor dem Mitternachtsblitz mei-
nen Draht von diesem Baum bis ins Salzwasser spannen,
503
das, wie ihr wisst, ein sehr guter Leiter ist. Wenn der Blitz
einschlägt, wird die Spannung über den Draht nicht nur
ins Wasser geleitet, sondern auch in den umliegenden
Strand, der noch von der Zehn-Uhr-Welle feucht sein
wird. Jeder, der in diesem Augenblick Wasser oder Sand
berührt, wird von dem Stromschlag getötet«, sagt Beetee.
Es entsteht eine längere Pause, in der wir Beetees Plan
verdauen. Mir erscheint er fantastisch bis unmöglich. Aber
warum eigentlich? Ich habe doch selbst unzählige Fallen
gestellt. Ist das nicht einfach eine größere, ausgeklügeltere
Falle? Kann sie vielleicht wirklich funktionieren? Dürfen
wir das überhaupt infrage stellen, wir Tribute, die darauf
abgerichtet sind, Fisch, Holz und Kohle zu gewinnen?
Was wissen wir schon darüber, wie man die Kräfte des
Himmels nutzbar macht?
Peeta hakt nach. »Hält der Draht das denn aus, so viel
Energie weiterzuleiten, Beetee? Er sieht so zart aus, als
würde er sofort durchschmoren …«
»Genau das wird er auch. Aber erst, nachdem der Strom
hindurchgelaufen ist. Er funktioniert wie eine Sicherung.
Nur, dass er Strom leitet«, sagt Beetee.
»Woher weißt du das?«, fragt Johanna, ganz und gar
nicht überzeugt.
»Weil ich ihn erfunden habe«, sagt Beetee und klingt
504
leicht überrascht. »Das ist kein herkömmlicher Draht. Ge-
nauso wenig, wie der Blitz ein natürlicher Blitz und der
Baum ein natürlicher Baum ist. Du kennst dich am besten
von uns allen mit Bäumen aus, Johanna. Er müsste doch
inzwischen längst zerstört sein, oder?«
»Ja«, sagt sie mürrisch.
»Macht euch keine Sorgen um den Draht – er wird tun,
was ich sage«, versichert Beetee uns.
»Und wo werden wir sein, wenn es passiert?«, fragt
Finnick.
»Tief genug im Dschungel, dass uns nichts passieren
kann«, antwortet Beetee.
»Aber dann kann den Karrieros auch nichts passieren,
es sei denn, sie halten sich in der Nähe des Wassers auf«,
werfe ich ein.
»Stimmt«, sagt Beetee.
»Aber das ganze Meeresgetier wird dabei doch gekocht«,
sagt Peeta.
»Vermutlich mehr als gekocht«, sagt Beetee. »Ziemlich
wahrscheinlich, dass wir diese Nahrungsquelle dabei ver-
nichten. Aber du hast im Dschungel doch andere Dinge
entdeckt, die man essen kann, nicht wahr, Katniss?«
»Ja. Nüsse und Ratten«, sage ich. »Und wir haben
Sponsoren.«
505
»Na, dann sehe ich darin kein Problem«, sagt Beetee.
»Aber da wir Verbündete sind und dieser Plan unsere ver-
einten Kräfte erfordert, liegt die Entscheidung darüber, ob
wir es versuchen wollen oder nicht, bei euch vieren.«
Wir sind wie Schulkinder. Unser Horizont reicht gera-
de so weit, dass wir seine Theorie unter den elementarsten
Gesichtspunkten betrachten können. Und die haben im
Grunde gar nichts mit seinem eigentlichen Plan zu tun.
Ich schaue in die ratlosen Gesichter der anderen. »War-
um nicht?«, sage ich. »Wenn es schiefgeht, schadet’s nicht.
Wenn es funktioniert, stehen die Chancen gut, dass sie ge-
tötet werden. Und selbst wenn uns das nicht gelingt und
wir nur die Fische töten, verlieren Brutus und Enobaria
auch eine Nahrungsquelle.«
»Ich sage, wir versuchen es«, sagt Peeta. »Katniss hat
recht.«
Finnick hebt die Brauen und sieht Johanna an. Ohne
sie wird er nicht zustimmen. »Also gut«, sagt sie schließ-
lich. »Auf jeden Fall besser, als ihnen im Dschungel hin-
terherzujagen. Und ich glaube nicht, dass sie hinter unse-
ren Plan kommen, wir kapieren ihn ja selbst kaum.«
Bevor Beetee an dem Baum herumbastelt, möchte er
ihn in Augenschein nehmen. Dem Stand der Sonne nach
ist es etwa neun Uhr morgens. Wir müssen unseren Strand
506
sowieso bald verlassen. Also brechen wir das Lager ab, ge-
hen hinüber zu dem Strand, der an den Gewittersektor
grenzt, und dringen in den Dschungel ein. Beetee ist noch
immer zu schwach, um den Aufstieg aus eigener Kraft zu
bewältigen, deshalb tragen Finnick und Peeta ihn abwech-
selnd. Ich überlasse Johanna die Führung, denn zum Baum
geht es ziemlich geradeaus, sie könnte uns kaum in die Irre
führen. Und ich kann mit einem Köcher vol er Pfeile sehr
viel mehr ausrichten als sie mit den beiden Äxten. Deshalb
ist es am klügsten, wenn ich die Nachhut bilde.
Die dichte, feuchtwarme Luft lastet auf mir. Seit die
Spiele begonnen haben, sind wir ihr ununterbrochen aus-
gesetzt. Mir wäre lieber, Haymitch würde statt Brot aus
Distrikt 3 mal wieder welches aus Distrikt 4 schicken, in
den letzten beiden Tagen habe ich eimerweise Schweiß
vergossen, und trotz all des Fischs lechze ich nach Salz.
Ein Stück Eis wäre auch nicht schlecht. Oder kaltes Was-
ser. Ich bin durchaus dankbar für die Flüssigkeit aus den
Bäumen, doch sie hat die gleiche Temperatur wie das Salz-
wasser und die Luft und die anderen Tribute und ich. Wir
sind allesamt ein großer warmer Eintopf.
Als wir uns dem Baum nähern, schlägt Finnick vor,
dass ich die Führung übernehme. »Katniss kann das
Kraftfeld hören«, erklärt er Beetee und Johanna.
507
»Hören?«, fragt Beetee.
»Nur mit dem Ohr, das im Kapitol wiederhergestellt
wurde«, sage ich. Beetee kann ich mit der Story natür-
lich nicht kommen. Bestimmt erinnert er sich noch daran,
dass er mir gezeigt hat, wie man ein Kraftfeld entdeckt,
wahrscheinlich ist es sogar unmöglich, Kraftfelder zu hö-
ren. Aber er verkneift sich einen Kommentar, aus welchem
Grund auch immer.
»Dann lasst unbedingt Katniss vorgehen«, sagt er, wäh-
rend er einen Augenblick stehen bleibt, um seine beschla-
genen Brillengläser zu putzen. »Mit Kraftfeldern ist nicht
zu spaßen.«
Der Gewitterbaum überragt die anderen so sehr, dass er
nicht zu verfehlen ist. Ich suche mir ein Büschel mit Nüs-
sen und lasse die anderen anhalten, während ich langsam
den Hang hinaufgehe und Nüsse vor mich werfe. Doch
ich sehe das Kraftfeld, noch ehe es von einer Nuss getrof-
fen wird, es ist nur fünfzehn Meter entfernt. Ich entdecke
die wellige Fläche hoch oben zu meiner Rechten, als ich
die Wand aus Grün vor mir absuche. Ich werfe eine Nuss
direkt vor mich und höre sie zur Bestätigung zischen.
»Haltet euch unter dem Gewitterbaum«, rufe ich den
anderen zu.
Wir verteilen die Aufgaben. Finnick deckt Beetee, der
508
den Baum untersucht, Johanna zapft Wasser, Peeta sam-
melt Nüsse, und ich gehe in der Nähe jagen. Die Baum-
ratten scheinen keine Angst vor Menschen zu haben, ich
erlege sie mühelos. Das Geräusch der Zehn-Uhr-Welle er-
innert mich daran, dass es Zeit ist umzukehren, also gehe
ich zurück zu den anderen und nehme die Beute aus. Zur
Warnung ziehe ich ein paar Meter vor dem Kraftfeld eine
Linie in den Boden, dann lassen Peeta und ich uns davor
nieder, um Nüsse zu rösten und Rattenwürfel zu braten.
