»Da hast du ja ein ganz schönes Durcheinander ange-
richtet«, sagt er.
»Ich bin noch gar nicht fertig«, erwidere ich.
»Ich hab vorerst genug gehört. Überspring den Rest
und erzähl von deinem Plan«, sagt er.
Ich atme tief durch. »Wir hauen ab.«
»Was?«, sagt er. Damit hat er überhaupt nicht gerechnet.
142
»Wir gehen in den Wald und fliehen«, sage ich. Sei-
ne Miene ist undurchdringlich. Wird er mich auslachen,
meine Idee als idiotisch abtun? Beunruhigt stehe ich auf,
ich mache mich auf eine Auseinandersetzung gefasst. »Du
hast selbst gesagt, wir könnten es tun! An dem Morgen
der Ernte. Da hast du gesagt …«
Er kommt auf mich zu, und ich merke, wie ich hoch-
gehoben werde. Das Zimmer dreht sich, und ich muss die
Arme um seinen Hals legen, damit ich nicht das Gleichge-
wicht verliere. Er lacht, er ist glücklich.
»Hey!«, rufe ich abwehrend, aber ich lache auch.
Gale setzt mich wieder ab, lässt mich jedoch nicht los.
»Gut, dann hauen wir ab«, sagt er.
»Wirklich? Du hältst mich nicht für verrückt? Du
kommst mit?« Jetzt drückt das Gewicht mich nicht mehr
ganz so nieder, ich habe es auf Gales Schultern abgeladen.
»Doch, ich halte dich für verrückt, aber ich komme
trotzdem mit«, sagt er. Er meint es ernst. Nicht nur das, er
findet es gut. »Wir können es schaffen, das weiß ich. Lass
uns abhauen und nie wiederkommen!«
»Meinst du wirklich?«, frage ich. »Das wird ganz schön
schwer, mit den Kleinen und so. Ich möchte nicht zehn
Kilometer in den Wald laufen und du musst dann …«
»Ich meine es wirklich. Ganz und gar, vollkommen,
143
hundertprozentig.« Er senkt den Kopf, legt seine Stirn
an meine und zieht mich näher an sich. Seine Haut, sein
ganzer Körper strahlt Wärme aus, weil er so nah am Feu-
er war, und ich schließe die Augen, sauge seine Wärme
ein. Ich atme den Geruch von schneenassem Leder, Rauch
und Äpfeln ein, den Geruch all der Wintertage, die wir
vor den Spielen miteinander verbracht haben. Ich versuche
nicht, mich zu befreien. Warum auch? Seine Stimme wird
zu einem Flüstern. »Ich liebe dich.«
Deshalb also.
Ich sehe so etwas nie kommen. Es geht zu schnell. Im
einen Moment schlage ich einen Fluchtplan vor und im
nächsten … soll ich auf so etwas reagieren. Ich gebe die
wohl schlimmstmögliche Antwort: »Ich weiß.«
Das klingt schrecklich. Als glaubte ich, er könnte
gegen seine Gefühle nichts machen, und als erwiderte
ich sie nicht. Gale will sich aus der Umarmung befreien,
doch ich halte ihn fest. »Ich weiß! Und du … du weißt,
was du mir bedeutest.« Das ist nicht genug. Er löst sich
aus meinem Griff. »Gale, ich kann im Moment an nie-
manden so denken. Seit Prims Name bei der Ernte ge-
zogen wurde, kann ich jeden Tag, jeden wachen Augen-
blick an nichts anderes denken als an meine Angst. Da
ist gar kein Raum für etwas anderes. Wenn wir irgendwo
144
in Sicherheit wären, würde ich vielleicht anders empfin-
den. Ich weiß es nicht.«
Ich sehe, wie er die Enttäuschung hinunterschluckt.
»Dann hauen wir also ab. Wir werden es herausfinden.« Er
dreht sich wieder zum Feuer, wo die Kastanien anfangen
zu brennen. Schnel holt er sie heraus auf den Kaminboden.
»Meine Mutter wird sich nicht so leicht überzeugen lassen.«
Ich glaube, er will immer noch mitkommen. Aber die
Freude ist verflogen, hat einer allzu bekannten Anspan-
nung Platz gemacht. »Meine auch nicht. Ich muss es ihr
einfach begreiflich machen. Ich nehme sie auf einen lan-
gen Spaziergang mit. Sie muss einsehen, dass wir anders
nicht überleben können.«
»Sie wird es verstehen. Ich hab die Spiele oft zusam-
men mit ihr und Prim angeschaut. Sie wird es dir nicht
abschlagen«, sagt Gale.
»Hoffentlich nicht.« In wenigen Sekunden scheint es
im Haus zwanzig Grad kälter geworden zu sein. »Hay-
mitch wird die härteste Nuss.«
»Haymitch?« Gale vergisst die Kastanien. »Du willst
ihn doch nicht fragen, ob er mitkommt?«
»Das muss ich, Gale. Ich kann ihn und Peeta nicht zu-
rücklassen, sie würden …« Ich verstumme, als ich seine
finstere Miene sehe. »Was ist?«
145
»Tut mir leid. Mir war nicht klar, dass wir so viele sein
würden«, sagt er schroff.
»Sie würden die beiden zu Tode foltern, um rauszukrie-
gen, wo ich bin«, sage ich.
»Und Peetas Familie? Die würden doch nie mitkom-
men. Im Gegenteil, wahrscheinlich könnten sie es gar
nicht abwarten, uns zu verraten. Und bestimmt ist er so
schlau, dass er das kapiert. Wenn er sich nun entscheidet,
hierzubleiben?«, fragt er.
Ich versuche, unbeteiligt zu klingen, aber meine Stim-
me überschlägt sich. »Dann bleibt er eben.«
»Du würdest ihn zurücklassen?«, fragt Gale.
»Ja, um Prim und meine Mutter zu retten«, antwor-
te ich. »Ich meine, nein! Ich werde ihn dazu bringen,
mitzukommen.«
»Und mich, würdest du mich zurücklassen?« Gales
Miene ist jetzt wie versteinert. »Nur für den Fall, dass ich
zum Beispiel meine Mutter nicht überreden kann, drei
kleine Kinder im Winter mit in die Wildnis zu schleppen.«
»Hazelle sagt nicht Nein. Sie ist vernünftig«, sage ich.
»Aber wenn nicht, Katniss. Was dann?«, will er wissen.
»Dann musst du sie eben zwingen, Gale. Glaubst du,
ich denke mir das alles nur aus?« Jetzt bin ich auch wü-
tend und werde lauter.
146
»Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht will der Präsident dich
nur manipulieren. Ich meine, er richtet deine Hochzeit
aus. Du hast ja gesehen, wie die Massen im Kapitol re-
agiert haben. Ich glaube nicht, dass er es sich leisten kann,
dich umzubringen. Oder Peeta. Wie soll er sich da raus-
winden?«, sagt Gale.
»Bei dem Aufstand in Distrikt 8 hat er bestimmt Bes-
seres zu tun, als meine Hochzeitstorte auszusuchen!«, rufe
ich.
Kaum sind die Worte heraus, möchte ich sie auch schon
wieder zurücknehmen. Sie wirken augenblicklich auf Gale –
seine Wangen werden rot, seine grauen Augen leuchten. »In
Distrikt 8 gibt es einen Aufstand?«, fragt er gedämpft.
Ich versuche zurückzurudern. Ihn zu beschwichtigen,
so, wie ich die Distrikte versucht habe zu beschwichtigen.
»Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Aufstand ist. Es gibt
Unruhen. Die Leute auf den Straßen …«
Gale fasst mich bei den Schultern. »Was hast du
gesehen?«
»Nichts! Ich hab es nicht selbst gesehen. Ich hab nur
was gehört.« Wie immer ist es zu wenig, zu spät. Ich gebe
auf und erzähle es ihm. »Ich hab beim Bürgermeister was
im Fernsehen gesehen. Was ich eigentlich nicht sehen
sollte. Da war eine Menschenmenge und Feuer, und die
147
Friedenswächter haben Leute über den Haufen geschossen,
aber es gab Widerstand …« Ich beiße mir auf die Lippe
und versuche mit Mühe, die Szene weiter zu beschreiben.
Stattdessen spreche ich die Worte aus, die mich seitdem
quälen. »Und ich bin schuld, Gale. Weil ich das mit den
Beeren in der Arena gemacht habe. Wenn ich mich ein-
fach umgebracht hätte, wäre das alles nicht passiert. Peeta
wäre nach Hause gekommen und hätte weiterleben kön-
nen und alle anderen wären auch in Sicherheit gewesen.«
»In was für einer Sicherheit?«, sagt er, sanfter jetzt. »In
der Sicherheit, zu verhungern? Wie Sklaven zu arbeiten?
Ihre Kinder zur Ernte zu schicken? Du hast den Leuten
nichts angetan – du hast ihnen eine Chance gegeben. Sie
müssen nur den Mut haben, sie zu ergreifen. In den Berg-
werken habe ich schon etwas gehört. Einige wollen kämp-
fen. Verstehst du nicht? Es passiert! Endlich passiert es!
Wenn es in Distrikt 8 einen Aufstand gibt, warum nicht
auch hier? Warum nicht überall? Das könnte es sein, das,
was wir …«
»Hör auf! Du weißt ja nicht, was du da sagst. Die Frie-
denswächter außerhalb von Distrikt 12, die sind nicht wie
Darius, nicht mal wie Cray! Denen bedeutet ein Men-
schenleben weniger als nichts!«, sage ich.
»Deshalb müssen wir mitkämpfen«, erwidert er scharf.
148
»Nein! Wir müssen fort von hier, bevor sie uns und jede
Menge anderer Menschen auch noch umbringen!« Jetzt
schreie ich wieder, ich verstehe nicht, was er hat. Warum
sieht er nicht, was so offensichtlich ist?
Gale schiebt mich unsanft weg. »Dann hau doch ab.
Ich gehe nicht in hunderttausend Jahren.«
»Eben wolltest du noch gern mitkommen. Ich verste-
he nicht, was ein Aufstand in Distrikt 8 ausmacht, außer
dass unsere Flucht dadurch noch dringlicher wird. Du bist
ja nur sauer wegen …« Nein, ich kann ihm jetzt nicht Pee-
ta ins Gesicht schleudern. »Was ist mit deiner Familie?«
»Was ist mit den anderen Familien, Katniss? Mit denen,
die nicht weglaufen können? Begreifst du nicht? Jetzt kann
es nicht mehr darum gehen, unser Leben zu retten. Nicht,
wenn die Rebellion angefangen hat!« Gale schüttelt den
Kopf, er macht keinen Hehl aus seinem Ärger über mich.
»Du könntest so viel tun.« Er wirft mir Cinnas Handschu-
he vor die Füße. »Ich hab meine Meinung geändert. Ich
will nichts haben, was im Kapitol gemacht wurde.« Und
damit ist er verschwunden.
Ich schaue auf die Handschuhe. Nichts, was im Kapitol
gemacht wurde? War das auf mich gemünzt? Meint er, ich
bin jetzt auch bloß noch ein Produkt des Kapitols und des-
halb unberührbar? Ich werde wütend, es ist so ungerecht.
149
Aber in die Wut mischt sich Angst davor, was für eine Ver-
rücktheit er wohl als Nächstes anstellt.
Ich lasse mich neben das Feuer sinken, ich brauche et-
was Tröstliches, um den nächsten Schritt planen zu kön-
nen. Ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass Revolu-
tionen nicht an einem Tag gemacht werden. Vor morgen
kann Gale nicht mit den Bergarbeitern sprechen. Wenn
ich es vorher zu Hazelle schaffe, kann sie ihm vielleicht
den Kopf zurechtrücken.
Aber jetzt kann ich nicht zu ihr. Falls er da ist, würde er
mich aussperren. Vielleicht heute Nacht, wenn alle ande-
ren schlafen … Hazelle hat oft bis in die Nacht mit ihrer
Wäsche zu tun. Dann könnte ich zu ihr gehen, ans Fenster
klopfen und ihr erklären, was los ist, damit sie Gale vor
einer Dummheit bewahrt.
Mein Gespräch mit Präsident Snow im Arbeitszimmer
fällt mir wieder ein.
»Meine Berater hatten Sorge, du könntest Schwierigkeiten
machen, aber du hast nicht vor, Schwierigkeiten zu machen,
oder?«, fragt er.
»Nein«, sage ich.
»Das habe ich ihnen auch gesagt. Ich habe gesagt, ein
Mädchen, das so viel auf sich nimmt, um sein Leben zu retten,
wird kein Interesse daran haben, es leichtfertig wegzuwerfen.«
150
Ich denke daran, wie hart Hazelle gearbeitet hat, um
ihre Familie zu retten. Bestimmt wird sie in dieser Frage
auf meiner Seite sein. Oder?
Es muss jetzt schon bald Mittag sein und die Tage sind
so kurz. Nach Anbruch der Dunkelheit sollte man nicht
im Wald sein, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich
trete die Überreste meines kleinen Feuers aus, räume die
Essensreste weg und stecke Cinnas Handschuhe unter den
Gürtel. Ich werde sie wohl noch eine Weile behalten. Für
den Fall, dass Gale seine Meinung ändert. Ich denke an
seine Miene, als er sie weggeworfen hat. Wie sehr er sie
abgelehnt hat und auch mich …
Ich stapfe durch den Wald bis zu meinem alten Haus,
wo immer noch Licht brennt. Mein Gespräch mit Gale
war ein harter Rückschlag, aber ich bin weiterhin ent-
schlossen, aus Distrikt 12 zu fliehen. Als Nächstes nehme
ich mir vor, Peeta zu suchen. Er hat auf der Tour ja teilwei-
se dasselbe gesehen wie ich, vielleicht habe ich da mit ihm
leichteres Spiel als mit Gale. Ich laufe ihm in die Arme, als
er gerade aus dem Dorf der Sieger kommt.
»Auf der Jagd gewesen?«, fragt er. Ich sehe ihm an, dass
er das für keine gute Idee hält.
»Nicht direkt. Gehst du in die Stadt?«, frage ich.
»Ja. Meine Familie erwartet mich zum Abendessen«, sagt er.
151
»Ich kann dich ja wenigstens begleiten.« Die Straße
vom Dorf der Sieger zum zentralen Platz wird kaum be-
nutzt. Dort kann man einigermaßen gefahrlos reden. Aber
irgendwie bringe ich die Worte nicht über die Lippen. Bei
Gale bin ich so kläglich gescheitert. Ich nage an meinen
rissigen Lippen. Mit jedem Schritt kommen wir näher
zum Platz. So bald wird sich vielleicht keine Gelegenheit
mehr bieten. Ich hole tief Luft und lasse die Worte heraus-
sprudeln. »Peeta, wenn ich dich bitten würde, mit mir aus
dem Distrikt zu fliehen, würdest du es tun?«
Peeta fasst mich am Arm, hält mich an. Er braucht
mir nicht ins Gesicht zu schauen, um sich zu vergewis-
sern, dass ich es ernst meine. »Kommt drauf an, weshalb
du fragst.«
»Ich habe Präsident Snow nicht überzeugt. In Distrikt
8 gibt es einen Aufstand. Wir müssen hier raus«, sage ich.
»Wen meinst du mit ›wir‹? Nur dich und mich? Nein.
Wer soll noch mitkommen?«, fragt er.
»Meine Familie. Deine, wenn sie mitkommen wollen.
Haymitch vielleicht«, sage ich.
»Und Gale?«, fragt er.
»Ich weiß nicht. Viel eicht hat er andere Pläne«, sage ich.
Peeta schüttelt den Kopf und lächelt mich betrübt an.
»Das hat er garantiert. Klar, Katniss, ich komme mit.«
152
Ich sehe einen Hoffnungsschimmer. »Wirklich?«
»Ja. Aber ich glaube kein bisschen, dass du fliehen
wirst«, sagt er.
Ich reiße mich los. »Dann kennst du mich aber schlecht.
Halt dich bereit. Es kann jeden Moment so weit sein.« Ich lau-
fe los und er folgt mir im Abstand von ein oder zwei Schritten.
»Katniss«, sagt Peeta. Ich verlangsame meine Schritte
nicht. Wenn er die Idee nicht gut findet, will ich es nicht
wissen, denn ich habe keine andere. »Katniss, bleib stehen.«
Ich kicke einen schmutzigen gefrorenen Schneeklumpen
vom Weg und warte, bis Peeta mich eingeholt hat. Mit
dem Kohlenstaub sieht alles besonders hässlich aus. »Ich
komme wirklich mit, wenn du das willst. Ich meine nur,
wir sollten lieber mit Haymitch darüber reden. Nicht, dass
wir für die Menschen hier alles noch schlimmer machen.«
Er schaut hoch. »Was ist das?«
Ich hebe den Kopf. Ich war so mit meinen eigenen Sor-
gen beschäftigt, dass ich die merkwürdigen Geräusche,
die vom Platz her kommen, gar nicht bemerkt habe. Ein
Zischen, ein Knall, Menschen, die aufstöhnen.
»Komm weiter«, sagt Peeta, plötzlich mit harter Miene.
Ich weiß nicht, warum. Ich kann das Geräusch nicht ein-
ordnen, habe keine Ahnung, was da los ist. Aber für ihn
bedeutet es etwas Schlimmes.
153
Als wir auf den Platz kommen, sehe ich, dass irgend-
etwas los ist, aber die Menschen stehen so gedrängt, dass
man nichts erkennen kann. Peeta steigt auf eine Kiste
an der Wand des Süßwarengeschäfts und reicht mir eine
Hand, während er über den Platz schaut. Ich bin schon
fast oben, als er mir plötzlich den Weg verstellt. »Runter.
Weg hier!« Er flüstert, doch seine Stimme ist hart und
drängend.
»Was ist?«, frage ich und versuche, auf die Kiste zu
steigen.
»Lauf nach Hause, Katniss! Ich bin sofort bei dir, ich
schwöre es!«, sagt er.
Was es auch ist, es muss furchtbar sein. Ich reiße mich
von seiner Hand los und zwänge mich durch die Menge.
Die Leute sehen mich, erkennen mein Gesicht, dann wer-
den sie panisch. Hände schieben mich zurück. Stimmen
zischen.
»Hau ab hier, Mädchen.«
»Machst es nur schlimmer.«
»Was willst du? Sollen sie ihn umbringen?«
Aber jetzt klopft mein Herz schon so schnell und heftig,
dass ich sie kaum höre. Ich weiß nur, dass das, was da mit-
ten auf dem Platz wartet, für mich bestimmt ist. Als ich
mich schließlich durchgekämpft habe und auf den offenen
154
Platz gelange, sehe ich, dass ich recht habe. Und dass Peeta
recht hatte. Und die Stimmen hatten auch recht.
Gale ist mit den Handgelenken an einen Holzpfahl ge-
bunden. Über ihm hängt der Truthahn, den er geschossen
hatte, ein Nagel geht durch den Hals des Tiers. Gales Ja-
cke ist zu Boden geworfen worden, das Hemd haben sie
ihm vom Leib gerissen. Er kniet bewusstlos auf der Erde,
nur die Stricke an den Handgelenken halten ihn. Was ein-
mal sein Rücken war, ist ein rohes, blutiges Stück Fleisch.
Hinter ihm steht ein Mann, den ich noch nie gesehen
habe, doch die Uniform kenne ich. Sie gehört unserem
Obersten Friedenswächter. Aber das hier ist nicht der alte
Cray. Dieser Mann ist groß und muskulös und seine Hose
hat ordentliche Bügelfalten.
Die Einzelteile wollen sich nicht zu einem Bild zusam-
menfügen, bis ich sehe, wie er den Arm mit der Peitsche
hebt.
155
8 »Nein!«, schreie ich und mache einen
Satz nach vorn. Der herabsausende
Arm lässt sich nicht mehr aufhalten, und ich weiß in-
stinktiv, dass ich nicht die Kraft habe, ihn abzuweh-
ren. Stattdessen werfe ich mich genau zwischen Gale
und die Peitsche. Ich reiße die Arme hoch, um seinen
geschundenen Köper so gut wie möglich zu schützen,
da ist nichts, was den Schlag ablenken könnte. Mit vol-
ler Wucht trifft er mich auf der linken Gesichtshälfte.
Der Schmerz ist grausam und unmittelbar. Gezack-
te Lichtblitze erscheinen vor meinen Augen und ich falle
auf die Knie. Mit einer Hand halte ich mir die Wange,
während ich mich mit der anderen abstütze, um nicht
umzukippen. Ich spüre schon, wie der Striemen dick
wird und wie mein Auge zuschwillt. Die Steine unter
mir sind nass von Gales Blut, der Geruch des Blutes liegt
schwer in der Luft. »Hören Sie auf! Sie bringen ihn um!«,
kreische ich.
Ganz kurz sehe ich das Gesicht meines Angreifers.
Hart, mit tiefen Furchen, einem brutalen Mund. Graue
Haare, der Kopf fast kahl rasiert, die Augen so schwarz,
156
dass sie nur aus Pupillen zu bestehen scheinen, eine lange
gerade Nase, rot von der Eiseskälte. Der kräftige Arm geht
wieder hoch, jetzt hat der Mann mich im Visier. Meine
Hand fährt an meine Schulter, jetzt ein Pfeil, aber natür-
lich sind meine Waffen im Wald verstaut. Ich beiße die
Zähne zusammen und warte auf den nächsten Hieb.
»Aufhören!«, befiehlt da jemand. Es ist Haymitch, er
stolpert über einen am Boden liegenden Friedenswächter.
Darius. Eine gewaltige lilafarbene Beule schiebt sich auf
seiner Stirn durch das rote Haar. Er ist bewusstlos, aber
er atmet noch. Was ist passiert? Hat er versucht, Gale zu
helfen, bevor ich kam?
Haymitch achtet nicht auf ihn und zieht mich grob
hoch. »Na super.« Er fasst mir unter das Kinn. »Sie hat
nächste Woche ein Fotoshooting, Hochzeitskleider vor-
führen. Was soll ich ihrem Stylisten erzählen?«
Ich sehe ein Zeichen des Erkennens über das Gesicht
des Mannes mit der Peitsche huschen. Warm eingepackt,
wie ich bin, ungeschminkt, den Pferdeschwanz nachlässig
unter den Mantel gesteckt, bin ich wohl nicht ohne Weite-
res als Siegerin der letzten Hungerspiele zu erkennen. Vor
allem nicht mit einer geschwollenen Gesichtshälfte. Hay-
mitch dagegen ist seit Jahren regelmäßig im Fernsehen zu
sehen und ihn vergisst man nicht so leicht.
157
Der Mann lässt die Peitsche auf die Hüfte sinken. »Sie
hat die Bestrafung eines geständigen Verbrechers gestört.«
Alles an diesem Mann, seine herrische Stimme, sein
merkwürdiger Akzent, ist eine einzige Warnung vor einer
unbekannten, schrecklichen Gefahr. Woher kommt er?
Aus Distrikt 11? 3? Aus dem Kapitol selbst?
»Und wenn sie das verdammte Justizgebäude in die
Luft gesprengt hätte! Gucken Sie sich ihre Wange an! Mei-
nen Sie, die ist in einer Woche kameratauglich?«, fährt
Haymitch den Mann an.
Die Stimme des Mannes ist immer noch kalt, doch ich
höre leisen Zweifel heraus. »Das ist nicht mein Problem.«
»Nein? Na, das wird es aber noch, Freundchen. Wenn
ich nach Hause komme, rufe ich als Erstes im Kapitol
an«, sagt Haymitch. »Um rauszukriegen, wer Sie ermäch-
tigt hat, das hübsche kleine Gesicht meiner Siegerin zu
vermurksen!«
»Er hat gewildert. Was geht es das Mädchen überhaupt
an?«, sagt der Mann.
»Er ist ihr Cousin.« Peeta nimmt jetzt meinen anderen
Arm, aber sanft. »Und sie ist meine Verlobte. Wenn Sie ihn
haben wollen, müssen Sie erst mal uns beide kleinkriegen.«
Wahrscheinlich sind wir drei die Einzigen im Distrikt,
die so einen Auftritt zustande bringen. Wenn auch nur
158
kurz, denn diese Sache wird ein Nachspiel haben. Aber
im Augenblick will ich nichts als Gales Leben retten. Der
neue Oberste Friedenswächter schaut zu seiner Truppe.
Erleichtert entdecke ich dort die bekannten Gesichter, alte
Freunde vom Hob. Ich sehe ihnen an, dass ihnen die Vor-
stellung nicht gefällt.
Eine Friedenswächterin tritt mit steifen Schritten vor,
sie heißt Purnia und isst regelmäßig am Stand von Greasy
Sae. »Ich glaube, für ein erstes Vergehen hat er genügend
Hiebe erhalten. Es sei denn, Sie verhängen die Todesstra-
fe, die wir durch ein Erschießungskommando vollziehen
würden.«
»Ist das hier das übliche Verfahren?«, fragt der Oberste
Friedenswächter.
