S pürst du, was sie wirklich fühlt?

Seitdem Katniss und Peeta sich ge-

weigert haben, einander in der Arena

zu töten, werden sie vom Kapitol als

Liebespaar durch das ganze Land ge-

schickt. Doch da ist auch noch Gale,

der Jugendfreund von Katniss. Und

mit einem Mal weiß sie nicht mehr,

was sie wirklich fühlt oder fühlen

darf.

Als immer mehr Menschen in ihr und

Peeta ein Symbol des Widerstands se-

hen, geraten sie al e in große Gefahr.

Und Katniss muss sich entscheiden

zwischen Peeta und Gale, zwischen

Freiheit und Sicherheit, zwischen Le-

ben und Tod.

Die grandiose Fortsetzung des Best-

sel ers »Die Tribute von Panem. Töd-

liche Spiele«. Nominiert zum Book

of the Year (Publishers Weekly).

»Überwältigend!« (Stephenie Meyer)

2

3

4

Suzanne Collins, 1962 geboren, US-amerikanische Auto-

rin, gelang bereits 2003 ein internationaler Bestseller mit

»Gregor und die graue Prophezeiung«, dem Auftakt einer

fünfteiligen Abenteuer-Reihe. 2009 erlebte sie mit der Ver-

öffentlichung ihrer Trilogie »Die Tribute von Panem« er-

neut einen grandiosen Erfolg. Die bisher erschienenen Bän-

de »Tödliche Spiele« und »Gefährliche Liebe« errangen die

ersten Plätze der amerikanischen Beststellerlisten, u. a. von

New York Times und Wal street Journal. »Tödliche Spiele«

wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Aus der Begründung der Jugendjury: „Brandaktuelle Fra-

gen entflammen im Kopf des Lesers: Wie abhängig bin ich

von der Mediengesellschaft? … Wie erschreckend ähnlich

ist die fiktive Gesellschaft Panems schon der unseren?“

Suzanne Collins

Die Tribute von

PANEM

Gefährliche Liebe

Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss

Verlag Friedrich Oetinger ∙ Hamburg

Suzanne Collins bei Oetinger

Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele

Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe

Gregor und die graue Prophezeiung

Gregor und der Schlüssel zur Macht

Gregor und der Spiegel der Wahrheit

Gregor und der Fluch des Unterlandes

Gregor und das Schwert des Krieges

Auch als Hörbücher bei Oetinger audio

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2010

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

© Suzanne Collins 2009

Die amerikanische Originalausgabe erschien bei Scholastic Inc.,

557 Broadway, New York, NY 10012 USA,

unter dem Titel »The Hunger Games. Catching Fire«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss

Einband von Hanna Hörl

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany 2010/II

ISBN 978-3-7891-3219-3

www.dietributevonpanem.de

www.oetinger.de

Für meine Eltern,

Jane und Michael Collins,

und meine Schwiegereltern,

Dixie und Charles Pryor

Teil 1

Der Funke

1Ich halte die Thermoskanne in der

Hand, obwohl sich die Wärme des Tees

längst in der eisigen Luft verflüchtigt hat. Meine Mus-

keln sind vor Kälte ganz starr. Wenn jetzt ein Rudel

wilder Hunde auftauchen würde, stünden die Chan-

cen, dass ich auf dem Baum wäre, ehe sie mich angrei-

fen, nicht besonders gut. Ich müsste eigentlich aufste-

hen, herumlaufen und die Steifheit aus den Gliedern

vertreiben. Stattdessen sitze ich da, reglos wie der Stein

unter mir, während das Morgenlicht allmählich durch

den Wald bricht. Gegen die Sonne kann ich nichts aus-

richten. Ich kann nur hilflos zusehen, wie sie mich in

einen Tag hineinzieht, vor dem mir seit Monaten graut.

Gegen Mittag werden sie alle in mein neues Haus im

Dorf der Sieger einfallen. Reporter und Kamerateams aus

dem Kapitol werden nach Disktrikt 12 kommen und auch

Effie Trinket, meine alte Betreuerin, wird da sein. Ich über-

lege, ob Effie wohl immer noch die alberne rosa Perücke

trägt oder ob sie extra für die Tour der Sieger eine andere

künstliche Farbe zur Schau trägt. Und noch mehr Men-

schen werden auf mich warten. Eine Gruppe von Dienern,

13

die mich während der langen Zugfahrt rundum versorgen.

Ein Vorbereitungsteam, das mich für die öffentlichen Auf-

tritte zurechtmacht. Und mein Stylist und Freund Cinna,

der die hinreißenden Kostüme entworfen hat, dank deren

das Publikum bei den Hungerspielen überhaupt erst auf

mich aufmerksam geworden ist.

Ginge es nach mir, würde ich versuchen, die Hunger-

spiele aus meiner Erinnerung zu streichen. Nie mehr davon

sprechen. So tun, als wären sie nur ein schlimmer Traum

gewesen. Doch die Tour der Sieger macht das unmöglich.

Das Kapitol hat sie, strategisch günstig, fast genau zwi-

schen den jährlichen Spielen eingeplant, damit das Grauen

frisch und lebendig bleibt. Nicht nur, dass sie die Bewoh-

ner der Distrikte dazu zwingen, sich jedes Jahr wieder an

den eisernen Griff des Kapitols zu erinnern – wir müssen

ihn auch noch feiern. Und in diesem Jahr bin ich einer der

Stars der Show. Ich werde von einem Distrikt zum ande-

ren reisen müssen, vor der jubelnden Menge stehen, die

mich insgeheim verabscheut, ich werde den Familien ins

Gesicht sehen müssen, deren Kinder ich getötet habe …

Die Sonne steigt beharrlich weiter, also zwinge ich

mich aufzustehen. Meine Gelenke rebellieren, und mein

linkes Bein war so lange eingeschlafen, dass ich einige Mi-

nuten auf und ab gehen muss, bis ich wieder Gefühl darin

14

habe. Ich war drei Stunden im Wald, aber da ich nicht

ernsthaft versucht habe, etwas zu jagen, kann ich keinen

Erfolg vorweisen. Für meine Mutter und meine kleine

Schwester Prim ist das auch nicht mehr nötig. Sie können

es sich jetzt leisten, Fleisch beim Metzger in der Stadt zu

kaufen, auch wenn es keinem von uns besser schmeckt als

frisches Wild. Doch mein bester Freund Gale Hawthorne

und seine Familie sind auf frische Beute angewiesen und

ich kann sie nicht im Stich lassen. Ich mache mich auf den

Weg, eineinhalb Stunden dauert es, unsere Fallen abzulau-

fen. Als wir noch zur Schule gingen, hatten wir nachmit-

tags Zeit, gemeinsam die Fallen abzulaufen, zu jagen und

zu sammeln, und waren immer noch rechtzeitig zum Tau-

schen auf dem Markt. Aber jetzt, da Gale im Kohleberg-

werk arbeitet und ich den ganzen Tag nichts zu tun habe,

habe ich diese Aufgabe übernommen.

In diesem Augenblick hat Gale schon beim Bergwerk

gestempelt, ist mit dem Förderkorb in schwindelerregende

Tiefen gefahren und schlägt die Kohle aus der Erde. Ich

weiß, wie es dort unten zugeht. Jedes Jahr in der Schu-

le mussten wir mit der Klasse die Bergwerke besichtigen,

das war Teil des Unterrichts. Als ich noch klein war, war

es nur unangenehm. Die klaustrophobischen Tunnel,

die schlechte Luft, die erstickende Dunkelheit von allen

15

Seiten. Doch nachdem mein Vater und einige andere

Bergarbeiter bei einer Explosion ums Leben gekommen

waren, konnte ich mich kaum noch überwinden, den För-

derkorb zu betreten. Der jährliche Ausflug wurde für mich

zum Horrortrip. Zweimal wurde mir vorher so übel, dass

meine Mutter mich zu Hause behielt, weil sie dachte, ich

hätte die Grippe.

Ich denke an Gale, der nur im Wald richtig lebendig ist,

im Wald mit der frischen Luft, der Sonne und dem sau-

beren Wasser. Ich weiß nicht, wie er das aushält. Oder …

doch, ich weiß es. Er hält es aus, weil er nur so für seine

Mutter und seine beiden jüngeren Brüder und die Schwes-

ter sorgen kann. Und hier sitze ich mit einem Haufen Geld,

mehr als genug für unsere beiden Familien, und er weigert

sich, auch nur das kleinste bisschen anzunehmen. Selbst das

Fleisch von mir zu nehmen, kostet ihn Überwindung, ob-

wohl er ganz bestimmt für meine Mutter und Prim gesorgt

hätte, wenn ich bei den Spielen getötet worden wäre. Ich

sage ihm, dass er mir damit einen Gefal en tut und dass

es mich verrückt machen würde, den ganzen Tag herum-

zusitzen. Trotzdem bringe ich das Fleisch nie vorbei, wenn

er zu Hause ist. Was kein Problem ist, da er täglich zwölf

Stunden arbeitet.

Ich bekomme Gale jetzt nur noch sonntags zu Gesicht,

16

wenn wir uns im Wald treffen, um gemeinsam zu jagen.

Das ist immer noch der beste Tag der Woche, aber nicht

mehr so wie früher, als wir uns alles erzählen konnten.

Selbst das haben die Spiele kaputt gemacht. Ich hoffe im-

mer noch, dass wir eines Tages wieder so ungezwungen

zusammen sein können, doch im Grunde weiß ich, dass

das nicht geht. Es gibt kein Zurück.

Die Fallen bringen gute Beute – acht Kaninchen, zwei

Eichhörnchen und einen Biber, der in ein Drahtgeflecht

geschwommen ist, das Gale erfunden hat. Im Fallenstel-

len ist er einfach genial. Er befestigt sie an heruntergebo-

genen jungen Bäumen, sodass Raubtiere nicht an die Beu-

te herankommen, er tarnt feine Auslösemechanismen mit

schweren Ästen und webt undurchdringliche Reusen zum

Fangen von Fischen. Während ich durch den Wald gehe

und jede Falle sorgfältig wieder aufstelle, weiß ich, dass

mein Blick für die Balance nie an seinen heranreichen

wird, an seinen Instinkt dafür, wo das Beutetier den Weg

kreuzt. Das ist mehr als Erfahrung. Er ist ein Naturtalent.

So wie ich noch bei fast völliger Dunkelheit auf ein Tier

zielen und es mit einem einzigen Pfeil treffen kann.

Als ich wieder an dem Maschendrahtzaun bin, der Dist-

rikt 12 umgibt, steht die Sonne schon recht hoch am Him-

mel. Wie immer lausche ich kurz, doch kein verräterisches

17

Summen von elektrischem Strom ist zu hören. Eigentlich

hört man es fast nie, obwohl der Zaun rund um die Uhr

unter Strom stehen müsste. Ich zwänge mich durch die

Lücke unter dem Zaun und komme auf der Weide heraus,

nur einen Steinwurf von zu Hause entfernt. Meinem alten

Zuhause. Wir dürfen es behalten, weil es offiziell für mei-

ne Mutter und meine Schwester bestimmt ist. Wenn ich

jetzt tot umfallen würde, müssten sie dorthin zurückkeh-

ren. Doch zurzeit sind sie beide glücklich im neuen Haus

im Dorf der Sieger untergebracht, und ich bin die Einzige,

die das gedrungene Häuschen benutzt, in dem ich aufge-

wachsen bin. Für mich ist es mein eigentliches Zuhause.

Jetzt gehe ich dorthin, um mich umzuziehen. Tausche

die alte Lederjacke meines Vaters gegen einen feinen Woll-

mantel, der mir an den Schultern immer zu eng vorkommt.

Die weichen, ausgetretenen Jagdstiefel gegen ein Paar teu-

rer, maschinell gefertigter Schuhe, die meine Mutter für

jemanden in meiner Stellung angemessener findet. Pfeil

und Bogen habe ich in einem hohlen Baumstamm im

Wald verstaut. Obwohl die Zeit drängt, setze ich mich für

ein paar Minuten in die Küche. Sie wirkt verlassen ohne

Feuer im Herd und ohne Tischtuch. Ich trauere meinem

alten Leben nach. Wir kamen kaum über die Runden,

aber ich wusste, wohin ich gehörte, ich wusste, wo mein

18

Platz in dem festen Gefüge unseres Lebens war. Ich würde

gern dorthin zurückkehren, im Nachhinein kommt es mir

so sicher vor im Vergleich zu jetzt, da ich so reich bin und

so verhasst bei den Machthabern im Kapitol.

Ein Maunzen an der Hintertür lässt mich aufhorchen.

Ich mache auf, und da steht Butterblume, Prims räudiger

alter Kater. Ihm gefäl t das neue Haus so wenig wie mir,

und wenn meine Schwester in der Schule ist, verzieht er sich

immer. Wir konnten uns nie besonders gut leiden, doch die

Abneigung gegen das neue Haus verbindet uns. Ich lasse

ihn herein, gebe ihm ein Stück Biberfett und kraule ihn so-

gar ein bisschen zwischen den Ohren. »Du bist hässlich, das

weißt du, oder?«, sage ich. Butterblume stupst gegen meine

Hand, er wil weiter gestreichelt werden, aber wir müssen

los. »Na komm.« Ich hebe ihn mit einer Hand hoch, greife

mit der anderen meine Jagdtasche und nehme beide mit hi-

naus auf die Straße. Der Kater befreit sich mit einem Satz

und verschwindet unter einem Busch.

Die Schuhe drücken an den Zehen, während ich über

den Ascheweg gehe. Ich nehme die Abkürzung durch klei-

ne Gassen und Hintergärten und bin im Nu bei Gales

Haus. Seine Mutter Hazelle steht am Waschbecken in der

Küche und sieht mich durchs Fenster. Sie trocknet sich die

Hände an der Schürze und kommt an die Tür.

19

Ich kann Hazelle gut leiden. Habe Hochachtung vor

ihr. Bei der Explosion, die meinen Vater das Leben kos-

tete, starb auch ihr Mann, und sie blieb mit drei Jun-

gen zurück und einem Baby im Bauch, das jeden Tag zur

Welt kommen konnte. Keine Woche nach der Geburt

zog sie schon durch die Straßen und suchte Arbeit. Der

Bergbau kam nicht infrage, schließlich musste sie für das

Baby sorgen, doch es gelang ihr, Arbeit als Wäscherin für

einige Kaufleute aus der Stadt zu bekommen. Im Alter

von vierzehn wurde Gale, ihr ältester Sohn, der Haupter-

nährer der Familie. Er hatte sich bereits für Tesserasteine

eintragen lassen, das bescherte ihnen eine bescheidene

Ration an Getreide und Öl im Tausch dafür, dass sein

Name mehrfach in die Lostrommel für die Ziehung

der Tribute wanderte. Hinzu kam, dass er auch damals

schon ein geschickter Fallensteller war. Aber das allein

hätte nicht ausgereicht, um eine fünfköpfige Familie zu

ernähren, und so schrubbte Hazelle sich die Finger auf

dem Waschbrett wund bis auf die Knochen. Im Winter

waren ihre Finger immer so rot und rissig, dass sie beim

geringsten Anlass anfingen zu bluten. Das wäre immer

noch so, hätte meine Mutter nicht eine spezielle Salbe

dagegen entwickelt. Doch Hazelle und Gale sind ent-

schlossen, den anderen Kindern, dem zwölfjährigen Rory,

20

dem zehnjährigen Vick und der sechsjährigen Posy, die

Tesserasteine zu ersparen.

Hazelle lächelt, als sie die Beute sieht. Sie packt den Bi-

ber am Schwanz und wiegt ihn in der Hand. »Das gibt

einen schönen Eintopf.« Anders als Gale hat sie kein Prob-

lem mit unserem Jagdabkommen.

»Hat auch einen schönen Pelz«, sage ich. Es ist tröst-

lich, hier bei Hazelle zu sein. Über die Vorzüge der Beute

zu sprechen wie eh und je. Sie schenkt mir einen Becher

Kräutertee ein und ich lege dankbar meine eiskalten Hän-

de darum. »Weißt du, als ich von der Jagd kam, dachte

ich mir, ich könnte doch Rory ab und zu mal mitnehmen.

Nach der Schule. Könnte ihm beibringen, wie man mit

Pfeil und Bogen umgeht.«

Hazelle nickt. »Das wär gut. Gale würde ja gern, aber

er hat nur die Sonntage, und ich glaub, die hält er sich

lieber für dich frei.«

Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Wangen flam-

mend rot werden. Das ist natürlich albern. Kaum jemand

kennt mich besser als Hazelle. Sie weiß, wie ich mit Gale

verbunden bin. Bestimmt haben viele Leute geglaubt, wir

würden später einmal heiraten, auch wenn ich nie daran

gedacht habe. Doch das war vor den Spielen. Bevor mein

Mittribut Peeta Mellark verkündet hat, er sei unsterblich

21

in mich verliebt. Unsere Liebesgeschichte wurde in der

Arena zu unserer wichtigsten Überlebensstrategie.

Allerdings war es für Peeta nicht bloß eine Strategie.

Was es für mich war, weiß ich nicht so genau. Aber dass es

für Gale eine einzige Qual war, das weiß ich inzwischen.