Beetee ist noch immer mit dem Baum beschäftigt,
womit genau, weiß man nicht, er misst wohl irgendwas
aus. Irgendwann reißt er ein Stück Rinde ab, kommt zu
uns und wirft es Richtung Kraftfeld. Die Rinde prallt
zurück und landet glühend auf dem Boden. Nach kurzer
Zeit hat sie wieder ihre ursprüngliche Farbe angenom-
men. »Nun, das erklärt einiges«, sagt Beetee. Ich werfe
Peeta einen Blick zu und muss mir auf die Lippe beißen,
um nicht zu lachen. Das erklärt gar nichts, außer viel-
leicht für Beetee.
Da hören wir aus dem benachbarten Sektor die Klick-
geräusche. Also ist es jetzt elf Uhr. Im Dschungel sind
sie viel lauter als gestern Abend am Strand. Wir lauschen
konzentriert.
»Mechanisch ist das nicht«, sagt Beetee entschieden.
509
»Ich tippe auf Insekten«, sage ich. »Käfer oder so.«
»Irgendwas mit Zangen«, meint Finnick.
Das Geräusch schwillt an, als würden unsere Worte die
Nähe von lebendigem Fleisch verheißen. Was immer diese
Geräusche verursacht, ich wette, es könnte uns in Sekun-
denschnelle bis auf die Knochen abnagen.
»Jedenfalls sollten wir zusehen, dass wir hier wegkom-
men«, sagt Johanna. »In weniger als einer Stunde kommt
der Blitz.«
Weit gehen wir nicht. Nur bis zu dem Zwillingsbaum
im Blutregensektor. Wir lassen uns zu einer Art Picknick
nieder, essen unsere Dschungelnahrung und warten auf
den Blitz, der anzeigt, dass es Mittag ist. Als das Klicken
nachlässt, klettere ich auf Beetees Geheiß in die Baumkro-
ne. Der Blitzeinschlag ist so grell, dass er selbst mich an
meinem Platz blendet, trotz des gleißenden Sonnenlichts.
Er umschließt den fernen Baum ganz, lässt ihn blauweiß
erglühen und die Luft in der Umgebung elektrisch knis-
tern. Ich klettere wieder hinunter und erstatte Beetee Be-
richt, der zufrieden wirkt, obwohl ich mich nicht sonder-
lich wissenschaftlich ausdrücke.
In einem Bogen gehen wir zurück zum Zehn-Uhr-
Strand. Der Sand ist weich und feucht und von der
jüngsten Welle gesäubert. Den Nachmittag gibt Beetee
510
uns mehr oder weniger frei, während er mit dem Draht
hantiert. Da es sich um seine Waffe handelt und wir an-
deren uns ganz auf sein Wissen verlassen, stellt sich das
eigenartige Gefühl ein, als hätten wir früher Schulschluss.
Anfangs legen wir uns abwechselnd am Rand des Dschun-
gels in den Schatten und schlafen ein Ründchen, doch am
späten Nachmittag sind alle wach und voller Anspannung.
Da dies unsere letzte Gelegenheit sein könnte, an Meeres-
getier zu kommen, beschließen wir, ein Festmahl auszu-
richten. Unter Finnicks Führung gehen wir mit dem Speer
auf die Jagd nach Fischen und sammeln Muscheln, tau-
chen sogar nach Austern. Das gefällt mir am besten, aber
nicht, weil ich so versessen auf Austern wäre. Ich habe nur
einmal welche gegessen, damals im Kapitol, und konnte
mich mit ihrer schleimigen Konsistenz einfach nicht an-
freunden. Aber es ist schön so tief unten im Wasser, wie in
einer anderen Welt. Das Wasser ist sehr klar und Schwär-
me von Fischen in leuchtenden Farben und merkwürdige
Seeblumen zieren den Sandboden.
Johanna hält Wache, während Finnick, Peeta und ich
unseren Fang säubern und bereitlegen. Peeta bricht eine
Auster auf und muss lachen: »He, schaut euch das mal an!«
Er hält eine glänzende, vollkommene Perle hoch, so groß
wie eine Erbse. »Du weißt ja, wenn man nur genug Druck
511
auf die Kohle ausübt, werden daraus Perlen«, sagt er ganz
ernst zu Finnick.
»Stimmt doch gar nicht«, sagt Finnick abschätzig. Aber
ich lache mich halb tot. Ich erinnere mich, wie die un-
bedarfte Effie Trinket uns letztes Jahr, als uns noch kein
Mensch kannte und wir noch keine Berühmtheiten waren,
den Zuschauern im Kapitol angepriesen hat. Als Kohle,
die durch unsere gewichtige Existenz zu Perlen gepresst
wurde. Schönheit, die aus Schmerz entstand.
Peeta spült die Perle im Wasser ab und reicht sie mir.
»Für dich.« Ich lege sie auf meine Handfläche und betrach-
te die im Sonnenlicht schimmernde Oberfläche. Ja, ich
werde sie behalten. In den wenigen Stunden, die mir in
diesem Leben bleiben, werde ich sie bei mir tragen. Dieses
letzte Geschenk von Peeta. Das einzige, das ich auch an-
nehmen kann. Vielleicht gibt es mir im letzten Augenblick
die nötige Kraft.
»Danke«, sage ich und schließe die Faust. Ungerührt
schaue ich in die blauen Augen des Menschen, der nun
mein größter Gegner ist; der mein Leben retten will, und
wenn es seins kostet. Und ich gebe mir das Versprechen,
dass ich seinen Plan durchkreuzen werde.
Aus seinen Augen weicht das Lachen, und er schaut
mich so intensiv an, als könnte er meine Gedanken lesen.
512
»Das Medaillon hat nicht gewirkt, was?«, sagt Peeta, ob-
wohl Finnick dabeisteht. Obwohl jeder ihn hören kann.
»Katniss?«
»Es hat gewirkt«, sage ich.
»Aber nicht so, wie ich wollte«, sagt er und wendet den
Blick ab. Er hat jetzt nur noch Augen für die Austern.
Als wir uns über das Essen hermachen wollen, kommt
ein Fallschirm mit zwei Anhängseln herabgesegelt. Ein
kleiner Topf mit einer scharfen roten Soße und noch mehr
Brötchen aus Distrikt 3. Finnick zählt sie natürlich sofort
durch. »Wieder vierundzwanzig«, sagt er.
Macht insgesamt zweiunddreißig Brötchen. Jeder
nimmt wieder fünf, sieben bleiben übrig, die wir niemals
gerecht aufteilen können. Brot für den einen, der übrig
bleiben wird.
Das salzige Fischfleisch, die saftigen Muscheln. Sogar
die Austern schmecken, vor allem jetzt mit der Soße. Wir
schlagen uns die Bäuche voll, bis keiner mehr papp sagen
kann, trotzdem schaffen wir nicht alles. Aber die Reste
werden sich nicht halten, deshalb werfen wir sie zurück ins
Wasser, damit die Karrieros sie sich nicht unter den Nagel
reißen, wenn wir fort sind.
Keiner achtet auf die Muschelschalen. Die Welle wird
sie wegschwemmen.
513
Jetzt können wir nur noch warten. Peeta und ich sitzen
am Wasser, Hand in Hand, wortlos. Er hat gestern Abend
seine letzte Rede gehalten, doch sie hat bei mir nicht zu
einem Sinneswandel geführt, und nichts, was ich sagen
könnte, wird bei ihm einen Sinneswandel bewirken. Für
überzeugende Geschenke ist es jetzt zu spät.
Trotzdem habe ich die Perle zusammen mit dem Zapf-
hahn und der Salbe in einen Fallschirm gewickelt und mit
Ranken an meine Hüfte gebunden. Ich hoffe, sie schafft es
zurück nach Distrikt 12.
Meine Mutter und Prim werden schon einen Weg fin-
den, sie Peeta zurückzugeben, bevor ich begraben werde.
514
26 Die Hymne erklingt, doch heute
Abend erscheinen keine Gesichter
am Himmel. Die Zuschauer werden ungeduldig sein, sie
dürsten nach Blut. Aber Beetees Falle ist so vielverspre-
chend, dass die Spielmacher keine weiteren Attacken ge-
startet haben. Vielleicht sind sie einfach neugierig darauf,
wie sie funktioniert.
Als Finnick und ich meinen, es ist neun Uhr, verlas-
sen wir alle gemeinsam das mit Muschelschalen übersäte
Lager, gehen hinüber zum Zwölf-Uhr-Strand und machen
uns im Mondschein heimlich, still und leise auf den Weg
zum Gewitterbaum. Mit vollem Bauch sind wir alle kurz-
atmig und der Aufstieg fällt uns schwerer als am Morgen.