»Ja«, sagt Purnia, und mehrere nicken. Garantiert weiß
das überhaupt keiner, denn wenn jemand mit einem Trut-
hahn auf dem Hob auftaucht, ist das übliche Verfahren,
dass sich alle um die Keulen reißen.
»Nun gut, Mädchen. Dann schaff deinen Cousin von
hier fort. Und wenn er wieder zu sich kommt, erinnere ihn
daran, dass ich, sollte er noch einmal im Gebiet des Kapi-
tols wildern, höchstpersönlich das Erschießungskomman-
do versammeln werde.« Darauf wischt der Oberste Frie-
denswächter mit der Hand über die Peitsche und bespritzt
159
uns mit Blut. Dann wickelt er sie ordentlich auf und geht
davon.
Die meisten anderen Friedenswächter folgen ihm in lo-
ser Formation. Eine kleine Gruppe bleibt zurück und hebt
Darius an Armen und Beinen hoch. Ich fange Purnias Blick
auf und sage lautlos »Danke«, ehe sie geht. Sie gibt keine
Antwort, doch ich weiß, dass sie mich verstanden hat.
»Gale.« Ich drehe mich um, fummele an den Knoten,
mit denen seine Handgelenke zusammengebunden sind.
Jemand reicht ein Messer durch und Peeta durchtrennt die
Seile. Gale sinkt auf dem Boden zusammen.
»Bringt ihn lieber zu deiner Mutter«, sagt Haymitch.
Wir haben keine Trage, doch die alte Frau am Kleider-
stand verkauft uns das Brett, das ihr als Verkaufstheke
dient. »Erzählt bloß keinem, wo ihr das herhabt«, sagt sie
und packt schnell ihre restlichen Sachen zusammen. Der
Platz ist jetzt fast leer, die Angst ist stärker als das Mitge-
fühl. Nach dem, was gerade passiert ist, kann ich es nie-
mandem verdenken.
Als wir Gale mit dem Gesicht nach unten auf das Brett
legen, sind nur noch eine Handvoll Leute übrig, die ihn
tragen können. Haymitch, Peeta und ein paar Bergarbei-
ter, die in derselben Mannschaft arbeiten wie Gale, heben
ihn hoch.
160
Ein Mädchen namens Leevy, das im Saum ganz bei
uns in der Nähe wohnt, fasst mich am Arm. Meine Mut-
ter hat ihrem kleinen Bruder letztes Jahr das Leben geret-
tet, als er die Masern hatte. »Brauchst du Hilfe auf dem
Rückweg?« Der Blick ihrer grauen Augen ist ängstlich,
aber entschlossen.
»Nein, aber kannst du Hazelle holen? Sie herschicken?«,
frage ich.
»Ja«, sagt Leevy und läuft sofort los.
»Leevy!«, rufe ich. »Sie soll die Kinder nicht mitbringen.«
»Nein, ich bleibe bei ihnen«, sagt sie.
»Danke.« Ich nehme Gales Jacke und laufe hinter den
anderen her.
»Kühl das mit Schnee«, befiehlt Haymitch über die
Schulter hinweg. Ich nehme eine Handvoll Schnee und
halte ihn an die Wange; das betäubt den Schmerz ein we-
nig. Mein linkes Auge tränt jetzt heftig und in dem Däm-
merlicht kann ich nur den Stiefeln vor mir hinterherlaufen.
Während wir gehen, höre ich, wie Bristel und Thorn,
Gales Kollegen, die Geschichte Stück für Stück erzählen.
Offenbar war Gale zu Cray gegangen, wie er es schon hun-
dertmal gemacht hat, weil er weiß, dass Cray für einen
Truthahn immer einen guten Preis zahlt. Doch statt Cray
hat er den neuen Obersten Friedenswächter angetroffen,
161
einen Mann, von dem irgendwer sagte, er heiße Romulus
Thread. Was mit Cray passiert ist, weiß niemand. Heute
Morgen noch hat er auf dem Hob klaren Schnaps gekauft,
da hatte er offenbar noch das Sagen im Distrikt, aber jetzt
ist er unauffindbar. Thread hat Gale sofort verhaftet, und
da Gale mit einem toten Truthahn in der Hand dastand,
konnte er wenig zu seiner Verteidigung vorbringen. Es
sprach sich schnell herum, dass er in der Klemme steckte.
Er wurde auf den Platz gebracht, zu einem Schuldgeständ-
nis gezwungen und zu einer Auspeitschung verurteilt, die
sofort vollzogen wurde. Als ich kam, hatte er schon min-
destens vierzig Peitschenhiebe hinter sich. Ungefähr bei
dreißig verlor er das Bewusstsein.
»Ein Glück, dass er nur den Truthahn bei sich hatte«,
sagt Bristel. »Wenn er seinen üblichen Fang gehabt hätte,
wär es ihm noch viel schlimmer ergangen.«
»Er hat Thread erzählt, er hätte den Truthahn gefun-
den, als er im Saum rumlief. Das Vieh war über den Zaun
geflogen und er hätte es mit einem Stock abgestochen. Im-
mer noch ein Verbrechen. Aber wenn sie gewusst hätten,
dass er mit Waffen im Wald war, hätten sie ihn garantiert
umgebracht«, sagt Thorn.
»Was ist mit Darius?«, fragt Peeta.
»Nach ungefähr zwanzig Hieben ist er eingeschritten
162
und hat gesagt, es sei genug. Nur hat er es nicht so ge-
schickt und förmlich gemacht wie Purnia. Er hat Thread
am Arm gepackt und da hat Thread ihm mit dem Griff
der Peitsche auf den Kopf gehauen. Für Darius sieht es
nicht besonders rosig aus«, sagt Bristel.
»Es sieht wohl für keinen von uns besonders rosig aus«,
sagt Haymitch.
Es fängt an zu schneien, dicke nasse Flocken, dadurch
kann ich noch schlechter sehen. Ich stolpere hinter den an-
deren her bis zu unserem Haus, lasse mich mehr von mei-
nen Ohren leiten als von meinen Augen. Meine Mutter,
die natürlich auf mich gewartet hat, nachdem ich einen
langen Tag ohne Erklärung weggeblieben bin, versucht zu
begreifen, was sie sieht.
»Neuer Oberster«, sagt Haymitch, und sie nickt nur
kurz, als würde das alles erklären.
Wie immer erfül t mich Ehrfurcht, als ich sehe, wie sie
sich von der Frau, die mich ruft, damit ich eine Spinne töte,
in eine Frau verwandelt, die immun ist gegen Angst. Wenn
man ihr einen kranken oder sterbenden Menschen bringt…
ich glaube, das sind die einzigen Momente, in denen meine
Mutter weiß, wer sie ist. Im Nu ist der lange Küchentisch
abgeräumt, ein steriles weißes Tuch wird darüber ausgebrei-
tet und Gale hinaufgelegt. Meine Mutter gießt Wasser aus
163
einem Kessel in eine Schüssel und lässt Prim verschiedene
Medikamente aus dem Arzneischrank holen. Getrocknete
Kräuter und Tinkturen und im Laden gekaufte Flaschen.
Ich beobachte die Hände meiner Mutter, die langen, sch-
mal zulaufenden Finger, die etwas in die Schüssel bröseln
und Tropfen dazugeben. Sie tränkt ein Tuch in der heißen
Flüssigkeit und weist Prim an, frisches Wasser aufzusetzen.
Meine Mutter schaut zu mir. »Bist du im Auge getrof-
fen worden?«
»Nein, es ist nur zugeschwollen«, erkläre ich.
»Pack noch mal Schnee drauf«, sagt sie. Aber es gibt
Wichtigeres als mich, das ist deutlich.
»Kannst du ihn retten?«, frage ich. Sie sagt nichts, wäh-
rend sie das Tuch auswringt und es in die Luft hält, damit
es ein wenig abkühlt.
»Keine Bange«, sagt Haymitch. »Vor Crays Zeit wurde
hier eine Menge gepeitscht. Wir haben sie immer alle zu
deiner Mutter gebracht.«
An eine Zeit vor Cray kann ich mich nicht erinnern,
an eine Zeit, als es einen Obersten Friedenswächter gab,
der häufigen Gebrauch von der Peitsche machte. Da muss
meine Mutter in meinem Alter gewesen sein und noch bei
ihren Eltern in der Apotheke gearbeitet haben. Selbst da-
mals hatten ihre Hände schon heilende Kräfte.
164
Ganz sanft beginnt sie das zerfetzte Fleisch auf Gales
Rücken zu säubern. Ich fühle mich elend, nutzlos, der
restliche Schnee tropft von meinem Handschuh und bil-
det auf dem Fußboden eine Pfütze. Peeta setzt mich in
einen Sessel und hält mir ein Tuch mit frischem Schnee
an die Wange.
Haymitch schickt Bristel und Thorn nach Hause, und
ich sehe, dass er ihnen Münzen in die Hand drückt, bevor
sie gehen. »Keine Ahnung, was mit eurer Mannschaft pas-
siert«, sagt er. Sie nicken und nehmen das Geld.
Da kommt Hazelle, atemlos, die Wangen gerötet und
Schnee im Haar. Stumm setzt sie sich auf einen Hocker
am Tisch, nimmt Gales Hand und drückt sie an die Lip-
pen. Nicht einmal auf sie reagiert meine Mutter. Sie ist in
diese gewisse Sphäre eingetreten, in der nur sie und der
Patient Platz haben, hin und wieder auch Prim. Wir ande-
ren können warten.
Trotz ihrer kundigen Hände dauert es lange, bis die
Wunden gesäubert sind, bis das, was von der zerfetzten
Haut noch zu retten ist, halbwegs hergerichtet, bis eine
Salbe aufgetragen und ein leichter Verband umgelegt ist.
Als das Blut weniger wird, sehe ich, wo jeder einzelne Peit-
schenhieb aufgekommen ist, und spüre den Nachhall in
dem einen Striemen in meinem Gesicht. Ich multipliziere
165
meinen eigenen Schmerz mit zwei, mit drei, mit vierzig
und kann nur hoffen, dass Gale vorerst nicht zu Bewusst-
sein kommt. Das ist natürlich zu viel verlangt. Als die letz-
ten Verbände angelegt werden, kommt ein Stöhnen über
seine Lippen. Hazelle streicht ihm übers Haar und flüs-
tert etwas, während meine Mutter und Prim ihren kärg-
lichen Vorrat an Schmerzmitteln in Augenschein nehmen,
Schmerzmittel, wie normalerweise nur Ärzte sie haben.
Sie sind schwer zu bekommen, teuer und immer begehrt.
Die stärksten muss meine Mutter für die schlimmsten
Schmerzen aufbewahren, doch was sind die schlimmsten
Schmerzen? Für mich sind es immer die Schmerzen, die
gerade akut sind. Wenn ich zu bestimmen hätte, wären
die Schmerzmittel in einem Tag aufgebraucht, weil ich
es kaum ertragen kann, jemanden leiden zu sehen. Mei-
ne Mutter versucht sie für diejenigen aufzuheben, die im
Sterben liegen, um ihnen den Abschied von der Welt zu
erleichtern.
Da Gale wieder zu Bewusstsein kommt, entscheiden
sie sich für eine Kräutermischung, die er schlucken kann.
»Das reicht ganz bestimmt nicht«, sage ich. Sie starren
mich an. »Das reicht nicht, ich weiß, wie es sich anfühlt.
Damit kommt man ja kaum gegen Kopfschmerzen an.«
»Wir kombinieren es mit Schlafsirup, Katniss, dann
166
schafft er das schon. Die Kräuter sind eher gegen die Ent-
zündung …«, erklärt meine Mutter ruhig.
»Jetzt gib ihm schon die Medizin!«, schreie ich sie an.
»Na los! Wer bist du überhaupt, dass du meinst, du könn-
test entscheiden, wie viel Schmerzen er ertragen kann!«
Gale bewegt sich unruhig, als er meine Stimme hört, er
streckt die Arme nach mir aus. Durch die Bewegung tritt
frisches Blut aus den Wunden und befleckt die Verbände,
Gale stößt einen Schmerzenslaut aus.
»Bringt sie raus«, sagt meine Mutter. Haymitch und
Peeta tragen mich buchstäblich aus dem Zimmer, wäh-
rend ich meine Mutter übel beschimpfe. Sie drücken mich
auf ein Bett in einem der Gästezimmer und halten mich
fest, bis ich mich nicht mehr wehre.
Während ich daliege und schluchze und die Tränen
sich aus dem Schlitz quälen, der mein Auge ist, höre ich,
wie Peeta Haymitch im Flüsterton von Präsident Snow
und dem Aufstand in Distrikt 8 erzählt. »Sie will, dass wir
alle fliehen«, sagt er, doch falls Haymitch dazu eine Mei-
nung hat, behält er sie für sich.
Nach einer Weile kommt meine Mutter herein und
behandelt mein Gesicht. Dann hält sie meine Hand und
streichelt meinen Arm, während Haymitch ihr erzählt,
was mit Gale passiert ist.
167
»Dann geht es also wieder los?«, sagt sie. »Wie damals?«
»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Wer hätte gedacht, dass
wir dem alten Cray mal nachtrauern würden?«
Cray wäre so oder so unbeliebt gewesen, weil er eine
Uniform trug, aber außerdem wurde er im Distrikt für die
Gewohnheit verabscheut, hungernde junge Frauen gegen
Geld in sein Bett zu locken. In richtig schlechten Zeiten
versammelten sich die Hungrigsten abends vor seiner Tür
und wetteiferten um die Gelegenheit, ihren Körper für ein
paar Münzen zu verkaufen und damit ihre Familien über
Wasser zu halten. Wäre ich älter gewesen, als mein Vater
starb, wäre ich vielleicht eine von ihnen geworden. Statt-
dessen lernte ich, wie man jagt.
Ich weiß nicht genau, was meine Mutter meint, wenn
sie sagt, dass es wieder losgeht, aber ich habe zu gro-
ße Schmerzen und zu viel Wut im Bauch, um zu fragen.
Doch ich habe verstanden, dass wieder schlechte Zei-
ten kommen könnten, denn als es an der Tür klingelt,
springe ich sofort aus dem Bett. Wer kann das zu dieser
späten Stunde sein? Es gibt nur eine Möglichkeit. Die
Friedenswächter.
»Sie kriegen ihn nicht«, sage ich.
»Vielleicht sind sie ja hinter dir her«, sagt Haymitch.
»Oder hinter dir«, erwidere ich.
168
»Ist nicht mein Haus«, bemerkt Haymitch. »Aber ich
geh trotzdem zur Tür.«
»Nein, ich gehe schon«, sagt meine Mutter ruhig.
Doch dann folgen wir alle ihr durch den Flur zu dem
durchdringenden Klingeln an der Tür. Sie öffnet, aber da
steht kein Trupp von Friedenswächtern, sondern eine ein-
zelne, verschneite Gestalt. Madge. Sie reicht mir eine klei-
ne feuchte Pappschachtel.
»Die sind für deinen Freund«, sagt sie. Ich nehme den De-
ckel von der Schachtel ab und sehe sechs Ampul en mit einer
durchsichtigen Flüssigkeit. »Sie gehören meiner Mutter. Sie
hat gesagt, ich kann sie nehmen. Bitte gib sie ihm.« Sie läuft
zurück in den Schneesturm, ehe ich sie zurückhalten kann.
»Verrücktes Mädchen«, murmelt Haymitch, während
wir, meine Mutter voran, in die Küche gehen.
Was meine Mutter Gale auch verabreicht hat, ich hatte
recht, es war nicht genug. Er beißt die Zähne zusammen
und seine Haut glänzt vor Schweiß. Meine Mutter füllt
eine Spritze mit der Flüssigkeit aus einer Ampulle und in-
jiziert sie in seinen Arm. Fast augenblicklich entspannen
sich seine Züge.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragt Peeta.
»Es kommt aus dem Kapitol. Man nennt es Morfix«,
sagt meine Mutter.
169
»Ich wusste gar nicht, dass Madge Gale kennt«, sagt
Peeta.
»Wir haben ihr immer Erdbeeren verkauft«, erkläre ich
fast wütend. Worüber bin ich eigentlich wütend? Ganz be-
stimmt nicht darüber, dass sie die Medizin gebracht hat.
»Die muss sie aber wirklich gern mögen«, sagt
Haymitch.
Das ist es, was mich fuchst. Die Andeutung, da könnte
etwas zwischen Gale und Madge sein. Das gefällt mir gar
nicht.
»Sie ist meine Freundin.« Mehr sage ich nicht.
Jetzt, da Gale mit dem Schmerzmittel entschwebt ist,
wirken alle ernüchtert. Prim drängt uns ein wenig Eintopf
und Brot auf. Hazelle wird zum Übernachten eingeladen,
aber sie muss nach Hause zu ihren anderen Kindern. Hay-
mitch und Peeta sind bereit zu bleiben, doch meine Mutter
schickt sie nach Hause ins Bett. Sie weiß, dass das bei mir
zwecklos wäre, also nimmt sie es hin, dass ich mich um
Gale kümmere, während sie und Prim sich ausruhen.
Als ich mit Gale allein in der Küche bin, nehme ich
Hazelles Platz auf dem Hocker ein und halte seine Hand.
Nach einer Weile finden meine Finger sein Gesicht. Ich be-
rühre Stellen seines Körpers, die zu berühren ich bisher nie
einen Grund hatte. Seine dichten dunklen Augenbrauen,
170
die Wölbung seiner Wange, die Linie seiner Nase, die
Mulde unten am Hals. Ich fahre über seine Bartstoppeln
und gelange schließlich zu den Lippen. Weich und voll,
leicht aufgesprungen. Sein Atem wärmt meine kalte Haut.
Sehen alle Menschen im Schlaf jünger aus? Denn in
diesem Moment könnte er der Junge sein, dem ich vor
Jahren im Wald in die Arme gelaufen bin, der Junge, der
mir vorwarf, ich hätte aus seinen Fallen gestohlen. Was
für ein Gespann wir waren – vaterlos, ängstlich und doch
wild entschlossen, unsere Familien zu retten. Verzweifelt,
aber von jenem Tag an nicht mehr allein, denn wir hat-
ten einander gefunden. Ich denke an hundert Augenblicke
im Wald – wie wir eines Nachmittags gemächlich fischen,
wie ich ihm das Schwimmen beibringe, wie er mich nach
Hause trägt, als ich mir das Knie verdreht habe. Wir ha-
ben uns aufeinander verlassen, einander Rückendeckung
gegeben, uns gegenseitig gezwungen, mutig zu sein.
Zum ersten Mal stelle ich mir die Situation umge-
kehrt vor. Ich stelle mir vor, Gale hätte sich bei der Ernte
freiwillig gemeldet, um Rory zu retten, er wäre aus mei-
nem Leben gerissen worden, der Geliebte eines fremden
Mädchens geworden, um zu überleben, und dann mit ihr
zurückgekehrt. Wäre in ein Haus neben ihr eingezogen.
Hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht.
171
Der Hass, den ich für ihn empfinde und für das imagi-
näre Mädchen, der Hass auf alles ist so echt und unmittel-
bar, dass er mir die Luft abschnürt. Gale gehört mir. Ich
gehöre ihm. Alles andere ist undenkbar. Warum musste er
erst halb totgepeitscht werden, damit ich es begreife?
Weil ich selbstsüchtig bin. Und feige. Ich bin ein Mäd-
chen, das, wenn es sich wirklich mal nützlich machen
könnte, wegläuft, um am Leben zu bleiben, und alle, die
nicht mitkommen können, leiden und sterben lässt. Das
ist das Mädchen, das Gale heute im Wald getroffen hat.
Kein Wunder, dass ich die Spiele gewonnen habe. Kein
anständiger Mensch gewinnt je die Spiele.
Du hast Peeta gerettet, denke ich schwach.
Aber jetzt stelle ich selbst das infrage. Ich wusste sehr
wohl, dass mein Leben in Distrikt 12 unerträglich gewe-
sen wäre, wenn ich diesen Jungen hätte sterben lassen.
Ich lege den Kopf auf die Tischkante, überwältigt von
Selbsthass. Wäre ich doch in der Arena gestorben. Hätte
Seneca Crane mich doch in die Luft gejagt, wie er es nach
Präsident Snows Meinung hätte tun sollen, als ich Peeta
die Beeren hinhielt.
Die Beeren. Mir wird bewusst, dass die Antwort auf
die Frage, wer ich bin, in dieser Handvoll giftiger Früch-
te liegt. Wenn ich sie herausgeholt habe, weil ich wusste,
172
dass ich verstoßen werde, wenn ich ohne Peeta zurückkeh-
re, bin ich zu verachten. Wenn ich es getan habe, weil ich
ihn liebe, bin ich zwar selbstsüchtig, aber es wäre verzeih-
lich. Doch wenn ich es getan habe, um dem Kapitol die
Stirn zu bieten, bin ich etwas wert. Das Problem ist, dass
ich nicht genau weiß, was in dem Moment in mir vorging.
Könnte es sein, dass die Leute in den Distrikten recht
haben? Dass es ein Akt der Rebel ion war, wenn auch unbe-
wusst? Denn im tiefsten Innern weiß ich doch, dass es nicht
reicht, wegzulaufen und mich, meine Familie und meine
Freunde in Sicherheit zu bringen. Selbst wenn ich könnte.
Es würde nichts ändern. Es würde nicht verhindern, dass
Menschen so etwas angetan wird wie Gale heute.
Das Leben in Distrikt 12 unterscheidet sich gar nicht
so sehr von dem in der Arena. An einem bestimmten
Punkt darf man nicht mehr weglaufen, dann muss man
sich umdrehen und sich dem stellen, der einen tot sehen
will. Aber man muss den Mut aufbringen, es zu tun, das
ist die Kunst. Für Gale ist es keine Kunst. Er ist der gebo-
rene Rebell. Ich bin diejenige, die Fluchtpläne schmiedet.
»Es tut mir so leid«, flüstere ich. Ich beuge mich vor
und küsse ihn.
Seine Lider flattern und er schaut mich durch einen
Opiumschleier an. »Hey, Kätzchen.«
173
»Hey, Gale«, sage ich.
»Ich dachte, du wärst schon weg«, sagt er.
Die Wahl fällt mir nicht schwer. Ich kann wie ein ge-
jagtes Tier im Wald sterben oder ich kann hier bei Gale
sterben. »Ich gehe nirgendwohin. Ich bleibe hier und ma-
che eine Menge Ärger.«
»Ich auch«, sagt Gale. Er bringt noch ein kurzes Lä-
cheln zustande, bevor die Drogen ihn wieder in die Tiefe
ziehen.
174
9 Jemand rüttelt mich an der Schulter und
ich setze mich auf. Ich war mit dem Kopf
auf dem Tisch eingeschlafen. Die Falten des weißen Tuchs
haben sich in meine unverletzte Wange eingegraben. Die
andere, die Thread geschlagen hat, pocht schmerzhaft.
Gale ist ohnmächtig, doch seine Finger halten meine um-
schlossen. Ich rieche frisches Brot, und als ich meinen stei-
fen Hals drehe, sehe ich Peeta, der mich unendlich trau-
rig anschaut. Ich habe das Gefühl, dass er uns schon eine
ganze Weile beobachtet.
»Komm, leg dich ins Bett, Katniss. Ich kümmere mich
jetzt um ihn«, sagt er.
»Peeta. Was ich gestern gesagt habe, das mit der
Flucht …«, setze ich an.
»Ich weiß«, sagt er. »Du brauchst nichts zu erklären.«
Ich sehe die Brotlaibe im schneefahlen Morgenlicht auf
der Anrichte liegen. Die dunklen Schatten unter seinen
Augen. Ich frage mich, ob er überhaupt geschlafen hat. Je-
denfalls nicht viel. Ich denke daran, wie er gestern einge-
willigt hat, mit mir wegzulaufen, wie er mir beigestanden
hat, um Gale zu beschützen, wie er sein Schicksal ganz
175
in meine Hände legt und so wenig dafür zurückbekommt.
Was ich auch mache, ich tue jemandem weh. »Peeta …«
»Geh einfach ins Bett, ja?«, sagt er.
Ich taste mich die Treppe hinauf, krieche unter die De-
cke und schlafe augenblicklich ein. Irgendwann schleicht
sich Clove, das Mädchen aus Distrikt 2, in meinen Traum.
Sie verfolgt mich, drückt mich zu Boden und zieht ein
Messer. Als sie mir ins Gesicht schneidet, gräbt es sich tief
in meine Wange und hinterlässt eine klaffende Wunde.