Meine Brust schnürt sich zusammen, als ich daran denke,

dass Peeta und ich auf der Tour der Sieger wieder als Lie-

bespaar auftreten müssen.

Ich stürze den Tee hinunter, obwohl er zu heiß ist, und

schiebe schnell den Stuhl zurück. »Ich muss jetzt los. Muss

mich für die Kameras herrichten.«

Hazelle umarmt mich. »Genieß das Essen.«

»Ganz bestimmt«, sage ich.

Als Nächstes mache ich auf dem Hob halt, wo ich frü-

her den meisten Handel getrieben habe. Vor langer Zeit

wurde im Hob Kohle gelagert, später dann wurde er zum

Treffpunkt für zwielichtige Geschäfte, bis schließlich ein

richtiger Schwarzmarkt entstand. Er zieht kriminelle Ele-

mente an und deshalb gehöre ich wohl auch dorthin. Wer

in den Wäldern um Distrikt 12 herum jagt, bricht min-

destens ein Dutzend Gesetze und riskiert die Todesstrafe.

Auch wenn sie es nie erwähnen, verdanke ich den

Leuten vom Schwarzmarkt eine Menge. Gale hat mir er-

zählt, dass Greasy Sae, die alte Frau, die Suppe verkauft,

22

während der Spiele eine Sammlung für Peeta und mich ins

Leben gerufen hat. Sie sollte eigentlich auf den Schwarz-

markt beschränkt sein, doch viele Leute hörten davon und

steuerten etwas bei. Ich weiß nicht genau, wie viel es war,

und die Preise für die Sponsorengeschenke in der Arena

waren unglaublich hoch. Doch soweit ich weiß, hat es mir

das Leben gerettet.

Es ist immer noch merkwürdig, den Eingang mit einer

leeren Jagdtasche zu betreten, ohne etwas zum Tauschen,

und stattdessen den schweren Geldbeutel an der Hüfte

zu spüren. Ich versuche, so viele Stände wie möglich zu

besuchen und meine Einkäufe gleichmäßig zu verteilen:

Kaffee, Brötchen, Eier, Garn und Öl. Schließlich kommt

mir noch die Idee, drei Flaschen klaren Schnaps bei einer

einarmigen Frau namens Ripper zu kaufen. Sie war Opfer

eines Bergwerksunfalls und clever genug, sich trotzdem

durchzuschlagen.

Der Schnaps ist nicht für meine Familie bestimmt, son-

dern für Haymitch, der bei den Spielen Peetas und mein

Mentor war. Haymitch ist mürrisch, grob und meistens be-

trunken. Aber er hat ganze Arbeit geleistet – mehr als das,

denn zum ersten Mal in der Geschichte der Spiele durften

zwei Tribute gewinnen. Also ganz gleich, wie Haymitch

ist, ich habe auch ihm viel zu verdanken. Und zwar für

23

den Rest meines Lebens. Ich besorge den Schnaps, weil er

vor ein paar Wochen mal keinen mehr hatte und es auch

keinen zu kaufen gab, woraufhin er Entzugserscheinun-

gen bekam. Er zitterte und schrie irgendwelche schreck-

lichen Erscheinungen an, die nur er sehen konnte. Prim

erschrak zu Tode, und mir machte es, ehrlich gesagt, auch

keinen Spaß, ihn so zu sehen. Seitdem horte ich das Zeug

sozusagen, für den Fall, dass es mal wieder einen Engpass

geben sollte.

Cray, der Oberste Friedenswächter, runzelt die Stirn,

als er mich mit den Flaschen sieht. Er ist ein älterer Mann

mit ein paar silbernen Haarsträhnen, die er schräg über

den knallroten Kopf gekämmt hat. »Das Zeug ist zu stark

für dich, Mädchen.« Er muss es ja wissen. Abgesehen von

Haymitch trinkt Cray mehr als alle, die ich kenne.

»Ach, meine Mutter braucht es für ihre Medizin«, sage

ich leichthin.

»Tja, damit kann man alles abtöten«, sagt er und knallt

eine Münze für eine Flasche auf den Tresen.

Als ich zu Greasy Saes Stand komme, hieve ich mich

auf den Tresen und bestelle etwas Suppe, die nach einer

Mischung aus Flaschenkürbis und Bohnen aussieht. Wäh-

rend ich esse, kommt ein Friedenswächter namens Darius

und bestellt auch eine Portion. Von den Gesetzeshütern ist

24

er mir noch der liebste. Er ist nicht so ein Wichtigtuer und

meistens zu einem Spaß aufgelegt. Er dürfte in den Zwan-

zigern sein, sieht jedoch kaum älter aus als ich. Irgendet-

was an seinem Lächeln und seinen roten Haaren, die in

alle Richtungen abstehen, lässt ihn jungenhaft wirken.

»Müsstest du nicht schon im Zug sitzen?«, fragt er.

»Ich werde um zwölf abgeholt«, sage ich.

»Müsstest du nicht besser aussehen?«, fragt er flüsternd,

aber so, dass es jeder hören kann. Obwohl ich nicht in

der Stimmung bin, muss ich über seine Neckerei lächeln.

»Vielleicht eine Schleife im Haar oder so?« Er zieht kurz an

meinem Zopf und ich schiebe seine Hand weg.

»Keine Sorge. Wenn sie mit mir fertig sind, wirst du

mich nicht wiedererkennen«, sage ich.

»Gut«, sagt er. »Zeig zur Abwechslung mal ein bisschen

Stolz auf deinen Distrikt, Miss Everdeen. Hm?« Er schaut

Greasy Sae im Spaß missbilligend an und schüttelt den

Kopf, dann geht er zu seinen Freunden.

»Die Suppenschale krieg ich aber wieder!«, ruft Greasy

Sae ihm nach, aber sie lacht dabei, deshalb klingt es nicht

besonders streng. »Kommt Gale dich verabschieden?«,

fragt sie mich.

»Nein, er stand nicht auf der Liste«, sage ich. »Aber ich

hab ihn Sonntag gesehen.«

25

»Ach, ich hätte gedacht, dass er auf der Liste steht. Wo

er doch dein Cousin ist«, sagt sie ironisch.

Das ist ein weiterer Teil der Lügengeschichte, die sie

sich im Kapitol ausgedacht haben. Als Peeta und ich bei

den Hungerspielen unter die letzten acht kamen, wurden

Reporter losgeschickt, die persönliche Geschichten über

uns bringen sol ten. Als sie nach meinen Freunden fragten,

haben al e auf Gale verwiesen. Aber das konnten sie nicht

schreiben, denn in der Arena spielte ich ja die Liebesge-

schichte, und da konnte ich nicht Gale als besten Freund

haben. Er sah zu gut aus, zu männlich, und er war kein

bisschen bereit, für die Kameras zu lächeln und den netten

Jungen von nebenan zu spielen. Und wir sehen uns tatsäch-

lich ganz schön ähnlich. Wir haben das typische Aussehen

des Saums. Dunkle glatte Haare, olivfarbene Haut. Also

hat irgendein Schlaukopf ihn zu meinem Cousin ernannt.

Ich wusste nichts davon, bis wir wieder zu Hause waren, auf

dem Bahnsteig, und meine Mutter sagte: »Deine Cousins

können es kaum erwarten, dich wiederzusehen!« Da drehte

ich mich um und sah Gale und Hazel e und die Kinder –

was blieb mir anderes übrig, als mitzuspielen?

Greasy Sae weiß, dass wir nicht verwandt sind, aber

selbst manche Leute, die uns schon jahrelang kennen,

scheinen es vergessen zu haben.

26

»Ich kann es kaum erwarten, es hinter mir zu haben«,

flüstere ich.

»Ich weiß«, sagt Greasy Sae. »Aber du musst da durch,

um es hinter dir zu haben. Also sieh zu, dass du nicht zu

spät kommst.«

Als ich mich auf den Weg zum Dorf der Sieger mache,

fängt es ein wenig an zu schneien. Das Dorf liegt nur ei-

nen knappen Kilometer von dem Platz im Stadtzentrum

entfernt, aber es scheint wie eine völlig andere Welt.

Es ist eine eigene kleine Gemeinde, die um eine schöne

Grünfläche herum errichtet wurde, dazwischen blühende

Sträucher. Zwölf Häuser, jeweils so groß, dass zehn von

der Sorte hineinpassen würden, in der ich aufgewachsen

bin. Neun davon stehen leer, wie immer schon. Die drei,

die bewohnt sind, gehören Haymitch, Peeta und mir.

Die Häuser, in denen meine Familie und Peeta leben,

haben eine warme, lebendige Ausstrahlung. Licht hinter

den Fenstern, Rauch aus dem Schornstein, leuchtende

Maisbüschel, mit denen der Eingang zum bevorstehenden

Erntefest geschmückt ist. Haymitchs Haus dagegen wirkt,

obwohl der Hausmeister sich um alles kümmert, trostlos

und verwahrlost. Vor der Haustür mache ich mich auf den

Dreck gefasst, der mich drinnen erwartet.

Unwillkürlich rümpfe ich die Nase. Haymitch weigert

27

sich, jemanden zum Saubermachen hineinzulassen, und

er selbst putzt nicht gerade gründlich. Im Lauf der Jahre

haben sich die Gerüche von Schnaps und Erbrochenem,

gekochtem Kohl und angebranntem Fleisch, ungewa-

schenen Kleidern und Mäusedreck zu einem Gestank

vermischt, der mir die Tränen in die Augen treibt. Ich

bahne mir einen Weg durch weggeworfene Verpackun-

gen, Glasscherben und Knochen bis zu der Stelle, wo

Haymitch normalerweise zu finden ist. Er sitzt am Kü-

chentisch, die Arme über die Holzplatte ausgebreitet, das

Gesicht in einer Schnapspfütze, und schnarcht, was das

Zeug hält.

Ich rüttele ihn an der Schulter. »Aufstehen!«, sage ich

laut, denn inzwischen weiß ich, dass man ihn auf die sanf-

te Tour nicht wach bekommt. Für einen Moment setzt

sein Schnarchen aus, wie ein kurzes Zögern, dann geht es

wieder los. Ich rüttele ihn fester. »Aufstehen, Haymitch!

Heute beginnt die Tour der Sieger!« Mit Gewalt öffne ich

das Fenster und sauge die frische Luft tief ein. Dann stap-

fe ich durch den Müll auf dem Boden, fördere eine Kaf-

feekanne aus Blech zutage und fülle sie am Waschbecken

mit Wasser. Der Ofen ist noch nicht ganz aus, und ich

schaffe es, den wenigen glühenden Kohlen eine Flamme

zu entlocken. Ich schütte Kaffeepulver in die Kanne, so

28

viel, dass es auf jeden Fall ein gutes, starkes Gebräu ergibt,

und stelle sie zum Kochen auf den Ofen.

Haymitch ist immer noch weggetreten. Da alles ande-

re nichts genützt hat, fülle ich eine Schale mit eiskaltem

Wasser, kippe sie ihm über den Kopf und bringe mich

in Sicherheit. Er stößt einen kehligen, animalischen Laut

aus. Er springt auf, wobei der Stuhl drei Meter nach hin-

ten fliegt, und schwingt ein Messer. Ich hatte vergessen,

dass er immer mit dem Messer in der Hand schläft. Ich

hätte es ihm aus der Hand nehmen sollen, aber ich hatte

zu vieles zu bedenken. Er flucht wie ein Kesselflicker und

schlägt mehrmals um sich, ehe er zu sich kommt. Mit dem

Hemdsärmel wischt er sich über das Gesicht und dreht

sich dann zu mir um. Ich hocke auf dem Fenstersims, für

den Fall, dass ich schnell Reißaus nehmen muss.

»Was soll das?«, fährt er mich an.

»Du hast gesagt, ich soll dich wecken, eine Stunde be-

vor die Kameras kommen«, erkläre ich. »Was?«, sagt er. »Es

war deine Idee«, sage ich.

Jetzt scheint er sich zu erinnern. »Wieso bin ich

klatschnass?«

»Ich hab dich nicht wach gekriegt«, sage ich. »Hey,

wenn du verhätschelt werden willst, musst du Peeta

fragen.«

29

»Was soll er mich fragen?« Beim bloßen Klang seiner

Stimme bekomme ich im Bauch einen Knoten aus lauter

unangenehmen Gefühlen: schlechtes Gewissen, Trauer,

Angst. Und Sehnsucht. Ich kann ruhig zugeben, dass die

auch hineinspielt. Aber gegen die anderen Gefühle hat sie

keine Chance.

Ich schaue Peeta an, während er zum Tisch kommt.

Die Sonnenstrahlen fangen sich im glitzernden Schnee in

seinem blonden Haar. Er sieht stark und gesund aus, so

ganz anders als der kranke, halb verhungerte Junge, den

ich aus der Arena kenne, und sein Hinken fällt kaum

noch auf. Er legt ein frisch gebackenes Brot auf den Tisch

und hält Haymitch die Hand hin.

»Ob du mich wecken kannst, ohne dass ich mir eine

Lungenentzündung hole«, sagt Haymitch und gibt Pee-

ta das Messer. Er zieht sein dreckiges Hemd aus, sodass

ein nicht minder dreckiges Unterhemd zum Vorschein

kommt, und reibt sich mit einem trockenen Zipfel ab.

Peeta lächelt und spült Haymitchs Messer mit klarem

Schnaps aus einer Flasche ab, die auf dem Boden steht.

Er wischt das Messer am Hemd sauber und schneidet

das Brot in Scheiben. Peeta versorgt uns alle mit frischen

Backwaren. Ich jage. Er backt. Haymitch trinkt. Jeder von

uns beschäftigt sich auf seine Weise, um die Gedanken an

30

unsere gemeinsame Zeit als Mitstreiter in den Hungerspie-

len fernzuhalten. Erst als er Haymitch die Brotkante ge-

reicht hat, sieht Peeta mich zum ersten Mal an. »Möchtest

du auch ein Stück?«

»Nein, ich hab auf dem Hob gegessen«, sage ich. »Aber

vielen Dank.« Meine Stimme klingt fremd, so förmlich.

Wie immer, wenn ich mit Peeta spreche, seit die Kameras

unsere glückliche Heimkehr gefilmt haben und wir in un-

ser richtiges Leben zurückgekehrt sind.

»Keine Ursache«, erwidert er steif.

Haymitch wirft sein Hemd mitten in das Durcheinan-

der. »Brrr! Ihr beide müsst euch aber noch ordentlich auf-

wärmen, bevor die Show losgeht.«

Da hat er natürlich recht. Das Publikum erwartet die

beiden Turteltäubchen, die die Hungerspiele gewonnen

haben. Nicht zwei Menschen, die einander kaum in die

Augen sehen können. Aber ich sage nur: »Geh dich mal

waschen, Haymitch.« Dann schwinge ich mich zum Fens-

ter hinaus, springe nach unten und gehe über die Wiese

nach Hause.

Der Schnee bleibt jetzt liegen und meine Füße hin-

terlassen eine Spur. Vor der Haustür befreie ich meine

Schuhe von dem nassen Zeug. Meine Mutter hat Tag und

Nacht geschuftet, damit alles schön ist für die Kameras,

31

da will ich ihren glänzenden Fußboden nicht gleich wie-

der dreckig machen. Ich bin kaum im Haus, da kommt sie

schon auf mich zu und fasst mich am Arm, als wollte sie

mich aufhalten.

»Keine Sorge, ich ziehe sie hier aus«, sage ich und lasse

die Schuhe auf der Fußmatte stehen.

Meine Mutter lacht ein eigenartiges, heiseres Lachen

und nimmt mir die prall gefüllte Jagdtasche von der

Schulter. »Es ist ja nur Schnee. Hast du einen schönen

Spaziergang gemacht?«

»Spaziergang?« Sie weiß, dass ich die halbe Nacht im

Wald verbracht habe. Da sehe ich den Mann, der hinter

ihr in der Küchentür steht. Ein einziger Blick auf seinen

maßgeschneiderten Anzug und sein chirurgisch perfektio-

niertes Gesicht verrät mir, dass er aus dem Kapitol kommt.

Irgendetwas stimmt nicht. »Das war eher ein Schlittern.

Es wird jetzt richtig glatt draußen.«

»Du hast Besuch«, sagt meine Mutter. Ihr Gesicht ist

zu blass, und in ihrer Stimme höre ich die Angst, die sie

zu verbergen sucht.

»Ich dachte, wir erwarten sie erst gegen Mittag.« Ich

tue so, als ob ich nichts bemerke. »Ist Cinna schon da, um

mir beim Umziehen zu helfen?«

»Nein, Katniss, es ist …«, setzt meine Mutter an.

32

»Bitte hier entlang, Miss Everdeen«, sagt der Mann. Er

zeigt in Richtung Flur. Es ist merkwürdig, durch das ei-

gene Haus geleitet zu werden, aber ich hüte mich, etwas

dazu zu sagen.

Im Gehen lächele ich meine Mutter über die Schulter

hinweg zuversichtlich an. »Bestimmt noch ein paar An-

weisungen für die Tour der Sieger.« Sie haben mir schon

alle möglichen Informationen über die Reiseroute und die

Etikette in den unterschiedlichen Distrikten zukommen

lassen. Doch als ich auf die Tür zum Arbeitszimmer zu-

gehe, eine Tür, die ich bis zu diesem Moment noch nie

geschlossen gesehen habe, fangen meine Gedanken an zu

rasen. Wer ist da drin? Was wol en sie von mir? Warum ist

meine Mutter so blass?