Ich bereue schon das letzte Dutzend Austern.
Beetee möchte, dass Finnick ihm hilft, die anderen hal-
ten Wache. Bevor Beetee den Draht am Baum befestigt,
wickelt er mehrere Meter ab. Finnick soll sie an einem ab-
gebrochenen Ast festbinden und diesen auf den Boden le-
gen. Dann stellen sie sich rechts und links vom Baum auf
und reichen sich abwechselnd die Spule, sodass der Draht
viele Male um den Baumstamm gewickelt wird. Erst sieht
515
es planlos aus, dann erkenne ich im Mondlicht auf Bee-
tees Seite ein Muster, wie ein kompliziertes Labyrinth. Ich
frage mich, ob es von Bedeutung ist, wie der Draht ange-
bracht wird, oder ob das nur dazu dient, die Spekulationen
der Zuschauer anzuheizen. Die meisten von ihnen dürften
von Elektrizität genauso wenig Ahnung haben wie ich.
Die Arbeit am Baumstamm ist just in dem Augenblick
beendet, als wir die Welle hören. Ich habe bisher nicht
herausgefunden, wann genau sie hervorbricht. Irgendwo
muss sie sich aufbauen, dann bricht sie hervor, und dann
kommen die Nachwirkungen. Der Himmel sagt mir, dass
es halb elf ist.
Jetzt verrät Beetee uns, wie es weitergehen soll. Weil Jo-
hanna und ich die wendigsten sind, sollen wir die Rolle
durch den Dschungel nach unten tragen und unterwegs
den Draht abwickeln, ihn quer über den Zwölf-Uhr-
Strand verlegen und die Metallrolle mit dem restlichen
Draht tief im Wasser versenken. Anschließend wieder in
den Dschungel zurückrennen. Wenn wir uns jetzt auf den
Weg machen, und zwar sofort, mussten wir auf der siche-
ren Seite sein.
»Ich möchte als Wache mitgehen«, sagt Peeta sofort.
Nach der Sache mit der Perle ist er noch weniger bereit,
mich aus den Augen zu lassen.
516
»Du bist zu langsam. Und außerdem brauche ich dich
an diesem Ende. Katniss passt schon auf«, sagt Beetee.
»Wir haben jetzt keine Zeit zu diskutieren. Tut mir leid.
Wenn die Mädchen lebend da rauskommen sollen, müssen
sie jetzt los.« Er gibt Johanna die Rolle.
Mir gefäl t der Plan genauso wenig wie Peeta. Wie soll
ich ihn aus der Entfernung beschützen? Aber Beetee hat
recht. Mit seinem Bein ist Peeta zu langsam, er würde den
Abhang nicht schnel genug schaffen. Johanna und ich sind
die Schnel sten und haben den sichersten Tritt auf dem
Dschungelboden. Ich sehe keine Alternative. Und wenn ich
hier irgendwem traue außer Peeta, dann ist es Beetee.
»Das geht in Ordnung«, sage ich zu Peeta. »Wir werfen
nur schnell die Rolle ins Wasser und kommen sofort wie-
der rauf.«
»Aber nicht ins Blitzgebiet«, erinnert mich Beetee.
»Rennt zu dem Baum im Ein-bis-zwei-Sektor. Wenn ihr
merkt, dass euch nicht genug Zeit bleibt, rückt eins weiter.
Aber geht bloß nicht zurück zum Strand, bevor ich den
Schaden in Augenschein genommen habe.«
Ich nehme Peetas Gesicht in meine Hände. »Mach dir
keine Sorgen. Wir sehen uns um Mitternacht.« Ich küsse
ihn, und ehe er noch etwas einwenden kann, lasse ich ihn
los und frage Johanna: »Fertig?«
517
»Wieso nicht?«, sagt Johanna achselzuckend. Sie ist au-
genscheinlich nicht erfreuter als ich, dass wir zusammen-
arbeiten sollen. Aber wir sind alle in Beetees Falle gefan-
gen. »Du passt auf, ich wickele ab. Später können wir mal
tauschen.«
Ohne weitere Diskussion machen wir uns auf den Weg.
Wir reden überhaupt nicht viel. So schnell es geht, rennen
wir den Abhang hinunter, die eine mit der Rolle, die ande-
re Ausschau haltend. Auf halber Strecke hören wir plötz-
lich das Klicken, es ist also nach elf.
»Lass uns schnell machen«, sagt Johanna. »Ich möchte
so weit wie möglich vom Wasser weg sein, wenn der Blitz
einschlägt. Nur für den Fall, dass Minus falsch gerechnet
hat.«
»Jetzt nehme ich mal die Rolle«, sage ich. Es ist an-
strengender, den Draht abzuwickeln, als Ausschau zu hal-
ten, und sie hat das jetzt schon lange genug gemacht.
»Bitte sehr«, sagt Johanna und reicht mir die Rolle.
In dem Augenblick, als unsere beiden Hände die Rolle
halten, spüren wir ein leichtes Vibrieren. Plötzlich schnellt
der dünne goldene Draht von oben zu uns herunter und
windet sich um unsere Handgelenke. Das lose Ende
schlängelt sich zu unseren Füßen.
Es dauert keine Sekunde, bis wir begriffen haben, was
518
los ist. Johanna und ich schauen uns an, doch keine von
uns muss es aussprechen. Jemand, der nicht allzu weit ent-
fernt sein kann, hat den Draht durchtrennt. Und dieser
Jemand wird sich jeden Moment auf uns stürzen.
Ich befreie meine Hand aus dem Draht und schließe
sie gerade um die Federn eines Pfeils, als mir jemand mit
voller Wucht einen Gegenstand gegen den Kopf schlägt.
Als Nächstes merke ich, dass ich auf dem Rücken in den
Ranken liege und meine rechte Schläfe schrecklich wehtut.
Irgendwas stimmt nicht mit meinen Augen. Immer wieder
verschwimmt das Bild, als ich versuche, die beiden Monde
am Himmel in Deckung zu bringen. Das Atmen fällt mir
schwer, und plötzlich sehe ich auch, warum. Johanna sitzt
auf meiner Brust und drückt mit den Knien meine Schul-
tern auf den Boden.
Da spüre ich ein Stechen im linken Unterarm. Ich ver-
suche Johanna abzuschütteln, aber ich bin immer noch
nicht recht bei Sinnen. Johanna gräbt die Spitze ihres
Messers – zumindest nehme ich an, dass es das ist – ins
Fleisch meines Unterarms und dreht sie hin und her. Ich
spüre ein unerträgliches Reißen, dann rinnt etwas War-
mes an meinem Handgelenk herunter und sammelt sich
in meiner Handfläche. Johanna drückt meinen Arm nach
unten und schmiert mir das halbe Gesicht mit Blut ein.
519
»Unten bleiben!«, faucht sie. Plötzlich spüre ich nicht
länger ihr Gewicht auf mir, ich bin allein.
Unten bleiben?, denke ich. Was soll das? Was ist los? Ich
schließe die Augen, sperre die schwankende Welt aus und
versuche mir einen Reim auf meine Lage zu machen.
Ich muss daran denken, wie Johanna Wiress auf den
Sand stieß. »Einfach unten bleiben, kapiert?« Aber damals
hat sie Wiress ja nicht angegriffen. Zumindest nicht so.
Und ich bin ja auch nicht Wiress. Ich bin nicht Plus. »Ein-
fach unten bleiben, kapiert?«, echot es in meinem Kopf.
Schritte kommen näher. Zwei Paar. Schwer, versuchen
nicht, sich zu verstecken.
Brutus’ Stimme. »Da, die ist so gut wie tot! Weiter,
Enobaria!« Schritte, die sich in der Nacht verlieren.
Und ich? Ich dämmere zwischen Bewusstsein und
Ohnmacht und suche nach einer Antwort. Bin ich so gut
wie tot? Meine Lage erlaubt mir nicht, zu widersprechen.
Überhaupt kann ich nur mit Mühe einen klaren Gedan-
ken fassen. So viel steht fest. Johanna hat mich attackiert.
Mir diese Drahtrolle an den Kopf geschleudert. In meinen
Arm geschnitten und meinen Adern wahrscheinlich irre-
parable Schäden zugefügt, doch bevor sie mich erledigen
konnte, sind Brutus und Enobaria aufgetaucht.