Dann verwandelt Clove sich allmählich, ihre Nase formt
sich zu einer Schnauze, dunkles Fell sprießt auf ihrer Haut,
ihre Fingernägel werden zu langen Klauen, nur die Augen
bleiben unverändert. Sie wird zu einer Mutation, einem
der Wolfswesen aus dem Kapitol, die uns in der letzten
Nacht in der Arena terrorisiert haben. Sie wirft den Kopf
in den Nacken und stößt ein langes, unheimliches Heu-
len aus, das von anderen Mutationen in der Nähe aufge-
griffen wird. Jetzt leckt Clove das Blut ab, das aus meiner
Wunde fließt, jede Berührung ihrer Zunge jagt mir einen
neuen Schmerz über das Gesicht. Ich stoße einen erstick-
ten Schrei aus und schrecke aus dem Schlaf, schwitzend
und zitternd zugleich. Ich wiege die verletzte Wange in der
Hand und sage mir, dass nicht Clove, sondern Thread mir
die Wunde zugefügt hat. Jetzt würde ich gern von Peeta
176
gehalten werden, aber da fällt mir ein, dass ich mir das
nicht mehr wünschen darf. Ich habe mich für Gale und
die Rebellion entschieden, und eine Zukunft mit Peeta ist
der Plan des Kapitols, nicht meiner.
Die Schwel ung an meinem Auge ist zurückgegangen, ich
kann es ein wenig öffnen. Ich ziehe die Vorhänge auf und
sehe, dass aus dem Schneesturm ein richtiger Blizzard gewor-
den ist. Es gibt nur das Weiß und das Heulen des Windes,
das dem der mutierten Wölfe erstaunlich ähnlich ist.
Der Blizzard mit seinen heftigen Winden und den
Schneewehen kommt mir gerade recht. Vielleicht kann er
die eigentlichen Wölfe, auch bekannt als Friedenswäch-
ter, von meiner Tür fernhalten. Ein paar Tage zum Nach-
denken. Um mir einen Plan zu überlegen. Mit Gale und
Peeta und Haymitch in Reichweite. Dieser Blizzard ist ein
Geschenk.
Ehe ich hinuntergehe, um mich dem neuen Leben zu
stellen, nehme ich mir jedoch noch ein bisschen Zeit und
führe mir vor Augen, was auf mich zukommt. Vor kaum
einem Tag war ich noch entschlossen, mitten im Winter
mit meinen Lieben in die Wildnis zu gehen, wohl wis-
send, dass das Kapitol uns wahrscheinlich verfolgen wür-
de. Ein im besten Fall gewagtes Unternehmen. Und jetzt
bin ich im Begriff, mich einer noch riskanteren Sache zu
177
verschreiben. Wenn man gegen das Kapitol kämpft, ist
eine rasche Vergeltung gewiss. Ich muss darauf gefasst
sein, dass sie mich jeden Moment verhaften können. Es
wird an der Tür klopfen, genau wie letzte Nacht, und ein
Trupp von Friedenswächtern wird mich wegschleppen.
Vielleicht werden sie mich foltern. Verstümmeln. Mir auf
dem öffentlichen Platz eine Kugel in den Kopf jagen, und
dann hätte ich noch Glück, weil das wenigstens schnell
geht. Das Kapitol hat unendlich viele Todesarten auf La-
ger. All das stelle ich mir vor und ich habe schreckliche
Angst, aber ganz ehrlich: Es hat sowieso schon in meinem
Hinterkopf gelauert. Ich war ein Tribut bei den Spielen.
Der Präsident hat mir gedroht. Man hat mir mit der Peit-
sche ins Gesicht geschlagen. Sie haben es sowieso schon
auf mich abgesehen.
Jetzt kommt das Schwierigere. Ich muss der Tatsache
ins Auge blicken, dass meine Familie und meine Freun-
de dieses Los womöglich teilen müssen. Prim. Ich brauche
nur an Prim zu denken und meine Entschlusskraft ist da-
hin. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Ich ziehe mir
die Decke über den Kopf, und mein Atem geht so schnell,
dass ich den ganzen Sauerstoff aufbrauche und anfange,
nach Luft zu schnappen. Ich kann es nicht zulassen, dass
das Kapitol Prim wehtut.
178
Und dann begreife ich. Das haben sie schon getan. Sie
haben ihren Vater in diesen verdammten Bergwerken um-
gebracht. Haben tatenlos zugesehen, wie sie fast verhun-
gert wäre. Haben sie als Tribut ausgewählt, und sie musste
zuschauen, wie ihre Schwester auf Leben und Tod in den
Spielen kämpfte. Sie hat schon viel mehr durchlitten als
ich mit zwölf. Und selbst das verblasst gegen das Leben,
das Rue geführt hat.
Ich schiebe die Decke weg und sauge die kalte Luft ein,
die durch die Fensterscheiben dringt.
Prim … Rue … sind nicht gerade sie der Grund dafür,
dass ich versuchen muss zu kämpfen? Weil das, was ihnen
angetan wurde, so verkehrt ist, so unrecht und gemein,
dass ich keine Wahl habe? Weil keiner das Recht hat, sie
so zu behandeln, wie sie behandelt worden sind?
Ja. Daran muss ich immer denken, wenn die Angst
mich zu überwältigen droht. Was ich auch vorhabe, was
auch immer wir ertragen müssen, es wird für sie sein. Rue
kann ich nicht mehr helfen, aber vielleicht ist es noch
nicht zu spät für die fünf kleinen Gesichter, die auf dem
Platz in Distrikt 11 zu mir aufgeschaut haben. Nicht zu
spät für Rory und Vick und Posy. Nicht zu spät für Prim.
Gale hat recht. Wenn die Leute den Mut aufbringen,
könnte das jetzt die Chance sein. Und er hat recht damit,
179
dass ich, da ich das alles in Gang gesetzt habe, ganz viel
bewirken könnte.
Auch wenn ich keine Ahnung habe, was genau das sein
soll. Aber der Entschluss, nicht zu fliehen, ist ein entschei-
dender erster Schritt.
Ich gehe unter die Dusche, und an diesem Morgen
stellt mein Gehirn keine Proviantlisten für die Wildnis
auf, es versucht sich vorzustellen, wie sie in Distrikt 8
den Aufstand organisiert haben. So viele, die dem Ka-
pitol so deutlich die Stirn bieten. War das überhaupt ge-
plant, oder ist es einfach ausgebrochen, nach Jahren vol-
ler Hass und Bitterkeit? Wie könnten wir so etwas hier
auf die Beine stellen? Würden die Leute in Distrikt 12
mitmachen oder würden sie ihre Türen verschließen?
Gestern hat sich der Platz im Nu geleert, nachdem Gale
ausgepeitscht worden war. Aber kommt das nicht daher,
dass wir uns alle machtlos fühlen und nicht wissen, was
wir tun sollen? Wir brauchen jemanden, der uns führt,
der uns versichert, dass es möglich ist. Und ich glaube
nicht, dass ich dieser Jemand bin. Ich war vielleicht ein
Katalysator für die Rebellion, aber ein Anführer sollte je-
mand mit Überzeugung sein, und ich bin ja selbst gerade
erst bekehrt. Jemand mit bedingungslosem Mut, und ich
arbeite immer noch daran, überhaupt Mut aufzubringen.
180
Jemand mit klaren, schlagkräftigen Worten, und ich
bringe so oft keinen Ton heraus.
Worte. Ich denke an Worte und ich denke an Peeta.
Daran, dass die Leute immer alles begeistert aufnehmen,
was er sagt. Er könnte eine Menschenmenge mobilisieren,
wenn er wollte. Er würde die richtigen Worte finden. Aber
diese Idee ist ihm bestimmt noch nie gekommen.
Ich gehe nach unten, wo meine Mutter und Prim Gale
pflegen, der immer noch schwach ist. Er sieht so aus, als
ob die Wirkung der Arznei nachlässt. Ich mache mich
auf einen weiteren Streit gefasst, versuche jedoch, ruhig
zu sprechen. »Kannst du ihm nicht noch eine Spritze
geben?«
»Das mache ich, wenn es nötig ist. Wir wol ten es erst
mit Schneebalsam versuchen«, sagt meine Mutter. Sie hat
die Verbände abgenommen. Man kann förmlich sehen, wie
die Hitze von seinem Rücken abstrahlt. Sie legt ein sauberes
Tuch über sein wundes Fleisch und nickt Prim zu.
Prim kommt zu ihr und rührt etwas in einer großen
Schüssel, das aussieht wie Schnee. Doch es ist hellgrün
und hat einen süßen, sauberen Duft. Schneebalsam.
Behutsam gibt sie etwas davon auf das Tuch. Fast kann
ich hören, wie Gales geschundene Haut zischt, als sie
mit der Schneemischung in Berührung kommt. Seine
181
Augen öffnen sich flatternd, verdutzt, dann seufzt er
erleichtert.
»Ein Glück, dass wir Schnee haben«, sagt meine Mutter.
Ich stelle mir vor, wie es sein muss, sich im Hochsom-
mer von Peitschenschlägen zu erholen, bei sengender Hit-
ze, mit lauwarmem Leitungswasser. »Wie hast du das in
den warmen Monaten gemacht?«, frage ich.
Eine Falte erscheint zwischen den Augenbrauen meiner
Mutter. »Da hab ich die Fliegen verscheucht.«
Bei der Vorstellung dreht sich mir der Magen um. Sie
füllt Schneebalsam in ein Taschentuch und ich halte es
an den Striemen auf meiner Wange. Sofort legt sich der
Schmerz. Es ist der kalte Schnee, ja. Doch auch die Kräu-
tersäfte, die meine Mutter hinzugefügt hat, wirken betäu-
bend. »Oh. Das tut gut. Warum hast du ihm das nicht
gestern Abend schon gegeben?«
»Die Wunde musste sich erst setzen«, sagt sie.
Ich verstehe nicht ganz, was das bedeutet, aber solan-
ge es funktioniert, wie kann ich sie da infrage stellen? Sie
weiß schon, was sie tut, meine Mutter. Plötzlich habe ich
Gewissensbisse wegen gestern, wegen der schrecklichen
Sachen, die ich ihr an den Kopf geworfen habe, als Peeta
und Haymitch mich aus der Küche gezerrt haben. »Es tut
mir leid. Dass ich dich gestern so angeschrien habe.«
182
»Ich hab schon Schlimmeres gehört«, sagt sie. »Du hast
ja gesehen, wie die Leute sind, wenn jemand Schmerzen
leidet, den sie lieben.«
Jemand, den sie lieben. Die Worte betäuben meine
Zunge, als wäre sie in Schneebalsam eingewickelt wor-
den. Natürlich, ich liebe Gale. Aber was für eine Art Liebe
meint sie? Was meine ich, wenn ich sage, dass ich Gale
liebe? Ich weiß es nicht. Letzte Nacht habe ich ihn geküsst,
in einem Moment, als meine Gefühle sich überschlugen.
Aber bestimmt weiß er das nicht mehr. Oder? Hoffentlich
nicht. Wenn doch, würde das alles nur noch komplizier-
ter machen, und ich kann wirklich nicht ans Küssen den-
ken, wenn ich eine Rebellion anzetteln soll. Ich schüttele
den Kopf ein wenig, um klarer denken zu können. »Wo ist
Peeta?«, frage ich.
»Als wir hörten, dass du aufwachst, ist er nach Hause
gegangen. Er wollte sein Haus während des Sturms nicht
unbeaufsichtigt lassen«, sagt meine Mutter.
»Ist er gut nach Hause gekommen?«, frage ich. Bei ei-
nem solchen Schneesturm kann man sich auf wenigen
Metern verirren und im Nichts landen.
»Ruf ihn doch an, dann weißt du’s«, sagt sie.
Ich gehe ins Arbeitszimmer, das ich seit der Begeg-
nung mit Präsident Snow weitgehend gemieden habe, und
183
wähle Peetas Nummer. Es klingelt ein paarmal, dann geht
er dran.
»Hi. Ich wollte nur wissen, ob du gut nach Hause ge-
kommen bist«, sage ich.
»Katniss, ich wohne drei Häuser von dir entfernt«, sagt
er.
»Ich weiß, aber bei dem Wetter …«, sage ich.
»Also, es geht mir gut. Danke der Nachfrage.« Es folgt
eine lange Pause. »Wie geht es Gale?«
»Ganz gut. Meine Mutter und Prim behandeln ihn ge-
rade mit Schneebalsam«, sage ich.
»Und dein Gesicht?«, fragt er.
»Ich hab auch ein bisschen abgekriegt«, antworte ich.
»Hast du Haymitch heute schon gesehen?«
»Ich war bei ihm. Er war sturzbetrunken. Aber ich hab
Feuer gemacht und ihm etwas Brot dagelassen«, sagt er.
»Ich wollte mit … mit euch beiden reden.« Mehr wage
ich nicht zu sagen, nicht hier am Telefon, das garantiert
abgehört wird.
»Da musst du wohl warten, bis das Wetter sich beru-
higt«, sagt er. »Vorher wird sowieso nicht viel passieren.«
»Nein, nicht viel«, sage ich.
Es dauert zwei Tage, bis sich der Sturm ausgetobt hat,
und danach liegen überall Schneeberge, die höher sind als
184
ich. Ein weiterer Tag, bis der Weg vom Dorf der Sieger
zum Platz geräumt ist. Ich helfe so lange Gale zu pflegen,
halte mir Schneebalsam an die Wange und versuche, mich
an alles über den Aufstand in Distrikt 8 zu erinnern, was
ich weiß, denn es könnte für unsere Sache hilfreich sein.
Die Schwellung in meinem Gesicht geht zurück, jetzt
habe ich nur noch eine juckende Wunde, die langsam ver-
heilt, und ein sehr blaues Auge. Trotzdem frage ich bei der
ersten Gelegenheit Peeta, ob er mich in die Stadt begleitet.
Wir wecken Haymitch und schleifen ihn mit. Er be-
schwert sich, aber nicht so wie sonst. Wir wissen alle drei,
dass wir über das sprechen müssen, was passiert ist, und in
unseren Häusern im Dorf der Sieger wäre das viel zu ge-
fährlich. Wir warten sogar, bis das Dorf ein ganzes Stück
hinter uns liegt, ehe wir überhaupt etwas sagen. Während
wir gehen, betrachte ich die drei Meter hohen Schnee-
wände, die zu beiden Seiten des schmalen Weges aufragen,
und frage mich, ob sie wohl auf uns einstürzen.
Schließlich bricht Haymitch das Schweigen. »Dann
machen wir uns jetzt alle auf ins große Unbekannte, wie?«,
sagt er zu mir.
»Nein«, sage ich. »Jetzt nicht mehr.«
»Sind dir die Fehler in deinem Plan aufgefallen, Süße?«,
fragt er. »Irgendwelche neuen Ideen?«
185
»Ich will einen Aufstand organisieren«, sage ich.
Haymitch lacht nur. Es ist noch nicht mal ein fieses La-
chen und deshalb umso beunruhigender. Es zeigt, dass er
mich überhaupt nicht ernst nimmt. »Also, ich brauch jetzt
was zu trinken. Aber halt mich auf dem Laufenden, wie
du vorgehen willst«, sagt er.
»Was hast du denn für einen Plan?«, fahre ich ihn an.
»Mein Plan besteht darin, dafür zu sorgen, dass eure
Hochzeit perfekt über die Bühne geht«, sagt Haymitch.
»Ich hab angerufen und einen neuen Fototermin ausge-
macht, ohne allzu viele Einzelheiten zu verraten.«
»Du hast doch gar kein Telefon«, sage ich.
»Effie hat es reparieren lassen«, sagt er. »Weißt du, dass
sie mich gefragt hat, ob ich dich gern verraten würde? Ich
hab ihr gesagt, je eher, desto besser.«
»Haymitch.« Ich höre selbst, dass ich anfange zu betteln.
»Katniss.« Er ahmt meinen Tonfall nach. »Das haut
nicht hin.«
Wir verstummen, als eine Gruppe von Männern mit
Schneeschippen an uns vorbei in Richtung Dorf der Sie-
ger geht. Vielleicht können sie etwas gegen die drei Meter
hohen Schneewände ausrichten. Als sie außer Hörweite
sind, sind wir schon zu nah am Platz. Wir bleiben alle drei
gleichzeitig stehen.
186
Während des Schneesturms wird sowieso nicht viel passie-
ren. Darin waren Peeta und ich uns einig. Aber wir lagen
vollkommen falsch. Der Platz ist verwandelt worden. Eine
riesige Flagge mit dem Wappen von Panem ziert das Jus-
tizgebäude. Friedenswächter in makellos weißen Unifor-
men marschieren über das ordentlich gefegte Kopfstein-
pflaster. Auf den Dächern sind weitere Friedenswächter
und besetzen Maschinengewehrnester. Das Schlimmste
ist eine Reihe neuer Konstruktionen mitten auf dem Platz:
ein offizieller Pfahl für Auspeitschungen, mehrere Pranger
und ein Galgen.
»Thread arbeitet schnell«, sagt Haymitch.
Ein paar Straßen weiter sehe ich ein großes Feuer lo-
dern. Keiner von uns muss es aussprechen. Das kann nur
der Hob sein, der in Flammen aufgeht. Ich denke an Gre-
asy Sae, an Ripper, an all meine Freunde, die sich dort ihr
Brot verdienen.
»Haymitch, du glaubst doch nicht, dass die alle noch
dadrin …« Ich kann nicht zu Ende sprechen.
»Nein, so dumm sind die nicht. Das wärst du auch
nicht, wenn du schon länger hier wärst«, sagt er. »Na, ich
geh jetzt mal lieber zur Apotheke und gucke, wie viel Rei-
nigungsalkohol die erübrigen können.«
Er trottet über den Platz davon und ich schaue Peeta
187
an. »Wofür braucht er den denn?« Dann begreife ich. »Wir
müssen verhindern, dass er das Zeug trinkt. Sonst bringt
er sich um oder wird mindestens blind. Ich hab zu Hause
noch etwas klaren Schnaps beiseitegelegt.«
»Ich auch. Vielleicht kommt er damit hin, bis Ripper
sich neue Geschäftswege überlegt hat«, sagt Peeta. »Ich
muss jetzt nach meiner Familie sehen.«
»Ich muss zu Hazelle.« Auf einmal mache ich mir Sor-
gen. Ich hätte gedacht, sie würde bei uns vor der Tür ste-
hen, sobald der Schnee geräumt wäre. Aber bisher ist sie
nicht aufgetaucht.
»Ich komme mit. Bei der Bäckerei schaue ich dann auf
dem Heimweg vorbei«, sagt er.
»Danke.« Plötzlich habe ich große Angst davor, was ich
vorfinden könnte.
Die Straßen sind fast verlassen, was zu dieser Tageszeit
nicht so ungewöhnlich wäre, wenn die Leute in den Berg-
werken wären, die Kinder in der Schule. Aber das sind sie
nicht. Hinter den Eingangstüren und durch die Ritzen in
den Rollläden sehe ich Gesichter, die uns beobachten.
Ein Aufstand, denke ich. Was bin ich für ein Dumm-
kopf. Der Plan hat einen Fehler, den weder Gale noch
ich erkannt haben, wir waren beide blind. Wenn man ei-
nen Aufstand machen will, muss man gegen das Gesetz
188
verstoßen, sich der Obrigkeit widersetzen. Wir und un-
sere Familien haben das ein Leben lang getan. Wir ha-
ben gewildert, auf dem Schwarzmarkt gehandelt, uns im
Wald über das Kapitol lustig gemacht. Doch die meisten
Bewohner von Distrikt 12 würden nicht mal das Risiko
eingehen, auf dem Schwarzmarkt einzukaufen. Und ich
erwarte von ihnen, dass sie sich mit Pflastersteinen und
Fackeln auf dem Platz versammeln? Schon der Anblick
von Peeta und mir reicht aus, dass sie ihre Kinder von den
Fenstern wegzerren und die Vorhänge zuziehen.
Hazelle ist zu Hause und pflegt eine sehr kranke Posy.
Ich sehe die Flecken auf ihrem Körper, es sind die Ma-
sern. »Ich konnte sie nicht allein lassen«, sagt Hazelle. »Ich
wusste ja, dass Gale die bestmögliche Pflege bekommt.«
»Natürlich«, sage ich. »Es geht ihm schon viel besser.
Meine Mutter meint, in ein paar Wochen kann er wieder
in die Bergwerke.«
»Vielleicht sind die dann noch gar nicht wieder in Be-
trieb«, sagt Hazelle. »Es heißt, dass sie bis auf Weiteres ge-
schlossen wurden.« Sie schaut beunruhigt zu ihrem leeren
Waschzuber.
»Haben sie dir auch den Laden dichtgemacht?«, frage ich.
»Nicht offiziell«, erklärt Hazelle. »Aber alle haben jetzt
Angst, mir etwas zu geben.«
189
»Vielleicht wegen des Schnees«, sagt Peeta.
»Nein, Rory hat heute Morgen schnell eine Runde ge-
macht. Offenbar gibt es nichts zu waschen«, sagt Hazelle.
Rory schlingt die Arme um Hazelle. »Das wird schon.«
Ich nehme eine Handvoll Geld aus der Tasche und
lege es auf den Tisch. »Meine Mutter wird etwas für Posy
schicken.«
Als wir draußen sind, wende ich mich zu Peeta. »Geh
du nach Hause. Ich will noch beim Hob vorbei.«
»Ich begleite dich«, sagt er.
»Nein. Du hast durch mich schon genug Scherereien«,
sage ich.
»Und wenn ich jetzt nicht mit dir beim Hob vorbei-
schaue … dann wird alles wieder gut?« Lächelnd nimmt
er meine Hand. Zusammen schlängeln wir uns durch die
Straßen des Saums, bis wir zu dem brennenden Gebäu-
de kommen. Sie haben sich noch nicht einmal die Mühe
gemacht, dort Friedenswächter aufzustellen. Sie wussten,
dass niemand versuchen würde, es zu retten.
Die Hitze der Flammen lässt den Schnee ringsum
schmelzen, ein schwarzes Rinnsal läuft mir über die Schu-
he. »Das ist der ganze Kohlenstaub von früher«, sage ich.
In jeder Ritze und in jeder Spalte hat er gesteckt. War in
die Bodendielen eingegraben. Es ist ein Wunder, dass das
Ding nicht schon längst in Flammen aufgegangen ist. »Ich
möchte nach Greasy Sae sehen.«
»Nicht heute, Katniss. Ich glaube, wir helfen nieman-
dem, wenn wir bei ihnen reinschneien«, sagt er.
Wir gehen zurück zum Platz. Ich kaufe bei Peetas Vater
ein bisschen Kuchen, während sie Belanglosigkeiten über
das Wetter austauschen. Niemand erwähnt die hässlichen
Folterwerkzeuge wenige Meter vor der Ladentür. Als wir
den Platz verlassen, fällt mir noch auf, dass ich unter den
Friedenswächtern kein einziges bekanntes Gesicht sehe.
In den folgenden Tagen wird alles nur noch schlim-
mer. Die Bergwerke bleiben zwei Wochen lang geschlos-
sen und da hungert schon der halbe Distrikt. Die Anzahl
der Kinder, die sich für Tesserasteine eintragen, schnellt
in die Höhe, doch oft genug bekommen sie ihr Getreide
gar nicht. Lebensmittel werden allmählich knapp, und
selbst die Leute, die Geld haben, kehren mit leeren Hän-
den aus den Geschäften zurück. Als die Bergwerke wieder
öffnen, werden die Löhne gekürzt, die Arbeitszeiten ver-
längert, die Arbeiter werden an offensichtlich gefährlichen
Stellen eingesetzt. Das für den Pakettag versprochene Es-
sen, sehnlichst erwartet, trifft verdorben und von Ratten
verseucht ein. Die Werkzeuge auf dem Platz kommen oft
zum Einsatz. Menschen werden herbeigeschleift und für
Vergehen bestraft, über die so lange hinweggesehen wur-
de, dass wir sie schon gar nicht mehr als solche betrachtet
hatten.
Gale geht nach Hause, ohne dass wir noch einmal über
die Rebellion gesprochen hätten. Aber irgendetwas sagt
mir, dass alles, was er sieht, ihn in seinem Entschluss zu-
rückzuschlagen nur noch bestärken wird. Die schlimmen
Zustände in den Bergwerken, die gequälten Menschen auf
dem Platz, der Hunger in den Gesichtern seiner Familie.
Rory hat sich für Tesserasteine eingetragen, worüber Gale
noch nicht mal sprechen kann, und es reicht immer noch
nicht, weil Lebensmittel nicht jederzeit zu haben sind und
immer teurer werden.
Der einzige Lichtblick ist, dass ich Haymitch überre-
den kann, Hazelle als Haushälterin anzustellen. So hat
sie ein wenig zusätzliches Geld und Haymitch eine höhe-
re Lebensqualität. Es ist merkwürdig, sein Haus so frisch
und sauber zu sehen, mit warmem Essen auf dem Herd.