»Gehen Sie nur hinein«, sagt der Mann vom Kapitol,

der mir durch den Flur gefolgt ist.

Ich drehe den Messingknauf herum und trete ein. Mei-

ne Nase nimmt Rosen wahr und gleichzeitig Blut. Ein

kleiner weißhaariger Mann, der mir irgendwie bekannt

vorkommt, steht mit dem Rücken zu mir und liest in ei-

nem Buch. Er hebt einen Finger, als wollte er sagen: Einen

Moment noch. Dann dreht er sich um und mein Herz

setzt einen Schlag aus.

Ich schaue in die Schlangenaugen von Präsident Snow.

33

2 Für mich gehört Präsident Snow vor Mar-

morsäulen und riesige Flaggen. Es ist verstö-

rend, ihn hier im Zimmer inmitten al täglicher Dinge zu sehen.

Als würde man den Deckel von einem Topf nehmen und da-

rin statt Suppe eine Viper mit aufgerissenem Maul vorfinden.

Was kann er hier wol en? Meine Gedanken rasen zurück

zu den Eröffnungstagen vergangener Siegertouren. Ich erin-

nere mich daran, die siegreichen Tribute zusammen mit ih-

ren Mentoren und Stylisten gesehen zu haben. Auch einige

hohe Repräsentanten der Regierung tauchten gelegentlich

auf. Doch Präsident Snow habe ich noch nie gesehen. Er ist

bei Feierlichkeiten im Kapitol anwesend. Und das war’s.

Wenn er die ganze Reise von seiner Stadt hierher ge-

macht hat, kann das nur eins bedeuten. Ich stecke in

ernsten Schwierigkeiten. Und mit mir auch meine Fami-

lie. Es schaudert mich bei dem Gedanken, wie nah meine

Mutter und meine Schwester diesem Mann sind, der mich

verabscheut. Der mich immer verabscheuen wird. Denn

ich habe ihn bei seinen sadistischen Hungerspielen aus-

getrickst, habe das Kapitol lächerlich gemacht und damit

seine Macht untergraben.

34

Dabei habe ich nichts getan, als Peeta und mir selbst

das Leben zu retten. Dass das gleichzeitig ein rebellischer

Akt war, war reiner Zufall. Doch wenn das Kapitol ver-

fügt, dass nur ein Tribut gewinnen kann, und jemand so

dreist ist, diese Regel infrage zu stellen, ist das wohl an

sich schon eine Rebellion. Ich konnte mich nur verteidi-

gen, indem ich so tat, als hätte meine leidenschaftliche

Liebe zu Peeta mir den Verstand geraubt. Deshalb durf-

ten wir beide überleben. Und zu Siegern gekürt werden.

Durften nach Hause zurückkehren und feiern und in die

Kameras winken und wurden in Ruhe gelassen. Bis jetzt.

Vielleicht ist es das neue Haus oder der Schreck, ihn

zu sehen, oder dass wir beide wissen, er könnte mich von

jetzt auf gleich töten lassen; jedenfalls komme ich mir so

vor, als wäre ich der Eindringling. Als wäre das hier sein

Zuhause und ich der ungebetene Gast. Deshalb begrüße

ich ihn auch nicht und biete ihm keinen Platz an. Ich sage

kein Wort. Im Grunde behandele ich ihn so, als wäre er

wirklich eine Schlange, eine Giftschlange. Reglos stehe ich

da, den Blick auf ihn geheftet, und schmiede Fluchtpläne.

»Ich glaube, wir können die ganze Situation sehr ver-

einfachen, wenn wir uns darauf einigen, einander nicht zu

belügen«, sagt er. »Was denkst du?«

Ich denke, dass meine Zunge festgefroren ist und dass

35

ich unmöglich sprechen kann, aber ich überrasche mich

selbst und antworte mit fester Stimme: »Ja, ich glaube, da-

mit würden wir Zeit sparen.«

Präsident Snow lächelt und zum ersten Mal fallen mir

seine Lippen auf. Ich hatte Schlangenlippen erwartet, also

gar keine. Aber seine Lippen sind außergewöhnlich voll,

die Haut spannt. Ich frage mich, ob er sich den Mund

hat operieren lassen, damit er attraktiver aussieht. Wenn ja,

war es Zeitverschwendung, denn er ist nicht die Spur at-

traktiv. »Meine Berater hatten Sorge, du könntest Schwie-

rigkeiten machen, aber du hast nicht vor, Schwierigkeiten

zu machen, oder?«, fragt er.

»Nein«, sage ich.

»Das habe ich ihnen auch gesagt. Ich habe gesagt, ein

Mädchen, das so viel auf sich nimmt, um sein Leben zu

retten, wird kein Interesse daran haben, es leichtfertig

wegzuwerfen. Und sie wird auch an ihre Familie denken.

An die Mutter, die Schwester und all die … Cousins.« An

der Art, wie er das Wort »Cousins« dehnt, merke ich, er

weiß, dass Gale und ich nicht richtig verwandt sind.

Jetzt liegen die Tatsachen also auf dem Tisch. Vielleicht

ist es besser so. Mit unbestimmten Drohungen komme ich

nicht gut zurecht. Ich will lieber wissen, woran ich bin.

»Setzen wir uns doch.« Präsident Snow setzt sich an den

36

großen Schreibtisch aus glänzendem Holz, an dem Prim

ihre Hausaufgaben macht und meine Mutter die Haus-

haltsplanung. Ebenso wie er nicht einfach in unser Haus

kommen dürfte, hat er auch kein Recht, diesen Platz ein-

zunehmen. Und doch hat er jedes Recht. Ich setze mich

vor den Tisch auf einen der geschnitzten Stühle mit hoher

Lehne. Er ist für jemand Größeren als mich gemacht, ich

berühre den Boden nur mit den Zehen.

»Ich habe ein Problem, Katniss«, sagt Präsident Snow.

»Ein Problem, das in dem Moment auftauchte, als du in

der Arena die giftigen Beeren hervorgeholt hast.«

Er meint den Moment, in dem ich mir dachte, dass die

Spielmacher, vor die Wahl gestellt, Peeta und mir beim

Selbstmord zuzusehen – womit es keinen Sieger gegeben

hätte – oder uns beide am Leben zu lassen, sich für die

zweite Möglichkeit entscheiden würden.

»Wenn Seneca Crane, der Oberste Spielmacher, ein we-

nig Grips gehabt hätte, hätte er dich auf der Stelle in die

Luft gejagt. Doch er hatte leider eine sentimentale Ader.

Deshalb bist du hier. Kannst du dir denken, wo er ist?«,

fragt er.

Ich nicke, denn so, wie er es sagt, ist klar, dass Seneca

Crane hingerichtet wurde. Jetzt, da nur der Schreibtisch

uns trennt, ist der Geruch von Rosen und Blut noch

37

stärker. Präsident Snow trägt eine Rose am Revers, die

immerhin auf die Quelle des Blumendufts hinweist, aller-

dings muss sie genmanipuliert sein, denn keine echte Rose

riecht so. Aber was das Blut angeht … keine Ahnung.

»Danach konnten wir nichts tun, als dich dein kleines

Theater zu Ende spielen zu lassen. Und du hast dich wirk-

lich recht gut gemacht als liebestolles Schulmädchen. Die

Leute im Kapitol waren ziemlich überzeugt. Leider sind in

den Distrikten nicht alle auf dein Schauspiel hereingefal-

len«, sagt er.

Für einen kurzen Moment muss sich die Verwirrung in

meinem Gesicht gespiegelt haben, denn er geht darauf ein.

»Das kannst du natürlich nicht wissen. Du hast keinen

Zugang zu Informationen über die Stimmung in ande-

ren Distrikten. Doch in einigen wurde dein kleiner Bee-

rentrick als Herausforderung gedeutet, nicht als Akt der

Liebe. Und wenn ausgerechnet ein Mädchen aus Distrikt

12 das Kapitol herausfordern kann und so einfach davon-

kommt, was sollte andere dann davon abhalten, dasselbe

zu tun?«, sagt er. »Was sollte zum Beispiel einen Aufstand

verhindern?«

Es dauert einen Augenblick, bis ich den letzten Satz

begreife.

»Es hat Aufstände gegeben?«, frage ich. Die Vorstellung

38

erschreckt mich, gleichzeitig spüre ich so etwas wie freudi-

ge Erregung.

»Noch nicht. Aber wenn es so weitergeht, wird es dazu

kommen. Und Aufstände führen, wie man weiß, zur Re-

volution.« Präsident Snow reibt eine Stelle über der linken

Augenbraue, genau dort, wo ich auch immer Kopfschmer-

zen bekomme. »Kannst du ermessen, was das bedeuten

würde? Wie viele Menschen sterben würden? Das Elend

der Überlebenden? Was für Probleme man mit dem Kapi-

tol auch haben mag – wenn es in seiner Strenge nur kurz

nachlassen würde, dann würde das gesamte System zu-

sammenbrechen, das kannst du mir glauben.«

Ich bin verblüfft, wie offen und aufrichtig das klingt.

Als hätte er vor allem das Wohlergehen der Bürger von

Panem im Auge, während ihm doch nichts ferner liegt.

Ich weiß nicht, woher ich den Mut nehme, die folgenden

Worte zu sagen, aber ich tue es. »Das System muss sehr

wacklig sein, wenn eine Handvoll Beeren es zum Einsturz

bringen kann.«

Lange Zeit ist es still und er sieht mich nur an. Dann

sagt er: »Es ist wacklig, aber nicht so, wie du denkst.«

Es klopft an der Tür und der Mann vom Kapitol

streckt den Kopf herein. »Die Mutter lässt fragen, ob Sie

Tee möchten.«

39

»Oh ja. Ich hätte gern einen Tee«, sagt der Präsident.

Die Tür geht weiter auf, und da steht meine Mutter, sie

bringt ein Tablett mit einem Teeservice aus Porzellan, das

sie bei ihrer Heirat mit in den Saum genommen hat. »Stel-

len Sie es bitte hierhin.« Er legt sein Buch auf die Ecke des

Tisches und klopft auf die Tischmitte.

Meine Mutter setzt das Tablett ab. Darauf stehen

eine Teekanne und Tassen, Sahne und Zucker und ein

Teller mit Keksen. Sie sind wunderhübsch verziert mit

pastellfarbenen Zuckerblumen. Das kann nur Peetas

Werk sein.

»Was für ein willkommener Anblick! Wissen Sie, es

ist merkwürdig, wie oft vergessen wird, dass auch Präsi-

denten essen müssen«, sagt Präsident Snow liebenswürdig.

Immerhin wirkt meine Mutter nach seinen Worten nicht

mehr ganz so nervös.

»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen? Ich kann

etwas Sättigenderes kochen, wenn Sie hungrig sind«, bietet

sie an.

»Nein, besser als dies hier könnte es gar nicht sein. Vie-

len Dank«, sagt er, eine deutliche Aufforderung, uns wie-

der allein zu lassen. Meine Mutter nickt, wirft mir einen

Blick zu und geht. Präsident Snow schenkt uns beiden Tee

ein, nimmt sich Sahne und Zucker und rührt dann lange

40

in seiner Tasse. Ich spüre, dass er gesagt hat, was er zu sa-

gen hatte, und auf meine Antwort wartet.

»Ich wollte keine Aufstände verursachen«, sage ich.

»Das glaube ich dir. Es spielt keine Rolle. Dein Stylist

hat sich hinsichtlich der Wahl deines Kostüms als Prophet

erwiesen. Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flam-

men stand – von dir ist ein Funke ausgegangen, der sich,

wenn wir uns nicht darum kümmern, zu einem Inferno

auswachsen könnte, das Panem zerstört«, sagt er.

»Warum bringen Sie mich jetzt nicht einfach um?«,

platze ich heraus.

»Öffentlich?«, fragt er. »Das hieße nur Öl ins Feuer

gießen.«

»Dann lassen Sie es wie einen Unfall aussehen«, sage

ich.

»Wer sollte das glauben?«, fragt er. »Du bestimmt nicht,

wenn du Zuschauer wärst.«

»Dann sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich werde es

tun«, sage ich.

»Wenn es nur so einfach wäre.« Er nimmt einen Blu-

menkeks und betrachtet ihn. »Wie hübsch. Hat deine

Mutter die selbst gebacken?«

»Peeta.« Und zum ersten Mal merke ich, dass ich sei-

nem Blick nicht standhalten kann. Ich nehme die Tasse,

41

stelle sie jedoch zurück, als ich merke, wie sie an die Un-

tertasse klirrt. Um es zu überspielen, nehme ich schnell

einen Keks.

»Peeta. Wie ist sie denn, die Liebe deines Lebens?«,

fragt er.

»Gut«, sage ich.

»Wann genau hat er gemerkt, wie gleichgültig er dir

wirklich ist?«, fragt er und tunkt seinen Keks in den Tee.

»Er ist mir nicht gleichgültig«, sage ich.

»Aber vielleicht bist du nicht ganz so hingerissen von

dem jungen Mann, wie du das Land glauben machen

wolltest«, erklärt er.

»Wer sagt das?«, frage ich.

»Ich«, sagt der Präsident. »Und wenn ich der Einzige

wäre, der seine Zweifel hat, wäre ich nicht hier. Wie geht

es dem feschen Cousin?«

»Ich weiß nicht … ich …« Mein Widerwillen gegen

dieses Gespräch, dagegen, dass ich mit Präsident Snow

über meine Gefühle für zwei der Menschen spreche, die

mir am meisten bedeuten, lässt meine Stimme ersterben.

»Sprich nur, Katniss. Ihn kann ich leicht umbringen,

wenn wir keine glückliche Lösung finden. Du tust ihm

keinen Gefallen damit, dass du jeden Sonntag mit ihm in

den Wald verschwindest.«

42

Wenn er das weiß, was weiß er dann noch alles? Und

woher weiß er es? Viele Leute könnten ihm erzählt haben,

dass Gale und ich sonntags zusammen auf die Jagd ge-

hen. Kreuzen wir nicht am Ende jedes Sonntags schwer

bepackt mit Wild auf? Ist das nicht schon seit Jahren so?

Die eigentliche Frage ist, was seiner Meinung nach in den

Wäldern hinter Distrikt 12 passiert. Bestimmt haben sie

uns dort nicht aufgespürt. Oder doch? Kann uns jemand

gefolgt sein? Das erscheint mir unmöglich. Jedenfalls kein

Mensch. Kameras? Bis zu diesem Augenblick ist mir das

nie in den Sinn gekommen. Der Wald war für uns immer

ein sicherer Ort – der Ort, wo uns das Kapitol nicht errei-

chen konnte, wo wir bedenkenlos sagen konnten, was wir

fühlten, so sein konnten, wie wir waren. So war es jeden-

falls vor den Spielen. Wenn sie uns seitdem beobachtet ha-

ben, was haben sie gesehen? Zwei Menschen auf der Jagd,

die ketzerische Bemerkungen über das Kapitol machen,

das schon. Aber nicht zwei Verliebte, wie Präsident Snow

anzudeuten scheint. Was das angeht, sind wir auf der si-

cheren Seite. Es sei denn … es sei denn …

Es ist nur ein Mal passiert. Es kam schnell und überra-

schend, aber es ist doch passiert.

Nachdem Peeta und ich von den Spielen zurückkamen,

vergingen mehrere Wochen, bis ich Gale wieder allein traf.

43

Erst waren da die obligatorischen Feierlichkeiten. Ein Fest-

essen für die Sieger, zu dem nur die ranghöchsten Leute

eingeladen waren. Ein Feiertag für den gesamten Distrikt

mit Gratisessen und Entertainern aus dem Kapitol. Der

Pakettag, der erste von zwölf, an dem jeder im Distrikt ein

Essenspaket bekam. Das war das Schönste für mich. Zu

sehen, wie all die hungrigen Kinder im Saum herumliefen

und Gläser mit Apfelmus schwenkten, Dosen mit Fleisch,

sogar Süßigkeiten. Zu Hause warteten noch Getreidesäcke

und Ölkannen, die waren zu schwer zu tragen. Zu wissen,

dass sie ein Jahr lang jeden Monat so ein Paket bekommen

würden. Das war einer der wenigen Momente, in denen

ich es richtig gut fand, dass ich die Spiele gewonnen hatte.

In dieser Zeit der Feierlichkeiten, als die Reporter jeden

meiner Schritte festhielten, während ich im Mittelpunkt

stand und allen dankte und Peeta für das Publikum küss-

te, da hatte ich keinen Augenblick für mich. Nach ein

paar Wochen hatte sich die Lage endlich beruhigt. Die

Kamerateams und Reporter packten ihre Sachen und

reisten wieder ab. Das Verhältnis zwischen Peeta und mir

wurde so kühl, wie es seither ist. Ich zog mit meiner Fami-

lie in unser Haus im Dorf der Sieger. Der Alltag in Dist-

rikt 12 – Arbeiter in die Bergwerke, Kinder in die Schu-

le – ging wieder seinen gewohnten Gang. Ich wartete, bis

44

ich dachte, dass die Luft jetzt wirklich rein war, und eines

Sonntags stand ich, ohne irgendjemandem ein Wort zu sa-

gen, mehrere Stunden vor Sonnenaufgang auf und zog los

in den Wald.