Das Bündnis ist Vergangenheit. Finnick und Johanna
520
müssen sich abgesprochen haben, dass sie heute Nacht
über uns herfallen. Ich hab’s doch gesagt, dass wir uns
heute Morgen hätten absetzen müssen. Ich weiß nicht, auf
welcher Seite Beetee steht. Aber ich bin eine leichte Beute,
genau wie Peeta.
Peeta! Panisch reiße ich die Augen auf. Peeta wartet
oben am Baum, völlig arglos. Vielleicht hat Finnick ihn
bereits getötet. »Nein«, flüstere ich. Den Draht haben die
Karrieros ganz in der Nähe durchtrennt. Finnick und Pee-
ta und Beetee – sie können nicht wissen, was hier unten
vor sich geht. Sie können sich nur fragen, was passiert ist,
warum der Draht schlaff geworden ist, falls er sich nicht
aufgrund der Zugspannung sogar um den Baum gewi-
ckelt hat. Das allein kann doch kein Zeichen sein, loszu-
schlagen, oder? Bestimmt hat Johanna allein beschlossen,
dass es Zeit ist, mit uns zu brechen. Mich zu töten. Vor
den Karrieros abzuhauen. Und dann Finnick so schnell
wie möglich dazuzuholen.
Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass
ich zurück zu Peeta muss, um ihn zu retten. Mit letzter
Willenskraft setze ich mich auf, ein Baumstamm ganz in
der Nähe hilft mir, mich hochzurappeln. Ich bin heilfroh,
dass ich etwas zum Anlehnen habe, denn der Dschungel
schwankt hin und her. Ohne Vorwarnung beuge ich mich
521
vor und erbreche das üppige Festmahl, so lange, bis kei-
ne einzige Auster in meinem Körper zurückgeblieben sein
kann. Zitternd und schweißbedeckt prüfe ich meinen kör-
perlichen Zustand.
Als ich meinen verletzten Arm hebe, spritzt mir das
Blut ins Gesicht und die Welt kippt wieder bedenklich.
Ich schließe die Augen und klammere mich an den Baum,
bis meine Umgebung etwas stabiler geworden ist. Ich ma-
che ein paar Schritte auf den Nachbarbaum zu, zupfe et-
was Moos ab und wickele es fest um meinen Arm, ohne
die Wunde näher zu untersuchen. Besser so. Es ist ganz
sicher besser, wenn ich sie nicht anschaue. Dann erlaube
ich meiner Hand, vorsichtig die Wunde am Kopf zu betas-
ten. Eine große Beule, aber nur wenig Blut. Offenbar liegt
der Schaden innen, aber Gefahr zu verbluten besteht wohl
nicht. Zumindest nicht durch den Kopf.
Ich wische die Hände an Moos ab und greife mit dem
verletzten linken Arm unsicher nach dem Bogen. Lege
einen Pfeil in die Sehne ein. Befehle meinen Füßen, den
Hang hinaufzustapfen.
Peeta. Mein letzter Wunsch. Mein Versprechen. Sein
Leben zu retten. Ein bisschen leichter ums Herz wird mir,
als mir einfällt, dass keine Kanone abgefeuert wurde und
er also noch leben muss. Vielleicht hat Johanna auf eigene
522
Faust gehandelt, weil sie wusste, dass Finnick sich ihr an-
schließen würde, wenn ihre Absichten erst mal klar wären.
Obwohl man einfach nicht durchblickt, was zwischen den
beiden läuft. Ich muss daran denken, wie er zu ihr hinsah
und ihre Zustimmung abwartete, bevor er sich mit Beetees
Falle einverstanden erklärte. Das Bündnis zwischen ihnen
geht viel tiefer, es beruht auf jahrelanger Freundschaft und
wer weiß was noch. Wenn Johanna mich angegriffen hat,
darf ich Finnick nicht länger über den Weg trauen.
Ich bin kaum zu dieser Schlussfolgerung gelangt, da
höre ich, wie jemand den Hang heruntergerannt kommt.
Peeta oder Beetee können es nicht sein, so schnell sind
sie nicht. Gerade noch rechtzeitig ducke ich mich hinter
einem Vorhang aus Ranken. Finnick fliegt an mir vor-
bei, seine Haut ist fleckig von der Salbe, er springt durchs
Unterholz wie ein Hirsch. Im Nu erreicht er den Ort der
Attacke, jetzt muss er das Blut entdeckt haben. »Johanna!
Katniss!«, ruft er. Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis er
fort ist, in die Richtung, die Johanna und die Karrieros
eingeschlagen haben.
Ich bewege mich, so schnell ich kann, ohne dass die
Welt sich wieder dreht. In meinem Kopf hämmert es im
Rhythmus meines rasenden Herzschlags. Das Klicken
der Insekten, die wahrscheinlich vom Blutgeruch erregt
523
sind, schwillt in meinen Ohren zu einem steten Gebrüll
an. Oder nein. Vielleicht klingeln mir auch die Ohren von
dem Schlag mit der Drahtrolle. Ich werde erst Gewissheit
haben, wenn die Insekten still sind. Doch wenn die In-
sekten verstummen, kommt der Blitz. Ich muss schneller
laufen. Ich muss zu Peeta.
Der Knall einer Kanone lässt mich abrupt stehen blei-
ben. Einer ist gestorben. Jetzt, da alle bewaffnet und vol-
ler Angst durch die Gegend laufen, könnte es jeder sein.
Aber wer immer es auch sein mag, sein Tod wird der Start-
schuss für ein allgemeines Gemetzel heute Nacht sein. Die
Leute werden erst töten, über ihre Motive werden sie dann
hinterher nachdenken. Ich zwinge meine Beine zu rennen.
Etwas verhakt sich in meinen Füßen und ich falle der
Länge nach hin. Ich spüre, wie sich etwas um mich wi-
ckelt, und plötzlich bin ich in Fasern gefangen, die in die
Haut schneiden. Ein Netz! Das muss eins von Finnicks
tollen Netzen sein, die er ausgelegt hat, um mich zu fan-
gen, und er wartet bestimmt schon ganz in der Nähe mit
erhobenem Dreizack. Ich schlage wild um mich, wodurch
ich mich nur noch mehr in dem Netz verheddere. Dann
betrachte ich es im Mondlicht genauer. Verwirrt hebe ich
den Arm und sehe, dass es aus schimmernden Goldfäden
besteht. Das ist gar keins von Finnicks Netzen, das ist
524
Beetees Draht. Vorsichtig stehe ich auf und stelle fest, dass
ich über ein Stück Draht gestolpert bin, das sich an einem
Baumstamm verheddert hat, als es zum Gewitterbaum zu-
rückgeschnellt ist. Vorsichtig befreie ich mich, halte von
nun an einen Sicherheitsabstand zum Draht ein und haste
weiter bergauf.
Die gute Nachricht ist, dass ich auf dem richtigen Weg
bin und durch die Kopfverletzung immerhin nicht mei-
nen Orientierungssinn verloren habe. Die schlechte ist das
drohende Gewitter, an das der Draht mich erinnert hat.
Noch höre ich die Insekten, aber sind sie nicht schon leiser
geworden?
Beim Rennen halte ich mich an den Draht, der ein paar
Meter links von mir in Schleifen daliegt, aber ich gebe gut
acht, dass ich ihm nicht zu nah komme. Sobald die Insek-
ten verstummen und der erste Blitz in den Baum einschlägt,
wird er sich mit vol er Wucht in diesen Draht entladen, und
jeder, der damit in Berührung kommt, wird sterben.
Der Baum kommt in Sicht, sein Stamm ist wie mit
Gold verziert. Ich bremse ab, versuche mich unauffällig zu
bewegen, aber ich kann von Glück sagen, dass ich nicht
umkippe. Ich suche nach Lebenszeichen der anderen.
Nichts. Keiner da. »Peeta?«, rufe ich leise. »Peeta?«
Als Antwort kommt ein leises Stöhnen. Ich fahre
525
herum und entdecke weiter oben auf dem Boden eine Ge-
stalt. »Beetee!«, rufe ich. Ich renne zu ihm und knie hin.
Das Stöhnen muss unwillkürlich gekommen sein. Er ist
nicht bei Bewusstsein, obwohl ich keine Wunde sehe au-
ßer einem tiefen Schnitt unterhalb der Armbeuge. Ich
klaube etwas Moos zusammen und verbinde damit provi-
sorisch den Arm, während ich versuche, ihn wach zu rüt-
teln: »Beetee! Beetee, was ist hier los? Woher hast du diese
Wunde? Beetee!« Ich schüttele ihn, wie man einen Ver-
letzten niemals schütteln sollte, aber ich weiß nicht, was
ich sonst tun soll. Er stöhnt wieder auf und hebt kurz die
Hand, um mich abzuwehren.