Er merkt es kaum, weil er eine ganz andere Schlacht führt.
Peeta und ich haben versucht, den Schnaps, so gut es ging,
einzuteilen, aber er ist fast alle, und als ich Ripper das letz-
te Mal gesehen habe, stand sie am Pranger.
Wenn ich durch die Straßen gehe, komme ich mir vor
wie eine Aussätzige. Alle meiden mich in der Öffentlichkeit.
192
Doch zu Hause habe ich reichlich Gesellschaft. Immer
neue Lieferungen von Kranken und Verletzten werden
in die Küche zu meiner Mutter gebracht und sie nimmt
schon lange kein Geld mehr für die Behandlungen. Ihr
Vorrat an Heilmitteln ist so knapp geworden, dass sie die
Patienten bald nur noch mit Schnee behandeln kann.
Der Wald ist natürlich verboten. Strengstens. Ohne
jede Einschränkung. Nicht mal Gale stellt das jetzt in-
frage. Doch eines Morgens tue ich es. Und es ist nicht
das Haus voller Kranker und Sterbender, das mich un-
ter dem Zaun hindurchtreibt, es sind nicht die blutenden
Rücken, die ausgemergelten Gesichter der Kinder, die
marschierenden Stiefel, es ist nicht das allgegenwärtige
Elend. Es ist eine Kiste mit Hochzeitskleidern, die eines
Abends ankommt, darin eine Nachricht von Effie, in der
sie schreibt, mit dieser Auswahl sei Präsident Snow per-
sönlich einverstanden.
Die Hochzeit. Will er das wirklich durchziehen? Wozu
soll das seinem verqueren Denken nach gut sein? Haben
die Leute im Kapitol irgendetwas davon? Eine Hochzeit
ist ihnen versprochen worden, eine Hochzeit sollen sie be-
kommen. Und dann bringt er uns um? Als Lektion für
die Distrikte? Ich weiß es nicht. Ich werde daraus nicht
schlau. Ich wälze mich im Bett hin und her, bis ich es
193
nicht mehr aushalte. Ich muss hier raus. Wenigstens für
ein paar Stunden.
Ich taste in meinem Schrank herum, bis ich die wasser-
dichte Winterausrüstung finde, die Cinna mir für meine
Freizeit während der Siegertour gemacht hat. Wasserdich-
te Stiefel, ein Schneeanzug, der mich von Kopf bis Fuß be-
deckt, Thermohandschuhe. Ich liebe meine alte Jagdklei-
dung, aber für den Marsch, den ich im Sinn habe, ist diese
Hightechausrüstung besser geeignet. Auf Zehenspitzen
gehe ich nach unten, packe mir die Jagdtasche mit Pro-
viant voll und stehle mich aus dem Haus. Ich schleiche
durch Seitenstraßen und abgelegene Gassen, bis ich zu der
Lücke im Zaun in der Nähe von Fleischer Rooba gelange.
Weil viele Arbeiter auf dem Weg zu den Bergwerken hier
entlangkommen, wimmelt es im Schnee von Fußspuren.
Da fallen meine gar nicht auf. Sosehr Thread die Sicher-
heit verstärkt hat, den Zaun hat er vernachlässigt. Viel-
leicht dachte er sich, das raue Wetter und die wilden Tiere
würden schon ausreichen, um die Menschen innerhalb der
Grenzen zu halten. Trotzdem verwische ich hinter dem
Maschendrahtzaun meine Spuren, bis sie sich zwischen
den Bäumen verlieren.
Der Tag bricht gerade an, als ich mir Pfeil und Bogen
schnappe und durch den hohen Schnee im Wald stapfe.
194
Aus irgendeinem Grund will ich es unbedingt bis zum See
schaffen. Vielleicht, um mich von ihm zu verabschieden
und von meinem Vater, der glücklichen Zeit, die wir dort
verbracht haben, weil ich weiß, dass ich wahrscheinlich
nie zurückkehren werde. Vielleicht auch nur, um noch
mal richtig durchzuatmen. In gewisser Weise ist es fast
egal, ob sie mich erwischen, wenn ich den See nur noch
einmal sehen kann.
Ich brauche für den Weg doppelt so lange wie sonst.
Die Klamotten von Cinna halten die Wärme sehr gut; als
ich ankomme, bin ich schweißnass unter dem Schneean-
zug, während mein Gesicht taub ist vor Kälte. Die Win-
tersonne, die vom Schnee reflektiert wird, hat meinen Au-
gen einen Streich gespielt, und ich bin so erschöpft und
in meine trüben Gedanken vertieft, dass ich die Zeichen
nicht bemerke. Den Rauchfaden, der aus dem Schornstein
kommt, die frischen Fußspuren, den Geruch von damp-
fenden Kiefernnadeln. Ich bin schon wenige Meter vor der
Tür des Betonhauses, als ich abrupt stehen bleibe. Und
zwar nicht wegen des Rauchs oder der Fußspuren oder des
Geruchs. Sondern wegen des unverkennbaren Klickens ei-
ner Waffe hinter mir.
Instinkt. Intuition. Ich drehe mich um und spanne
den Bogen, obwohl ich schon weiß, dass meine Chancen
195
schlecht stehen. Ich sehe die weiße Friedenswächter-Uni-
form, das spitze Kinn, die hellbraune Iris, in der mein
Pfeil landen wird. Doch die Waffe fällt zu Boden und
die unbewaffnete Frau hält mir mit der behandschuhten
Hand etwas hin.
»Halt!«, schreit sie.
Ich schwanke, ich kann diesen Wandel nicht einordnen.
Vielleicht haben sie den Befehl, mich lebend zu fangen,
damit sie mich durch Folter dazu bringen können, alle zu
verraten, die ich kenne. Na, dann viel Glück, denke ich.
Meine Finger sind schon fast entschlossen, den Pfeil los-
zulassen, als ich den Gegenstand in dem Handschuh sehe.
Es ist ein kleines weißes Brot, flach und rund. Eigentlich
eher ein Kräcker. Grau und pappig am Rand. Doch in der
Mitte ist ganz deutlich ein Bild zu erkennen.
Es ist mein Spotttölpel.
196
Teil 2
Das Jubiläum
10 Das verstehe ich nicht. Mein Vogel
in Brot gebacken. Anders als die schi-
cken Darstellungen, die ich im Kapitol gesehen habe, ist
das hier ganz bestimmt kein modisches Accessoire. »Was
ist das? Was soll das bedeuten?«, frage ich schroff, immer
noch bereit zu töten.
»Es bedeutet, dass wir auf deiner Seite sind«, sagt hinter
mir jemand mit bebender Stimme.
Ich habe sie nicht gesehen, als ich kam. Sie muss im
Haus gewesen sein. Ich lasse mein Ziel nicht aus den Au-
gen. Vielleicht ist die Neue bewaffnet, aber ganz bestimmt
will sie nicht das verräterische, meinen Tod verkündende
Klicken ertönen lassen, denn sie weiß, dass ich dann auf
der Stelle ihre Gefährtin umbringen würde. »Komm her-
um, damit ich dich sehen kann«, befehle ich.
»Sie kann nicht, sie ist …«, setzt die Frau mit dem Krä-
cker an.
»Komm herum!«, brülle ich. Ich höre einen Schritt
und ein schleifendes Geräusch. Ich höre, wie mühsam
sie sich bewegt. Die zweite Frau, oder vielleicht sollte ich
besser von einem Mädchen sprechen, denn sie ist etwa in
199
meinem Alter, humpelt in mein Blickfeld. Sie ist mit ei-
ner schlecht sitzenden Friedenswächter-Uniform bekleidet,
inklusive weißem Pelzmantel, doch die Kleider sind meh-
rere Nummern zu groß für ihre schmächtige Gestalt. Sie
scheint keine Waffe dabeizuhaben. Ihre Hände sind damit
beschäftigt, eine improvisierte Krücke zu halten, die aus
einem abgebrochenen Ast gemacht ist. Mit der Spitze ih-
res rechten Stiefels kommt sie nicht über den Schnee, des-
halb zieht sie den Fuß nach.
Ich betrachte das Gesicht des Mädchens, knallrot von
der Kälte. Sie hat schiefe Zähne und einen Erdbeerfleck
über einem ihrer schokoladenbraunen Augen. Das ist kei-
ne Friedenswächterin. Und sie stammt auch nicht aus dem
Kapitol.
»Wer seid ihr?«, frage ich argwöhnisch, aber weniger
angriffslustig.
»Ich heiße Twill«, sagt die Frau. Sie ist älter. Fünfund-
dreißig vielleicht. »Und das ist Bonnie. Wir sind aus Dist-
rikt 8 geflohen.«
Distrikt 8! Dann wissen sie von dem Aufstand!
»Woher habt ihr die Uniformen?«, frage ich.
»Ich hab sie aus der Fabrik geklaut«, sagt Bonnie. »Wir
stellen sie dort her. Allerdings war diese für … für jemand
anders gedacht. Deshalb passt sie mir nicht.«
200
»Das Gewehr stammt von einem toten Friedenswäch-
ter«, sagt Twill, als sie meinem Blick folgt.
»Der Kräcker in deiner Hand. Mit dem Vogel. Was soll
das?«, frage ich.
»Weißt du das nicht, Katniss?« Bonnie wirkt ernsthaft
überrascht.
Sie haben mich erkannt. Natürlich haben sie mich erkannt.
Mein Gesicht ist nicht verdeckt, ich stehe hier hinter der Gren-
ze von Distrikt 12 und richte einen Pfeil auf sie. Wer sol te ich
sonst sein? »Ich weiß, dass der Vogel genauso aussieht wie der
auf der Brosche, die ich in der Arena getragen hab.«
»Sie weiß es nicht«, sagt Bonnie leise. »Vielleicht weiß
sie gar nichts davon.«
Auf einmal möchte ich, dass es so aussieht, als wüsste
ich Bescheid. »Ich weiß, dass ihr in Distrikt 8 einen Auf-
stand hattet.«
»Ja, deshalb mussten wir weg«, sagt Twill.
»Na, weg seid ihr jetzt ja. Was habt ihr vor?«, frage ich.
»Wir wollen nach Distrikt 13«, antwortet Twill.
»13?«, sage ich. »13 gibt es nicht. Der wurde von der
Landkarte getilgt.«
»Vor fünfundsiebzig Jahren«, sagt Twill.
Bonnie verlagert das Gewicht auf der Krücke und zuckt
vor Schmerz zusammen.
201
»Was ist mit deinem Bein?«, frage ich.
»Ich hab mir den Fuß verknackst. Die Stiefel sind mir
zu groß«, sagt Bonnie.
Ich beiße mir auf die Lippe. Mein Instinkt sagt mir,
dass sie die Wahrheit sagen. Und hinter dieser Wahrheit
stecken viele Informationen, die ich gern hätte. Doch
bevor ich den Bogen sinken lasse, gehe ich auf Twill zu
und nehme ihr das Gewehr ab. Dann zögere ich einen
Moment, denke an einen anderen Tag hier im Wald, als
Gale und ich ein Hovercraft gesehen haben, das aus dem
Nichts auftauchte und zwei junge Leute einfing, die vor
dem Kapitol auf der Flucht waren. Der Junge wurde von
einem Speer durchbohrt. Das rothaarige Mädchen wurde,
wie ich später im Kapitol herausfand, verstümmelt und als
stumme Dienerin, Avox genannt, angestellt. »Ist jemand
hinter euch her?«
»Wir glauben nicht. Wahrscheinlich denken sie, wir
wären bei einer Fabrikexplosion ums Leben gekommen«,
sagt Twill. »Reines Glück, dass das nicht passiert ist.«
»Gut, dann kommt mit rein«, sage ich mit einer Kopf-
bewegung zu dem Betonhaus. Ich folge ihnen mit dem
Gewehr.
Bonnie geht sofort zum Kamin und lässt sich auf
dem Mantel eines Friedenswächters nieder, der davor
202
ausgebreitet ist. Sie hält die Hände nah an die schwache
Flamme, die an einem Ende eines verkohlten Holzscheits
brennt. Bonnie ist so blass, dass ihre Haut durchsichtig ist,
ich sehe das Feuer durch ihr Fleisch hindurch. Twill ver-
sucht, den Mantel, der wohl ihr gehört, dem zitternden
Mädchen umzulegen.
Sie haben eine große Blechdose entzweigeschnitten, die
Kante ist gefährlich gezackt. Sie steht in der Asche, darin
eine Handvoll Kiefernnadeln, die im Wasser dampfen.
»Kocht ihr Tee?«, frage ich.
»Wir wissen nicht so genau. Vor ein paar Jahren hab ich
mal bei den Hungerspielen gesehen, wie jemand so was
mit Kiefernnadeln gemacht hat. Jedenfalls glaube ich, dass
es Kiefernnadeln waren«, sagt Twill mit gerunzelter Stirn.
Ich denke an unseren Besuch in Distrikt 8, eine häss-
liche Industriegegend, wo es nach Abgasen stank und
die Leute in heruntergekommenen Wohnungen hausten.
Kaum ein Grashalm zu sehen. Absolut keine Gelegenheit,
zu lernen, wie es in der Natur zugeht. Es ist ein Wunder,
dass die beiden so weit gekommen sind.
»Nichts mehr zu essen?«, frage ich.
Bonnie schüttelt den Kopf. »Wir haben mitgenommen,
so viel wir konnten, aber es gab so wenig zu essen. Es ist
schon eine ganze Weile alle.« Bei dem Zittern in ihrer
203
Stimme schwinden meine letzten Vorbehalte. Sie ist nur
ein unterernährtes, verletztes Mädchen, das vor dem Ka-
pitol flieht.
»Na, dann ist heute euer Glückstag«, sage ich und las-
se meine Jagdtasche zu Boden fallen. Im ganzen Distrikt
hungern die Menschen und wir haben immer noch mehr
als genug. Deshalb habe ich die Sachen in letzter Zeit ein
bisschen verteilt. Ich habe meine Prioritäten: Gales Fami-
lie, Greasy Sae und einige andere Schwarzmarkthändler,
denen der Laden dichtgemacht wurde. Meine Mutter hat
auch noch ein paar Leute, vor allem Patienten, denen sie
helfen möchte. Heute Morgen habe ich meine Tasche ab-
sichtlich mit Essen vollgestopft, damit meine Mutter die
geplünderte Speisekammer sieht und annimmt, dass ich
meine Runde zu den Notleidenden mache. Damit wollte
ich Zeit gewinnen, um zum See zu gehen, ohne dass sie
sich Sorgen macht. Das Essen wollte ich am Abend nach
meiner Rückkehr verteilen, aber jetzt sehe ich, dass das
ausfallen muss.
Ich hole zwei frische, mit Käse überbackene Brötchen
aus der Tasche. Seit Peeta weiß, dass das meine Lieblings-
brötchen sind, haben wir davon immer jede Menge zu
Hause. Ich werfe Twill eins zu und lege das andere Bon-
nie in den Schoß, da ich bezweifle, dass sie es in ihrem
204
Zustand auffangen kann, und ich möchte nicht, dass das
Ding im Feuer landet.
»Oh«, sagt Bonnie. »Ist das alles für mich?«
In meinem Innern zuckt es, als ich an eine andere Stim-
me denke. Rue. In der Arena. Als ich ihr das Gruslingbein
gegeben habe. »Ich hab noch nie ein ganzes Bein für mich
al ein gehabt.« Das Staunen der chronisch Hungrigen.
»Ja, iss es auf«, sage ich. Bonnie hält das Brötchen, als
könnte sie nicht recht glauben, dass es echt ist, dann gräbt
sie immer wieder die Zähne hinein, sie kann nicht auf-
hören. »Es ist besser, wenn du kaust.« Sie nickt und ver-
sucht, langsamer zu essen, aber ich weiß, wie schwer das
ist, wenn man so ein Loch im Bauch hat. »Ich glaube,
euer Tee ist fertig.« Schnell nehme ich die Blechdose aus
der Asche. Twill kramt zwei Blechtassen aus ihrem Ruck-
sack und ich schenke den Tee aus und stelle ihn zum Ab-
kühlen auf den Boden. Sie kauern sich zusammen, essen,
pusten in ihre Tassen und trinken winzige Schlucke von
dem brühend heißen Tee, während ich mich um das Feuer
kümmere. Ich warte, bis sie sich das Fett von den Fingern
lecken, dann frage ich: »Also, was habt ihr erlebt?« Und sie
fangen an zu erzählen.
Seit den Hungerspielen war die Unzufriedenheit in Di-
strikt 8 immer größer geworden. In gewissem Maß war sie
205
natürlich immer da gewesen. Nur genügte es jetzt nicht
mehr zu reden, und die Idee, zur Tat zu schreiten, wur-
de vom Wunsch zur Realität. In den Textilfabriken, die
Panem beliefern, ist es immer laut von den Maschinen,
und bei dem Lärm war es ein Leichtes, etwas weiterzusa-
gen, Lippen dicht an einem Ohr, Worte unbemerkt, un-
gehindert. Twill unterrichtete an der Schule, Bonnie war
eine ihrer Schülerinnen, und nach Schulschluss rissen sie
zusammen noch eine Vierstundenschicht in der Fabrik ab,
die sich auf Uniformen für die Friedenswächter speziali-
siert hatte. Bonnie, die in der kalten Fertigungskontrolle
arbeitete, brauchte Monate, bis sie die beiden Uniformen
beschafft hatte, einen Stiefel hier, eine Hose da. Sie wa-
ren für Twill und ihren Mann gedacht, denn wenn der
Aufstand größere Kreise ziehen und erfolgreich sein sollte,
mussten sie die Nachricht selbstverständlich über Distrikt
8 hinaus verbreiten.
An dem Tag, als Peeta und ich unseren Auftritt bei der
Tour der Sieger hatten, fand eine Art Generalprobe statt.
Die Leute in der Menge stellten sich in ihren Gruppen auf,
an den Gebäuden, die sie ins Visier nehmen wollten, wenn
der Aufstand ausbrach. Das war der Plan: die Zentren
der Macht in der Stadt zu übernehmen, also das Justiz-
gebäude, das Hauptquartier der Friedenswächter und das
206
Kommunikationszentrum auf dem Platz. Und anderswo
im Distrikt: die Eisenbahn, den Kornspeicher, das Elektri-
zitätswerk und das Waffenlager.
Der Abend meiner Verlobung, der Abend, an dem Pee-
ta auf die Knie fiel und im Kapitol vor laufenden Kame-
ras seine unsterbliche Liebe zu mir gestand, das war der
Abend, an dem der Aufstand begann. Das Interview mit
Caesar Flickerman auf unserer Tour der Sieger bot einen
optimalen Deckmantel. Es war Pflichtprogramm für alle,
und so hatte das Volk von Distrikt 8 einen Vorwand, nach
Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zu sein. Sie ver-
sammelten sich zum Zuschauen entweder auf dem Platz
oder an verschiedenen Treffpunkten in der Stadt. Norma-
lerweise wäre ein solches Treiben zu verdächtig gewesen.
So jedoch waren alle zur vorgeschriebenen Zeit, um acht
Uhr, zur Stelle, als die Masken aufgesetzt wurden und die
Hölle ausbrach.
Anfangs wurden die Friedenswächter von der Men-
ge überwältigt, auf einen solchen Massenaufstand waren
sie nicht vorbereitet. Das Kommunikationszentrum, der
Kornspeicher und das Elektrizitätswerk wurden sämtlich
eingenommen. Die Rebellen nahmen die Waffen der to-
ten Friedenswächter an sich. Es gab Hoffnung, dass das
Ganze keine Wahnsinnstat war, dass es, wenn sich die
207
Nachricht in den anderen Distrikten verbreitete, irgend-
wie möglich wäre, die Regierung zu stürzen.
Doch dann schlug das Kapitol zurück. Friedenswächter
kamen zu Tausenden. Hovercrafts zerbombten die Stütz-
punkte der Rebel en. In dem Chaos, das folgte, waren die
Leute schon froh, wenn sie es lebend nach Hause schafften.
In weniger als achtundvierzig Stunden war die Stadt be-
zwungen. Dann wurde sie eine Woche lang abgeriegelt. Kei-
ne Lebensmittel, keine Kohle, Ausgangssperre. Nur einmal
war im Fernsehen etwas anderes als Schnee zu sehen, das
war, als diejenigen, die als Rädelsführer verdächtigt wurden,
auf dem Platz gehängt wurden. Dann, eines Nachts, als der
gesamte Distrikt zu verhungern drohte, kam plötzlich der
Befehl, wieder zur Tagesordnung überzugehen.
Für Bonnie und Twill bedeutete das, dass sie wieder
in die Schule mussten. Weil eine Straße durch die Bom-
bardierung unzugänglich war, kamen sie zu spät zu ihrer
Schicht in der Fabrik, und so waren sie hundert Meter ent-
fernt, als das Gebäude in die Luft flog und alle, die darin
waren, ums Leben kamen – darunter Twills Mann und
Bonnies ganze Familie.
»Irgendjemand muss dem Kapitol gesteckt haben, dass
der Plan für den Aufstand dort entstanden ist«, sagt Twill
mit schwacher Stimme.
208
Die beiden flohen zu Twill nach Hause, wo die Unifor-
men der Friedenswächter noch warteten. Sie kratzten so
viel Proviant wie möglich zusammen, bedienten sich bei
Nachbarn, von denen sie wussten, dass sie tot waren, und
schafften es zum Bahnhof. In einem Lager in der Nähe
der Gleise zogen sie sich die Uniformen der Friedenswäch-
ter an und schafften es in dieser Verkleidung bis zu einem
mit Stoff beladenen Güterwagen. Der Zug hatte Distrikt 6
zum Ziel, sie flohen unterwegs während eines Tankstopps
und gelangten vor zwei Tagen ins Randgebiet von Distrikt
12, wo sie einen Halt einlegen mussten, als Bonnie sich
den Knöchel verstauchte.
»Ich verstehe, weshalb ihr auf der Flucht seid, aber was
erwartet ihr euch in Distrikt 13?«, frage ich.
Bonnie und Twill wechseln einen nervösen Blick. »Das
wissen wir nicht genau«, sagt Twill.
»Da sind doch nur Trümmer«, sage ich. »Wir haben alle
die Aufnahmen gesehen.«
»Das ist es ja. Solange wir in Distrikt 8 zurückdenken kön-
nen, zeigen sie immer dieselben Aufnahmen«, erklärt Twil .
»Wirklich?« Ich versuche mich zu erinnern, mir Bilder
von Distrikt 13 vor Augen zu führen, die ich aus dem
Fernsehen kenne.
»Du weißt doch, dass sie immer das Justizgebäude
209
zeigen?«, fährt Twill fort. Ich nicke. Ich habe es schon tau-
sendmal gesehen. »Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst
du ihn erkennen. Ganz oben rechts.«
»Wen denn?«, frage ich.
Twill zeigt wieder ihren Kräcker mit dem Vogel. »Ei-
nen Spotttölpel. Nur für einen kurzen Moment, wie er
vorbeifliegt. Jedes Mal derselbe.«
»In Distrikt 8 denken wir, dass sie immer wieder das-
selbe Bildmaterial zeigen, weil sie das, was da wirklich los
ist, nicht zeigen können«, sagt Bonnie.
Ich schnaube ungläubig. »Und auf dieser Grundlage
wollt ihr nach Distrikt 13? Wegen einer Aufnahme von
einem Vogel? Glaubt ihr etwa, ihr findet dort eine neue
Stadt mit Leuten, die darin flanieren? Und dass das für
das Kapitol völlig in Ordnung ist?«
»Nein«, sagt Twill ernst. »Wir glauben, dass die Leute
unter die Erde gezogen sind, als über der Erde alles zer-
stört war. Wir glauben, dass sie es geschafft haben zu über-
leben. Und wir glauben, das Kapitol lässt sie in Ruhe, weil
vor den Dunklen Tagen die wichtigste Industrie in Dist-
rikt 13 die Entwicklung von Atomwaffen war.«
»Sie haben Grafit gefördert«, sage ich. Doch dann halte
ich inne, denn das ist eine Information, die ich aus dem
Kapitol habe.
210
»Es gab dort ein paar kleine Minen, das stimmt. Aber
nicht genug, um eine Bevölkerung dieser Größenordnung
zu rechtfertigen. Das ist wohl das Einzige, was wir ganz
sicher sagen können«, sagt Twill.