Es war immer noch warm genug, um ohne Jacke zu

gehen. Ich nahm eine Tasche mit besonderem Essen mit,

kaltes Hühnchen und Käse und Brot vom Bäcker und

Orangen. In unserem alten Haus zog ich mir die Jagd-

stiefel an. Wie üblich stand der Zaun nicht unter Strom,

sodass es ein Leichtes war, in den Wald zu schlüpfen und

Pfeile und Bogen zu schnappen. Ich ging zu Gales und

meinem Ort, dort, wo wir am Morgen der Ernte, bei der

ich für die Spiele ausgelost worden war, unser Frühstück

geteilt hatten.

Ich wartete mindestens zwei Stunden und dachte

schon, dass er mich in den Wochen, die vergangen waren,

aufgegeben hätte. Oder dass ich ihm nichts mehr bedeu-

tete. Dass er mich sogar hasste. Und die Vorstellung, ihn

für immer verloren zu haben, meinen besten Freund, den

Einzigen, dem ich je meine Geheimnisse anvertraut hatte,

tat so weh, dass ich es nicht ertragen konnte. Nicht nach

all dem, was passiert war. Ich spürte, wie meine Augen

sich mit Tränen füllten und meine Kehle eng wurde, wie

immer, wenn ich kurz davor bin, zu weinen.

45

In dem Moment schaute ich auf, und da stand er, drei

Meter entfernt, und sah mich nur an. Ohne darüber nach-

zudenken, sprang ich auf, schlang die Arme um ihn und

stieß einen merkwürdigen Laut aus, in dem sich Lachen,

Atemlosigkeit und Weinen mischten. Er hielt mich so fest,

dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, aber es dauerte

wirklich lange, bis er mich losließ, und auch da nur, weil

ihm kaum etwas anderes übrig blieb, denn ich hatte einen

wahnsinnig lauten Schluckauf bekommen und musste un-

bedingt etwas trinken.

Wir machten an dem Tag dasselbe wie früher auch

immer. Zusammen frühstücken. Jagen und fischen und

sammeln. Über die Leute in der Stadt reden. Aber nicht

über uns, sein neues Leben im Bergwerk, meine Zeit in

der Arena. Nur über andere Dinge. Als wir schließlich an

der Lücke im Zaun ankamen, die dem Hob am nächs-

ten ist, glaubte ich wohl wirklich daran, dass es wieder so

sein könnte wie früher. Dass wir so weitermachen könnten

wie bisher. Ich hatte Gale das ganze Wild zum Handeln

gegeben, weil wir zu Hause jetzt so viel zu essen hatten.

Ich sagte, ich würde nicht mit zum Hob kommen, obwohl

ich sehr gern gegangen wäre, aber meine Mutter und mei-

ne Schwester wüssten nicht einmal, dass ich auf der Jagd

sei, und fragten sich bestimmt schon, wo ich steckte. Und

46

gerade als ich vorschlug, dass ich die tägliche Runde an

den Fallen entlang übernehmen könnte, nahm er mein

Gesicht in die Hände und küsste mich.

Es traf mich völlig unvorbereitet. Man hätte meinen

können, dass ich nach den vielen Stunden, die ich mit

Gale verbracht hatte – da ich ihn erzählen und lachen und

finster blicken gesehen hatte –, über seine Lippen genau

Bescheid gewusst hätte. Aber ich hätte nicht gedacht, dass

sie sich so warm auf meinen anfühlen würden. Oder dass

diese Hände, die so komplizierte Fallen stellen konnten,

ebenso gut mich einfangen könnten. Ich glaube, ich stieß

einen kehligen Laut aus, und ich erinnere mich dunkel an

meine Hände, fest zusammengeballt, die auf seiner Brust

lagen. Dann ließ er mich los und sagte: »Ich musste das

tun. Wenigstens ein Mal.« Und dann war er weg.

Obwohl die Sonne schon unterging und meine Fami-

lie sich bestimmt Sorgen machte, setzte ich mich an einen

Baum neben dem Zaun. Ich überlegte, wie es mir mit dem

Kuss ging, ob er mir gefallen hatte oder ob ich mich da-

rüber ärgerte, aber ich erinnerte mich nur an das Gefühl

von Gales Lippen auf meinen und den Duft von Orangen,

der immer noch an seiner Haut haftete. Es hatte keinen

Sinn, diesen Kuss mit den vielen Küssen zu vergleichen,

die ich mit Peeta getauscht hatte. Ich war mir immer noch

47

nicht darüber im Klaren, ob auch nur einer davon zählte.

Schließlich ging ich nach Hause.

In dieser Woche kümmerte ich mich um die Fallen

und brachte das Fleisch zu Hazelle. Doch Gale sah ich erst

am folgenden Sonntag wieder. Ich hatte eine komplette

Rede im Kopf, dass ich keinen Freund wollte und niemals

heiraten würde, aber ich brauchte sie gar nicht. Gale tat

so, als hätte es den Kuss nie gegeben. Vielleicht wartete er

darauf, dass ich etwas sagte. Oder dass ich ihn auch küss-

te. Stattdessen tat ich ebenfalls so, als hätte es den Kuss

nie gegeben. Aber es hatte ihn gegeben. Gale hatte eine

unsichtbare Schranke zwischen uns zerstört und mit ihr

meine Hoffnung, wir könnten zu unserer alten, unkom-

plizierten Freundschaft zurückkehren. Wenn ich auch so

tat, als ob, ich konnte seine Lippen nie mehr so ansehen

wie früher.

All das geht mir blitzschnell durch den Kopf, während

Präsident Snow mich mit seinem Blick durchbohrt, nach-

dem er gedroht hat, Gale zu töten. Wie dumm von mir,

zu denken, das Kapitol würde mich nicht mehr beachten,

wenn ich erst einmal zu Hause wäre! Ich hatte zwar kei-

ne Ahnung von möglichen Aufständen. Aber ich wusste,

dass sie im Kapitol wütend auf mich waren. Anstatt die

gebührende Vorsicht walten zu lassen, was tat ich da? Aus

48

der Sicht des Präsidenten habe ich Peeta ignoriert und vor

dem ganzen Distrikt demonstriert, dass ich Gale vorzie-

he. Und damit kundgetan, dass ich das Kapitol wirklich

verspottet habe. Mit meinem unbedachten Verhalten habe

ich Gale und seine Familie, meine Familie und auch Peeta

in Gefahr gebracht.

»Bitte tun Sie Gale nichts«, flüstere ich. »Er ist nur ein

Freund. Wir sind schon seit Jahren befreundet. Mehr ist

nicht zwischen uns. Außerdem halten uns jetzt sowieso

alle für Cousin und Cousine.«

»Mich interessiert nur, wie das dein Verhältnis zu Peeta

beeinflusst und damit die Stimmung in den Distrikten«,

sagt er.

»Bei der Tour der Sieger wird es so sein wie immer. Ich

werde genauso in ihn verliebt sein wie vorher«, sage ich.

»Wie jetzt«, verbessert Präsident Snow mich. »Wie jetzt«,

bestätige ich.

»Aber wenn die Aufstände abgewendet werden sollen,

wirst du noch überzeugender sein müssen«, sagt er. »Diese

Tour ist deine letzte Chance, das Blatt zu wenden.«

»Ich weiß. Und es wird mir gelingen. Ich werde alle in

den Distrikten davon überzeugen, dass ich nicht das Kapi-

tol herausfordern wollte, sondern verrückt vor Liebe war«,

sage ich.

49

Präsident Snow erhebt sich und tupft die Wulstlippen

mit einer Serviette ab. »Du musst dir ein höheres Ziel ste-

cken, für den Fall, dass du es nicht erreichst.«

»Wie meinen Sie das? Was für ein höheres Ziel soll ich

mir stecken?«, frage ich.

»Überzeuge mich«, sagt er. Er lässt die Serviette sinken

und nimmt wieder sein Buch. Ich schaue ihn nicht an,

als er zur Tür geht, deshalb zucke ich zusammen, als er

mir ins Ohr flüstert: »Übrigens, ich weiß von dem Kuss.«

Dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.

50

3 Der Geruch von Blut … er lag in seinem

Atem. Was macht er bloß? , denke ich. Trinkt

er es? Ich stel e mir vor, wie er Blut aus einer Teetasse trinkt. Wie

er einen Keks hineintunkt und ihn rot triefend herauszieht.

Draußen vorm Fenster kommt ein Auto in Gang, sanft

und leise wie das Schnurren einer Katze, dann verschwin-

det es in der Ferne. Es stiehlt sich davon, wie es gekom-

men ist, unbemerkt.

Das Zimmer scheint sich in langsamen, schiefen Krei-

sen zu drehen, ich frage mich, ob ich womöglich ohn-

mächtig werde. Ich beuge mich vor und stütze mich mit

einer Hand am Schreibtisch ab. In der anderen halte ich

noch immer Peetas wunderhübschen Keks. Ich glaube, es

war eine orangefarbene Lilie darauf, doch jetzt sind nur

noch Krümel in meiner Faust. Ich habe gar nicht gemerkt,

dass ich ihn zerdrückt habe, aber ich musste mich wohl

an irgendetwas festhalten, während meine Welt aus den

Fugen geriet.

Ein Besuch von Präsident Snow. Distrikte kurz vor dem

Aufstand. Eine direkte Morddrohung gegen Gale, auf

die weitere folgen werden. Alle, die ich liebe, todgeweiht.

51

Und wer weiß, wer noch für meine Taten bezahlen muss?

Wenn ich bei der Tour der Sieger das Blatt nicht wende.

Die Unzufriedenen besänftige und den Präsidenten beru-

hige. Und wie? Indem ich überall im Land jeden Zweifel

daran ausräume, dass ich Peeta Mellark liebe.

Das schaffe ich nicht, denke ich. So gut bin ich nicht.

Peeta ist der Gute, der Liebenswürdige. Er kann die Leute

von allem überzeugen. Ich schweige lieber, halte mich zu-

rück, überlasse das Reden so weit wie möglich ihm. Aber

nicht Peeta soll seine Zuneigung unter Beweis stellen, son-

dern ich.

Ich höre den leichten, schnellen Schritt meiner Mutter

im Flur. Sie darf das nicht erfahren, denke ich. Nichts von

al dem. Ich halte die Hände über das Tablett und wische

mir schnell die Kekskrümel von den Fingern. Zittrig trin-

ke ich einen Schluck Tee.

»Ist alles in Ordnung, Katniss?«, fragt sie.

»Alles gut. Wir haben es im Fernsehen nie gesehen,

aber der Präsident besucht die Sieger immer vor der Tour,

um ihnen Glück zu wünschen«, sage ich fröhlich.

Ich sehe ihr an, wie erleichtert sie ist. »Ach so. Ich dach-

te schon, es gäbe irgendwelche Schwierigkeiten.«

»Nein, gar nicht«, sage ich. »Aber ich kriege Schwie-

rigkeiten, wenn das Vorbereitungsteam sieht, wie meine

52

Augenbrauen schon wieder zugewachsen sind.« Meine

Mutter lacht, und ich denke daran, dass ich damals, als

ich mit elf Jahren die Sorge für die Familie übernahm,

eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen habe. Und

dass ich meine Mutter immer werde beschützen müssen.

»Soll ich dir schon mal dein Bad einlassen?«, fragt sie.

»Ja, gern«, sage ich, und ich sehe, wie froh sie über die

Antwort ist.

Seit ich wieder zu Hause bin, gebe ich mir große Mühe,

das Verhältnis zu meiner Mutter zu verbessern. Anstatt

jedes Hilfsangebot abzulehnen, wie ich es jahrelang aus

Wut getan habe, bitte ich sie jetzt ab und zu um einen

Gefallen. Ich lasse sie das ganze Geld verwalten, das ich

gewonnen habe. Erwidere ihre Umarmungen, anstatt sie

bloß über mich ergehen zu lassen. In der Arena ist mir

klar geworden, dass ich sie nicht länger für etwas bestrafen

darf, woran sie nicht schuld ist, vor allem nicht für die

schrecklichen Depressionen, in die sie nach dem Tod mei-

nes Vaters versunken ist. Manchmal sind die Menschen

einfach machtlos gegen das, was mit ihnen geschieht.

Wie ich zum Beispiel, in diesem Moment.

Außerdem hat sie bei meiner Rückkehr in den Dis-

trikt etwas ganz Wunderbares getan. Nachdem unsere

Freunde und Verwandten Peeta und mich am Bahnhof

53

begrüßt hatten, durften uns die Reporter ein paar Fragen

stellen. Einer fragte meine Mutter, was sie von meinem

neuen Freund halte, und sie antwortete, Peeta sei zwar

ein Traum von einem jungen Mann, aber ich sei noch

nicht alt genug, um überhaupt einen Freund zu haben.

Daraufhin warf sie Peeta einen durchdringenden Blick

zu. Von der Presse gab es viel Gelächter und Bemerkun-

gen wie: »Da hat aber einer ein Problem«, und Peeta ließ

meine Hand los und trat einen Schritt zur Seite. Das

dauerte nicht lange – der Druck, sich anders zu verhalten,

war zu groß –, doch wir hatten jetzt einen Vorwand, ein

wenig zurückhaltender zu sein als im Kapitol. Und viel-

leicht hat das auch dazu beigetragen, dass ich von Peeta,

seit die Kameras verschwunden sind, nicht mehr allzu

viel gesehen habe.

Ich gehe hinauf ins Badezimmer, wo mich eine Wan-

ne mit dampfendem Wasser erwartet. Meine Mutter hat

einen kleinen Beutel getrocknete Blumen hinzugegeben,

die ihren Duft verströmen. Keiner von uns ist den Luxus

gewohnt, einen Wasserhahn aufzudrehen und eine unbe-

grenzte Menge warmes Wasser zur Verfügung zu haben.

In unserem Haus im Saum gab es nur kaltes Wasser, und

wenn man baden wollte, musste man das Wasser über

dem Feuer erwärmen. Ich ziehe mich aus, lasse mich in

54

das seidenweiche Wasser gleiten – meine Mutter hat auch

irgendein Öl hineingetan – und versuche, alles zu ordnen.

Die erste Frage ist, wem ich davon erzählen soll, wenn

überhaupt jemandem. Natürlich nicht meiner Mutter und

Prim, sie wären krank vor Sorge. Gale auch nicht. Selbst

wenn ich mit ihm sprechen könnte. Was sollte er damit

anfangen? Wenn er allein wäre, könnte ich versuchen, ihn

zur Flucht zu überreden. Ganz sicher würde er im Wald

überleben. Aber er ist nicht allein und er würde seine Fa-

milie niemals im Stich lassen. Und mich auch nicht. Wenn

ich wieder zu Hause bin, muss ich ihm irgendwie erklären,

weshalb unsere Sonntage der Vergangenheit angehören

müssen, aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken.

Nur über den nächsten Schritt. Außerdem ist Gale schon

so wütend auf das Kapitol, dass ich manchmal glaube, er

organisiert seinen eigenen Aufstand. Da brauche ich ihn

jetzt wirklich nicht noch zusätzlich anzustacheln. Nein,

von denen, die ich in Distrikt 12 zurücklasse, kann ich es

keinem erzählen.

Es gibt aber noch drei Menschen, denen ich mich an-

vertrauen könnte. Zunächst einmal Cinna, meinem Stylis-

ten. Aber ich fürchte, dass Cinna jetzt schon in Gefahr ist,

und ich möchte ihn nicht noch mehr in Schwierigkeiten

bringen, indem ich ihn auf meine Seite ziehe. Dann Peeta,

55

der bei diesem Theater mein Partner sein wird – aber wie

sollte ich ein solches Gespräch anfangen? Du, Peeta, weißt

du noch, als ich dir erzählt hab, ich hatte nur so getan, als ob

ich in dich verliebt wäre? Tja, also, das musst du unbedingt

vergessen und dich jetzt ganz besonders verliebt aufführen,

sonst bringt der Präsident womöglich Gale um. Ausgeschlos-

sen. Abgesehen davon wird Peeta seine Sache sowieso gut

machen, ob er nun weiß, was auf dem Spiel steht, oder

nicht. Bleibt noch Haymitch. Der unleidliche, streitsüchti-

ge Trunkenbold Haymitch, dem ich vor nicht allzu langer

Zeit eine Schüssel eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt

habe. Als mein Mentor bei den Spielen war es seine Aufga-

be, für mein Überleben zu sorgen. Hoffentlich betrachtet

er das immer noch als seinen Job.

Ich lasse mich ganz ins Wasser gleiten, blende die Ge-

räusche um mich herum aus. Jetzt müsste die Badewanne

sich ausdehnen, dann könnte ich schwimmen, wie an hei-

ßen Sommertagen mit meinem Vater im Wald. Das waren

ganz besondere Tage. Wir verließen dann schon frühmor-

gens das Haus und wanderten tiefer in den Wald hinein als

sonst, bis zu einem kleinen See, den er bei der Jagd einmal

entdeckt hatte. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich schwim-

men gelernt habe, so klein war ich, als er es mir beibrachte.

Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich immer getaucht

56

bin, im Wasser Purzelbäume schlug und herumplanschte.

An den schlammigen Grund des Sees unter meinen Zehen.

Den Duft von Blüten und Laub. Wie ich mich auf dem

Rücken treiben ließ, so wie jetzt, und in den blauen Him-

mel schaute, während das Waldgezwitscher vom Wasser

ausgeblendet wurde. Er erlegte Wasservögel, die am Ufer

nisteten, ich suchte im Gras nach Eiern, und wir beide

gruben im seichten Wasser nach Katniss-Knollen, dem

Pfeilkraut, nach dem er mich benannt hat. Abends, wenn

wir nach Hause kamen, tat meine Mutter so, als würde sie

mich nicht wiedererkennen, weil ich so sauber war. Dann

bereitete sie ein großartiges Essen aus gebratener Ente und

gebackenen Knollen mit Soße.

Mit Gale bin ich nie zu dem See gegangen. Ich hätte es

tun können. Es ist ein langer Weg dorthin, aber die Wasser-

vögel sind so leichte Beute, dass man die verlorene Jagdzeit

wieder wettmacht. Doch ich wol te den Ort mit nieman-

dem teilen, den Ort, der nur meinem Vater und mir gehörte.

Nach den Spielen, als ich wenig zu tun hatte, war ich ein

paarmal da. Es war immer noch schön, dort zu schwimmen,

aber die Ausflüge haben mich eher deprimiert. Der See hat

sich in den letzten sechs Jahren erstaunlich wenig verändert,

während ich kaum wiederzuerkennen bin.

Selbst unter Wasser höre ich den Tumult. Autohupen,

57

laute Begrüßungen, Türenknallen. Das kann nur bedeu-

ten, dass meine Begleiter eingetroffen sind. Ich habe gera-

de noch Zeit, mich abzutrocknen und einen Bademantel

überzuziehen, bevor mein Vorbereitungsteam ins Bade-

zimmer platzt. Eine Intimsphäre gibt es nicht. Was mei-

nen Körper angeht, haben wir keine Geheimnisse vorein-

ander, die drei und ich.

»Katniss, deine Augenbrauen!«, kreischt Venia sofort,

und trotz des Unheils, das über mir schwebt, muss ich ein

Lachen unterdrücken. Ihre blauen Haare stehen in spitzen

Zacken vom Kopf ab, und ihre goldenen Tattoos, bisher

nur über den Augenbrauen, schlängeln sich jetzt bis un-

ter die Augen. All das verstärkt den Eindruck, dass ich sie

wirklich erschreckt habe.

Octavia kommt und klopft Venia beruhigend auf den

Rücken, ihr kurvenreicher Körper wirkt neben Venias

dünnem, eckigem besonders füllig. »Na, na. Die kriegst

du doch im Nu wieder hin. Aber was soll ich bloß mit die-

sen Nägeln anstellen?« Sie packt meine Finger und drückt

sie zwischen ihren erbsgrünen Händen ganz platt. Nein,

ihre Haut ist im Moment nicht richtig erbsgrün. Eher von

einem hellen Immergrün. Bestimmt ist das im Kapitol ge-

rade die neueste Mode. »Katniss, du hättest mir wirklich

ein wenig Material übrig lassen können!«, jammert sie.

58

Sie hat recht. In den letzten Monaten habe ich meine

Nägel völlig heruntergekaut. Ich hatte überlegt, es mir ab-

zugewöhnen, aber mir fiel kein vernünftiger Grund ein.

»Tut mir leid«, murmele ich. Darüber, was das für mein

Vorbereitungsteam bedeuten würde, habe ich nicht groß

nachgedacht.

Flavius hebt ein paar Strähnen meiner nassen, wirren

Haare hoch. Er schüttelt missbilligend den Kopf, sodass

seine orangefarbenen Korkenzieherlocken wippen. »Hat

irgendjemand diese Haare berührt, seit wir uns das letz-

te Mal gesehen haben?«, fragt er streng. »Du weißt doch,

wir haben dich vor allem gebeten, deine Haare in Ruhe zu

lassen.«

»Ja!«, sage ich, dankbar, ihnen zeigen zu können, dass

ich nicht völlig achtlos war. »Ich meine, nein, keiner hat

sie geschnitten. Daran hab ich gedacht.« Nein, habe ich

nicht. Die Frage hatte sich gar nicht gestellt. Seit ich zu-

rück war, habe ich sie einfach, wie eh und je, zu einem

Zopf geflochten.

Das scheint sie zu besänftigen, und sie küssen mich

alle, setzen mich in meinem Schlafzimmer auf einen

Stuhl, und dann plappern sie, wie üblich, unaufhörlich,

ohne sich darum zu scheren, ob ich zuhöre. Während Ve-

nia meine Augenbrauen wieder in Form bringt, Octavia

59

mir künstliche Fingernägel verpasst und Flavius irgendein

Zeug in meine Haare massiert, erfahre ich alles über das

Kapitol. Wie toll die Spiele waren, wie öde es seitdem ist,

dass sie es alle gar nicht erwarten können, bis Peeta und

ich am Ende der Tour der Sieger wieder vorbeikommen.

Danach wird es nicht mehr lange dauern, bis sich das Ka-

pitol auf das Jubel-Jubiläum vorbereitet.

»Ist das nicht spannend?«

»Hast du nicht ein unverschämtes Glück?«

»In deinem allerersten Jahr als Siegerin darfst du schon

Mentorin bei einem Jubel-Jubiläum sein!«

In der allgemeinen Aufregung überschneiden sich ihre

Worte.

»Doch, ja«, sage ich ausdruckslos. Mehr bringe ich

nicht zustande. Schon in einem gewöhnlichen Jahr ist es

ein Albtraum, Mentor der Tribute zu sein. Ich kann nicht

mehr an der Schule vorbeigehen, ohne mich zu fragen,

wen ich wohl betreuen muss. Aber zu allem Übel ist dies

das Jahr der fünfundsiebzigsten Hungerspiele und damit

ein Jubel-Jubiläum. Alle fünfundzwanzig Jahre ist es so

weit, dann wird die Niederlage der Distrikte ganz beson-

ders großartig gefeiert, und als besonderer Spaß wartet

noch eine spezielle Grausamkeit auf die Tribute. Natürlich

habe ich das noch nie miterlebt. Doch in der Schule habe

60

ich mal gehört, dass das Kapitol zum zweiten Jubel-Jubi-

läum die doppelte Anzahl Tribute in die Arena geschickt

hat. Die Lehrer haben das Thema nicht weiter vertieft, was

erstaunlich ist, schließlich machte in dem Jahr Haymitch

Abernathy aus unserem Distrikt 12 das Rennen.

»Haymitch kann sich schon mal darauf gefasst machen,

dass er so richtig im Mittelpunkt stehen wird«, kreischt

Octavia.

Haymitch hat mir gegenüber noch nie von seiner eige-

nen Zeit in der Arena gesprochen. Ich würde ihn auch nie

danach fragen. Und falls ich seine Spiele je als Wiederho-

lung gesehen habe, war ich wohl noch zu klein, um mich

daran zu erinnern. Aber dieses Jahr wird das Kapitol ihn

am Vergessen hindern. Im Grunde ist es ganz gut, dass

Peeta und ich bei dem Jubiläum als Mentoren zur Verfü-

gung stehen, denn Haymitch wird garantiert sturzbetrun-

ken sein.

Nachdem sie sich hinreichend über das Jubel-Jubiläum

ausgelassen haben, tauschen sie sich endlos lange über ihr

unsäglich belangloses Leben aus. Wer was über wen auch

immer gesagt hat, was für Schuhe sie gerade gekauft ha-

ben und dann noch eine lange Geschichte von Octavia

darüber, was für ein Fehler es gewesen sei, dass die Gäste

auf ihrer Geburtstagsfeier Federschmuck tragen sollten.

61

Schon bald brennt die Haut unter meinen Augenbrau-

en, meine Haare sind glatt und seidig und meine Nägel

bereit für den Lack. Anscheinend ist das Team angewie-

sen, nur meine Hände und mein Gesicht zu behandeln, al-

les andere wird bei dem kalten Wetter wohl bedeckt sein.

Flavius würde zu gern sein eigenes Markenzeichen, lila

Lippenstift, bei mir anwenden, gibt sich dann aber doch

mit Rosa zufrieden. An der Farbpalette, die Cinna festge-

legt hat, sehe ich, dass wir auf mädchenhaft machen, nicht

auf sexy. Gut so. Wenn ich versuchen müsste, aufreizend

auszusehen, würde ich nie jemanden von irgendetwas

überzeugen. Das hat Haymitch sehr deutlich gemacht, als

er mich nach den Spielen für das Interview vorbereitet hat.

Meine Mutter kommt herein, ein wenig schüchtern,

und sagt, Cinna habe sie gebeten, dem Vorbereitungsteam

zu zeigen, wie sie mir am Tag der Ernte das Haar frisiert

hat. Sie sind begeistert und schauen fasziniert zu, wie mei-

ne Mutter die komplizierte Frisur genau erklärt. Im Spie-

gel sehe ich, wie sie mit ernstem Gesicht jede ihrer Bewe-

gungen verfolgen und wie eifrig sie bei der Sache sind, als

sie es selbst probieren dürfen. Alle drei behandeln meine

Mutter respektvoll und freundlich, und jetzt schäme ich

mich dafür, dass ich mich ihnen immer so überlegen füh-

le. Wer weiß, wie ich wäre oder worüber ich reden würde,

62

wenn ich im Kapitol aufgewachsen wäre? Vielleicht hätte

ich dann auch nichts Schlimmeres zu bereuen, als dass die

Gäste zu meiner Geburtstagsfeier in Federkostümen ge-

kommen sind.

Als meine Frisur fertig ist, gehe ich hinunter ins

Wohnzimmer, wo ich Cinna treffe. Sein bloßer Anblick

stimmt mich ein wenig hoffnungsfroher. Er sieht aus wie

immer, einfache Kleider, kurze braune Haare, nur ein

Hauch goldener Eyeliner. Wir umarmen uns und um ein

Haar wäre ich mit der Geschichte über Präsident Snow

herausgeplatzt. Aber nein, ich habe beschlossen, es zuerst

Haymitch zu erzählen. Er wird am besten wissen, wen

ich damit belasten kann. Aber es ist so leicht, mit Cinna

zu reden. In letzter Zeit haben wir oft telefoniert, denn

mit dem Haus haben wir gleichzeitig auch ein Telefon

bekommen. Es ist eigentlich ein Witz, weil praktisch nie-

mand, den wir kennen, eins besitzt. Peeta ja, aber ihn

rufe ich natürlich nicht an. Haymitch hat seins schon vor

Jahren aus der Wand gerissen. Meine Freundin Madge,

die Tochter des Bürgermeisters, hat zu Hause ein Tele-

fon, aber wenn wir uns unterhalten wollen, tun wir das

persönlich. Am Anfang wurde das Ding fast gar nicht

benutzt. Dann rief Cinna regelmäßig an, um an meinem

Talent zu arbeiten.

63

Von jedem Sieger wird erwartet, dass er ein Talent hat.

Ein Hobby, das man pflegt, da man ja weder zur Schule

gehen noch arbeiten muss. Es kann eigentlich alles sein,

alles, wovon sich in einem Interview erzählen lässt. Peeta

hat tatsächlich ein Talent, er kann malen. Jahrelang hat

er die Torten und Kekse in der Bäckerei seiner Familie

verziert. Aber jetzt, da er reich ist, kann er es sich leisten,

richtige Farbe auf Leinwand zu pinseln. Ich habe kein

Talent, mal abgesehen von illegalem Jagen, aber das gilt

nicht. Oder vielleicht Singen, was ich nicht in einer Mil-

lion Jahren für das Kapitol tun würde. Meine Mutter hat

versucht, mich für die unterschiedlichsten Hobbys von ei-

ner Liste, die Effie Trinket ihr geschickt hat, zu begeistern.

Kochen, Blumenbinden, Flötenspiel. Nichts davon hat ge-

klappt, während Prim für alle drei Talent hatte. Schließ-

lich hat Cinna sich eingeschaltet und angeboten, meine

Leidenschaft für Modedesign zu entwickeln, die wirklich

erst entwickelt werden musste, da sie bis dahin gar nicht

existierte. Aber ich habe zugestimmt, weil ich auf diese

Weise mit Cinna reden konnte, und er versprach, die gan-

ze Arbeit zu machen.

Jetzt drapiert er mein Wohnzimmer mit Kleidern, Stof-

fen und Skizzenbüchern voller Zeichnungen, die er ange-

fertigt hat. Ich nehme eins der Skizzenbücher und schaue

64

ein Kleid an, das ich angeblich entworfen habe. »Also, ich

finde mich wirklich vielversprechend«, sage ich.

»Zieh dich an, du nichtsnutziges Ding«, sagt er und

wirft mir ein Bündel Kleider zu.

Ich interessiere mich zwar nicht für Design, aber ich

liebe die Kleidung, die Cinna für mich entwirft. So wie

diese hier. Eine locker fallende schwarze Hose aus dickem,

warmem Stoff.

Ein bequemes weißes T-Shirt. Ein Pulli aus grüner,

blauer und grauer lämmchenweicher Wolle. Lederne

Schnürstiefel, die meine Zehen nicht einquetschen.

»Hab ich meine Kleider selbst entworfen?«

»Nein, es ist dein Ziel, deine eigenen Kleider zu ent-

werfen und wie ich zu sein, dein großes Mode-Idol«, sagt

Cinna. Er reicht mir einen kleinen Stapel Karten. »Das

liest du aus dem Off, während die Kleider gefilmt werden.

Lass es so klingen, als ob es dich wirklich interessiert.«

In diesem Moment kommt Effie Trinket mit kürbis-

farbener Perücke auf dem Kopf herein und mahnt alle:

»Vergesst mir nicht den Zeitplan!« Sie küsst mich auf beide

Wangen und winkt das Kamerateam herein, dann sagt sie

mir, was ich zu tun habe. Effie allein ist es zu verdanken,

dass wir im Kapitol immer pünktlich waren, also tue ich

ihr den Gefallen. Ich hüpfe herum wie eine Marionette,

65

halte Kleider hoch und sage sinnlose Sätze wie »Ist das

nicht super?«. Während ich begeistert von meinen Kar-

ten ablese, nehmen die Tontechniker mich auf, um meine

Kommentare später einfügen zu können. Dann werde ich

hinausgeworfen, damit die Kameraleute in Ruhe meine

beziehungsweise Cinnas Entwürfe filmen können.

Prim ist für das Ereignis extra früher von der Schule

nach Hause gekommen. Jetzt steht sie in der Küche und

wird von einem anderen Team interviewt. Sie sieht wun-

derschön aus in einem himmelblauen Kleid, das ihre Au-

gen zur Geltung bringt; die blonden Haare sind mit einem

Band in der gleichen Farbe zurückgebunden. Sie beugt

sich auf den Spitzen ihrer glänzenden weißen Stiefel ein

wenig vor, als wollte sie abheben wie …

Wumm! Es ist ein Gefühl, als hätte mir jemand gegen

die Brust geschlagen. Natürlich nicht wirklich, aber der

Schmerz ist so real, dass ich einen Schritt zurückweiche.

Ich mache die Augen ganz fest zu und sehe nicht Prim –

ich sehe Rue, das zwölfjährige Mädchen aus Distrikt 11,

meine Verbündete in der Arena. Sie konnte fliegen wie ein

Vogel, von Baum zu Baum, sie fand auf den zartesten Äs-

ten Halt. Rue, die ich nicht gerettet habe. Die ich sterben

ließ. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf dem Boden liegt, den

Speer im Bauch …

66

Wen noch werde ich nicht vor der Rache des Kapitols

retten können? Wer wird noch sterben, wenn ich Präsident

Snow nicht zufriedenstelle?

Ich merke, dass Cinna versucht, mir einen Mantel an-

zuziehen, also hebe ich die Arme. Ich spüre, wie Pelz mich

umhüllt. Er stammt von einem Tier, das ich noch nie

gesehen habe. »Hermelin«, sagt Cinna, als ich über den

weißen Ärmel streiche. Lederhandschuhe. Ein knallroter

Schal. Etwas Pelziges bedeckt meine Ohren. »Du bringst

Ohrenschützer wieder in Mode.«

Ich hasse Ohrenschützer, denke ich. Mit den Dingern

kann man schlecht hören, und seit ich in der Arena bei

einer Explosion auf einem Ohr taub geworden war, ver-

abscheue ich sie noch mehr. Nach meinem Sieg hat das

Kapitol mein Ohr wiederhergestellt, aber ich merke, dass

ich es immer noch oft überprüfe.

Meine Mutter kommt herbeigelaufen, sie verbirgt et-

was in den Händen. »Als Glücksbringer«, sagt sie.

Es ist die Brosche, die Madge mir gegeben hat, bevor

ich in die Spiele gezogen bin. Ein fliegender Spotttölpel in

einem goldenen Ring. Ich wollte die Brosche Rue schen-

ken, doch sie hat sie nicht angenommen. Sie sagte, wegen

der Brosche habe sie beschlossen, mir zu vertrauen. Cinna

steckt sie am Knoten des Schals fest.