Da erst bemerke ich das Messer in seiner Hand, ein
Messer, das, soweit ich weiß, zuvor Peeta bei sich trug und
das nun lose mit Draht umwickelt ist. Verdutzt stehe ich
auf, ziehe an dem Draht und stelle fest, dass er mit dem
Baum verbunden ist. Erst da fällt mir das zweite Stück
Draht ein, das Beetee ganz am Anfang, bevor er sich dem
Stamm widmete, um einen Ast gewickelt und Finnick ge-
reicht hatte, damit der es auf den Boden legt. Ich hatte
gedacht, das Stück hätte irgendeine Funktion für die Falle
und Beetee wollte es später einbauen. Aber offenbar hat-
te er etwas anderes im Sinn, denn hier liegt es noch, gut
zwanzig bis fünfundzwanzig Meter Draht.
526
Ein Blick den Hügel hinauf sagt mir, dass wir uns ganz
in der Nähe des Kraftfelds befinden. Da ist die verräte-
rische freie Stelle, weit rechts über mir, genau wie heute
Morgen. Was hatte Beetee vor? Hat er tatsächlich versucht,
das Messer in das Kraftfeld zu stoßen, wie Peeta, nur mit
voller Absicht? Und was soll das mit dem Draht? War das
sein Plan B? Wollte er für den Fall, dass es nicht gelingen
sollte, das Wasser unter Strom zu setzen, die Blitzenergie
ins Kraftfeld leiten? Was würde dann wohl geschehen?
Nichts? Oder die Katastrophe? Würden wir alle gegrillt?
Ich nehme an, dass auch das Kraftfeld hauptsächlich aus
Energie besteht. Das im Trainingscenter war unsichtbar
gewesen. Dieses hier scheint irgendwie den Dschungel wi-
derzuspiegeln. Doch als es von Peetas Messer und meinen
Pfeilen getroffen wurde, habe ich gesehen, wie es ins Wan-
ken geriet. Die wahre Welt liegt gleich dahinter.
In meinen Ohren klingelt es nicht mehr. Also waren
es die Insekten. Das weiß ich jetzt, weil sie rasch leiser
werden und ich nur noch die üblichen Dschungelgeräu-
sche höre. Beetee ist keine Hilfe. Ich bekomme ihn ein-
fach nicht wach. Ich kann ihn nicht retten. Ich weiß nicht,
was er mit dem Messer und dem Draht vorhatte, und er
ist nicht in der Lage, es mir zu erklären. Die Moosban-
dage um meinen Arm hat sich mit Blut vollgesogen, ich
527
brauche mir nichts vorzumachen. Ich bin so benommen,
dass ich in den nächsten Minuten das Bewusstsein verlie-
ren werde. Ich muss machen, dass ich von diesem Baum
wegkomme, und – »Katniss!« Ich höre seine Stimme, ob-
wohl er weit weg ist. Was tut er denn da? Auch Peeta muss
doch inzwischen begriffen haben, dass jetzt alle hinter uns
her sind. »Katniss!«
Ich kann ihn nicht beschützen. Ich kann mich weder
schnell noch weit bewegen, und meine Schießkünste sind
bestenfalls fragwürdig. Ich tue das Einzige, womit ich die
Aufmerksamkeit der Angreifer von ihm abziehen und auf
mich lenken kann. »Peeta!«, schreie ich. »Peeta! Ich bin
hier! Peeta!« Ja, ich werde sie anlocken, alle her zu mir,
weg von Peeta, zu mir und dem Gewitterbaum, der bald
selbst zur Waffe werden wird. »Ich bin hier! Ich bin hier!«
Er wird es nicht schaffen. Nicht mit seinem Bein bei Dun-
kelheit. Er wird es nie und nimmer rechtzeitig schaffen.
»Peeta!«
Es funktioniert. Ich höre sie kommen. Sie sind zu zweit.
Sie brechen durch den Dschungel. Meine Knie geben nach
und ich sacke neben Beetee zusammen, mein Gewicht
ruht auf den Fersen. Ich hebe Pfeil und Bogen. Wenn ich
sie erledige, wird Peeta die Übrigen überleben?
Enobaria und Finnick erreichen den Gewitterbaum.
528
Sie können mich nicht sehen, weil ich oberhalb von ihnen
sitze, am Hang, und durch die Salbe auf meiner Haut ge-
tarnt bin. Ich ziele auf Enobarias Hals. Wenn ich Glück
habe, wird Finnick sich, sobald ich sie getötet habe, genau
in dem Augenblick hinter dem Gewitterbaum verschan-
zen, wenn der Blitz einschlägt. Und das wird jeden Mo-
ment geschehen. Nur noch vereinzeltes Klicken der Insek-
ten. Ich kann sie jetzt töten. Ich kann sie beide töten.
Noch ein Kanonendonner.
»Katniss!« Peeta schreit meinen Namen. Aber diesmal
antworte ich nicht. Neben mir atmet Beetee immer noch
schwach. Er und ich werden gleich sterben. Finnick und
Enobaria werden sterben. Peeta ist am Leben. Zwei Kano-
nen sind abgefeuert worden. Brutus, Johanna, Chaff. Zwei
von ihnen sind bereits tot. Peeta braucht dann nur noch
einen Tribut zu töten. Mehr kann ich nicht für ihn tun.
Ein Feind.
Feind. Feind. Das Wort zerrt an einer frischen Erinne-
rung. Zieht sie in mein Bewusstsein. Der Ausdruck auf
Haymitchs Gesicht. »Katnis , wenn du in der Arena bist …«
Der finstere Blick, die Zweifel. »Was dann?« Ich höre, wie
meine Stimme schärfer wird, gereizt wegen des unausge-
sprochenen Vorwurfs. »Dann vergis nicht, wer der Feind ist«,
sagt Haymitch. »Das ist al es.«
529
Haymitchs letzter Rat für mich. Wieso sollte er mich
daran erinnern müssen? Ich habe immer gewusst, wer der
Feind ist. Der, der uns hungern lässt und quält und in der
Arena tötet. Der bald alle töten wird, die ich liebe.
Ich lasse den Bogen sinken, als mir der Sinn seiner
Worte klar wird. Ja, ich weiß, wer der Feind ist. Und es ist
nicht Enobaria.
Endlich sehe ich klar und deutlich, was es mit Beetees
Messer auf sich hat. Mit zitternden Händen schiebe ich
den Draht vom Griff des Messers, wickele ihn genau un-
terhalb der Federn um den Pfeil und sichere ihn mit ei-
nem Knoten, den ich beim Training gelernt habe.
Ich stehe auf, wende mich dem Kraftfeld zu. Ich zei-
ge mich in voller Größe, aber das ist mir jetzt egal. Ich
konzentriere mich einzig und allein darauf, wohin ich die
Spitze richten muss, wohin Beetee das Messer geworfen
hätte, wenn er gekonnt hätte. Ich richte den Bogen auf das
flimmernde Viereck, die Schwachstelle, den … wie hat er
es damals genannt? Den wunden Punkt. Ich schieße den
Pfeil ab, sehe, wie er sein Ziel trifft und mit dem goldenen
Faden im Schlepptau verschwindet.
Im selben Augenblick stehen mir plötzlich buchstäblich
die Haare zu Berge und der Blitz schlägt in den Baum ein.
Ein weißer Lichtstrahl rast den Draht entlang und
530
einen Augenblick lang erstrahlt die Kuppel in grellblauem
Licht. Ich werde rückwärts zu Boden geschleudert, mein
Körper reglos, gelähmt, die Augen aufgerissen, während
kleine flauschige Stückchen auf mich herabregnen. Ich
kann nicht zu Peeta. Ich kann nicht mal meine Perle her-
vorholen. Meine Augen weiten sich, um ein letztes Bild der
Schönheit einzufangen, das ich mitnehmen werde.
Kurz bevor die Explosionen einsetzen, entdecke ich ei-
nen Stern.