Mein Herz schlägt zu schnell. Und wenn sie nun recht
haben? Könnte es stimmen? Gibt es vielleicht außer der
Wildnis noch einen Ort, an den man fliehen könnte? Wo
man in Sicherheit wäre? Wenn es in Distrikt 13 eine Ge-
meinschaft gibt, wäre es dann besser, dorthin zu gehen,
wo ich vielleicht etwas bewirken könnte, anstatt hier auf
den Tod zu warten? Andererseits … wenn es in Distrikt
13 Menschen mit mächtigen Waffen gibt …
»Warum haben sie uns dann nicht geholfen?«, sage ich
zornig. »Wenn es stimmt, warum lassen sie uns so leben?
Mit dem Hunger und den Morden und den Spielen?« Auf
einmal hasse ich diese angebliche unterirdische Stadt in
Distrikt 13 und die Leute, die dahocken und uns beim
Sterben zusehen. Sie sind nicht besser als das Kapitol.
»Das wissen wir nicht«, flüstert Bonnie. »Im Moment
klammern wir uns einfach an die Hoffnung, dass es sie
gibt.«
Das katapultiert mich wieder in die Wirklichkeit. Es
ist nur eine Illusion. Distrikt 13 gibt es nicht, weil das Ka-
pitol es nie zulassen würde. Wahrscheinlich irren sie sich,
211
was die Fernsehbilder angeht. Spotttölpel sind ungefähr
so selten wie Steine. Und auch genauso hart im Nehmen.
Wenn sie damals den Bombenangriff auf Distrikt 13 über-
lebt haben, geht es ihnen jetzt vermutlich besser denn je.
Bonnie hat kein Zuhause. Ihre Familie ist tot. Sie kann
unmöglich nach Distrikt 8 zurückkehren oder in einem
anderen Distrikt Fuß fassen. Natürlich hat die Vorstellung
von einem unabhängigen, blühenden Distrikt 13 für sie
eine große Anziehungskraft. Ich bringe es nicht über mich,
ihr zu sagen, dass sie einem Traum hinterherjagt, der so
wenig greifbar ist wie ein Rauchfaden. Vielleicht können
sie und Twill sich im Wald irgendwie ein Leben aufbauen.
Ich glaube nicht daran, aber sie sind so bemitleidenswert,
dass ich versuchen muss, ihnen zu helfen.
Zuerst gebe ich ihnen das gesamte Essen, das ich im
Rucksack habe, vor allem Getreide und getrocknete Boh-
nen; damit können sie eine ganze Weile auskommen,
wenn sie gut haushalten. Dann nehme ich Twill mit in
den Wald und versuche ihr die Grundbegriffe der Jagd zu
erklären. Sie besitzt eine Waffe, die bei Bedarf Sonnen-
licht in tödliche Strahlen umwandeln kann und die also
unendlich lange einsetzbar ist. Als Twill ihr erstes Eich-
hörnchen erlegt, ist das arme Tier ganz verkohlt, weil sein
Körper mit voller Wucht getroffen wurde. Doch ich zeige
212
ihr, wie man es häutet und ausnimmt. Mit ein bisschen
Übung wird sie es schon lernen. Ich schnitze eine neue
Krücke für Bonnie. Im Haus ziehe ich mein zweites Paar
Socken aus und gebe es ihr, sie soll die Socken vorn in die
Stiefel stecken und nachts anziehen. Schließlich bringe ich
ihnen noch bei, wie man ein ordentliches Feuer macht.
Sie wollen Einzelheiten über die Situation in Distrikt
12 erfahren und ich erzähle ihnen von dem Leben unter
Thread. Ich merke, dass das für sie wichtige Informati-
onen sind, die sie den Leuten in Distrikt 13 überbrin-
gen wollen, und ich spiele mit, um ihnen nicht die Hoff-
nung zu nehmen. Doch als es am späten Nachmittag zu
dämmern beginnt, habe ich keine Zeit mehr, sie weiter
aufzubauen.
»Ich muss jetzt gehen«, sage ich.
Sie danken mir überschwänglich und umarmen mich.
Tränen laufen Bonnie über die Wangen. »Ich kann es
gar nicht glauben, dass wir dich wirklich kennengelernt
haben. Alle reden nur von dir, seit …«
»Ich weiß, ich weiß. Seit ich die Beeren herausgeholt
habe«, sage ich müde.
Den Heimweg nehme ich kaum wahr, obwohl nas-
ser Schnee fällt. Mir schwirrt der Kopf von den neuen
Informationen über den Aufstand in Distrikt 8 und der
213
unwahrscheinlichen und doch verlockenden Möglichkeit,
dass es Distrikt 13 geben könnte.
Die Schilderungen von Bonnie und Twill haben eines
bestätigt: Präsident Snow hat mich zum Narren gehal-
ten. Selbst alle Küsse und Zärdichkeiten der Welt hätten
die Bewegung, die in Distrikt 8 entstanden war, nicht
aufhalten können. Ja, die Sache mit den Beeren war der
entscheidende Funke gewesen, doch das Feuer konnte ich
nicht eindämmen. Das muss er gewusst haben. Weshalb
ist er dann zu mir nach Hause gekommen, warum hat er
mir befohlen, die Menschen von meiner Liebe zu Peeta
zu überzeugen? Offensichtlich war das eine List, mit der
er mich ablenken und von weiteren aufrührerischen Ak-
tionen in den Distrikten abhalten wollte. Und natürlich
die Leute im Kapitol unterhalten. Die Hochzeit ist wahr-
scheinlich nur ein notwendiges Extra.
Ich bin fast am Zaun, als ein Spotttölpel sich auf einem
Zweig niederlässt und mir etwas vorsingt. Bei seinem An-
blick wird mir bewusst, dass ich gar nicht genau erfahren
habe, weshalb der Vogel auf dem Kräcker war und was für
eine Bedeutung er hat.
»Es bedeutet, dass wir auf deiner Seite sind«, hat Bonnie
gesagt. Es gibt Menschen, die auf meiner Seite sind? Auf
was für einer Seite? Bin ich unbeabsichtigt das Gesicht der
214
Rebel ion, auf die sie hoffen? Ist der Spotttölpel auf meiner
Brosche zum Symbol des Widerstands geworden? Wenn
dem so ist, geht es meiner Seite nicht sonderlich gut. Man
braucht sich bloß anzuschauen, was in Distrikt 8 passiert ist.
Ich verstaue meine Waffen in dem hohlen Baumstamm
in der Nähe meines alten Hauses im Saum und gehe auf
den Zaun zu. Ein Knie habe ich schon am Boden, um
auf die Weide zu kriechen, und ich bin mit meinen Ge-
danken immer noch so sehr bei den Ereignissen des Tages,
dass ich erst durch den plötzlichen Schrei einer Eule zu
mir komme.
In der Dämmerung sieht der Maschendrahtzaun so
harmlos aus wie immer. Was meine Hand dennoch zu-
rückzucken lässt, ist ein Geräusch wie das Summen in
einem Baum mit mehreren Jägerwespennestern. Es verrät,
dass der Zaun unter Strom steht.
215
11 Instinktiv mache ich einen Satz zu-
rück und verstecke mich zwischen den
Bäumen. Ich bedecke den Mund mit dem Handschuh,
damit mein Atem nicht als weißer Hauch in der eisigen
Luft zu sehen ist. Adrenalin strömt durch meinen Körper
und fegt all die Bedenken des Tages aus meinen Gedan-
ken, während ich mich auf die unmittelbare Gefahr vor
mir konzentriere. Was soll das? Hat Thread den Zaun als
zusätzliche Vorsichtsmaßnahme eingeschaltet? Oder weiß
er irgendwoher, dass ich ihm heute durchs Netz geschlüpft
bin? Ist er entschlossen, mich außerhalb von Distrikt 12
auflaufen zu lassen, damit er mich festnehmen und ein-
sperren kann? Will er mich auf den Platz zerren und an
den Pranger stellen oder auspeitschen oder hängen lassen?
Ganz ruhig, befehle ich mir. Es ist nicht das erste Mal,
dass der Zaun unter Strom steht, wenn ich wieder zurück
in den Distrikt will. Im Lauf der Jahre ist das ein paar-
mal vorgekommen, aber da war immer Gale bei mir. Wir
haben uns dann einfach einen gemütlichen Baum gesucht
und dort oben gewartet, bis der Strom wieder abgeschal-
tet wurde, was früher oder später immer geschah. Wenn
216
ich mich verspätete, lief Prim sogar jedes Mal schon zur
Weide, um nachzusehen, ob der Zaun unter Strom stand,
damit meine Mutter sich nicht unnötig sorgen musste.
Doch heute würde meine Familie nie darauf kommen,
dass ich im Wald sein könnte. Ich habe sogar versucht, sie
auf die falsche Fährte zu setzen. Wenn ich nicht auftauche,
werden sie sich also auf jeden Fall Sorgen machen. Und
in gewisser Weise mache ich mir selbst auch Sorgen, denn
so sicher bin ich mir nicht, dass es nur Zufall ist – ausge-
rechnet an dem Tag, an dem ich in den Wald zurückkehre,
wird der Strom eingeschaltet. Ich dachte, niemand hätte
mich gesehen, als ich unter dem Zaun hindurchgeschlüpft
bin, aber wer weiß? Spione gibt es immer. Irgendjemand
hat verraten, dass Gale mich genau hier geküsst hat. Al-
lerdings war das am helllichten Tag und damals war ich
noch nicht so vorsichtig. Gibt es hier womöglich Überwa-
chungskameras? Das habe ich mich schon einmal gefragt.
Weiß Präsident Snow deshalb von dem Kuss? Es war dun-
kel, als ich mich davongestohlen habe, und ich hatte mir
einen Schal um das Gesicht geschlungen. Doch die Liste
derjenigen, die man verdächtigen könnte, verbotenerweise
in den Wald zu gehen, ist vermutlich nicht lang.
Ich spähe durch die Bäume, am Zaun vorbei, auf die
Weide. Ich sehe nichts als den nassen Schnee, der hier
217
und dort von den Lichtern aus den Fenstern am Rand des
Saums erhellt wird. Keine Friedenswächter in Sicht, keine
Anzeichen dafür, dass ich gejagt werde. Ob Thread nun
weiß, dass ich den Distrikt heute verlassen habe, oder
nicht, mein Ziel muss dasselbe sein: ungesehen auf die an-
dere Seite des Zauns zu gelangen und so zu tun, als wäre
ich nie weg gewesen.
Jede Berührung mit dem Maschendrahtzaun oder mit
dem Stacheldraht darüber hätte einen tödlichen Strom-
schlag zur Folge. Ich bezweifle, dass ich mich unter dem
Zaun hindurchgraben kann, ohne entdeckt zu wer-
den, und der Boden ist sowieso festgefroren. Mir bleibt
nur eine Möglichkeit. Irgendwie muss ich versuchen
hinüberzugelangen.
Ich gehe am Waldrand entlang und suche nach einem
geeigneten Baum mit einem langen, hohen Ast. Nach
etwa eineinhalb Kilometern komme ich zu einem alten
Ahorn, bei dem es glücken könnte. Der Stamm ist jedoch
zu dick und zu glatt, um hinaufzuklettern, und er hat
keine niedrigen Äste. Ich klettere auf einen benachbarten
Baum und mache einen gewagten Sprung auf den Ahorn,
beinahe hätte ich an der glatten Rinde den Halt verloren.
Doch ich schaffe es, mich festzuhalten, und schiebe mich
auf einem Ast, der über den Zaun ragt, langsam vorwärts.
218
Als ich hinunterschaue, weiß ich wieder, wieso Gale
und ich lieber im Wald gewartet haben, als den Zaun in
Angriff zu nehmen. Wenn man nicht verkohlt werden will,
muss man mindestens sieben Meter Höhe erreichen. Mein
Ast ist bestimmt acht Meter hoch. Das ist eine gefährliche
Höhe zum Springen, selbst für jemanden, der jahrelange
Übung hat. Doch was bleibt mir übrig? Ich könnte nach
einem anderen Ast Ausschau halten, aber jetzt ist es schon
fast dunkel. Es schneit immer noch, der Mond wird kaum
Licht spenden. Hier ist wenigstens ein Schneeberg unter
mir, der meine Landung abfedert. Selbst wenn ich einen
anderen Ast fände, was zu bezweifeln ist, wer weiß, wo ich
dann hineinspringen würde? Ich hänge mir die leere Jagd-
tasche um den Hals und lasse mich langsam hinab, bis ich
mich nur noch mit den Händen am Ast festhalte. Einen
Augenblick lang nehme ich allen Mut zusammen. Dann
lasse ich los.
Ich spüre, wie ich falle, dann komme ich mit einem
heftigen Ruck auf, der mir die Wirbelsäule hochfährt.
Eine Sekunde später knalle ich mit dem Hinterteil auf den
Boden. Ich liege im Schnee und untersuche den Schaden.
Auch ohne aufzustehen, merke ich an dem Schmerz in der
linken Hüfte und im Steißbein, dass ich verletzt bin. Die
Frage ist nur, wie sehr. Ich hoffe, dass es nur Prellungen
219
sind, aber als ich mich aufrappele, fürchte ich, dass ich mir
auch etwas gebrochen habe. Laufen kann ich immerhin,
also marschiere ich los und versuche, so wenig wie mög-
lich zu humpeln.
Meine Mutter und Prim können nicht wissen, dass
ich im Wald war. Ich muss mir irgendein Alibi beschaf-
fen, wie dürftig auch immer. Ein paar Geschäfte auf dem
Platz haben noch geöffnet, also gehe ich in eines hinein
und kaufe weißen Stoff für Verbände. Wir haben sowie-
so fast keine mehr. In einem anderen Geschäft kaufe ich
eine Tüte Pfefferminzbonbons für Prim. Ich stecke mir
eins in den Mund, spüre, wie es auf meiner Zunge zer-
geht, und merke, dass es das Erste ist, was ich heute esse.
Eigentlich hatte ich am See etwas essen wollen, aber als
ich sah, in welcher Verfassung Bonnie und Twill waren,
kam es mir nicht richtig vor, ihnen auch nur einen Bissen
wegzunehmen.
Als ich zu Hause ankomme, kann ich mit der linken
Ferse überhaupt nicht mehr auftreten. Meiner Mutter wer-
de ich erzählen, ich sei beim Versuch, eine undichte Stelle
im Dach unseres alten Hauses zu reparieren, abgerutscht.
Was die fehlenden Lebensmittel angeht, werde ich mich
einfach bedeckt halten, an wen ich sie verteilt habe. Ich
schleppe mich zur Tür und stelle mich darauf ein, am
220
Feuer zusammenzuklappen. Stattdessen erwartet mich ein
weiterer Schock.
Zwei Friedenswächter, ein Mann und eine Frau, stehen
in der Tür zu unserer Küche. Die Frau bleibt ungerührt,
doch ich sehe eine Spur von Überraschung über das Ge-
sicht des Mannes huschen. Sie haben nicht mit mir ge-
rechnet. Sie wissen, dass ich im Wald war und dort in der
Falle sitzen müsste.
»Hallo«, sage ich unbeteiligt.
Meine Mutter taucht hinter den beiden auf, bleibt je-
doch auf Abstand. »Da ist sie ja, gerade rechtzeitig zum
Abendessen«, sagt sie eine Spur zu fröhlich. Ich komme
viel zu spät zum Essen.
Ich überlege, ob ich die Stiefel ausziehen soll, wie ich
es sonst immer mache, aber das kann ich kaum schaffen,
ohne dass meine Verletzungen auffallen. Also setze ich
nur die nasse Kapuze ab und schüttele den Schnee aus
dem Haar. »Kann ich etwas für Sie tun?«, frage ich die
Friedenswächter.
»Der Oberste Friedenswächter Thread schickt uns mit
einer Nachricht für Sie«, sagt die Frau.
»Sie haben stundenlang gewartet«, fügt meine Mutter
hinzu.
Sie haben darauf gewartet, dass ich es nicht schaffe
221
zurückzukehren. Als Bestätigung dafür, dass ich durch
einen Stromschlag getötet wurde oder im Wald gefangen
bin, und dann hätten sie meine Familie in die Mangel
nehmen können.
»Dann muss es ja eine wichtige Nachricht sein«, sage
ich.
»Dürfen wir fragen, wo Sie waren, Miss Everdeen?«,
fragt die Frau.
»Fragen Sie lieber, wo ich nicht war«, sage ich in generv-
tem Ton. Ich gehe in die Küche und zwinge mich, normal
aufzutreten, obwohl jeder Schritt die reinste Qual ist. Ich
gehe zwischen den Friedenswächtern hindurch und schaf-
fe es einigermaßen bis zum Tisch. Ich schleudere meine
Tasche hin und wende mich zu Prim, die stocksteif am
Kamin steht. Haymitch und Peeta sind auch da, sie sitzen
jeder in einem Schaukelstuhl und spielen Schach. Waren
sie zufällig hier oder haben die Friedenswächter sie »einge-
laden«? So oder so bin ich froh, sie zu sehen.
»Also, wo warst du nicht?«, fragt Haymitch gelangweilt.
»Ich hab nicht mit dem Ziegenmann darüber gespro-
chen, Prims Ziege zu decken, weil mir jemand eine voll-
kommen falsche Wegbeschreibung gegeben hat«, sage ich
eindringlich zu Prim.
»Hab ich nicht«, sagt Prim. »Ich hab es dir genau erklärt.«
222
»Du hast gesagt, er wohnt am westlichen Eingang des
Bergwerks«, sage ich.
»Am östlichen Eingang«, verbessert mich Prim.
»Du hast ganz eindeutig gesagt, am westlichen Eingang,
darauf hab ich nämlich gefragt: ›Neben der Abraumhal-
de?‹, und du hast Ja gesagt.«
»Neben der Abraumhalde am östlichen Eingang«, sagt
Prim geduldig.
»Nein. Wann willst du das gesagt haben?«, frage ich.
»Gestern Abend«, mischt Haymitch sich ein.
»Sie hat wirklich ›östlich‹ gesagt«, fügt Peeta hinzu. Er
guckt zu Haymitch und sie lachen. Ich schaue Peeta wü-
tend an und er versucht, zerknirscht auszusehen. »Tut mir
leid, aber ich hab’s dir ja schon immer gesagt. Du hörst
einfach nicht zu, wenn dir jemand etwas erklärt.«
»Garantiert haben dir die Leute heute auch gesagt, dass
er da nicht wohnt, und du hast wieder nicht zugehört«,
sagt Haymitch.
»Halt die Klappe, Haymitch«, sage ich und lasse damit
durchblicken, dass er recht hat.
Haymitch und Peeta prusten los und Prim gestattet
sich ein Lächeln.
»Na schön. Dann soll sich doch jemand anders darum
kümmern, wie wir das blöde Vieh gedeckt kriegen«, sage
223
ich, und da lachen sie noch mehr. Und ich denke: Deshalb
haben sie es so weit gebracht, Haymitch und Peeta. Die lassen
sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Ich schaue die Friedenswächter an. Der Mann lächelt,
doch die Frau ist nicht überzeugt. »Was ist in der Tasche?«,
fragt sie schneidend.
Ich weiß, dass sie auf Wild oder Pflanzen hofft. Etwas,
das mich eindeutig verrät. Ich kippe den Inhalt auf den
Tisch. »Bitte sehr.«
»Oh, gut«, sagt meine Mutter, als sie den Stoff sieht.
»Wir haben kaum noch Verbände.«
Peeta kommt zum Tisch und macht die Bonbontüte
auf. »Mmmh, Pfefferminz«, sagt er und steckt sich eins in
den Mund.
»Das sind meine.« Ich versuche die Tüte zu schnappen.
Er wirft sie Haymitch zu, der sich eine Handvoll in den
Mund stopft, ehe er die Tüte an die kichernde Prim wei-
terreicht. »Keiner von euch hat Bonbons verdient!«, sage
ich.
»Wieso, weil wir recht haben?« Peeta nimmt mich in
die Arme. Ich stoße einen kleinen Schmerzenslaut aus, als
mein Steißbein protestiert. Ich versuche es wie Empörung
klingen zu lassen, aber Peeta weiß, dass ich Schmerzen
habe, das sehe ich an seinem Blick. »Na gut, Prim hat
224
›westlich‹ gesagt. Ich hab es klar und deutlich gehört. Und
wir sind alle Idioten. Wie wär’s damit?«
»Schon besser«, sage ich und erwidere seinen Kuss.
Dann schaue ich zu den Friedenswächtern, als würde mir
plötzlich wieder einfallen, dass sie da sind. »Sie haben eine
Nachricht für mich?«
»Von unserem Obersten Friedenswächter Thread«, sagt
die Frau. »Er lässt Ihnen mitteilen, dass der Zaun um Di-
strikt 12 von nun an rund um die Uhr unter Strom steht.«
»War das nicht schon immer so?«, frage ich ein wenig
zu unschuldig.
»Er dachte, Sie möchten es vielleicht auch Ihrem Cou-
sin ausrichten«, sagt die Frau.
»Vielen Dank. Ich werde es ihm sagen. Bestimmt kön-
nen wir jetzt alle besser schlafen, da der Sicherheitsdienst
dieses Versäumnis behoben hat.«
Jetzt treibe ich es ein bisschen zu weit, das weiß ich,
aber es verschafft mir eine gewisse Befriedigung, das zu
sagen.
Die Frau reckt das Kinn. Für sie ist es ganz und gar
nicht nach Plan gelaufen, aber sie hat keine weiteren An-
weisungen. Sie nickt mir kurz zu und geht davon, den
Mann im Schlepptau. Als meine Mutter die Tür geschlos-
sen hat, lasse ich mich an den Tisch sinken.
225
»Was hast du?«, fragt Peeta und hält mich fest.
»Ach, ich hab mir den linken Fuß gestoßen. An der
Ferse. Und mein Steißbein hatte auch einen schlechten
Tag.« Er führt mich zu einem Schaukelstuhl und ich lasse
mich auf das gepolsterte Kissen sinken.
Meine Mutter zieht mir die Schuhe aus. »Was ist
passiert?«
»Ich bin ausgerutscht und hingefallen«, sage ich. Vier
Augenpaare sehen mich ungläubig an. »Auf einer vereisten
Stelle.« Wir wissen alle, dass das Haus wahrscheinlich ver-
wanzt ist und wir es nicht riskieren können, offen mitein-
ander zu sprechen. Nicht hier, nicht jetzt.
Meine Mutter zieht mir die Socke aus und betastet
meine linke Ferse. Ich zucke zusammen. »Da könnte et-
was gebrochen sein«, sagt sie. Sie untersucht den anderen
Fuß. »Der hier scheint in Ordnung zu sein.« Sie stellt fest,
dass ich am Steißbein eine schlimme Prellung habe.
Prim bekommt den Auftrag, meinen Schlafanzug und
Bademantel zu holen. Als ich mich umgezogen habe, be-
reitet meine Mutter eine Schneepackung für meine linke
Ferse vor und legt meinen Fuß auf einen niedrigen Ho-
cker. So verspeise ich drei Teller Eintopf und einen hal-
ben Laib Brot, während die anderen am Tisch sitzen und
essen. Ich starre ins Feuer, denke an Bonnie und Twill
226
und hoffe, dass der schwere nasse Schnee meine Spuren
verdeckt hat.
Prim kommt und setzt sich neben mir auf den Boden,
sie lehnt den Kopf an mein Knie. Wir lutschen Pfeffer-
minzbonbons und ich streiche ihr die weichen blonden
Haare hinter das Ohr. »Wie war’s in der Schule?«, frage ich.
»Ganz gut. Wir haben etwas über Nebenerzeugnisse
bei der Kohleherstellung gelernt«, sagt sie. Eine Weile star-
ren wir ins Feuer. »Willst du deine Hochzeitskleider mal
anprobieren?«
»Nicht heute Abend. Vielleicht morgen«, sage ich.
»Warte, bis ich nach Hause komme, ja?«, sagt sie.
»Klar.« Wenn sie mich nicht vorher verhaften.
Meine Mutter gibt mir eine Tasse Kamil entee mit einer
Dosis Schlafsirup und sofort werden meine Lider schwer.
Sie verbindet meinen schlimmen Fuß, und Peeta bietet sich
an, mich ins Bett zu bringen. Erst versuche ich mich an sei-
ne Schulter zu lehnen, aber ich bin so wacklig auf den Bei-
nen, dass er mich einfach hochhebt und nach oben trägt.
Er deckt mich zu und wünscht mir eine gute Nacht, doch
ich fasse seine Hand und halte ihn fest. Eine Nebenwirkung
von Schlafsirup ist, dass man Hemmungen verliert, als hät-
te man Schnaps getrunken, und ich weiß, dass ich meine
Zunge hüten muss. Doch ich möchte nicht, dass er geht.
227
Ich möchte sogar, dass er zu mir ins Bett kommt, dass er
heute Nacht da ist, wenn die Albträume zuschlagen. Aus
irgendeinem Grund, den ich nicht ganz benennen kann,
weiß ich, dass ich ihn nicht darum bitten darf.