67

Effie Trinket kommt herbei und klatscht in die Hände.

»Alle mal herhören! Wir machen gleich die erste Außen-

aufnahme – die Sieger begrüßen einander zu Beginn der

wunderbaren Tour. Los, Katniss, strahlendes Lächeln bit-

te, du freust dich wahnsinnig, klar?« Es ist nicht übertrie-

ben zu sagen, dass sie mich zur Tür hinausschiebt.

Im ersten Moment kann ich nichts sehen, denn jetzt

hat es richtig angefangen zu schneien. Dann erkenne ich

Peeta, der aus der Haustür kommt. Ich habe die Anwei-

sung von Präsident Snow im Kopf: »Überzeuge mich.«

Und ich weiß, dass ich es tun muss.

Ich setze mein strahlendstes Lächeln auf und gehe auf

Peeta zu. Dann renne ich los, als könnte ich keine Sekunde

länger warten. Er fängt mich auf und wirbelt mich herum,

rutscht plötzlich aus – er hat sein künstliches Bein noch nicht

ganz in der Gewalt –, und wir fal en in den Schnee, ich auf

ihn drauf, und dann küssen wir uns, zum ersten Mal seit

Monaten. Es ist ein Kuss vol er Pelz und Schnee und Lip-

penstift, doch darunter spüre ich die Ruhe, die Peeta immer

ausstrahlt. Und ich weiß, dass ich nicht al ein bin. Sosehr ich

ihn auch verletzt habe, er wird mich vor den Kameras nicht

bloßstel en. Wird mich nicht mit einem halbherzigen Kuss

bestrafen. Er passt immer noch auf mich auf. Genau wie in

der Arena. Bei dem Gedanken würde ich am liebsten weinen.

68

Doch ich helfe ihm auf, hake mich mit meiner behandschuh-

ten Hand bei ihm unter und ziehe ihn vergnügt mit.

Der Rest des Tages ist ein verschwommenes Durchei-

nander aus dem Weg zum Bahnhof, dem Abschied von

allen, dem abfahrenden Zug, dem Abendessen mit dem

alten Team – Peeta und ich, Effie und Haymitch, Cinna

und Portia, Peetas Stylistin –, ein himmlisches Abendes-

sen, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Und dann

bin ich in einen Schlafanzug und einen riesigen Bademan-

tel gehüllt, sitze in meinem vornehmen Abteil und warte

darauf, dass die anderen schlafen gehen. Ich weiß, dass

Haymitch noch stundenlang wach sein wird. Er schläft

nicht gern, wenn es draußen dunkel ist.

Als im Zug alles ruhig scheint, ziehe ich meine Pan-

toffeln an und tapse zu seiner Tür. Ich muss mehrmals

anklopfen, ehe er kommt, fluchend, als wäre er überzeugt,

dass ich schlechte Neuigkeiten bringe.

»Was willst du?«, fragt er, und der Weindunst, den er

verströmt, haut mich fast um.

»Ich muss mit dir reden«, flüstere ich.

»Jetzt?«, fragt er. Ich nicke. »Hoffentlich hast du einen

guten Grund.« Er wartet, aber ich habe das Gefühl, dass

jedes Wort, das wir in einem Zug des Kapitols sagen, auf-

gezeichnet wird. »Und?«, sagt er schroff.

69

Der Zug bremst ab, und ganz kurz denke ich, Präsi-

dent Snow hat mich beobachtet und es nicht gutgeheißen,

dass ich mich Haymitch anvertraue, und deshalb hat er

beschlossen, mich auf der Stelle zu töten. Doch wir halten

nur an, weil der Zug Treibstoff braucht.

»Hier im Zug ist es so stickig«, sage ich.

Es ist ein harmloser Satz, aber ich sehe, wie Haymitch

die Augen schmal macht, er hat verstanden. »Dagegen

weiß ich was.« Er schiebt sich an mir vorbei und torkelt

durch den Gang zu einer Tür. Als er sie mühsam geöffnet

hat, schlägt uns eine Schneewolke entgegen. Er stolpert

hinaus und landet auf dem Boden.

Eine Dienerin vom Kapitol eilt herbei, um zu helfen,

doch Haymitch gibt ihr gutmütig zu verstehen, dass sie

wieder gehen kann, und taumelt weiter. »Brauch bloß ein

bisschen frische Luft. Nur einen kleinen Moment.«

»Entschuldigung. Er ist betrunken«, sage ich. »Ich hole

ihn rein.« Ich springe hinunter und stolpere hinter ihm an

den Gleisen entlang. Meine Pantoffeln werden im Schnee

klatschnass, während er mich ans Ende des Zuges führt,

damit uns niemand hören kann. Dann wendet er sich zu

mir.

»Was ist los?«

Ich erzähle ihm alles. Von dem Besuch des Präsidenten,

70

von Gale und dass wir alle sterben müssen, wenn ich

versage.

Sein Gesicht wird nüchterner, scheint im Licht der ro-

ten Schlusslichter zu altern. »Dann darfst du eben nicht

versagen.«

»Wenn du mir bloß helfen kannst, diese Tour zu über-

stehen …«, setze ich an.

»Nein, Katniss, es geht nicht nur um die Tour«, sagt er.

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Selbst wenn du es schaffst, kommen sie doch in ein

paar Monaten wieder und holen uns alle zu den Spielen ab.

Du und Peeta, ihr werdet Mentoren sein, jedes Jahr von

nun an. Und jedes Jahr werden sie auf die Liebesgeschich-

te zurückkommen und alle Einzelheiten deines Privatle-

bens breittreten, und du kannst nichts anderes tun, als bis

ans Ende deiner Tage mit diesem Jungen zu leben.«

Seine Worte treffen mich mit voller Wucht. Selbst

wenn ich es möchte, wird es für mich nie ein Leben mit

Gale geben. Ich werde nie allein leben dürfen. Ich muss

für immer in Peeta verliebt sein. Das Kapitol wird darauf

bestehen. Ein paar Jahre darf ich vielleicht noch mit mei-

ner Mutter und Prim zusammenwohnen, weil ich ja erst

siebzehn bin. Und dann … und dann …

»Verstehst du, was ich sagen will?«, drängt er.

71

Ich nicke. Er will sagen, dass es nur eine mögliche Zu-

kunft gibt, wenn ich dafür sorgen möchte, dass meine

Lieben und ich selbst am Leben bleiben. Ich werde Peeta

heiraten müssen.

72

4 Schweigend trotten wir zurück zum Zug.

Im Gang vor meinem Abteil klopft Hay-

mitch mir auf die Schulter und sagt: »Du könntest es viel

schlechter treffen.« Dann geht er weiter zu seinem Abteil,

die Weinfahne weht hinter ihm her.

In meinem Abteil ziehe ich die durchweichten Pantof-

feln, den nassen Bademantel und den Schlafanzug aus. In

den Schubladen sind noch mehr Schlafanzüge, doch ich

krieche einfach in Unterwäsche unter die Bettdecke. Ich

starre in die Dunkelheit und denke über das Gespräch

mit Haymitch nach. Alles, was er gesagt hat, stimmt: die

Erwartungen des Kapitols, meine Zukunft mit Peeta, so-

gar seine letzte Bemerkung. Natürlich könnte ich es viel

schlechter treffen als mit Peeta. Aber darum geht es ja ei-

gentlich nicht. Eine der wenigen Freiheiten, die wir in Di-

strikt 12 haben, ist das Recht, zu heiraten, wen wir wollen,

oder auch gar nicht zu heiraten. Und jetzt haben sie mir

selbst das noch genommen. Ich frage mich, ob Präsident

Snow wohl darauf bestehen wird, dass wir Kinder bekom-

men. Wenn wir welche bekommen, werden sie sich jedes

Jahr der Ernte stellen müssen. Und wäre das nicht ein

73

Spektakel, wenn das Kind nicht nur eines Siegers, sondern

gleich zweier Sieger für die Arena auserwählt würde? Es ist

schon öfter vorgekommen, dass Kinder von Siegern in den

Ring mussten. Dann gibt es jedes Mal große Aufregung,

und die Leute sagen, dass diese Familie wirklich kein

Glück hat. Aber es kommt so oft vor, dass es nicht nur mit

Glück zu tun haben kann. Gale ist davon überzeugt, dass

es Absicht ist; dass das Kapitol die Auslosung manipuliert,

um die Dramatik zu steigern. Wenn man bedenkt, für

wie viel Ärger ich gesorgt habe, dann dürfte jedem meiner

Kinder ein Auftritt in den Spielen garantiert sein.

Ich denke an Haymitch, der unverheiratet ist, keine

Familie hat und die Welt mit Alkohol ausblendet. Er hät-

te jede Frau im Distrikt haben können. Und wählte die

Abgeschiedenheit. Nicht Abgeschiedenheit – das klingt

zu friedlich. Eher so etwas wie Einzelhaft. Wusste er nach

seiner Erfahrung in der Arena, dass das besser war, als die

Alternative zu riskieren? Ich habe einen Vorgeschmack auf

diese Alternative bekommen, als am Tag der Ernte Prims

Name aufgerufen wurde und ich sah, wie sie zur Bühne

ging, geradewegs in den Tod. Doch als Schwester konnte

ich mich an ihrer Stelle melden, was unserer Mutter nicht

erlaubt war.

Panisch versuche ich einen Ausweg zu ersinnen. Ich

74

kann es nicht zulassen, dass Präsident Snow mich zu die-

sem Los verdammt. Und wenn ich mir das Leben neh-

men müsste. Aber vorher würde ich versuchen zu fliehen.

Was würden sie tun, wenn ich einfach abtauchen würde?

In den Wald verschwinden und nie mehr herauskommen

würde? Wäre es vielleicht sogar denkbar, alle meine Lie-

ben mitzunehmen und mitten in der Wildnis ein neues

Leben anzufangen? Höchst unwahrscheinlich, aber nicht

ausgeschlossen.

Ich schüttele den Kopf, um die Gedanken zu ordnen.

Jetzt ist nicht der richtige Moment, um wilde Fluchtpläne

zu schmieden. Ich muss mich auf die Tour der Sieger kon-

zentrieren. Das Schicksal zu vieler Menschen hängt davon

ab, dass ich eine überzeugende Vorstellung liefere.

Das Morgengrauen kommt vor dem Schlaf und dann

klopft auch schon Effie an meine Tür. Ich ziehe die erst-

besten Sachen an, die auf der Kommode liegen, und

schleppe mich in den Speisewagen. Ich verstehe nicht,

weshalb ich früh aufstehen soll, da es ohnehin ein Reisetag

ist, aber dann erfahre ich, dass die Verschönerung gestern

nur für den Weg zum Bahnhof war. Heute macht sich das

Vorbereitungsteam noch mal richtig an die Arbeit.

»Wozu? Bei der Kälte sieht man doch sowieso nichts«,

murre ich.

75

»In Distrikt 11 ist es aber nicht kalt«, sagt Effie.

Distrikt 11. Unsere erste Station. Ich würde lieber in

einem anderen Distrikt anfangen, denn in 11 war Rue

zu Hause. Aber so läuft das nicht bei der Tour der Sieger.

Normalerweise geht es in Distrikt 12 los, dann werden

der Reihe nach alle Distrikte durchlaufen, bis die Reise

schließlich ins Kapitol führt. Der Distrikt des Siegers wird

ausgespart und kommt ganz zum Schluss dran. Sonst ver-

anstaltet Distrikt 12 immer die am wenigsten spektaku-

läre Feier – für gewöhnlich nur ein Essen für die Tribu-

te und eine Siegesfeier auf dem Platz, bei der niemand so

aussieht, als würde er sich amüsieren. In diesem Jahr wird

Distrikt 12 zum ersten Mal seit Haymitchs Sieg die End-

station der Tour sein und das Kapitol spendiert die Fei-

er, da ist es wahrscheinlich am besten, wenn wir hier so

schnell wie möglich verschwinden, damit alles vorbereitet

werden kann.

Ich versuche das Essen zu genießen, wie Hazelle es mir

geraten hat. Die Leute in der Küche wollen mir offenbar

eine Freude machen. Sie haben mein Leibgericht gekocht,

Lammeintopf mit Backpflaumen, und andere Köstlichkei-

ten. Auf dem Tisch warten an meinem Platz Orangensaft

und ein Becher dampfend heißer Kakao. Ich esse eine

Menge, und das Mahl ist tadellos, aber ich kann nicht

76

sagen, dass ich es genieße. Außerdem ärgert es mich, dass

sich außer Effie und mir niemand blicken lässt. »Wo sind

die anderen alle?«, frage ich.

»Ach, wer weiß, wo Haymitch ist«, sagt Effie. Mit Hay-

mitch hatte ich sowieso nicht gerechnet, der geht wahr-

scheinlich gerade schlafen. »Cinna war gestern lange auf,

er musste einen Waggon für deine Kleider organisieren.

Er hat bestimmt über hundert für dich. Deine Abendgar-

derobe ist exquisit. Und Peetas Team schläft vermutlich

noch.«

»Muss er nicht vorbereitet werden?«, frage ich.

»Nicht so wie du«, sagt Effie.

Was soll das heißen? Es heißt, dass ich den Vormittag

damit verbringen werde, mir die Haare vom Körper rei-

ßen zu lassen, während Peeta ausschlafen kann. Ich hatte

nicht groß darüber nachgedacht, aber in der Arena haben

wenigstens einige der Jungs ihre Körperbehaarung behal-

ten, von den Mädchen dagegen kein einziges. Jetzt erin-

nere ich mich an Peetas Behaarung, als ich ihn am Bach

gewaschen habe. Sehr blond im Sonnenlicht, nachdem ich

den Schlamm und das Blut erst einmal abgespült hatte.

Nur sein Gesicht blieb vollkommen glatt. Nicht einer von

den Jungs bekam einen Bart, obwohl viele alt genug waren.

Ich frage mich, was sie wohl mit ihnen angestellt haben.

77

Wenn ich mich schon groggy fühle, so scheint mein

Vorbereitungsteam in noch schlimmerer Verfassung zu

sein. Sie stürzen den Kaffee hinunter und tauschen kleine

bunte Pillen. Soweit ich weiß, stehen sie nie vor dem Mit-

tag auf, es sei denn, es gibt eine Art nationalen Notstand,

wie zum Beispiel meine behaarten Beine. Ich war so froh,

als die Haare wieder wuchsen. Als wären sie ein Zeichen

dafür, dass alles wieder wie immer werden könnte. Ich

streiche mit den Fingern über den weichen, gekräuselten

Flaum auf meinen Beinen und überlasse mich dem Team.

Keiner von ihnen ist zu dem üblichen Geplapper aufge-

legt, deshalb höre ich, wie jedes einzelne Härchen heraus-

gerissen wird. Ich muss mich in einer Wanne mit einer

dicken, unangenehm riechenden Lotion baden, während

mein Gesicht und meine Haare mit Cremes eingekleistert

werden. Dann zwei weitere Bäder mit anderen, nicht so

ekelhaften Zusätzen. Ich werde gerupft und geschrubbt

und massiert und gesalbt, bis ich mir vorkomme wie ein

Hühnchen.

Flavius fasst mir mit einer Hand unters Kinn und

seufzt. »Es ist ein Jammer, dass Cinna gesagt hat, bei dir

darf nichts verändert werden.«

»Ja, wir könnten wirklich etwas Besonderes aus dir ma-

chen«, sagt Octavia.

78

»Wenn sie älter ist«, sagt Venia fast grimmig. »Dann

muss er es erlauben.«

Was? Dass sie meine Lippen aufspritzen wie die von

Präsident Snow? Mir die Brüste tätowieren? Meine Haut

magenta färben und mir Edelsteine einsetzen? Mir Verzie-

rungen ins Gesicht ritzen? Mir gebogene Krallen verpas-

sen? Oder Schnurrhaare? All das und noch viel mehr habe

ich bei verschiedenen Leuten im Kapitol gesehen. Wissen

sie wirklich nicht, wie abgedreht das auf andere wirkt?

Die Vorstellung, den Geschmacksverirrungen meines

Vorbereitungsteams ausgeliefert zu sein, ist nur eine wei-

tere Sorge von vielen, die mich beschäftigen – mein ge-

schundener Körper, Schlafmangel, die drohende Zwang-

sehe und der Horror, dass ich die Forderungen von

Präsident Snow nicht werde erfüllen können. Als ich zum

Mittagessen komme, wo Effie, Cinna, Portia, Haymitch

und Peeta schon ohne mich angefangen haben, bin ich zu

niedergeschlagen, um zu reden. Sie schwärmen vom Essen

und davon, wie wunderbar sie im Zug schlafen können.

Alle sind ganz aus dem Häuschen über die Tour der Sieger.

Na ja, alle bis auf Haymitch. Er hat einen Kater und knab-

bert an einem Muffin. Ich habe auch keinen großen Hun-

ger, entweder weil ich heute Morgen zu viel schweres Zeug

in mich hineingestopft habe oder weil ich so unglücklich

79

bin. Ich rühre in meiner Brühe herum und esse nur ein,

zwei Löffel davon. Ich kann Peeta – meinen zukünftigen

Mann – nicht einmal ansehen, obwohl ich weiß, dass er

keine Schuld an alldem trägt.