531
27 Alles scheint auf einmal zu explo-
dieren. Die Erde zerplatzt in Schau-
ern aus Schmutz und Pflanzenteilen. Bäume werden zu
Fackeln. Sogar der Himmel füllt sich mit leuchtend bun-
ten Lichtblüten. Ich begreife nicht, weshalb der Himmel
beschossen wird, bis mir der Gedanke kommt, dass die
Spielmacher ein Feuerwerk abschießen, zur Unterma-
lung der Zerstörung, die sich am Boden abspielt. Nur
für den Fall, dass es nicht unterhaltsam genug ist, die
Vernichtung der Arena und der verbliebenen Tribute an-
zuschauen. Vielleicht soll auch unser blutiges Ende hell
erleuchtet werden.
Werden sie einen von uns überleben lassen? Wird es
einen Sieger der fünfundsiebzigsten Hungerspiele geben?
Diesmal womöglich nicht. Denn gedacht ist dieses Jubel-
Jubiläum … Wie las es Präsident Snow noch von seiner
Karte ab? »… als Erinnerung für die Rebel en daran, dass
nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapi-
tols überwinden können.«
Nicht mal der Stärkste der Starken wird triumphieren.
Vielleicht war es nie geplant, dass diese Spiele überhaupt
532
einen Sieger haben. Oder vielleicht hat mein letzter Akt
der Auflehnung sie in Zugzwang gebracht?
Tut mir leid, Peeta, denke ich. Tut mir leid, dass ich dich
nicht retten konnte. Ihn retten? Als ich das Kraftfeld zer-
störte, habe ich ihn wahrscheinlich noch um seine letzte
Chance gebracht.
Hätten wir uns alle an die Spielregeln gehalten, hätten
sie ihn vielleicht am Leben gelassen.
Ohne Vorwarnung erscheint das Hovercraft über mir.
Wäre es still gewesen und ein Spotttölpel in der Nähe,
dann hätte ich vielleicht gehört, wie der Dschungel ver-
stummt wäre, und dann den Vogelschrei, der das Erschei-
nen der Luftfähre ankündigt, die vom Kapitol geschickt
wurde. Aber in all dem Krach muss ein so zartes Geräusch
untergehen.
Der Greifer wird aus der Luke an der Unterseite gefah-
ren, bis er direkt über mir hängt. Die stählernen Zähne
schieben sich unter mich. Ich möchte schreien, weglau-
fen, mir einen Weg bahnen, doch ich bin wie erstarrt und
kann nichts tun, als inständig zu hoffen, dass ich sterbe,
bevor ich die schemenhaften Gestalten erreicht habe, die
mich dort oben erwarten. Sie haben mein Leben nicht ver-
schont, um mich zum Sieger zu küren, sondern damit ich
so langsam und öffentlich sterbe wie möglich.
533
Meine schlimmsten Befürchtungen werden bestätigt, als
Plutarch Heavensbee persönlich mich willkommen heißt,
der Oberste Spielmacher. Was habe ich nur angerichtet mit
diesen schönen Spielen mit der ausgeklügelten Uhr und
der Siegerschar. Er wird für sein Versagen bezahlen müssen,
wahrscheinlich wird er mit dem Leben bezahlen, aber vor-
her wird er mich bestrafen. Er streckt die Hand aus – um
mich zu schlagen, denke ich, aber dann tut er etwas, das
noch schlimmer ist. Mit Daumen und Zeigefinger schließt
er meine Lider und verurteilt mich zur Finsternis. Jetzt bin
ich schutzlos, sie können alles mit mir anstellen und ich
werde es nicht einmal kommen sehen.
Mein Herz pocht so heftig, dass das Blut unter meinem
vollgesogenen Moosverband heraussickert. Mein Denken
wird vernebelt. Wahrscheinlich werde ich verblutet sein, ehe
sie mich wiederbelebt haben. Ich danke Johanna still für die
perfekte Wunde, die sie mir beigebracht hat, dann werde ich
ohnmächtig.
Als ich langsam wieder zu Bewusstsein komme, liege ich
auf einem gepolsterten Tisch. Ich spüre das Zwicken von
Schläuchen in meinem linken Arm. Sie versuchen, mich am
Leben zu erhalten, denn wenn ich heimlich, still und lei-
se in den Tod hinübergleiten würde, hätte ich ja gewonnen.
Ich kann mich immer noch nicht rühren, die Augen öffnen
oder den Kopf heben. Dafür ist ein bisschen Kraft in mei-
nen rechten Arm zurückgekehrt. Er hängt schlaff über mei-
nem Körper, wie eine Flosse, nein, lebloser, wie eine Keule.
Ich habe keine Koordination, keinen Beweis, dass ich noch
Finger besitze. Immerhin schaffe ich es, den Arm so weit zu
bewegen, dass ich die Schläuche herausreiße. Ein Piepsen er-
tönt, doch ich bleibe nicht lange genug bei Bewusstsein, um
mitzubekommen, wen es herbeiruft.
Als ich das nächste Mal zu mir komme, sind meine Hän-
de am Tisch festgebunden und die Schläuche stecken wieder
in meinem Arm. Dafür kann ich die Augen öffnen und den
Kopf etwas heben. Ich befinde mich in einem großen, in
silbriges Licht getauchten Raum mit niedriger Decke. Zwei
Reihen Betten stehen einander gegenüber. Ich höre ein At-
men, das vermutlich von den anderen Mitspielern stammt.
Direkt gegenüber erkenne ich Beetee, der an mindestens
zehn Apparate angeschlossen ist. Lasst uns doch einfach ster-
ben!, schreie ich innerlich. Ich schlage den Kopf, so fest ich
kann, gegen den Tisch und sacke wieder weg.
Als ich endgültig aufwache, sind die Fesseln nicht mehr
da. Ich hebe die Hand und sehe, dass meine Finger mir wie-
der gehorchen. Mit einem Ruck setze ich mich auf und halte
mich an dem gepolsterten Tisch fest, bis ich den Raum
scharf sehe. Mein linker Arm ist verbunden, die Schläuche
baumeln an Gestellen neben dem Bett.
Ich bin allein, nur Beetee liegt noch immer mir gegen-
über und wird durch ein Heer von Apparaten am Leben
erhalten. Aber wo sind die anderen? Peeta, Finnick, Eno-
baria und … und … noch einer, oder? Entweder Johanna
oder Chaff oder Brutus waren noch am Leben, als es mit
den Bomben losging. Ich bin sicher, dass sie an uns allen
ein Exempel statuieren wollen. Aber wohin haben sie sie
gebracht? Aus dem Krankenhaus ins Gefängnis?
»Peeta …«, flüstere ich. Ich hätte ihn so gern beschützt.
Bin immer noch fest dazu entschlossen. Wenn es mir
schon nicht gelungen ist, ihm ein Leben in Sicherheit zu
ermöglichen, muss ich ihn jetzt finden und töten, bevor
das Kapitol eine sadistische Todesart für ihn ausgewählt
hat. Ich schwinge die Beine vom Tisch und sehe mich
nach einer Waffe um. Auf einem Tisch neben Beetees
Bett liegen ein paar steril verpackte Spritzen. Perfekt. Jetzt
brauche ich nur noch ein bisschen Luft, und dann hinein
damit in seine Vene.
Ich halte einen Moment inne und überlege, ob ich auch
Beetee töten soll. Aber dann fangen bestimmt die Moni-
tore an zu piepsen, und ich werde geschnappt, bevor ich
536
Peeta gefunden habe. Ich leiste das stille Versprechen, dass
ich zurückkommen und ihn töten werde, falls ich kann.
Ich trage nur ein dünnes Nachthemd, darunter bin ich
nackt. Deshalb verstecke ich die Spritze unter dem Ver-
band, der die Wunde an meinem Arm bedeckt. Die Tür
ist unbewacht. Bestimmt bin ich Kilometer unter dem
Trainingscenter oder an irgendeinem Stützpunkt des Ka-
pitols und die Chancen auf Flucht sind gleich null. Egal.
Ich will nicht fliehen, ich will nur meine Aufgabe zu Ende
führen.
Ich schleiche einen schmalen Flur entlang bis zu einer
angelehnten Metalltür. Dahinter ist jemand. Ich hole die
Spritze hervor und halte sie ganz fest. Ich drücke mich ge-
gen die Wand und lausche auf die Stimmen in dem Raum.
»Kein Kontakt zu 7, 10 und 12. Dafür hat 11 inzwi-
schen die Verkehrswege unter Kontrolle, jetzt haben wir
zumindest Hoffnung, dass sie ein paar Lebensmittel raus-
schaffen können.«
Plutarch Heavensbee. Denke ich sofort. Obwohl ich ei-
gentlich nur einmal mit ihm gesprochen habe. Eine heise-
re Stimme stellt eine Frage.