»Geh noch nicht. Nicht bevor ich einschlafe«, sage ich.
Peeta setzt sich an den Bettrand und wärmt meine
Hand mit seinen Händen. »Dachte schon fast, du hättest
dich anders entschieden. Als du nicht zum Abendessen
kamst.«
Ich bin benebelt, aber ich kann mir denken, was er
meint. Als der Zaun eingeschaltet wurde und ich nicht
auftauchte und die Friedenswächter warteten, da dachte er,
ich wäre abgehauen, womöglich mit Gale.
»Nein, das hätte ich dir erzählt«, sage ich. Ich ziehe sei-
ne Hand zu mir heran und lege meine Wange an seinen
Handrücken. Ich atme den leichten Duft nach Zimt und
Dill von den Broten ein, die er heute gebacken hat. Ich
würde ihm gern von Bonnie und Twill erzählen, von dem
Aufstand und der Vision von Distrikt 13, aber das ist zu
gefährlich, und ich merke, wie ich abdrifte. Ich bringe nur
noch einen einzigen Satz heraus. »Bleib bei mir.«
Während der Schlafsirup mich mit seinen Ranken in
den Schlaf hinabzieht, höre ich noch, wie Peeta etwas zu-
rückflüstert, aber ich verstehe es nicht richtig.
228
Meine Mutter lässt mich bis zum Mittag schlafen,
dann weckt sie mich, damit sie meine Ferse untersuchen
kann. Sie verordnet mir eine Woche Bettruhe, und ich
widerspreche nicht, weil es mir so miserabel geht. Nicht
nur wegen der Ferse und des Steißbeins. Mein ganzer Kör-
per schmerzt vor Erschöpfung. Also lasse ich es zu, dass
meine Mutter mich verarztet, mir das Frühstück ans Bett
und eine zusätzliche Decke bringt. Dann liege ich nur
da, schaue aus dem Fenster in den Winterhimmel, grübe-
le darüber nach, wie um alles in der Welt die Geschichte
ausgehen wird. Ich denke viel an Bonnie und Twill und
an den Stapel weißer Brautkleider unten; ich frage mich,
ob Thread wohl herausfindet, wie ich zurückgekommen
bin, und ob er mich verhaften wird. Es ist komisch, denn
er könnte mich auch einfach so verhaften, wegen frühe-
rer Vergehen, aber vielleicht braucht er irgendetwas Un-
widerlegbares, weil ich ja jetzt die Siegerin bin. Und ich
überlege, ob Präsident Snow wohl in Kontakt mit Thread
steht. Den alten Cray hat er wohl kaum je offiziell wahr-
genommen, aber gibt er Thread jetzt, da ich so ein landes-
weites Problem bin, ganz genaue Anweisungen, was zu tun
ist? Oder handelt Thread in eigener Regie? Wie dem auch
sei, ganz bestimmt wären sie sich darin einig, dass man
mich hier im Distrikt innerhalb der Grenzen des Zauns
229
einsperren muss. Selbst wenn ich eine Möglichkeit fände
zu fliehen – zum Beispiel ein Seil an dem hohen Ast des
Ahorns befestigen und auf die andere Seite klettern –, so
könnte ich meine Familie und meine Freunde nicht mit-
nehmen. Außerdem habe ich Gale sowieso versprochen,
zu bleiben und zu kämpfen.
Wenn es in den nächsten Tagen an die Tür klopft, zu-
cke ich jedes Mal zusammen. Aber keine Friedenswäch-
ter tauchen auf, um mich zu verhaften, und allmählich
legt sich die Anspannung. Und dann beruhigt es mich,
als Peeta beiläufig erwähnt, dass der Zaun teilweise nicht
mehr unter Strom steht, weil Trupps damit beschäftigt
sind, den Maschendraht am Boden zu schließen. Offen-
bar denkt Thread, ich sei irgendwie unter dem Zaun hin-
durchgeschlüpft, trotz des lebensgefährlichen Stroms. So
hat der Distrikt eine Verschnaufpause, und die Friedens-
wächter haben einmal etwas anderes zu tun, als Menschen
zu quälen.
Peeta kommt jeden Tag vorbei, er bringt mir Käsebröt-
chen und hilft mir, an dem Familienbuch zu arbeiten. Es
ist ein altes Stück aus Pergament und Leder. Eine natur-
heilkundige Vorfahrin mütterlicherseits hat es vor vielen
Jahren angelegt. Seite für Seite sind darin Pflanzen in Tu-
schezeichnungen dargestellt, dazu die Beschreibung ihres
230
medizinischen Nutzens. Mein Vater hat einen Teil über
essbare Pflanzen hinzugefügt, mein Ratgeber, mit dem ich
uns nach seinem Tod das Überleben gesichert habe. Ich
wollte schon lange mein eigenes Wissen in dem Buch fest-
halten. Alles, was ich aus Erfahrung oder von Gale gelernt
habe, und die Informationen, die ich beim Training für
die Spiele aufgeschnappt habe. Ich habe es nicht getan,
weil ich keine Künstlerin bin und die Bilder ganz genau
gezeichnet sein müssen. Und an dieser Stelle kommt Peeta
ins Spiel. Manche der Pflanzen kennt er schon, von ande-
ren haben wir getrocknete Vorlagen, und wieder andere
muss ich ihm beschreiben. Er fertigt Skizzen auf Schmier-
papier an, bis ich zufrieden bin, dann darf er sie in das
Buch übertragen. Anschließend schreibe ich sorgfältig al-
les auf, was ich über die jeweilige Pflanze weiß.
Es ist eine stille Arbeit, die meine ganze Aufmerksam-
keit in Anspruch nimmt und mich von den vielen Proble-
men ablenkt. Ich schaue gern seinen Händen zu, während
er arbeitet, wie er eine weiße Seite mit ein paar Tusche-
strichen zum Blühen bringt, wie er dem Buch, das bisher
nur schwarz und gelblich war, Farbe verleiht. Wenn er sich
konzentriert, nimmt sein Gesicht einen ganz bestimmten
Ausdruck an. Sein sonst so gelassener Blick wird inten-
siv und fern, als wäre eine ganze Welt in ihm verborgen.
231
Diesen Ausdruck habe ich schon öfter aufblitzen sehen: in
der Arena oder wenn er zu einer Menschenmenge spricht
oder als er in Distrikt 11 die Gewehre der Friedenswäch-
ter von mir wegschob. Ich weiß nicht recht, was ich da-
von halten soll. Und ich kann kaum den Blick von seinen
Wimpern wenden, die normalerweise nicht so auffallen,
weil sie ganz hell sind. Doch von Nahem, wenn das Son-
nenlicht ins Zimmer fällt, sind sie hellgolden und so lang,
dass ich mich frage, wieso sie sich nicht verheddern, wenn
er blinzelt.
Eines Nachmittags, als Peeta gerade eine Blüte schraf-
fiert, schaut er so plötzlich auf, dass ich zusammenfahre,
als hätte er mich dabei ertappt, wie ich ihn heimlich be-
obachte, was ich auf seltsame Weise vielleicht auch getan
habe. Doch er sagt nur: »Ich glaube, das ist das erste Mal,
dass wir etwas Normales zusammen machen.«
»Ja«, sage ich. Unsere ganze Beziehung ist durch die
Spiele verdorben worden. »Normal« kam darin nicht vor.
»Auch mal schön.«
Jeden Nachmittag trägt er mich nach unten, damit ich
ein bisschen Abwechslung habe, und ich gehe allen damit
auf die Nerven, dass ich den Fernseher einschalte. Nor-
malerweise sehen wir nur fern, wenn es vorgeschrieben
ist, weil die Mischung aus Propaganda und Darstellungen
232
der Macht des Kapitols – zum Beispiel Ausschnitte von
vierundsiebzig Jahren Hungerspielen – so abscheulich ist.
Aber jetzt halte ich nach etwas Besonderem Ausschau.
Nach dem Spotttölpel, auf den Bonnie und Twill all ihre
Hoffnungen gründen. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich
idiotisch ist, aber dann möchte ich es auch widerlegen
können. Und die Vorstellung von einem blühenden Dist-
rikt 13 für immer aus meinen Gedanken verbannen.
Den ersten Hinweis entdecke ich in einem Bericht über
die Dunklen Tage. Man sieht die schwelenden Überres-
te des Justizgebäudes in Distrikt 13, und ich erhasche so
eben noch die schwarz-weiße Unterseite vom Flügel eines
Spotttölpels, der oben rechts durch das Bild fliegt. Das ist
aber noch kein Beweis. Es ist nur eine alte Aufnahme, die
zu einer alten Geschichte gehört.
Ein paar Tage später jedoch fällt mir etwas anderes auf.
Der Nachrichtensprecher liest eine Meldung über Grafit-
knappheit, welche sich auf die Produktion in Distrikt 3
auswirke. Es folgt ein Bericht, angeblich der Originalfilm
einer Reporterin, die, in einen Schutzanzug gehüllt, vor
den Ruinen des Justizgebäudes in Distrikt 13 steht. Durch
ihre Maske hindurch berichtet sie, eine Untersuchung
habe heute leider ergeben, dass die Minen in Distrikt 13
immer noch zu giftig seien, um sich ihnen zu nähern.
233
Ende des Beitrags. Doch kurz vor dem Schnitt zurück zu
dem Nachrichtensprecher sehe ich denselben Flügel des-
selben Spotttölpels aufblitzen, unverkennbar.
Die Reporterin wurde einfach in das alte Bildmateri-
al hineinmontiert. Sie ist überhaupt nicht in Distrikt 13.
Und das wirft die Frage auf: Was ist dort?
234
12 Von da an fällt es mir schwerer, ru-
hig im Bett liegen zu bleiben. Ich
will etwas tun, will mehr über Distrikt 13 herausfinden
oder dabei helfen, das Kapitol zu stürzen. Stattdessen sit-
ze ich da, stopfe Käsebrötchen in mich hinein und schaue
Peeta beim Zeichnen zu. Hin und wieder kommt Hay-
mitch vorbei und bringt Neuigkeiten aus der Stadt, immer
schlechte. Noch mehr Menschen, die bestraft werden oder
vor Hunger umfallen.
Der Winter ist allmählich auf dem Rückzug, als mein
Fuß wieder einsatzfähig ist. Meine Mutter verordnet mir
Übungen und ich darf schon ein bisschen allein laufen.
Eines Nachts nehme ich mir beim Schlafengehen fest vor,
am nächsten Morgen in die Stadt zu gehen, doch als ich
aufwache, grinsen mich Venia, Octavia und Flavius an.
»Überraschung!«, kreischen sie. »Wir sind früher
gekommen!«
Nach dem Peitschenschlag hatte Haymitch ihren Be-
such bei mir um einige Monate verschoben, damit die
Wunde verheilen konnte. Ich hatte frühestens in drei
Wochen mit ihnen gerechnet. Aber ich tue so, als freute
235
ich mich darüber, dass endlich das Fotoshooting für die
Hochzeit stattfindet. Meine Mutter hat alle Kleider aufge-
hängt, sie sind also einsatzbereit, aber ehrlich gesagt, habe
ich bisher noch kein einziges anprobiert.
Nach dem üblichen Gezeter über mein desolates Äu-
ßeres machen die drei sich sofort an die Arbeit. Ihr Au-
genmerk gilt vor allem meinem Gesicht, obwohl ich finde,
dass meine Mutter es ganz gut hinbekommen hat. Nur
einen blassrosa Streifen habe ich noch über dem Wangen-
knochen. Nicht alle wissen von dem Peitschenschlag, also
erzähle ich ihnen, ich sei auf dem Eis ausgerutscht und
hätte mir die Wange aufgeratscht. Da wird mir bewusst,
dass ich dieselbe Ausrede für die Fußverletzung benutzt
habe, wegen der mir die hohen Absätze Probleme bereiten
werden. Aber Flavius, Octavia und Venia sind von Natur
aus gutgläubig, ich bin also auf der sicheren Seite.
Da ich nicht mehrere Wochen, sondern nur einige
Stunden lang ohne Körperbehaarung sein muss, benutzen
sie kein Wachs, sondern den Rasierer. Trotzdem muss ich
in eine Wanne mit irgendeinem Zeug steigen, aber we-
nigstens stinkt es nicht, und ehe ich michs versehe, sind
schon meine Frisur und mein Make-up dran. Wie immer
haben sich die drei lauter Neuigkeiten zu erzählen, die ich
versuche auszublenden. Aber dann macht Octavia eine
236
Bemerkung, die mich aufhorchen lässt. Sie habe für eine
Party keine Garnelen bekommen können, sagt sie, eigent-
lich nur nebenbei, trotzdem verblüfft es mich.
»Wieso konntest du keine Garnelen bekommen? Gibt
es die zu dieser Jahreszeit nicht?«, frage ich.
»Ach, Katniss, schon seit Wochen sind keine Meeres-
früchte zu haben!«, sagt Octavia. »Weil das Wetter in Dis-
trikt 4 so schlecht ist, weißt du.«
Mir schwirrt der Kopf. Keine Meeresfrüchte. Seit Wo-
chen. Aus Distrikt 4. Die kaum verhohlene Wut der Menge
während der Tour der Sieger. Und auf einmal bin ich mir
ganz sicher, dass es in Distrikt 4 einen Aufstand gegeben hat.
Beiläufig frage ich, welche Härten dieser Winter noch
mit sich gebracht hat. Sie sind es nicht gewohnt, auf etwas
zu verzichten, deshalb ist es für sie schon bemerkenswert,
wenn einmal etwas nicht zu haben ist. Bis ich bereit zum
Ankleiden bin, haben sie mir so viel von den Schwierigkei-
ten vorgejammert, bestimmte Sachen zu bekommen – von
Krebsfleisch über Musikchips bis hin zu Bändern –, dass
ich mir ausrechnen kann, welche Distrikte sich möglicher-
weise im Aufstand befinden. Meeresfrüchte aus Distrikt
4. Elektrogeräte aus Distrikt 3. Und natürlich Stoffe aus
Distrikt 8. Der Gedanke an eine Rebellion von solchem
Ausmaß lässt mich schaudern vor Angst und Erregung.
237
Ich würde gern noch mehr Fragen stellen, aber da
kommt Cinna, umarmt mich und begutachtet mein Ma-
ke-up. Sofort fällt sein Blick auf die Narbe. Ich habe das
Gefühl, dass er mir die Glatteis-Geschichte nicht so ganz
abkauft, aber er sagt nichts dazu. Er pudert mein Gesicht
noch ein wenig nach, und das bisschen, was man von dem
Striemen noch sehen kann, verschwindet.
Unten ist das Wohnzimmer ausgeräumt und für die
Aufnahmen ausgeleuchtet worden. Effie gefällt sich da-
rin, alle herumzukommandieren und darauf zu achten,
dass wir im Zeitplan bleiben. Das ist wohl auch gut so,
denn es gibt sechs Brautkleider und auf jedes Kleid muss
alles andere abgestimmt werden: Kopfbedeckung, Schu-
he, Schmuck, Frisur, Make-up, Kulisse und Beleuchtung.
Cremefarbene Spitze, rosa Rosen und Ringellocken. El-
fenbeinfarbener Satin, Goldtattoos und grüne Blätter. Di-
amantenkleid, Juwelenschleier und Mondschein. Schwe-
re weiße Seide, Ärmel vom Handgelenk bis zum Boden,
Perlen. Sobald eine Aufnahme gelungen ist, bereiten wir
schon die nächste vor. Ich komme mir vor wie ein Teig,
der immer wieder geknetet und neu geformt wird. Mei-
ner Mutter gelingt es, mir ein bisschen zu essen und ein
paar Schluck Tee zu geben, während die anderen sich an
mir zu schaffen machen, doch als alles erledigt ist, bin ich
238
trotzdem ausgehungert und erschöpft. Ich hoffe, jetzt ein
wenig Zeit mit Cinna verbringen zu können, aber Effie
scheucht alle zur Tür hinaus, und ich muss mich mit dem
Versprechen zu telefonieren begnügen.
Es ist Abend geworden, und von all den verrückten
Schuhen tut mir der Fuß weh, also verwerfe ich die Idee,
in die Stadt zu gehen. Stattdessen begebe ich mich nach
oben, entferne die Make-up-Schichten und wasche Festi-
ger und Farbe aus den Haaren, dann gehe ich wieder nach
unten, um die Haare am Feuer trocknen zu lassen. Prim,
die rechtzeitig von der Schule nach Hause gekommen ist,
um die letzten beiden Kleider zu sehen, plaudert darüber
mit meiner Mutter. Sie scheinen beide richtig zufrieden
mit dem Fotoshooting zu sein. Als ich ins Bett falle, wird
mir klar, dass sie glauben, mir könne jetzt nichts mehr
passieren. Sie glauben, das Kapitol sieht mir mein Verhal-
ten bei Gales Auspeitschung nach, denn für jemanden, der
sowieso umgebracht werden soll, würde ja niemand so ei-
nen Aufwand treiben. Genau.
In meinem Albtraum trage ich das seidene Brautkleid,
aber es ist zerrissen und matschverschmiert. Ich renne
durch den Wald und dabei verfangen sich die langen Är-
mel immer wieder in Dornen und Zweigen. Das Rudel der
mutierten Tribute kommt immer näher, bis sie mich mit
239
ihrem heißen Atem und ihren triefenden Lefzen überwäl-
tigen und ich schreiend erwache.
Weil es schon fast Morgen ist, versuche ich erst gar
nicht, wieder einzuschlafen. Außerdem muss ich heute
wirklich hier raus und mit jemandem reden. Gale wird im
Bergwerk sein, unerreichbar. Aber ich muss mit Haymitch
oder Peeta oder irgendjemandem die Last all dessen teilen,
was ich seit dem Tag am See erlebt habe. Gesetzlose auf
der Flucht, Zäune unter Strom, ein unabhängiger Distrikt
13, Lieferschwierigkeiten im Kapitol. Alles.
Ich frühstücke mit meiner Mutter und Prim und gehe
dann hinaus auf der Suche nach jemandem, dem ich mich
anvertrauen kann. Draußen ist es warm, eine Hoffnung
auf Frühling liegt in der Luft. Frühling wäre bestimmt
eine gute Zeit für einen Aufstand. Wenn der Winter
überstanden ist, fühlen die Menschen sich nicht mehr so
schutzlos. Peeta ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich ist
er bereits in der Stadt. Aber Haymitch steht zu meiner
Überraschung um diese Zeit schon in der Küche. Ohne
anzuklopfen, gehe ich hinein. Ich höre Hazelle im ersten
Stock, sie wischt den Boden in dem jetzt blitzsauberen
Haus. Haymitch ist nicht volltrunken, aber allzu nüchtern
wirkt er auch nicht gerade. Die Gerüchte, dass Ripper ihre
Geschäfte wieder aufgenommen hat, scheinen zu stimmen.
240
Gerade denke ich, dass Haymitch sich lieber ins Bett legen
sollte, als er einen Gang in die Stadt vorschlägt.
Haymitch und ich haben gelernt, in Stichworten mit-
einander zu sprechen. In wenigen Minuten bringe ich ihn
auf den neuesten Stand und erfahre, dass es auch in den
Distrikten 7 und 11 Aufstände gibt. Wenn ich mit meinen
Annahmen richtig liege, hat fast die Hälfte der Distrikte
zumindest versucht zu rebellieren.
»Meinst du immer noch, dass es hier nicht klappen
würde?«, frage ich.
»Jetzt noch nicht. Die anderen Distrikte sind viel grö-
ßer. Selbst wenn sich da die Hälfte der Leute in ihren
Häusern verkriecht, haben die Rebellen eine Chance. Hier
in 12 müssen schon alle mitmachen, sonst ist es zwecklos«,
sagt er.
Daran habe ich noch nicht gedacht. Dass wir einfach
nicht genug Leute sind. »Aber vielleicht irgendwann?«, be-
harre ich.
»Vielleicht. Aber wir sind klein, wir sind schwach, und
wir entwickeln keine Atomwaffen«, sagt Haymitch mit
leisem Sarkasmus. Meine Geschichte über Distrikt 13 hat
keinen riesigen Eindruck auf ihn gemacht.
»Was glaubst du, was sie tun werden, Haymitch? Mit
den aufständischen Distrikten?«, frage ich.
241
»Tja, du hast ja gehört, was sie in 8 getan haben. Du
hast gesehen, was sie hier getan haben, und das ganz ohne
Provokation«, sagt Haymitch. »Falls die Sache wirklich
aus dem Ruder läuft, dann hätten sie bestimmt kein Pro-
blem damit, noch einen Distrikt zu vernichten, wie sie es
mit 13 gemacht haben. Als abschreckendes Beispiel, ver-
stehst du?«
»Dann glaubst du also, 13 ist wirklich zerstört worden?
Aber Bonnie und Twill hatten doch recht mit der Aufnah-
me von dem Spotttölpel«, sage ich.
»Schon, aber was beweist das? Eigentlich gar nichts.
Es könnte jede Menge Gründe dafür geben, dass sie al-
tes Filmmaterial verwenden. Wahrscheinlich sieht es be-
eindruckender aus. Und es ist auch viel einfacher, oder?
Nur ein paar Knöpfe im Schneideraum drücken, anstatt
den langen Flug dorthin zu machen und zu drehen«, sagt
er. »Dass Distrikt 13 sich irgendwie wieder aufgerappelt
hat und dass das Kapitol dabei wegschaut, klingt wie
eins von diesen Gerüchten, an die sich Verzweifelte gern
klammern.«
»Ich weiß. War nur so eine Hoffnung«, sage ich.
»Genau. Weil du verzweifelt bist«, sagt Haymitch.
Ich widerspreche nicht, denn natürlich hat er recht.
Prim kommt von der Schule nach Hause und sprudelt
242
nur so über vor Aufregung. Die Lehrer in der Schule ha-
ben gesagt, dass es heute Abend Pflichtfernsehen gibt.
»Bestimmt deine Fotoaufnahmen!«
»Das kann nicht sein, Prim. Die haben sie doch erst
gestern gemacht«, erwidere ich.
»Das hat aber jemand gehört«, sagt sie.
Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hatte noch keine Zeit,
Gale darauf vorzubereiten. Seit der Auspeitschung sehe ich
ihn nur, wenn er zu meiner Mutter kommt, damit sie nach-
schaut, wie seine Wunden verheilen. Häufig muss er sieben
Tage die Woche im Bergwerk arbeiten. Wenn ich ihn einmal
zurück in die Stadt begleitet habe und wir ein paar Minuten
für uns hatten, habe ich herausgehört, dass die beginnenden
Unruhen in Distrikt 12 durch Threads hartes Durchgreifen
unterdrückt worden sind. Gale weiß, dass ich nicht mehr
vorhabe zu fliehen. Aber er wird auch wissen, dass ich, wenn
wir in 12 keinen Aufstand machen, Peetas Frau werden muss.
Wie wird er es aufnehmen, wenn er mich im Fernsehen sieht,
wie ich in prächtigen Brautkleidern posiere?
Als wir uns um halb acht vor dem Fernseher versam-
meln, stelle ich fest, dass Prim recht hat. Da ist tatsächlich
Caesar Flickerman vor einer Menschenmenge am Trai-
ningscenter und erzählt dem dankbaren Publikum von
meiner bevorstehenden Hochzeit. Er präsentiert Cinna,
243
der bei den Spielen wegen seiner Kostüme für mich über
Nacht zum Star wurde, und nach einer Minute freund-
lichem Geplänkel wird unsere Aufmerksamkeit auf eine
riesige Leinwand gelenkt.
Jetzt verstehe ich, wie sie es geschafft haben, mich
gestern zu fotografieren und heute bereits die Sondersen-
dung zu bringen. Ursprünglich hatte Cinna zwei Dutzend
Brautkleider entworfen. Seitdem ist die Auswahl der Ent-
würfe immer kleiner geworden, die Kleider wurden ge-
schneidert und die Accessoires ausgewählt. Anscheinend
konnten die Leute im Kapitol in jedem Stadium über ihre
Favoriten abstimmen. Als abschließender Höhepunkt wer-
den Aufnahmen von mir in den endgültigen sechs Klei-
dern präsentiert, die sich garantiert im Handumdrehen in
die Sendung einfügen ließen. Jede Aufnahme wird von
der Menge bejubelt. Die Zuschauer kreischen und juchzen,
wenn ihre Lieblingskleider gezeigt werden, andere Kleider
buhen sie aus. Da die Leute abgestimmt und vermutlich
auch Wetten abgeschlossen haben, sind sie an meinem
Brautkleid hochinteressiert. Es ist ein absurdes Spektakel,
wenn ich bedenke, dass ich mir noch nicht mal die Mühe
gemacht habe, ein Kleid anzuprobieren, ehe die Kameras
auftauchten. Caesar verkündet, dass man seine Stimme
bis morgen zwölf Uhr mittags abgeben kann.