Die anderen merken, dass etwas nicht stimmt, und

versuchen mich ins Gespräch einzubeziehen, aber ich bin

abweisend. Irgendwann hält der Zug. Unser Kellner be-

richtet uns, dass es diesmal nicht nur wegen Treibstoff ist

– irgendein Zugteil ist defekt und muss ausgetauscht wer-

den. Es wird mindestens eine Stunde dauern. Das bringt

Effie in Rage. Sie holt ihren Plan heraus und berechnet,

wie diese Verzögerung jedes Ereignis bis zum Ende un-

seres Lebens beeinflussen wird. Schließlich ertrage ich es

nicht mehr, mir das anzuhören.

»Das interessiert doch keinen, Effie!«, sage ich schroff.

Alle am Tisch starren mich an, sogar Haymitch, der doch

auf meiner Seite sein müsste, weil Effie ihm auf die Nerven

geht. Sofort fühle ich mich in die Enge getrieben. »Absolut

keinen!«, sage ich, stehe auf und verlasse den Speisewagen.

Auf einmal kommt es mir stickig vor im Zug und mir

ist regelrecht mulmig. Ich suche den Ausgang, mache die

Tür gewaltsam auf – wobei ich irgendeinen Alarm auslöse,

den ich ignoriere – und springe hinaus in der Erwartung,

im Schnee zu landen. Doch die Luft fühlt sich warm und

80

mild auf der Haut an. Die Bäume haben noch grüne Blät-

ter. Wie weit südlich sind wir an einem Tag gereist? Ich

laufe an den Schienen entlang, blinzele ins grelle Sonnen-

licht und bereue schon, was ich zu Effie gesagt habe. Sie

kann ich kaum dafür verantwortlich machen, dass ich

in der Zwickmühle stecke. Eigentlich müsste ich zurück-

gehen und mich entschuldigen. Mein Ausbruch war der

Gipfel an schlechtem Benehmen und gutes Benehmen

ist für Effie sehr wichtig. Doch meine Füße gehen weiter

am Gleis entlang, am Ende des Zuges vorbei und immer

noch weiter. Eine Stunde Verspätung. Ich kann mindes-

tens zwanzig Minuten in eine Richtung gehen und wieder

zurück, dann habe ich trotzdem noch reichlich Zeit. Aber

nach ein paar Hundert Metern lasse ich mich auf dem

Boden nieder, bleibe dort sitzen und schaue in die Ferne.

Wenn ich Pfeil und Bogen hätte, würde ich dann einfach

weitergehen?

Nach einer Weile höre ich hinter mir Schritte. Bestimmt

Haymitch, der mich zusammenstauchen wil . Nicht, dass

ich es nicht verdient hätte, aber ich wil es trotzdem nicht

hören. »Ich bin nicht in der Stimmung für eine Lektion«,

sage ich warnend zu dem Gras vor meinen Füßen.

»Ich versuche es kurz zu machen.« Peeta setzt sich ne-

ben mich.

81

»Ich dachte, du wärst Haymitch«, sage ich.

»Nein, der kämpft immer noch mit seinem Muffin.«

Ich sehe, wie Peeta seine Prothese in die richtige Position

bringt. »Schlechter Tag, was?«

»Es ist nichts«, sage ich.

Er holt tief Luft. »Hör mal, Katniss, ich wollte schon

länger mit dir darüber reden, wie ich mich im Zug be-

nommen hab. Ich meine, im letzten Zug – der, mit dem

wir nach Hause gefahren sind. Ich wusste, dass zwischen

Gale und dir etwas war. Ich war schon eifersüchtig auf ihn,

bevor ich dich überhaupt offiziell kennenlernte. Und es

war unfair, dich auf das festzunageln, was in den Spielen

passiert ist. Das tut mir leid.«

Seine Entschuldigung überrumpelt mich. Es stimmt,

dass er mir die kalte Schulter gezeigt hat, nachdem ich

ihm gestand, dass ich ihm in der Arena etwas vorgespielt

hatte. Aber das werfe ich ihm nicht vor. In der Arena habe

ich auf Teufel komm raus den Liebesengel gespielt. Es gab

Momente, in denen ich mir nicht sicher war, was ich für

ihn empfand. Ich bin mir immer noch nicht so ganz sicher.

»Mir tut es auch leid«, sage ich. Ich weiß nicht so recht,

was mir eigentlich leidtut. Vielleicht, dass ich ihn jetzt

möglicherweise wirklich zerstören werde.

»Dir braucht überhaupt nichts leidzutun. Du hast nur

82

versucht, uns beiden das Leben zu retten. Aber ich will

nicht, dass wir so weitermachen – dass wir uns im rich-

tigen Leben ignorieren und uns dann zusammen in den

Schnee fallen lassen, sobald eine Kamera in der Nähe ist.

Ich hab mir gedacht, wenn ich nicht mehr so, hm, verletzt

bin, dann könnten wir doch versuchen, einfach Freunde

zu werden«, sagt er.

Wie es aussieht, sind alle meine Freunde zum Sterben

verdammt, aber wenn ich Peeta zurückweise, rettet ihn

das auch nicht. »Gut«, sage ich. Nach seinem Angebot

geht es mir schon besser. Ich komme mir nicht mehr so

verlogen vor. Es wäre schön gewesen, wenn er damit frü-

her herausgerückt wäre – bevor ich erfuhr, dass Präsident

Snow anderes im Sinn hat, und die Möglichkeit, einfach

Freunde zu sein, zunichtegemacht wurde. Doch zumin-

dest freue ich mich, dass wir wieder miteinander reden.

»Also, was ist los?«, fragt er.

Ich kann es ihm nicht sagen. Ich zupfe am Unkraut.

»Dann fangen wir mit was Einfacherem an. Ist es nicht

komisch, dass ich weiß, du würdest dein Leben für mich

aufs Spiel setzen … aber deine Lieblingsfarbe nicht ken-

ne?«, sagt er.

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. »Grün. Und

deine?«

83

»Orange«, sagt er.

»Orange? Wie Effies Haare?«, frage ich.

»Ein bisschen gedeckter«, erwidert er. »Eher so wie …

der Sonnenuntergang.«

Der Sonnenuntergang. Sofort habe ich ein Bild vor Au-

gen, den Rand der untergehenden Sonne, den Himmel,

der in warmen Orangetönen gestreift ist. Wunderschön.

Ich erinnere mich an den Lilienkeks, und jetzt, da Pee-

ta wieder mit mir redet, fällt es mir schwer, nicht mit der

ganzen Geschichte von Präsident Snow herauszuplatzen.

Aber ich weiß, dass Haymitch das nicht gut fände. Ich hal-

te mich lieber an unverfängliche Themen.

»Übrigens schwärmen ja alle von deinen Bildern. Scha-

de, dass ich sie nicht gesehen habe«, sage ich.

»Ich hab einen ganzen Waggon voll.« Er steht auf und

reicht mir eine Hand. »Komm.«

Das fühlt sich gut an, seine Finger wieder mit meinen

verschränkt, nicht für die anderen, sondern aus Freund-

schaft. Hand in Hand gehen wir zurück zum Zug. An

der Tür fällt es mir ein: »Ich muss erst zu Effie und mich

entschuldigen.«

»Keine falsche Zurückhaltung«, sagt Peeta.

Als wir wieder im Speisewagen sind, wo die anderen im-

mer noch essen, entschuldige ich mich so überschwänglich

84

bei Effie, dass ich denke, es ist zu viel des Guten, doch

für sie reicht es wahrscheinlich gerade eben, um meinen

Fauxpas wieder wettzumachen. Immerhin nimmt sie die

Entschuldigung gutmütig an. Sie sagt, sie verstehe schon,

dass ich unter großem Druck stehe. Und dann redet sie

nur ganze fünf Minuten davon, dass sich ja einer um

den Zeitplan kümmern müsse. Ich bin also glimpflich

davongekommen.

Als Effie fertig ist, gehe ich mit Peeta ein paar Wagen

weiter und er zeigt mir seine Bilder. Ich weiß nicht, was

ich erwartet hatte. Größere Versionen der Blumenkekse

vielleicht. Aber das hier ist etwas vollkommen anderes.

Peeta hat die Spiele gemalt.

Manche Bilder wären für jemanden, der nicht mit

ihm in der Arena war, nicht sofort zu deuten. Wasser, das

durch die Spalten in unserer Höhle tröpfelt. Der ausge-

trocknete Tümpel. Zwei Hände, seine eigenen, die nach

Wurzeln graben. Andere Bilder würde jeder Betrachter

gleich erkennen. Das goldene Füllhorn. Clove, wie sie

Messer in ihrer Jacke verstaut. Eine der Mutationen, un-

verkennbar die blonde mit den grünen Augen, die Glim-

mer darstellt; knurrend kommt sie auf uns zu. Und da bin

ich. Ich bin überall. Wie ich hoch oben auf einem Baum

sitze. Wie ich ein Hemd an die Felsen im Bach schlage.

85

Wie ich bewusstlos in einer Blutlache liege. Ein Bild kann

ich nicht einordnen – vielleicht habe ich so ausgesehen, als

er hohes Fieber hatte –, da tauche ich aus einem silber-

grauen Nebel auf. »Wie findest du sie?«, fragt er.

»Grauenhaft«, sage ich. Ich kann beinahe das Blut rie-

chen, den Dreck, den künstlichen Atem der Mutation.

»Ich versuche die ganze Zeit, die Arena zu vergessen, und

du erweckst sie wieder zum Leben. Wie kommt es, dass

du dich so genau an alles erinnerst?«

»Ich sehe es jede Nacht«, sagt er.

Ich weiß, was er meint. Albträume – die mir schon vor

den Spielen nicht fremd waren – plagen mich jetzt immer,

wenn ich schlafe. Dagegen ist das altbekannte Bild, das

von meinem Vater, wie er in der Mine in Fetzen gerissen

wird, selten geworden. Stattdessen erlebe ich verschiedene

Variationen der Ereignisse in der Arena. Mein aussichtslo-

ser Versuch, Rue zu retten. Peeta, wie er verblutet. Glim-

mers aufgedunsener Körper, der sich unter meinen Hän-

den auflöst. Cato, dem die Mutationen ein entsetzliches

Ende bereiten. Das sind meine häufigsten Besucher. »Ich

auch. Hilft das? Wenn du sie malst?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich hab dadurch etwas we-

niger Angst, abends schlafen zu gehen, jedenfalls sage ich

mir das. Aber sie sind nicht verschwunden.«

86

»Vielleicht verschwinden sie nie. So wie bei Haymitch«,

sage ich. Haymitch spricht nicht darüber, aber ganz be-

stimmt ist das der Grund dafür, dass er nicht im Dunkeln

schlafen will.

»Kann sein. Aber für mich ist es besser, mit einem Pin-

sel in der Hand aufzuwachen als mit einem Messer«, sagt

er. »Findest du sie echt grauenhaft?«

»Ja. Aber sie sind außergewöhnlich. Wirklich«, sage ich.

Und das stimmt auch. Trotzdem, ich will sie nicht mehr

ansehen. »Möchtest du mal mein Talent sehen? Cinna hat

das super hingekriegt.«

Peeta lacht. »Später.« Der Zug setzt sich langsam in

Bewegung, und durchs Fenster sehe ich, wie das Land an

uns vorbeizieht. »Komm, wir sind fast in Distrikt 11. Das

schauen wir uns mal an.«

Wir gehen durch bis zum letzten Waggon. Dort gibt

es Sessel und Sofas, auf denen man sitzen kann, aber das

Beste ist, dass sich die Heckscheiben so hochschieben las-

sen, dass man im Freien fährt, an der frischen Luft, und

man kann weit in die Landschaft blicken. Endlose Felder,

auf denen Rinderherden weiden. So ganz anders als un-

sere dicht bewaldete Heimat. Der Zug verlangsamt die

Fahrt, und ich denke schon, dass wir gleich wieder halten,

als sich vor uns ein Zaun erhebt. Er ist mindestens zehn

87

Meter hoch und oben mit gemeinem Stacheldraht verse-

hen – dagegen wirkt unser Zaun in Distrikt 12 geradezu

läppisch. Schnell nehme ich den unteren Teil des Zauns

in Augenschein, der aus gewaltigen Metallplatten besteht.

Dort könnte man nicht drunter durchschlüpfen, sich nicht

davonstehlen, um zu jagen. Dann sehe ich die Wachtür-

me, sie sind in gleichmäßigem Abstand aufgestellt und mit

bewaffneten Wachen versehen. In dem Feld mit Wildblu-

men wirken sie fehl am Platz.

»Es ist ganz anders hier«, sagt Peeta.

Rue hatte mir bereits den Eindruck vermittelt, dass in

Distrikt 11 die Regeln härter durchgesetzt werden. Aber

so etwas hätte ich mir nie vorgestellt.

Jetzt fangen die Felder an, sie reichen, so weit das Auge

blicken kann. Männer, Frauen und Kinder mit Strohhü-

ten gegen die Sonne richten sich auf, drehen sich zu uns,

recken einen Moment lang den Rücken und schauen dem

vorbeifahrenden Zug nach. In der Ferne sehe ich Obst-

plantagen, und ich frage mich, ob Rue dort wohl gearbei-

tet hat, ob sie dort die Früchte von den zartesten Ästen

ganz oben im Baum gepflückt hat. Kleine Ansiedlungen

von Hütten hier und dort – im Vergleich zu ihnen sind die

Häuser im Saum nobel –, doch sie sind alle verlassen. Für

die Ernte werden wohl alle Hände gebraucht.

88

Es nimmt gar kein Ende. Ich kann kaum fassen, wie

groß Distrikt 11 ist. »Was glaubst du, wie viele Leute hier

leben?«, fragt Peeta. Ich schüttele den Kopf. In der Schule

haben wir nur gelernt, dass es ein großer Distrikt ist, mehr

nicht. Keine konkreten Bevölkerungszahlen. Aber die jun-

gen Leute, die wir jedes Jahr in den Übertragungen sehen,

wie sie auf die Auslosung der Tribute warten, können nur

ein kleiner Teil derer sein, die hier leben. Wie machen sie

das? Treffen sie eine Vorauswahl? Losen sie die Teilnehmer

im Vorhinein aus und sorgen dafür, dass sie unter den Zu-

schauern sind? Wie kam es dazu, dass Rue auf der Bühne

landete, niemand bei ihr, der ihren Platz hätte einnehmen

können, nur der Wind?

Die Weite ermüdet mich allmählich, die Endlosigkeit

der Landschaft. Als Effie kommt und sagt, wir sollen uns

umziehen, protestiere ich nicht. Ich begebe mich in mein

Abteil und lasse mich vom Vorbereitungsteam frisieren

und schminken. Cinna kommt mit einem hübschen Kleid

herein, orange mit einem Herbstblattmuster. Die Farbe

wird Peeta gefallen.

Effie ruft Peeta und mich zu sich und erklärt uns noch

ein letztes Mal den Tagesablauf. In manchen Distrikten

fahren die Sieger durch die Stadt, während die Bewohner

ihnen zujubeln. Doch in Distrikt 11 ist unser Auftritt auf

89

den Hauptplatz beschränkt – vielleicht, weil es keine nen-

nenswerte Stadt gibt, nur einzelne Siedlungen, oder viel-

leicht, weil sie während der Erntezeit nicht so viele Leute

erübrigen wollen. Der Auftritt findet vor dem Justizgebäu-

de statt, einem riesigen Marmorbau. Er muss einmal sehr

prächtig gewesen sein, aber die Spuren der Zeit sind un-

übersehbar. Selbst im Fernsehen kann man erkennen, dass

die bröckelnde Fassade von Efeu überwuchert und das

Dach eingesunken ist. Der Platz selbst ist von herunter-

gekommenen Läden gesäumt, die meisten Geschäfte sind

aufgegeben. Wo auch immer die Gutsituierten in Distrikt

11 leben, hier jedenfalls nicht.

Unsere Vorstellung wird auf dem Ding stattfinden, das

Effie als Veranda bezeichnet, einer gefliesten Fläche zwi-

schen dem Eingang und der Treppe, beschattet von einem

Säulendach. Erst sollen Peeta und ich vorgestellt werden,

dann wird der Bürgermeister von Distrikt 11 uns zu Ehren

eine Rede verlesen, und wir antworten mit einem Dank,

der vom Kapitol schon vorgefertigt wurde. Hatte ein Sie-

ger Verbündete unter den toten Tributen, wird es als guter

Stil betrachtet, ein paar persönliche Worte hinzuzufügen.

Ich müsste eigentlich etwas über Rue sagen und auch über

Thresh, doch jedes Mal, wenn ich zu Hause versucht habe,

etwas zu schreiben, starrte mich ein leeres Blatt Papier an.

90

Es fällt mir schwer, über sie zu sprechen, ohne die Fassung

zu verlieren. Zum Glück hat Peeta einen kurzen Text vor-

bereitet, der mit ein paar kleinen Änderungen für uns bei-

de gelten kann. Am Ende der Feierlichkeiten bekommen

wir irgendeine Tafel überreicht, und dann können wir uns

ins Justizgebäude begeben, wo ein Festessen gegeben wird.