»Nein, tut mir leid. Ich kann dich auf keinen Fal nach 4
bringen. Aber ich habe einen Sonderbefehl gegeben, sie raus-
zuholen, fal s möglich. Mehr kann ich nicht tun, Finnick.«
537
Finnick. Mein Hirn müht sich, den Sinn der Unterhal-
tung zu begreifen, die Tatsache, dass sie zwischen Plutarch
Heavensbee und Finnick stattfindet. Ist er dem Kapitol so
lieb und teuer, dass er von seinen Verbrechen freigespro-
chen wird? Oder hatte er wirklich keine Ahnung, was Bee-
tee vorhatte? Krächzend fügt er etwas hinzu. Etwas Ge-
wichtiges, voller Verzweiflung.
»Sei nicht töricht. Das ist das Schlimmste, was du tun
könntest. Das wäre ihr sicherer Tod. Solange du am Le-
ben bist, werden sie sie am Leben lassen, als Köder«, sagt
Haymitch.
Haymitch! Ich platze durch die Tür und taumele in
den Raum. Haymitch, Plutarch und ein übel zugerichte-
ter Finnick sitzen um einen Tisch, auf dem eine Mahlzeit
steht, die keiner angerührt hat. Tageslicht fällt durch die
gewölbten Fenster und in der Ferne sehe ich einen Wald –
von oben. Wir fliegen.
»Na, hast du dich selbst ausgeknockt, Süße?«, fragt
Haymitch, und der Verdruss in seiner Stimme ist nicht
zu überhören. Doch als ich vorwärtsstürze, springt er auf,
packt meine Handgelenke und hält mich fest. Er schaut
auf meine Hand. »Ach nee, du und eine Spritze gegen das
Kapitol? Jetzt weißt du, warum keiner dich mit der Pla-
nung betraut.« Ich starre ihn an und begreife nicht. »Lass
538
fallen.« Ich spüre, dass der Druck auf mein rechtes Hand-
gelenk zunimmt, bis ich notgedrungen die Hand öffne
und die Spritze loslasse. Er drückt mich auf einen Stuhl
neben Finnick.
Plutarch stellt mir eine Schale mit Brühe hin. Legt ein
Brötchen dazu. Steckt mir einen Löffel in die Hand. »Iss«,
sagt er viel freundlicher als Haymitch.
Haymitch sitzt mir direkt gegenüber. »Ich erklär dir
jetzt, was passiert ist, Katniss. Und du stellst keine Fragen,
ehe ich fertig bin. Hast du verstanden?«
Ich nicke wie betäubt. Und dann legt er los.
Schon von dem Moment an, da das Jubel-Jubiläum
verkündet wurde, bestand der Plan, uns dort herauszu-
holen. Die Siegertribute aus den Distrikten 3, 4, 6, 7, 8
und 11 waren eingeweiht, manche mehr, manche we-
niger. Plutarch Heavensbee gehört seit mehreren Jahren
einer Untergrundorganisation an, deren Ziel es ist, das
Kapitol zu stürzen. Er hat dafür gesorgt, dass Draht un-
ter den Waffen war. Beetees Aufgabe war es, ein Loch in
das Kraftfeld zu sprengen. Das Brot, das wir in die Arena
geschickt bekamen, war ein geheimer Code für den Zeit-
punkt der Rettung. Der Distrikt, aus dem das Brot kam,
zeigte den Tag an: drei. Die Anzahl der Brötchen die Uhr-
zeit: vierundzwanzig. Das Hovercraft stammt aus Distrikt
539
13. Bonnie und Twill, die Frauen aus Distrikt 8, denen ich
im Wald begegnet bin, hatten recht mit ihrer Vermutung,
dass Distrikt 13 existiert und besondere Verteidigungs-
waffen besitzt. In diesem Augenblick fliegen wir auf Um-
wegen nach Distrikt 13. Mittlerweile befinden sich fast
alle Distrikte Panems in Aufruhr.
Haymitch unterbricht sich. Er schaut, ob ich folgen
kann. Vielleicht ist er auch nur etwas erschöpft.
Es ist verdammt viel, was ich verstehen soll, dieser aus-
gefeilte Plan, in dem ich eine Spielfigur war, so wie ich
eine Figur bei den Hungerspielen sein sollte. Ohne mei-
ne Zustimmung, ohne mein Wissen. Nur dass ich bei den
Hungerspielen wenigstens wusste, dass ich ihr Spielball
war.
Meine angeblichen Freunde waren deutlich
geheimniskrämerischer.
»Ihr habt mir nichts davon gesagt.« Meine Stimme
klingt genauso ramponiert wie Finnicks.
»Weder du noch Peeta seid eingeweiht worden. Das Ri-
siko wäre zu groß gewesen«, sagt Plutarch. »Ich hatte sogar
Angst, du könntest während der Spiele die Unbesonnen-
heit mit meiner Uhr erwähnen.« Er holt seine Taschenuhr
hervor und fährt mit dem Daumen über das Glas, sodass
der Spotttölpel aufleuchtet. »Ich wollte dir natürlich einen
540
Tipp über die Arena geben. Dir als Mentor. Ich dachte, es
wäre ein erster Schritt, dein Vertrauen zu gewinnen. Ich
hätte mir nie träumen lassen, dass du noch mal ein Tribut
werden würdest.«
»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Peeta und ich
nicht in den Plan eingeweiht wurden«, sage ich.
»Weil ihr beide die Ersten gewesen wärt, die sie zu fan-
gen versucht hätten, nachdem das Kraftfeld in die Luft
gegangen wäre. Es war besser, ihr wusstet so wenig wie
möglich«, sagt Haymitch.
»Die Ersten? Warum?« Ich versuche seinem Gedanken-
gang zu folgen.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem wir anderen einwil-
ligten zu sterben, damit ihr am Leben bleibt«, sagt Finnick.
»Stimmt nicht. Johanna hat versucht, mich zu töten«,
sage ich.
»Johanna hat dich k.o. geschlagen, um den Aufspürer
aus deinem Arm herauszuschneiden und Brutus und Eno-
baria von dir abzulenken«, sagt Haymitch.
»Was?« Mein Kopf tut unheimlich weh, sie sol en aufhö-
ren, so viel sinnloses Zeug zu reden. »Was wil st du damit …«
»Wir mussten dich retten, weil du der Spotttölpel
bist, Katniss«, sagt Plutarch. »Solange du lebst, lebt die
Revolution.«
541
Der Vogel, die Brosche, das Lied, die Beeren, die Uhr,
der Kräcker, das Kleid, das in Flammen aufgeht. Ich bin
der Spotttölpel. Die, die den Plänen des Kapitols zum
Trotz überlebt. Das Symbol der Rebellion.
Das war es, was ich vermutet hatte, als ich Bonnie und
Twill auf der Flucht im Wald traf. Obwohl ich die Grö-
ßenordnung nie richtig begriffen habe. Aber das sollte ich
ja auch gar nicht. Mir fällt ein, wie Haymitch meinen Plan,
aus Distrikt 12 zu fliehen und meinen eigenen Aufstand
zu machen, und die bloße Idee, Distrikt 13 könne existie-
ren, verspottet hat. Nichts als List und Täuschung. Wenn
er das hinter seiner Maske aus Sarkasmus und Trunken-
heit so überzeugend und lange tun konnte, worüber hat er
dann noch gelogen? Ich weiß, worüber.
»Peeta«, flüstere ich, und das Herz rutscht mir in die
Hose.
»Die anderen haben Peeta gerettet, weil wir wussten,
dass du das Bündnis aufgekündigt hättest, wenn er gestor-
ben wäre«, sagt Haymitch. »Und wir konnten nicht das
Risiko eingehen, dich ohne Schutz zu lassen.« Seine Worte
sind sachlich, seine Miene ist unverändert, nur die Grau-
färbung im Gesicht kann er nicht verbergen.
»Wo ist Peeta?«, fauche ich ihn an.
»Er wurde zusammen mit Johanna und Enobaria vom
542
Kapitol geschnappt«, sagt Haymitch. Endlich hat er den
Takt, seinen Blick zu senken.