244
»Sorgen wir dafür, dass Katniss Everdeen mit Stil heira-
tet!«, brüllt er in die Menge. Ich will den Fernseher schon
ausschalten, aber da sagt Caesar, wir sollen dranbleiben für
das nächste große Ereignis des Abends. »Genau, in diesem
Jahr jähren sich die Hungerspiele zum fünfundsiebzigsten
Mal, und das heißt, das dritte Jubel-Jubiläum steht bevor!«
»Was soll das?«, fragt Prim. »Es sind doch noch Monate
bis dahin.«
Wir schauen zu unserer Mutter, deren Blick ernst und
abwesend wirkt, als würde sie sich an etwas erinnern.
»Wahrscheinlich wird die Karte verlesen.«
Die Nationalhymne ertönt, und als Präsident Snow die
Bühne betritt, ist meine Kehle vor Ekel wie zugeschnürt.
Ihm folgt ein Junge im weißen Anzug, der einen schlich-
ten Holzkasten trägt. Die Hymne verklingt und Präsident
Snow beginnt mit seiner Rede. Er erinnert uns an die
Dunklen Tage, aus denen die Hungerspiele hervorgegan-
gen sind. Als die Gesetze für die Spiele aufgestellt wurden,
so sagt der Präsident, schrieben sie vor, dass alle fünfund-
zwanzig Jahre ein Jubel-Jubiläum gefeiert werden solle.
Dann sollte es eine großartigere Version der Spiele geben,
um die Erinnerung an jene aufzufrischen, die in den Auf-
ständen der Distrikte getötet worden waren.
Deutlicher könnten seine Worte nicht sein, denn ich
245
nehme an, dass sich mehrere Distrikte gerade im Aufstand
befinden.
Dann erzählt Präsident Snow uns von den vergange-
nen Jubel-Jubiläen. »Am fünfundzwanzigsten Jahrestag,
als Erinnerung für die Rebellen daran, dass ihre Kinder
sterben mussten, weil sie den Weg der Gewalt beschritten
hatten, wurde in jedem Distrikt eine Wahl abgehalten, in
der darüber entschieden wurde, welche Tribute den jewei-
ligen Distrikt vertreten sollten.«
Ich frage mich, was für ein Gefühl das gewesen sein
muss.
Die jungen Menschen auszusuchen, die gehen müssen.
Von den eigenen Nachbarn ausgeliefert zu werden, das
muss noch schlimmer sein, als wenn man bei der Ernte
ausgelost wird.
»Beim fünfzigsten Jubiläum«, fährt der Präsident fort,
»musste jeder Distrikt, als Erinnerung daran, dass für je-
den Bewohner des Kapitols zwei Rebellen starben, doppelt
so viele Tribute entsenden.«
Ich stelle mir vor, ich hätte es mit siebenundvierzig statt
mit dreiundzwanzig Gegnern zu tun. Schlechtere Chan-
cen, weniger Hoffnung und am Ende noch mehr Tote.
Das war das Jahr, in dem Haymitch gewonnen hat …
»Ich hatte eine Freundin, die in dem Jahr gehen musste«,
246
sagt meine Mutter leise. »Maysilee Donner. Ihre Eltern
waren die Besitzer des Süßwarengeschäfts. Sie haben mir
danach ihren Singvogel geschenkt. Einen Kanarienvogel.«
Prim und ich tauschen einen Blick. Es ist das erste Mal,
dass wir von Maysilee Donner hören. Vielleicht, weil mei-
ne Mutter wusste, dass wir würden erfahren wollen, wie
sie gestorben ist.
»Und jetzt begehen wir in allen Ehren das dritte Jubel-
Jubiläum«, sagt der Präsident. Der kleine, weiß gekleidete
Junge tritt vor, hält dem Präsidenten den Kasten hin und
hebt den Deckel hoch. Wir sehen lauter vergilbte Brief-
umschläge in ordentlichen Reihen. Die, die sich das Prin-
zip des Jubel-Jubiläums ausgedacht haben, waren davon
ausgegangen, dass die Hungerspiele ewig währen würden.
Der Präsident nimmt einen Umschlag aus dem Kasten,
auf dem deutlich eine »75« zu lesen ist. Er fährt mit dem
Finger unter die Lasche und zieht eine kleine Karte he-
raus. Ohne zu zögern, liest er: »Am fünfündsiebzigsten
Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran,
dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht
des Kapitols überwinden können, die männlichen und
weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger
ausgelost.«
Meine Mutter stößt einen leisen Schrei aus, und Prim
247
verbirgt das Gesicht in den Händen, doch ich komme
mir eher so vor wie jemand aus dem Publikum, das ich
im Fernsehen sehe. Leicht verdattert. Was soll das heißen?
Der bestehende Kreis der Sieger?
Dann begreife ich, was es heißt. Jedenfalls für mich.
Distrikt 12 hat nur drei Sieger, aus denen man auswählen
kann. Zwei männlich. Einer weiblich …
Ich muss wieder in die Arena.
248
13 Mein Körper reagiert schneller als
mein Verstand, und ich renne zur
Tür hinaus, über den Rasen in die Dunkelheit hinter
dem Dorf der Sieger. Vom Wasser des durchweichten
Bodens werden meine Strümpfe nass und ich spüre den
schneidenden Wind, doch ich bleibe nicht stehen. Wo-
hin? Wohin soll ich laufen? In den Wald natürlich. Ich
bin schon am Zaun, als das Summen mich daran erinnert,
wie sehr ich in der Falle sitze. Keuchend weiche ich zu-
rück, mache auf dem Absatz kehrt und renne wieder los.
Kurz darauf befinde ich mich auf Händen und Knien
im Keller eines der unbewohnten Häuser im Dorf der Sie-
ger. Durch die Kellerschächte über mir scheinen schwache
Streifen von Mondlicht herein. Mir ist kalt, ich bin nass
und erschöpft, doch mein Fluchtversuch hat die Hysterie,
die in mir aufsteigt, kein bisschen gedämpft. Wenn sie
nicht herauskann, werde ich daran ersticken. Ich knülle
mein T-Shirt vor der Brust zusammen, stopfe es mir in
den Mund und schreie los. Ich weiß nicht, wie lange das
so geht. Doch als ich aufhöre, habe ich fast keine Stimme
mehr.
249
Auf der Seite zusammengekauert liege ich da und star-
re auf die Flecken des Mondlichts auf dem Zementboden.
Zurück in die Arena. Zurück an den Ort der Albträume.
Dort soll ich hin. Ich muss zugeben, dass ich das nicht
habe kommen sehen.
Ich habe vieles andere gesehen. Wie ich öffentlich ge-
demütigt, gefoltert und hingerichtet werde. Wie ich durch
die Wildnis fliehe, während Friedenswächter und Hover-
crafts hinter mir her sind. Wie ich Peeta heirate und unse-
re Kinder in die Arena gezwungen werden. Doch nie habe
ich daran gedacht, dass ich selbst wieder an den Spielen
teilnehmen müsste. Warum nicht? Weil es das noch nie
gegeben hat. Sieger sind bei der Ernte für immer aus dem
Spiel. Das ist die Regel, wenn man gewonnen hat. Bis jetzt.
Ich finde eine Art Plane, wie man sie für Malerarbeiten
benutzt, und nehme sie als Decke. In der Ferne ruft je-
mand meinen Namen. Doch im Moment erlaube ich mir,
noch nicht mal an die zu denken, die ich am meisten liebe.
Ich denke nur an mich. Und an das, was mir bevorsteht.
Die Plane ist steif, aber sie hält warm. Meine Muskeln
entspannen sich, mein Herzschlag wird langsamer. Ich
sehe den Holzkasten in den Händen des kleinen Jungen,
sehe, wie Präsident Snow den vergilbten Umschlag heraus-
zieht. Kann dies wirklich das Jubel-Jubiläum sein, wie es
250
vor fünfundsiebzig Jahren niedergeschrieben wurde? Das
kommt mir unwahrscheinlich vor. Es ist eine allzu pas-
sende Antwort auf die Probleme, denen sich das Kapitol
heute gegenübersieht. Damit können sie mich loswerden
und gleichzeitig alle Distrikte auf einen Streich bezwingen.
Ich habe die Stimme von Präsident Snow im Ohr. »Am
fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die
Rebel en daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen
die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen
und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger
ausgelost.«
Ja, die Sieger sind unsere Stärksten. Sie haben die Are-
na überlebt und sich aus der Schlinge der Armut gewun-
den, die den Übrigen die Luft abschnürt. Sie, oder sollte
ich sagen wir, sind die Verkörperung von Hoffnung, wo es
keine Hoffnung gibt. Und jetzt sollen dreiundzwanzig von
uns getötet werden, zum Zeichen, dass selbst diese Hoff-
nung eine Illusion war.
Ein Glück, dass ich erst im letzten Jahr gewonnen
habe. Sonst würde ich alle anderen Sieger kennen, nicht
nur aus dem Fernsehen, sondern weil sie bei allen Spielen
zu Gast sind. Selbst wenn sie nicht als Mentoren arbeiten,
wie Haymitch es immer muss, kommen die meisten von
ihnen jedes Jahr zu diesem Ereignis ins Kapitol. Bestimmt
251
sind viele von ihnen miteinander befreundet. Während
es bei mir nur einen einzigen Freund geben wird, den ich
womöglich töten muss – Peeta oder Haymitch. Peeta oder
Haymitch!
Ich setze mich kerzengerade auf und werfe die Plane
ab. Was habe ich da gerade gedacht? Eine Situation, in der
ich Peeta oder Haymitch töten würde, ist völlig undenk-
bar. Aber einer von den beiden wird mit mir in der Arena
sein, das ist eine Tatsache. Vielleicht haben sie sogar schon
ausgehandelt, wer von ihnen gehen wird. Wenn doch der
andere ausgelost wird, kann der eine freiwillig seinen Platz
einnehmen. Ich weiß schon, wie es kommen wird. Peeta
wird Haymitch bitten, ihn um jeden Preis mit mir in die
Arena ziehen zu lassen. Um meinetwillen. Damit er mich
beschützen kann.
Ich stolpere durch den Keller und suche nach einem
Ausgang. Wie bin ich hier überhaupt hereingekommen?
Ich taste mich die Treppe hinauf in die Küche und sehe,
dass die Scheibe in der Tür eingeschlagen ist. Deshalb
fühlt meine Hand sich also an, als ob sie blutet. Schnell
laufe ich wieder hinaus in die Nacht, direkt zu Haymitchs
Haus. Er sitzt allein am Küchentisch, eine halb leere Fla-
sche Schnaps in einer Hand, das Messer in der anderen.
Sturzbetrunken.
252
»Ah, da ist sie ja. Fix und fertig. Hast du endlich eins
und eins zusammengezählt, Süße? Hast du kapiert, dass
du da nicht allein reingehst? Und jetzt kommst du, um
mich … was zu fragen?«, sagt er.
Ich gebe keine Antwort. Das Fenster steht weit offen,
und der Wind ist so schneidend, als wäre ich draußen.
»Der Junge hatte es leichter, das gebe ich zu. Er war
schneller hier, als ich die Flasche öffnen konnte. Hat mich
um eine weitere Chance gebeten, in die Arena zu gehen.
Aber was willst du mir schon sagen?« Er ahmt meine Stim-
me nach. »Geh an seiner statt, Haymitch, denn wenn
schon, dann soll lieber Peeta den Rest seines Lebens erle-
ben als du?«
Ich beiße mir auf die Lippe, denn jetzt, da er es aus-
gesprochen hat, muss ich mir eingestehen, dass ich genau
das will. Dass Peeta lebt, selbst wenn es Haymitchs Tod
bedeutet. Nein, das will ich nicht. Er ist natürlich ein
grässlicher Kerl, aber er gehört jetzt zur Familie. Wieso bin
ich hergekommen?, denke ich. Was will ich hier überhaupt?
»Ich bin gekommen, weil ich einen Drink brauche«,
sage ich.
Haymitch prustet los und knallt die Flasche vor mir
auf den Tisch. Ich wische mit dem Ärmel darüber und
trinke ein paar Schlucke, bis mir die Luft wegbleibt. Es
253
dauert eine Weile, bis ich wieder zu Atem komme, und
selbst dann noch läuft mir das Wasser aus Augen und
Nase. Aber in meinem Innern brennt der Alkohol wie
Feuer und das ist ein gutes Gefühl.
»Vielleicht solltest du gehen«, sage ich sachlich und zie-
he mir einen Stuhl heran. »Du verabscheust das Leben
doch sowieso.«
»Wie wahr«, sagt Haymitch. »Und da ich letztes Mal
versucht habe, dir das Leben zu retten … da ist es doch
meine Pflicht, diesmal dem Jungen zu helfen.«
»Noch ein guter Grund«, sage ich, putze mir die Nase
und hebe wieder die Flasche.
»Peeta argumentiert, dass ich, da ich mich für dich
entschieden hatte, jetzt ihm einen Gefallen schulde. Egal,
welchen. Und er will die Chance, wieder in die Arena zu
gehen und dich zu beschützen«, sagt Haymitch.
Ich wusste es. In dieser Hinsicht ist Peeta ziemlich be-
rechenbar. Während ich mich in dem Keller auf dem Bo-
den gewälzt und nur an mich gedacht habe, war er hier
und hat – auch nur an mich gedacht. Das Wort Scham
reicht nicht aus, um das zu beschreiben, was ich emp-
finde. »Und wenn du hundert Leben hättest, du würdest
ihn immer noch nicht verdienen, weißt du das?«, sagt
Haymitch.
254
»Jaja«, sage ich schroff. »Keine Frage, er ist der Beste
von uns dreien. Und, was willst du jetzt machen?«
»Ich weiß nicht.« Haymitch seufzt. »Vielleicht mit dir
in die Arena gehen, wenn ich kann. Es spielt keine Rolle,
ob bei der Ernte mein Name gezogen wird. Er wird sich
einfach freiwillig melden.«
Eine Weile sitzen wir schweigend da. »Es war schlimm
für dich in der Arena, oder? Wo du doch alle kennst«, sage
ich.
»Ach, ich glaub, wir können beruhigt annehmen, dass
es überall unerträglich ist, wo ich bin.« Er macht eine
Kopfbewegung zu der Flasche. »Kann ich die jetzt mal
wiederhaben?«
»Nein«, sage ich und schlinge die Arme darum. Hay-
mitch holt eine weitere Flasche unter dem Tisch hervor
und öffnet sie. Doch mir wird klar, dass ich nicht nur zum
Trinken gekommen bin. Da ist noch etwas, das ich von
Haymitch will. »Also gut, ich weiß jetzt, worum ich dich
bitten will«, sage ich. »Wenn Peeta und ich bei den Spielen
mitmachen, dann versuchen wir diesmal, ihm das Leben
zu retten.«
Irgendetwas flackert in seinen blutunterlaufenen Augen
auf. Schmerz.
»Wie du schon gesagt hast, schlimm wird es so oder so.
255
Und ganz egal, was Peeta will, diesmal ist er dran. Das
sind wir ihm beide schuldig.« Meine Stimme nimmt ei-
nen flehenden Ton an. »Außerdem hasst mich das Kapitol
so sehr, ich bin sowieso schon so gut wie tot. Er hat viel-
leicht noch eine Chance. Bitte, Haymitch. Sag, dass du
mir hilfst.«
Mit gerunzelter Stirn schaut er auf seine Flasche, denkt
über meine Worte nach. »Also gut«, sagt er schließlich.
»Danke«, sage ich. Jetzt müsste ich zu Peeta gehen,
doch ich will nicht. In meinem Kopf dreht sich alles vom
Alkohol, und ich bin so fertig – wer weiß, wozu er mich
überreden könnte? Nein, jetzt muss ich nach Hause und
meiner Mutter und Prim gegenübertreten.
Als ich die Stufen zu unserem Haus hinauftaumele,
geht die Tür auf und Gale nimmt mich in die Arme. »Ich
hatte unrecht. Wir hätten abhauen sollen, als du es gesagt
hast«, flüstert er.
»Nein«, sage ich. Ich kann kaum geradeaus gucken,
und immer wieder schwappt Schnaps aus meiner Flasche
und läuft Gale hinten über die Jacke, aber das scheint ihm
nichts auszumachen.
»Es ist nicht zu spät«, sagt er.
Über seine Schulter hinweg sehe ich meine Mutter und
Prim in der Tür, die sich in den Armen halten. Wir laufen
256
weg. Sie sterben. Und jetzt muss ich auch Peeta beschüt-
zen. Damit ist das Thema vom Tisch. »Doch, es ist zu
spät.« Meine Knie geben nach und er hält mich. Als der
Alkohol mein Denken überwältigt, höre ich die Glasfla-
sche klirrend zu Boden fallen. Es erscheint mir passend,
denn ganz offensichtlich habe ich nichts mehr im Griff.
Als ich wieder aufwache, schaffe ich es gerade noch zur
Toilette, bevor mir der Schnaps wieder hochkommt. Er
brennt genauso wie beim Runterschlucken und schmeckt
doppelt so übel. Nachdem ich mich übergeben habe, zit-
tere und schwitze ich, aber wenigstens ist jetzt der größte
Teil von dem Zeug wieder draußen. Trotzdem ist so viel in
meinem Blut gelandet, dass ich pochende Kopfschmerzen
habe, einen ausgetrockneten Mund und ein heißes Gefühl
im Magen.
Ich drehe die Dusche auf und stelle mich eine Minute
unter den warmen Regen, bis ich merke, dass ich immer
noch in Unterwäsche bin. Meine Mutter hat mir wohl
nur die schmutzige Oberbekleidung ausgezogen und mich
dann ins Bett gesteckt. Ich werfe die nasse Unterwäsche
ins Waschbecken und kippe mir Shampoo auf den Kopf.
Meine Hände brennen und da sehe ich die kleinen, gleich-
mäßigen Schnitte in der einen Hand und an der Seite der
anderen. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich gestern
257
Nacht eine Fensterscheibe eingeschlagen habe. Ich schrub-
be mich von Kopf bis Fuß ab und halte nur inne, um
mich mitten in der Dusche erneut zu übergeben. Es ist
hauptsächlich Galle, die zusammen mit dem süß duften-
den Schaum im Abfluss verschwindet.
Als ich endlich sauber bin, ziehe ich den Bademantel
über und gehe wieder ins Bett, obwohl ich klatschnasse
Haare habe. Ich krieche unter die Decke und denke, dass
es sich so anfühlen muss, wenn man eine Vergiftung hat.
Als ich Schritte auf der Treppe höre, kommt meine Panik
von gestern Nacht zurück. Ich bin nicht dafür gewappnet,
meine Mutter und Prim zu sehen. Ich muss mich zusam-
menreißen, um ruhig und zuversichtlich zu wirken, so wie
beim Abschied am Tag der letzten Ernte. Ich muss stark
sein. Mühsam setze ich mich auf, streiche mir die nassen
Haare von den pochenden Schläfen und reiße mich zu-
sammen. Sie erscheinen mit Tee und Toast und sorgen-
vollen Gesichtern in der Tür. Ich öffne den Mund zu einer
witzigen Bemerkung und breche in Tränen aus.
So viel zum Thema Starksein.
Meine Mutter setzt sich auf den Bettrand und Prim
schmiegt sich an mich, und sie halten mich, trösten mich
leise, bis ich mich einigermaßen ausgeweint habe. Dann
holt Prim ein Handtuch und trocknet mir die Haare ab,
258
kämmt die Knoten heraus, während meine Mutter mir
Tee und Toast aufdrängt. Sie ziehen mir einen warmen
Schlafanzug an und legen mir noch mehr Decken aufs
Bett und ich dämmere wieder ein.
Als ich aufwache, verrät mir das Licht, dass es spät am
Nachmittag ist. Auf meinem Nachttisch steht ein Glas
Wasser und ich stürze es durstig hinunter. Ich fühle mich
immer noch wackelig im Magen und im Kopf, aber viel
besser als vorher. Ich stehe auf, ziehe mich an und flech-
te die Haare zu einem Zopf. Bevor ich nach unten gehe,
bleibe ich auf der Treppe stehen. Ich schäme mich ein
wenig dafür, wie ich auf die Neuigkeit vom Jubel-Jubilä-
um reagiert habe. Meine ziellose Flucht, die Sauferei mit
Haymitch, die Tränen. Unter den Umständen ist es wohl
in Ordnung, dass ich mich einen Tag habe gehen lassen.
Trotzdem bin ich froh, dass keine Kamera in der Nähe war.
Unten umarmen meine Mutter und Prim mich aber-
mals, doch sie wirken nicht übertrieben bewegt. Ich weiß,
dass sie sich beherrschen, um es mir leichter zu machen.
Wenn ich Prim ins Gesicht sehe, kann ich mir kaum vor-
stellen, dass sie dasselbe schwache kleine Mädchen ist, das
ich vor neun Monaten am Tag der Ernte zurückgelassen
habe. Diese Tortur und all das, was danach kam – die
Grausamkeiten im Distrikt, der Aufmarsch der Kranken,
259
die sie jetzt häufig selbst behandelt, wenn meine Mutter
alle Hände voll zu tun hat –, hat sie um Jahre altern las-
sen. Sie ist auch ganz schön gewachsen; wir sind jetzt fast
gleich groß, aber das ist es nicht, was sie so viel älter er-
scheinen lässt.
Meine Mutter schöpft mir Brühe in einen Becher und
ich bitte sie um einen zweiten Becher für Haymitch. Dann
gehe ich über den Rasen zu seinem Haus. Er ist gerade erst
aufgewacht und nimmt den Becher kommentarlos entge-
gen. Beinahe friedlich sitzen wir da, nippen unsere Brühe
und schauen durch sein Wohnzimmerfenster zu, wie die
Sonne untergeht. Im Stockwerk über uns höre ich jeman-
den herumlaufen und nehme an, dass es Hazelle ist, doch
ein paar Minuten später kommt Peeta herunter. Mit einer
endgültigen Geste wirft er einen Pappkarton mit leeren
Schnapsflaschen auf den Tisch.
»So, das hätten wir«, sagt er.
Haymitch braucht seine gesamte Energie, um den Blick
auf die leeren Flaschen zu richten, also übernehme ich das
Reden. »Was hätten wir?«
»Ich hab den ganzen Schnaps weggekippt«, sagt Peeta.
Das scheint Haymitch aus seiner Starre zu reißen, un-
gläubig wühlt er in dem Karton. »Du hast was?«
»Ich hab alles weggekippt«, sagt Peeta.
260
»Er kauft sich doch einfach neuen«, sage ich.
»Das wird er nicht«, sagt Peeta. »Ich hab heute Mor-
gen Ripper ausfindig gemacht und ihr gesagt, ich zeige sie
an, sobald sie einem von euch beiden was verkauft. Sicher-
heitshalber hab ich ihr auch was gezahlt, aber ich glaube
nicht, dass sie scharf darauf ist, wieder von den Friedens-
wächtern geschnappt zu werden.«
Haymitch holt mit seinem Messer aus, doch Peeta
wehrt es so mühelos ab, dass es erbärmlich wirkt. Wut
steigt in mir auf. »Was geht es dich an, was er macht?«
»Das geht mich sogar sehr viel an. Ganz gleich, wie es
ausgeht, zwei von uns müssen in die Arena und der Dritte
wird Mentor sein. Wir können uns in diesem Team keine
Säufer leisten. Dich schon gar nicht, Katniss«, sagt Peeta
zu mir.
»Was?«, stoße ich empört hervor. Es würde überzeugen-
der klingen, wenn ich nicht immer noch so verkatert wäre.
»Gestern Nacht war ich zum ersten Mal in meinem Leben
betrunken.«
»Ja, und schau dir an, in was für einem Zustand du
bist«, sagt Peeta.
Ich weiß nicht, was ich von meiner ersten Begegnung
mit Peeta nach der Verkündung erwartet hatte. Ein paar
Umarmungen und Küsse. Vielleicht ein wenig Trost. Nicht
261
das hier. Ich wende mich an Haymitch. »Keine Angst, ich
besorg dir schon was zu trinken.«
»Dann zeige ich euch beide an und ihr könnt am Pran-
ger ausnüchtern«, sagt Peeta.
»Was soll das?«, fragt Haymitch.
»Zwei von uns werden aus dem Kapitol zurückkom-
men. Ein Mentor und ein Sieger«, sagt Peeta. »Effie schickt
mir Aufnahmen aller lebenden Sieger. Wir werden uns
ihre Spiele anschauen und alles Menschenmögliche darü-
ber lernen, wie sie kämpfen. Wir werden an Gewicht zule-
gen und stark werden. Wir werden uns aufführen wie die
Karrieros. Und einer von uns wird wieder gewinnen, ob es
euch beiden passt oder nicht!« Er saust aus dem Zimmer
und knallt die Haustür hinter sich zu.