Objektiv gesehen bin ich unbewaffnet. Aber man sollte
nicht unterschätzen, welchen Schaden man mit Fingernä-
geln anrichten kann, besonders wenn das Opfer nicht da-
rauf vorbereitet ist. Mit einem Satz springe ich über den
Tisch und grabe meine Nägel in Haymitchs Gesicht, Blut
quillt hervor, und ein Auge wird verletzt. Dann schreien
wir einander schreckliche, wirklich schreckliche Dinge
entgegen, während Finnick versucht, mich fortzuzerren,
und ich weiß, dass Haymitch seinen ganzen Willen auf-
bringen muss, um mich nicht in Stücke zu reißen, doch
ich bin der Spotttölpel. Ich bin der Spotttölpel, und es ist
so schon schwer genug, mein Leben zu retten.
Andere Hände kommen Finnick zu Hilfe, und kurz
darauf liege ich wieder auf meinem Tisch, den Körper
festgeschnallt, die Handgelenke festgebunden, und des-
halb schlage ich vor Wut immer und immer wieder mit
dem Kopf gegen den Tisch. Eine Nadel bohrt sich in mei-
nen Arm, und mein Kopf tut so weh, dass ich aufgebe und
nur noch entsetzlich vor mich hin jaule, wie ein sterbendes
Tier, bis meine Stimme versagt.
Das Beruhigungsmittel zeigt Wirkung, doch ich schla-
fe nicht, ich dämmere vor mich hin, bin für immer – oder
543
so kommt es mir vor – gefangen in einem verschwomme-
nen, dumpf schmerzenden Elend. Sie stecken mir wieder
ihre Schläuche in den Arm und sprechen beruhigend auf
mich ein, doch ihre Stimmen erreichen mich nicht. Ich
kann nur an Peeta denken, der irgendwo auf einem ähnli-
chen Tisch liegt, während sie versuchen, seinen Willen zu
brechen und Informationen aus ihm herauszupressen, die
er gar nicht hat.
»Katniss. Katniss, es tut mir leid.« Finnicks Stimme
kommt von dem Bett neben mir und schiebt sich in mein
Bewusstsein. Vielleicht, weil wir einen ähnlichen Schmerz
empfinden. »Ich wollte zurück und ihn und Johanna ho-
len, aber ich konnte mich nicht bewegen.«
Ich gebe keine Antwort. Finnicks gute Absichten haben
keinerlei Bedeutung.
»Er ist besser dran als Johanna. Die werden bald mer-
ken, dass er nichts weiß. Und sie werden ihn nicht töten,
solange sie denken, sie können ihn gegen dich einsetzen«,
sagt Finnick.
»Als Köder?«, sage ich zur Zimmerdecke. »So, wie sie
Annie als Köder benutzen werden, Finnick?«
Ich höre ihn weinen, aber das ist mir egal. Wahrschein-
lich werden sie sie nicht mal befragen, sie ist schon zu
weit abgedriftet. Seit damals bei ihren Spielen. Sehr gut
544
möglich, dass ich auf dem gleichen Weg bin. Vielleicht bin
ich schon dabei, verrückt zu werden, und keiner hat den
Mut, es mir zu sagen. Verrückt genug fühle ich mich.
»Wenn sie doch nur tot wäre«, sagt er. »Wenn sie alle tot
wären und wir auch. Das wäre das Beste.«
Tja, darauf weiß ich keine Antwort. Ich kann es auch
schlecht bestreiten, schließlich bin ich eben noch mit einer
Spritze rumgerannt, um Peeta zu töten. Will ich wirklich,
dass er tot ist? Am liebsten … am liebsten hätte ich ihn
wieder. Aber ich werde ihn nie mehr wiederhaben. Selbst
wenn die Rebellentruppen das Kapitol irgendwie stürzen
könnten, wäre es garantiert Präsident Snows letzte Tat,
Peeta die Kehle durchzuschneiden. Nein. Ich werde ihn
nie mehr zurückbekommen. Also ist tot das Beste.
Weiß Peeta das oder wird er weiterkämpfen? Er ist so
stark und kann so gut lügen. Ob er glaubt, dass er eine
Chance hat? Bedeutet ihm das Überleben überhaupt et-
was? Er hat sowieso nicht damit gerechnet. Er hatte schon
mit dem Leben abgeschlossen. Wenn er erfährt, dass ich
gerettet wurde, ist er vielleicht sogar glücklich. Dann weiß
er, dass er seine Mission, mir das Leben zu retten, erfüllt
hat.
Ich glaube, ich hasse ihn noch mehr als Haymitch.
Ich gebe auf. Sage nichts mehr, antworte nicht mehr,
545
verweigere Nahrung und Wasser. Sollen sie mir doch in
den Arm pumpen, was sie wollen, es braucht mehr als das,
um einen Menschen am Leben zu erhalten, wenn er erst
einmal den Lebenswillen verloren hat. Mir kommt sogar
ein lustiger Gedanke. Denn falls ich sterben sollte, darf
Peeta vielleicht weiterleben. Nicht als freier Mensch, aber
als Avox oder so, der die zukünftigen Tribute aus Dist-
rikt 12 bedient. Vielleicht findet er dann eines Tages eine
Möglichkeit zu fliehen. Mein Tod könnte ihn noch immer
retten.
Und wenn nicht, ist es auch egal. Es gibt genug Grün-
de zu sterben. Um Haymitch zu bestrafen, der von allen
Menschen in dieser verfaulenden Welt Peeta und mich zu
Figuren in seinen Spielchen auserkoren hat. Ich habe ihm
vertraut. Ich habe alles, was wertvoll war, in Haymitchs
Hände gelegt. Und er hat mich verraten.
Jetzt weißt du, warum keiner dich mit der Planung be-
traut, hat er gesagt.
Das stimmt. Niemand, der bei Verstand ist, würde
mich mit der Planung betrauen. Denn offensichtlich kann
ich Freund und Feind nicht unterscheiden.
Viele Leute kommen vorbei und wollen mit mir re-
den, aber ich lasse ihre Worte einfach so klingen wie das
Klicken der Insekten im Dschungel. Bedeutungslos und
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fern. Gefährlich, aber nur von Nahem. Immer, wenn die
Wörter verständlich werden, stöhne ich, bis sie mir noch
mehr Schmerzmittel geben und alles wieder in Ordnung
kommt.
Bis ich auf einmal die Augen öffne und jemand zu mir
herunterschaut, den ich nicht ausblenden kann. Jemand,
der nicht drängt oder erklärt oder denkt, er könnte mich
durch Beschwörungen von meinem Vorhaben abbringen,
weil nur er allein wirklich weiß, worauf ich anspreche.
»Gale«, flüstere ich.
»Hallo, Kätzchen.« Er streckt die Hand aus und streicht
mir eine Haarsträhne aus den Augen. Auf einer Seite des
Gesichts hat er eine frische Brandnarbe. Sein Arm steckt
in einer Schlinge und unter dem Bergarbeiterhemd er-
kenne ich einen Verband. Was ist ihm zugestoßen? Wie
kommt er überhaupt hierher? Zu Hause müssen schlimme
Dinge passiert sein.
Das größte Problem ist nicht, Peeta zu vergessen, son-
dern mich nicht an die anderen zu erinnern. Ich brauche
Gale nur einmal anzuschauen und sie kommen alle herauf
in die Gegenwart und fordern Beachtung. »Prim?«, stoße
ich hervor.
»Sie lebt. Deine Mutter auch. Ich habe sie rechtzeitig
rausgeschafft«, sagt er.
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»Sie sind nicht in Distrikt 12?«, frage ich.
»Nach den Spielen haben sie Flugzeuge geschickt.
Brandbomben abgeworfen.« Er zögert. »Na, du weißt ja,
was mit dem Hob passiert ist.«
Ja, das weiß ich. Ich habe gesehen, wie er in Flammen
aufging. Das alte Lagerhaus voller Kohlenstaub. Der gan-
ze Distrikt ist mit dem Zeug bedeckt. Ein neues Grauen
steigt in mir auf, als ich mir vorstelle, wie die Brandbom-
ben den Saum treffen.
»Sie sind nicht mehr in Distrikt 12?«, frage ich noch
einmal. Als könnte ich die Wahrheit damit irgendwie
abwenden.
»Katniss«, sagt Gale sanft.
Ich kenne diese Stimme. Mit dieser Stimme geht er auf
verletzte Tiere zu, bevor er ihnen den Todesstoß versetzt.
Instinktiv hebe ich die Hand, um seine Worte abzuweh-
ren, doch er packt sie und hält sie fest.
»Nein«, flüstere ich.
Aber Gale ist keiner, der etwas vor mir geheim halten
würde. »Katniss, es gibt keinen Distrikt 12 mehr.«
ENDE DES ZWEITEN BUCHS