Haymitch und ich zucken zusammen.
»Ich kann selbstgerechte Menschen nicht leiden«, sage
ich.
»Wer redet hier von leiden können?«, sagt Haymitch
und saugt den letzten Rest aus den leeren Flaschen.
»Wenn es nach ihm geht, sollen wir beide nach Hause
zurückkehren, du und ich«, sage ich.
»Tja, dann ist er der Gelackmeierte«, sagt Haymitch.
Doch nach ein paar Tagen erklären wir uns einver-
standen, die Karrieros zu spielen, denn das ist die beste
262
Methode, auch Peeta einzustimmen. Jeden Abend schauen
wir uns die alten Zusammenfassungen der vergangenen
Spiele und ihre Sieger an. Mir wird bewusst, dass wir auf
der Tour der Sieger keinen von ihnen kennengelernt ha-
ben, was mir im Nachhinein merkwürdig vorkommt. Als
ich das erwähne, sagt Haymitch, Präsident Snow wollte
auf keinen Fall zeigen, wie Peeta und ich – vor allem ich –
uns mit anderen Siegern in möglicherweise aufständischen
Distrikten verbünden. Sieger haben einen besonderen Sta-
tus, und wenn sie meinen offenen Ungehorsam gegen das
Kapitol unterstützt hätten, wäre das politisch gefährlich
gewesen. Mir wird bewusst, dass einige unserer Gegner
schon betagt sein könnten, was einerseits traurig ist, ande-
rerseits beruhigend. Peeta macht ausgiebig Notizen, Hay-
mitch liefert Informationen über die Persönlichkeit der
Sieger, und langsam lernen wir die Konkurrenz kennen.
Jeden Morgen machen wir Übungen, um unsere Kör-
per zu trainieren. Wir laufen, heben Gewichte und dehnen
unsere Muskeln. Nachmittags üben wir uns in Kampf-
techniken, im Messerwerfen und Ringen; ich bringe ih-
nen sogar bei, auf Bäume zu klettern. Offiziell sollen die
Tribute nicht trainieren, aber niemand versucht uns davon
abzuhalten. Selbst in den gewöhnlichen Jahren zeigt sich,
dass die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 mit dem
263
Speer und mit dem Schwert umgehen können. Dagegen
ist das hier gar nichts.
Nach so vielen Jahren des schlechten Lebenswandels
will Haymitchs Körper sich nicht erholen. Er hat immer
noch erstaunliche Kräfte, aber wenn er nur ein kleines
bisschen läuft, gerät er gleich außer Atem. Und man soll-
te doch meinen, dass jemand, der jede Nacht mit einem
Messer schläft, in der Lage sein sollte, eine Hauswand da-
mit zu treffen, aber seine Hände zittern so schlimm, dass
es Wochen dauert, bis er wenigstens das zustande bringt.
Peeta und mir dagegen bekommt der neue Tagesablauf
sehr gut. So habe ich etwas zu tun. So haben wir alle etwas
zu tun, etwas anderes, als uns geschlagen zu geben. Meine
Mutter stellt unsere Ernährung um, damit wir zunehmen.
Prim behandelt unsere geschundenen Muskeln. Madge
stibitzt für uns die Zeitungen, die das Kapitol ihrem Vater
schickt. Bei den Prognosen, wer der Sieger der Sieger wird,
gehören wir zu den Favoriten. Selbst Gale taucht sonntags
auf, obwohl er weder Peeta noch Haymitch ins Herz ge-
schlossen hat, und zeigt uns alles, was er über das Fallen-
stellen weiß. Für mich ist es merkwürdig, mit Peeta und
Gale gleichzeitig zu reden, aber die beiden scheinen ihre
Konkurrenz um mich beiseitelassen zu können.
Eines Abends, als ich Gale zurück in die Stadt begleite,
264
gibt er sogar zu: »Zu dumm, dass es so schwer ist, ihn zu
hassen.«
»Wem sagst du das«, antworte ich. »Wenn ich ihn in der
Arena einfach hätte hassen können, hätten wir jetzt nicht
so ein Chaos. Dann wäre er tot und ich eine glückliche
kleine Siegerin, ganz allein.«
»Und wo wären wir dann, Katniss?«, fragt Gale.
Ich zögere, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, wo
wäre ich mit meinem angeblichen Cousin, der nicht mein
Cousin wäre, wenn es Peeta nicht gäbe? Hätte er mich
trotzdem geküsst und hätte ich seinen Kuss erwidert,
wenn ich frei gewesen wäre? Hätte ich mich ihm geöffnet,
wenn ich mich durch Geld und Lebensmittel in Sicherheit
gewiegt hätte, wenn ich an die Illusion von Unverwund-
barkeit geglaubt hätte, wie man es als Sieger unter anderen
Umständen tun könnte? Doch auch dann hätte die Ern-
te über uns, über unseren Kindern gelauert. Ganz gleich,
was ich gewollt hätte …
»Auf der Jagd. Wie jeden Sonntag«, sage ich. Ich weiß,
dass er die Frage nicht wörtlich gemeint hat, aber mehr als
das kann ich nicht sagen, wenn ich ehrlich sein will. Gale
weiß, dass ich ihn Peeta vorgezogen habe, als ich nicht
weggelaufen bin. Ich sehe keinen Sinn darin, über das zu
reden, was hätte sein können. Selbst wenn ich Peeta in der
265
Arena getötet hätte, würde ich niemanden heiraten wollen.
Ich habe mich nur verlobt, um Leben zu retten, und das
ist nach hinten losgegangen.
Auf jeden Fall habe ich Angst, dass ein Gefühlsaus-
bruch Gale zu einer drastischen Handlung treiben könnte.
Dass er zum Beispiel einen Aufstand in den Minen anzet-
teln könnte. Denn, wie Haymitch sagt, dafür ist Distrikt
12 noch nicht bereit. Womöglich sogar noch weniger als
vor der Verkündung des Jubel-Jubiläums, denn am Mor-
gen darauf sind weitere hundert Friedenswächter mit dem
Zug angekommen.
Da ich nicht vorhabe, ein zweites Mal lebend aus der
Arena herauszukommen, ist es gut, wenn Gale mich so
bald wie möglich loslässt. Nach der Ernte möchte ich ihm
ein, zwei Sachen sagen, wenn sie uns eine Stunde zum Ab-
schiednehmen gewähren. Er soll wissen, wie wichtig er all
die Jahre für mich war. Wie viel besser mein Leben war,
weil ich ihn gekannt habe. Und ihn geliebt habe, wenn
auch nur auf die eingeschränkte Art, zu der ich fähig bin.
Aber dazu soll ich keine Gelegenheit bekommen.
Am Tag der Ernte ist es heiß und schwül. Schwitzend
und schweigend warten die Bewohner von Distrikt 12 auf
dem Platz, während Maschinengewehre auf sie gerichtet
sind. Ich stehe allein in einer kleinen abgesperrten Ecke,
266
Peeta und Haymitch neben mir, auch sie eingepfercht.
Die Ernte dauert nur eine Minute. Effie mit einer metal-
lic glänzenden Goldperücke lässt den üblichen Schwung
vermissen. Sie muss die Loskugel der Mädchen eine ganze
Weile herumdrehen, ehe sie den einzigen Zettel heraus-
zieht, auf dem, wie alle wissen, mein Name steht. Dann
erwischt sie Haymitchs Namen. Er hat kaum Zeit, mir
einen unglücklichen Blick zuzuwerfen, da hat Peeta sich
schon freiwillig gemeldet.
Wir werden sofort ins Justizgebäude geführt, wo der
Oberste Friedenswächter Thread auf uns wartet. »Neues
Verfahren«, sagt er mit einem Lächeln. Wir werden zur
Hintertür hinausgebracht und dann mit einem Wagen
zum Bahnhof gefahren. Keine Kameras auf dem Bahn-
steig, keine Zuschauer, die uns verabschieden. Haymitch
und Effie tauchen auf, begleitet von Wachen. Friedens-
wächter scheuchen uns alle in den Zug und knallen die
Türen zu. Die Räder setzen sich in Bewegung.
Und mir bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Fens-
ter zu starren, während Distrikt 12 aus meiner Sicht ver-
schwindet und der Abschied auf meinen Lippen hängen
bleibt.
267
14 Ich bleibe noch lange am Fenster ste-
hen, auch als sich schon längst der
Wald zwischen mich und meine Heimat geschoben hat.
Diesmal habe ich nicht die geringste Hoffnung auf Rück-
kehr. Damals, vor meinen ersten Spielen, hatte ich Prim
versprochen, dass ich alles tun würde, um zu gewinnen,
aber nun habe ich mir selbst geschworen, alles zu tun, damit
Peeta am Leben bleibt. Diesmal wird es kein Zurück geben.
Ich hatte mir sogar schon letzte Worte an meine Ange-
hörigen zurechtgelegt. Hatte mir überlegt, wie ich die Tü-
ren am besten verschließen und meine Lieben voller Trau-
er, aber in Sicherheit hätte zurücklassen können. Doch
auch das hat das Kapitol mir gestohlen.
»Wir schreiben ihnen, Katniss«, sagt Peeta hinter mir.
»Das ist bestimmt sowieso besser. Dann haben sie etwas
von uns, woran sie sich festhalten können. Haymitch wird
die Briefe für uns überbringen, falls … sie überbracht wer-
den müssen.«
Ich nicke. Dann gehe ich auf direktem Weg in mein Ab-
teil und setze mich aufs Bett. Ich weiß, dass ich diese Briefe
nie schreiben werde. Wie die Rede, die ich niederzuschreiben
268
versucht habe, um Rue und Thresh in Distrikt 11 zu eh-
ren. In meinem Kopf und auch als ich zu der Menge sprach,
war al es klar, aber aus dem Stift wol ten die Worte einfach
nicht herausfließen. Abgesehen davon mussten diese Worte
von Umarmungen und Küssen begleitet werden, ich müsste
Prim dabei übers Haar fahren, Gale übers Gesicht streichen,
Madge die Hand drücken. Unmöglich können sie zusam-
men mit einer Holzkiste überbracht werden, in der mein er-
kalteter steifer Körper liegt.
Ich bin zu traurig, um zu weinen. Ich will mich nur
noch auf dem Bett zusammenkauern und schlafen, bis
wir morgen früh das Kapitol erreichen. Aber ich habe eine
Mission. Nein, mehr als eine Mission. Es ist mein Letzter
Wille. Peeta retten. So unwahrscheinlich es angesichts der
Wut des Kapitols auch scheinen mag, dass mir das gelingt,
so wichtig ist es, dass ich alles gebe. Und das kann ich nur,
wenn ich meinen Lieben zu Hause nicht länger nachtrau-
ere. Lass sie los, sage ich mir. Sag Lebewohl und vergiss sie.
Ich gebe mein Bestes, denke an jeden Einzelnen, entlasse
sie wie Vögel aus den schützenden Käfigen in mir und ver-
schließe die Türen, damit sie nicht zurückkönnen.
Als Effie anklopft und mich zum Abendessen ruft, füh-
le ich mich leer. Aber diese Leichtigkeit kommt mir nicht
ganz ungelegen.
269
Die Stimmung beim Essen ist gedrückt. So gedrückt, dass
lange Zeit überhaupt niemand etwas sagt und das Schweigen
nur durch das Abräumen des einen Gangs und das Auftra-
gen des nächsten unterbrochen wird. Eine kalte passierte
Gemüsesuppe. Fischfrikadel en in Limonencreme. Diese
Hühnchen in Orangen-Sahne-Soße, dazu Wildreis und
Brunnenkresse. Schokoladenpudding, garniert mit Kirschen.
Ab und zu versuchen Peeta und Effie eine Unterhaltung
in Gang zu bringen, die aber bald erstirbt.
»Ich finde deine neue Frisur toll«, sagt Peeta.
»Danke. Sie sollte extra zu Katniss’ Brosche passen.
Wenn wir noch ein goldenes Armkettchen für dich finden
und für Haymitch vielleicht einen goldenen Armreif oder
so was, dann sehen wir aus wie ein Team, dachte ich«, er-
klärt Effie.
Offenbar weiß sie nicht, dass meine Spotttölpelbrosche
inzwischen den Rebellen als Erkennungszeichen dient.
Zumindest in Distrikt 8. Im Kapitol ist der Spotttölpel
immer noch eine nette Erinnerung an eine besonders auf-
regende Ausgabe der Hungerspiele. Was auch sonst? Echte
Rebellen tragen ihre geheimen Erkennungszeichen doch
nicht auf etwas so Beständigem wie einem Schmuckstück.
Sie prägen sie in ein Stück Brot, das notfalls binnen einer
Sekunde aufgegessen werden kann.
270
»Ich halte das für eine großartige Idee«, sagt Peeta.
»Was meinst du, Haymitch?«
»Von mir aus«, sagt Haymitch. Er verkneift sich das
Trinken, aber ich weiß, dass er es nur zu gern täte. Als
Effie bemerkt, wie viel Kraft es ihn kostet, hat sie auch
ihr eigenes Glas Wein abräumen lassen, aber Haymitch
geht trotzdem auf dem Zahnfleisch. Wäre er selbst der
Tribut, dann wäre er Peeta nichts schuldig und könnte
sich nach Herzenslust betrinken. So jedoch muss er alles
daransetzen, dass Peeta in einer Arena überlebt, in der es
von alten Freunden wimmelt, und wahrscheinlich wird
er scheitern.
»Vielleicht können wir für dich ja auch eine Perücke
bekommen?«, sage ich und bemühe mich, ungezwungen
zu klingen. Haymitch schleudert mir nur einen Blick zu,
der besagt, dass ich ihn in Ruhe lassen soll, und wir essen
schweigend unseren Pudding auf.
»Wollen wir uns jetzt die Zusammenfassung der Ern-
ten anschauen?«, fragt Effie in die Runde, während sie sich
mit einer weißen Leinenserviette die Mundwinkel abtupft.
Peeta geht hinaus, um seine Notizen über die noch le-
benden Sieger zu holen, und wir versammeln uns in dem
Abteil mit dem Fernseher, um zu sehen, mit wem wir es
in der Arena zu tun bekommen. Die Hymne erklingt und
271
die alljährliche Zusammenfassung der Erntezeremonien in
den zwölf Distrikten beginnt.
Die Geschichte der Spiele weist fünfundsiebzig Sieger
aus. Neunundfünfzig von ihnen sind noch am Leben. Ich
erkenne viele der Gesichter wieder, entweder weil ich sie
bei früheren Spielen als Tribute oder Mentoren gesehen
habe, oder von den Siegervideos, die wir uns vor Kurzem
angeschaut haben. Manche Sieger sind so alt oder von
Krankheit, Drogen und Alkohol derart gezeichnet, dass
ich sie nicht einordnen kann. Wie zu erwarten, stellen die
Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 die stärkste
Gruppe. Doch immerhin kann jeder Distrikt einen weibli-
chen und einen männlichen Sieger vorweisen.
Die Ernten sind rasch vorbei. Peeta macht in seinem
Notizblock hinter die Namen der Ausgelosten eifrig Stern-
chen. Haymitch schaut mit ausdruckslosem Gesicht zu,
wie seine Freunde hervortreten und auf die Bühne steigen.
Effie gibt leise, bekümmerte Kommentare von sich wie
»Oh nein, nicht Cecelia« oder »Na, Chaff hat ja noch nie
einen Kampf ausgelassen« und seufzt häufig auf.
Ich für meinen Teil versuche mir die anderen Tribute,
so gut es geht, einzuprägen, aber wie letztes Jahr bleiben
nur ein paar Gesichter hängen. Aus Distrikt 1 kommt das
Geschwisterpaar, klassische Schönheiten, sie gewannen die
272
Spiele in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, als ich noch
klein war. Brutus, ein Freiwilliger aus Distrikt 2, der min-
destens vierzig sein muss und es augenscheinlich gar nicht
erwarten kann, wieder in die Arena zu kommen. Finnick,
der hübsche Junge aus Distrikt 4 mit dem bronzefarbe-
nen Haar, der vor zehn Jahren im Alter von 14 zum Sieger
gekrönt wurde. Ebenfalls in Distrikt 4 wird eine hysteri-
sche junge Frau mit wallendem braunen Haar ausgelost,
jedoch rasch durch eine Freiwillige ersetzt, eine etwa Acht-
zigjährige, die einen Gehstock braucht, um zur Bühne zu
kommen. Dann ist da noch Johanna Mason, die einzige
überlebende Siegerin aus Distrikt 7, die vor einigen Jah-
ren gewann, indem sie so tat, als könnte sie keiner Fliege
etwas zuleide tun. Die Frau aus Distrikt 8, die Effie Ce-
celia nennt, sieht aus wie dreißig und muss sich von drei
Kindern lösen, die sich an sie klammern. Chaff, ein Mann
aus Distrikt 11, von dem ich weiß, dass er zu Haymitchs
engen Freunden gehört, ist auch dabei.
Ich werde aufgerufen, dann Haymitch. Und Peeta mel-
det sich freiwillig. Die Sprecherin bekommt eine weinerli-
che Stimme, weil die Chancen mal wieder schlecht stehen
für uns, das tragische Liebespaar aus Distrikt 12. Dann
reißt sie sich zusammen und verkündet allen, sie gehe jede
Wette ein, dies würden »die besten Spiele aller Zeiten!«.
273
Wortlos verlässt Haymitch das Abteil. Effie macht noch
ein paar zusammenhanglose Kommentare über diesen
und jenen Tribut und sagt dann Gute Nacht. Ich sitze nur
da und sehe Peeta zu, wie er die Seiten der Sieger heraus-
reißt, die nicht ausgelost wurden.
»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«, fragt er.
Weil ich mit den Albträumen nicht fertigwerde. Nicht
ohne dich, denke ich. Und heute Nacht werde ich mit Si-
cherheit entsetzliche Albträume haben. Aber ich kann Pee-
ta schlecht fragen, ob er bei mir schläft. Wir haben uns
kaum berührt seit dem Abend, an dem Gale ausgepeitscht
wurde. »Was hast du vor?«, frage ich.
»Ich will meine Notizen noch mal durchgehen. Mir ein
genaues Bild machen, mit wem wir es zu tun bekommen.
Morgen früh können wir das Ganze besprechen. Geh
schlafen, Katniss«, sagt er.
Also gehe ich schlafen und wache natürlich nach we-
nigen Stunden aus einem Albtraum auf, in dem die alte
Frau aus Distrikt 4 sich in ein großes Nagetier verwan-
delt und an meinem Gesicht knabbert. Ich muss geschri-
en haben, aber niemand kommt. Nicht Peeta, nicht mal
einer von den Dienern des Kapitols. Um die Gänsehaut,
die über meinen Körper kriecht, zu vertreiben, ziehe ich
einen Bademantel über. Ich kann unmöglich in meinem
274
Abteil bleiben, deshalb beschließe ich, jemanden aufzutrei-
ben, der mir einen Tee oder Kakao oder sonst was macht.
Vielleicht ist Haymitch ja noch wach. Er schläft bestimmt
nicht.
Bei einem Diener bestelle ich eine warme Milch, das
Beruhigendste, was mir einfällt. Ich höre Geräusche aus
dem Fernsehabteil, gehe hinein, und da ist Peeta. Neben
ihm auf dem Sofa steht die Kiste voller Videos mit Auf-
zeichnungen früherer Hungerspiele, die Effie zusammen-
gestellt hat. Ich erkenne die Folge, als Brutus Sieger wurde.
Als Peeta mich sieht, steht er auf und holt das Band
heraus. »Konntest du nicht schlafen?«
»Nicht sehr lange«, sage ich. Ich muss wieder an die alte
Frau denken, die sich in ein Nagetier verwandelt hat, und
ziehe den Bademantel fester um mich.
»Möchtest du darüber reden?«, fragt er. Manchmal
hilft das, aber ich schüttele nur den Kopf und fühle mich
schwach, weil ich schon jetzt von Leuten heimgesucht
werde, mit denen ich noch gar nicht gekämpft habe.
Als Peeta die Arme ausstreckt, lasse ich mich sofort hin-
einfal en. Es ist das erste Mal seit der Verkündung des Jubel-
Jubiläums, dass er mir irgendeine Art von Zuwendung ge-
währt. Bisher war er eher ein sehr strenger Trainer gewesen,
der Haymitch und mich ständig angetrieben und gefordert
275
hat, damit wir schnel er rennen, mehr essen, Details über
unseren Feind erfahren. Keine Spur mehr vom einstigen
Geliebten. Er tat nicht einmal mehr so, als wäre er mein
Freund. Schnel schlinge ich die Arme fest um seinen Hals,
bevor er mir befehlen kann, Liegestütze zu machen oder
so. Er zieht mich an sich und vergräbt sein Gesicht in mei-
nem Haar. Von dort, wo seine Lippen meinen Hals berüh-
ren, breitet sich langsam Wärme in mir aus. Es fühlt sich
so gut an, so unfassbar gut, dass ich weiß, ich werde mich
bestimmt nicht als Erste aus der Umarmung lösen.
Warum auch? Ich habe Gale Lebewohl gesagt. Ich wer-
de ihn nie wiedersehen, das ist ganz sicher. Was ich auch
tue, ihn kann es nicht mehr verletzen. Er wird es nicht
sehen, oder er wird denken, ich schauspielere für die Ka-
meras. Immerhin eine Last weniger auf meinen Schultern.
Der Diener kommt herein und wir lösen uns voneinan-
der. Er stellt ein Tablett mit einem dampfenden Keramik-
krug warmer Milch und zwei große Tassen auf den Tisch.
»Ich hab noch eine Tasse mitgebracht«, sagt er.
»Danke«, antworte ich.
»Ich habe Honig in die Milch getan, zum Süßen. Und
etwas Gewürz …« Er sieht uns an, als wollte er noch et-
was sagen, dann schüttelt er nur leise den Kopf und ver-
lässt den Raum.
276
»Was ist denn mit dem los?«, frage ich.
»Wahrscheinlich tun wir ihm leid«, meint Peeta.
»Ganz bestimmt«, sage ich und gieße die Milch ein.
»Das meine ich ernst. Im Kapitol sind bestimmt nicht
alle froh darüber, dass wir noch mal in die Arena müssen«,
sagt Peeta. »Oder die anderen. Sie haben ihre Sieger lieb
gewonnen.«
»Schätze, sie werden drüber wegkommen, wenn erst
mal Blut fließt«, halte ich dagegen. Wenn ich für eins nun
wirklich keine Zeit habe, dann, darüber nachzudenken,
wie sich das Jubel-Jubiläum auf die Stimmung im Kapitol
auswirkt. »Und, schaust du dir alle Bänder noch mal an?«
»Nein. Ich will nur herausfinden, welche Kampftech-
nik die Leute so draufhaben«, sagt Peeta.
»Welches kommt als Nächstes?«, frage ich.
»Nimm irgendeins«, sagt Peeta und hält mir die Kiste
hin.
Auf den Bändern stehen das Jahr der Spiele und der
Name des Siegers. Ich krame ein bisschen und halte plötz-
lich ein Band in der Hand, das wir noch nicht angeschaut
haben. Nummer fünfzig. Das Jahr des zweiten Jubel-
Jubiläums. Und der Name des Siegers lautet: Haymitch
Abernathy.
»Das haben wir noch nicht gesehen«, sage ich.
277
Peeta schüttelt den Kopf. »Nein. Haymitch würde es
auch nicht wollen, das wusste ich. Wir würden ja auch
nicht gern unsere Spiele noch mal durchleben müssen.
Und da wir im gleichen Team sind, dachte ich nicht, dass
es wichtig wäre.«
»Ist der, der die fünfundzwanzigste Ausgabe gewonnen
hat, dabei?«, frage ich.
»Ich glaube nicht. Wer immer das war, er muss inzwi-
schen gestorben sein, denn Effie hat mir nur die Bänder
der Sieger geschickt, mit denen wir es möglicherweise
zu tun bekommen.« Peeta wiegt Haymitchs Band in der
Hand. »Wieso? Meinst du, wir sollten es uns anschauen?«
»Es ist das einzige Jubel-Jubiläum, das wir haben. Viel-
leicht erfahren wir etwas Brauchbares darüber, was die da
so machen«, sage ich. Aber mir ist nicht wohl dabei. Es
kommt mir vor wie ein schwerwiegender Eingriff in Hay-
mitchs Privatsphäre. Ich weiß zwar nicht, wieso, das Gan-
ze war schließlich öffentlich, aber trotzdem. Gleichzeitig
bin ich wahnsinnig neugierig. »Wir müssen Haymitch ja
nicht erzählen, dass wir es uns angeschaut haben.«
»Okay«, stimmt Peeta zu. Er legt das Band ein, und ich