Während der Zug in den Bahnhof von Distrikt 11 ein-

fährt, ändert Cinna ein paar letzte Feinheiten an meinem

Outfit. Er tauscht das orangefarbene Haarband gegen ei-

nes in Goldmetallic und steckt mir die Spotttölpelbrosche,

die ich in der Arena getragen habe, ans Kleid. Auf dem

Bahnsteig steht kein Empfangskomitee, nur eine Gruppe

von acht Friedenswächtern, die uns in den hinteren Teil

eines gepanzerten Wagens führen. Effie rümpft die Nase,

als die Tür hinter uns zuknallt. »Also wirklich, als ob wir

alle Verbrecher wären«, sagt sie.

Nicht wir al e, Effie, denke ich. Nur ich.

Auf der Rückseite des Justizgebäudes werden wir aus

dem Wagen gelassen, und dann sollen wir schnell hinein-

gehen. Ich rieche, dass ein köstliches Mahl bereitet wird,

aber das kann die Gerüche von Muff und Fäulnis nicht

ausblenden. Sie haben uns keine Zeit gelassen, uns um-

zuschauen. Während wir auf dem kürzesten Weg zum

Eingang gehen, höre ich, wie draußen auf dem Platz die

91

Nationalhymne angestimmt wird. Jemand klemmt mir

ein Mikrofon an. Peeta nimmt meine linke Hand. Der

Bürgermeister stellt uns vor, während die gewaltige Tür

ächzend aufgeht.

»Strahlendes Lächeln!«, sagt Effie und stößt uns an.

Wir bewegen die Füße vorwärts.

Jetzt. Jetzt muss ich al e überzeugen, wie verliebt ich in

Peeta bin, denke ich. Die feierliche Zeremonie ist ziemlich

straff geplant, und ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll.

Es ist nicht die passende Situation für einen Kuss, doch

vielleicht kann ich einen unterbringen.

Es gibt lauten Applaus, aber keine Jubelrufe, Jauchzer

und Pfiffe wie im Kapitol. Wir gehen über die schattige

Veranda, bis das Dach zu Ende ist und wir auf einer brei-

ten Marmortreppe in der grellen Sonne stehen. Als meine

Augen sich an das Licht gewöhnt haben, sehe ich, dass die

Häuser mit Flaggen geschmückt sind, die ihren herunter-

gekommenen Zustand ein wenig kaschieren. Es ist rappel-

voll auf dem Platz, aber das ist nur ein Bruchteil der Men-

schen, die hier leben.

Wie üblich ist unterhalb der Bühne für die Familien der

toten Tribute ein eigenes Podium errichtet worden. Auf

Threshs Seite stehen nur eine alte, bucklige Frau und ein

großes, muskulöses Mädchen, bestimmt seine Schwester.

92

Auf Rues Seite … Ich bin auf Rues Familie nicht vorberei-

tet. Ihre Eltern, die Trauer noch frisch in den Gesichtern.

Die fünf jüngeren Geschwister, die ihr so ähnlich sehen.

Der zarte Knochenbau, die leuchtend braunen Augen.

Wie ein Schwarm kleiner dunkler Vögel.

Der Applaus verebbt und der Bürgermeister hält die

Rede auf uns. Zwei kleine Mädchen kommen mit giganti-

schen Blumensträußen. Peeta sagt seine vorgefertigten Wor-

te, und ich merke, wie ich die Lippen bewege, um das Ende

zu sprechen. Zum Glück haben meine Mutter und Prim sie

mir so eingetrichtert, dass ich sie im Schlaf singen könnte.

Peeta hat seine persönlichen Kommentare auf eine Kar-

te geschrieben, aber er holt sie nicht hervor. Stattdessen er-

zählt er in seiner einfachen, gewinnenden Art, wie Thresh

und Rue unter die letzten acht gekommen sind, wie sie mir

das Leben gerettet haben – und damit auch ihm – und

dass wir das nie wiedergutmachen können. Dann zögert

er, bevor er etwas hinzufügt, das nicht auf der Karte steht.

Vielleicht, weil er dachte, dass Effie ihm nicht erlauben

würde, es zu sagen. »Auch wenn es in keiner Weise Ihren

Verlust ersetzen kann, möchten wir zum Zeichen unseres

Danks den Familien der Tribute aus Distrikt 11 zeit unse-

res Lebens jedes Jahr einen Monatsanteil unseres Preises

zukommen lassen.«

93

Unwillkürlich halten die Zuschauer die Luft an und

sprechen leise miteinander. Was Peeta getan hat, ist ohne

Beispiel. Ich weiß nicht einmal, ob es legal ist. Das weiß er

vermutlich auch nicht, deshalb hat er lieber gar nicht erst

gefragt. Die beiden Familien starren uns nur sprachlos an.

Ihr Leben hat sich für immer verändert, als sie Thresh und

Rue verloren haben, doch dieses Geschenk wird es erneut

verändern. Von dem Monatspreis eines Tributs kann eine

Familie mühelos ein Jahr lang leben. Solange wir leben,

werden sie keinen Hunger leiden.

Ich schaue zu Peeta und er lächelt mich traurig an. Ich

habe Haymitchs Stimme im Ohr: »Du könntest es viel

schlechter treffen.« In diesem Augenblick ist es unmöglich,

sich vorzustellen, wie ich es besser treffen könnte. Das

Geschenk … es ist großartig. Als ich mich auf die Ze-

henspitzen stelle und ihn küsse, wirkt das kein bisschen

gezwungen.

Der Bürgermeister kommt zu uns und überreicht jedem

von uns eine Tafel, so groß, dass ich meinen Blumenstrauß

ablegen muss, um sie zu halten. Die Zeremonie ist schon

fast vorüber, als ich merke, wie eine von Rues Schwestern

mich anstarrt. Sie muss etwa neun sein und ist fast Rues

Ebenbild, sie steht sogar genauso da, die Arme leicht abge-

spreizt. Trotz der guten Neuigkeiten über den Preis wirkt

94

sie nicht froh. Im Gegenteil, sie schaut mich vorwurfsvoll

an. Ist es, weil ich Rue nicht gerettet habe?

Nein. Es ist, weil ich ihr immer noch nicht gedankt habe,

denke ich.

Eine Welle der Scham überspült mich. Das Mädchen

hat recht. Wie kann ich stumm und tatenlos dastehen und

Peeta alles sagen lassen? Wäre Rue die Siegerin gewesen,

hätte sie meinen Tod niemals sang- und klanglos hinge-

nommen. Ich denke daran, wie ich sie in der Arena mit

Blumen bedeckt habe, wie wichtig es mir war, dass ihr

Tod nicht unbemerkt blieb. Doch diese Geste bedeutet gar

nichts, wenn ich sie jetzt nicht untermauere.

»Warten Sie!« Ich stolpere nach vorn, drücke die Tafel

an die Brust. Ich habe meine Redezeit verstreichen lassen,

doch jetzt muss ich etwas sagen. Das bin ich Rue einfach

schuldig. Selbst wenn ich meinen Preis ganz den Familien

überlassen hätte, wäre das keine Entschuldigung für mein

Schweigen am heutigen Tag. »Bitte warten Sie.« Ich weiß

nicht, wo ich anfangen soll, aber als ich erst einmal rede,

strömen mir die Worte aus dem Mund, als hätte ich sie

schon lange im Kopf gehabt.

»Ich möchte den Tributen von Distrikt 11 danken«,

sage ich. Ich schaue zu den beiden Frauen auf Threshs Sei-

te. »Ich habe nur ein einziges Mal mit Thresh gesprochen.

95

Für ihn hat das ausgereicht, um mich zu verschonen. Ich

kannte ihn nicht, aber ich hatte immer Hochachtung vor

ihm. Vor seiner Stärke. Weil er die Spiele nach seinen ei-

genen Regeln gespielt hat und sich nichts hat aufzwingen

lassen. Die Karrieros wollten ihn von Anfang an auf ihre

Seite ziehen, aber er wollte nicht. Dafür hatte er meine

Hochachtung.«

Zum ersten Mal hebt die bucklige Frau – ist sie Threshs

Großmutter? – den Kopf und ein leises Lächeln umspielt

ihre Lippen.

Im Publikum ist es jetzt still geworden, so still, dass ich

mich frage, wie das überhaupt möglich ist. Sie müssen alle

den Atem anhalten.

Ich wende mich zu Rues Familie. »Bei Rue jedoch habe

ich das Gefühl, sie zu kennen, und sie wird immer bei mir

sein. Alles Schöne erinnert mich an sie. Ich sehe sie in den

gelben Blumen, die auf der Weide an meinem Haus wach-

sen. Ich sehe sie in den Spotttölpeln, die auf den Bäumen

singen. Doch vor allem sehe ich sie in meiner Schwester,

Prim.« Meine Stimme ist wacklig, aber ich habe es fast ge-

schafft. »Ich danke euch für eure Kinder.« Ich hebe das

Kinn, als ich mich an das Publikum wende. »Und ich

danke euch allen für das Brot.«

Ich stehe da, fühle mich gebrochen und klein, zahllose

96

Blicke sind auf mich gerichtet. Sehr lange bleibt es still.

Dann pfeift jemand aus der Menge Rues Spotttölpelme-

lodie. Die vier Töne, mit denen in den Obstplantagen das

Ende des Arbeitstages eingeläutet wurde. In der Arena

bedeuteten sie Sicherheit. Als die Melodie verklingt, sehe

ich, woher der Pfiff kam: von einem hutzligen alten Mann

in einem verblichenen roten Hemd und Latzhose. Unsere

Blicke treffen sich.

Was dann passiert, ist kein Zufall. Es vollzieht sich

so vollkommen synchron, dass es unmöglich ein spon-

taner Akt sein kann. Jeder Einzelne im Publikum legt

die drei mittleren Finger der linken Hand auf die Lippen

und streckt sie dann zu mir aus. Das ist unser Zeichen

aus Distrikt 12, mein letzter Abschiedsgruß an Rue in

der Arena.

Hätte es das Gespräch mit Präsident Snow nicht gege-

ben, würde diese Geste mich womöglich zu Tränen rüh-

ren. Doch da ich seinen Befehl, die Distrikte zu beruhigen,

noch in den Ohren habe, erfüllt sie mich mit Furcht. Was

wird er von diesem öffentlichen Gruß an das Mädchen

halten, das dem Kapitol die Stirn geboten hat?

Auf einmal wird mir klar, was ich da getan habe.

Ohne dass es meine Absicht war – ich wollte nur meine

Dankbarkeit ausdrücken –, habe ich etwas Gefährliches

97

ausgelöst. Einen Akt des Widerstands in Distrikt 11. Ge-

nau das, was ich verhindern soll!

Ich überlege, womit ich das Geschehene zunichtema-

chen, es widerlegen könnte, doch da wird mit einem leich-

ten Knacken mein Mikrofon abgeschaltet, und der Bür-

germeister ergreift das Wort. Peeta und ich nehmen noch

einen letzten Applaus in Empfang. Er führt mich zurück

zur Tür, er merkt gar nicht, dass etwas nicht stimmt.

Mir ist ganz komisch und ich muss einen Augenblick

stehen bleiben. Kleine Lichtfetzen tanzen vor meinen Au-

gen. »Alles in Ordnung?«, fragt Peeta.

»Nur ein bisschen schwindelig. Die Sonne war so grell«,

sage ich. Ich sehe seinen Blumenstrauß. »Ich hab meine

Blumen vergessen«, murmele ich.

»Ich hol sie«, sagt er.

»Das mach ich schon«, sage ich.

Hätte ich die Blumen nicht vergessen, wäre ich nicht

stehen geblieben, dann wären wir jetzt wohlbehalten im

Justizgebäude. Stattdessen sehe ich von der schattigen Ve-

randa aus alles mit an.

Zwei Friedenswächter ziehen den alten Mann, der ge-

pfiffen hat, hinauf auf die Treppe. Zwingen ihn vor der

Menge auf die Knie. Und jagen ihm eine Kugel in den

Kopf.

98

5 Der Mann ist gerade erst auf dem Boden

zusammengesunken, als eine Wand aus

weißen Friedenswächtern uns die Sicht versperrt. Mehrere

Soldaten haben ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet,

während sie uns zurück zur Tür schieben.

»Wir gehen ja schon!«, sagt Peeta und schubst den Frie-

denswächter, der mich bedrängt, weg. »Wir haben verstan-

den, okay? Komm, Katniss.«

Er legt mir einen Arm um die Schultern und führt

mich zurück ins Justizgebäude. Der Friedenswäch-

ter folgt uns im Abstand von ein oder zwei Schritten.

Kaum sind wir drin, schlägt die Tür zu, und wir hö-

ren die Stiefel des Friedenswächters, der zurück zu der

Menge geht.

Auf dem Bildschirm, der an der Wand angebracht ist,

sieht man nur ein Grieselbild. Darunter warten Haymitch,

Effie, Portia und Cinna mit ängstlichen, angespannten

Gesichtern.

»Was ist passiert?« Effie kommt schnell auf uns zu.

»Nach Katniss’ wundervoller Rede hatten wir keinen

Empfang mehr, und dann meinte Haymitch, er hätte

99

einen Schuss gehört. Ich hab gesagt, das kann nicht sein,

aber wer weiß? Es gibt ja überall Verrückte!«

»Es ist nichts passiert, Effie. Ein alter Lkw hatte eine

Fehlzündung«, sagt Peeta ruhig.

Noch zwei Schüsse. Sie werden durch die Tür kaum

gedämpft. Für wen waren die? Threshs Großmutter? Eine

von Rues kleinen Schwestern?

»Ihr beide. Kommt mit«, sagt Haymitch. Peeta und ich

folgen ihm und lassen die anderen zurück. Jetzt, da wir im

Gebäude in Sicherheit sind, interessieren sich die Friedens-

wächter, die um das Justizgebäude herum aufgestellt sind,

nicht mehr sonderlich für unser Treiben. Wir gehen eine

prächtige marmorne Wendeltreppe hinauf. Oben liegt ein

langer Flur, der mit einem abgetretenen Teppich ausgelegt

ist. Eine Flügeltür steht offen und lockt uns in das erste

Zimmer. Die Wände sind bestimmt sieben Meter hoch.

An der Decke Stuck mit Früchten und Blumen, kleine

Putten mit Flügeln schauen aus allen Ecken auf uns herab.

Vasen mit Blüten verströmen einen süßlichen Duft, von

dem mir die Augen jucken. Unsere Abendkleider hängen

an einer Garderobe an der Wand. Der Raum ist für uns

vorbereitet, doch wir haben kaum unsere Geschenke abge-

legt, als Haymitch uns die Mikrofone von der Brust reißt,

sie hinter ein Sofakissen stopft und uns weiterwinkt.

100

Soweit ich weiß, ist Haymitch erst ein Mal hier gewe-

sen, bei seiner eigenen Siegertour vor mehreren Jahrzehn-

ten. Doch entweder hat er ein bemerkenswertes Gedächt-

nis oder zuverlässige Instinkte, denn er führt uns durch

ein Labyrinth aus gewundenen Treppenhäusern und

immer schmaler werdenden Fluren. Manchmal muss er

stehen bleiben und eine Tür mit Gewalt öffnen. An dem

widerstrebenden Quietschen der Angeln merkt man, dass

die Türen lange nicht geöffnet wurden. Schließlich steigen

wir eine Leiter zu einer Falltür hoch. Als Haymitch sie zur

Seite schiebt, finden wir uns in der Kuppel des Justizge-

bäudes wieder. Sic ist riesig und vollgestopft mit kaputten

Möbeln, Bücherstapeln, Balken und rostigen Waffen. Al-

les ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, hier ist seit

Jahren nichts passiert. Durch vier schmuddelige quadrati-

sche Fenster rund um die Kuppel versucht sich das Licht

hindurchzukämpfen. Haymitch schließt die Falltür mit

dem Fuß und schaut uns an. »Was ist los?«, fragt er.

Peeta erzählt alles, was auf dem Platz geschehen ist.

Der Pfiff, der Gruß, unser Zögern auf der Veranda, der

Mord an dem alten Mann. »Was hat das zu bedeuten,

Haymitch?«

»Das kannst besser du erzählen«, sagt Haymitch zu mir.

Das sehe ich anders. Ich glaube, es ist viel schlimmer,

101

wenn ich es erzähle. Aber ich erkläre Peeta alles, so ruhig

ich kann. Ich erzähle von Präsident Snow, von den Unru-

hen in den Distrikten. Nicht einmal den Kuss von Gale

lasse ich aus. Ich erkläre, dass wir alle in Gefahr sind, dass

das ganze Land in Gefahr ist wegen meines Beerentricks.

»Auf dieser Tour sollte ich alles wieder geraderücken. Alle,

die Zweifel hatten, sollte ich davon überzeugen, dass ich

aus Liebe gehandelt habe. Damit sich die Lage wieder

beruhigt. Stattdessen hab ich heute erreicht, dass sie drei

Menschen getötet haben, und jetzt werden alle auf dem

Platz bestraft.« Mir ist so elend, dass ich mich auf ein Sofa

setzen muss, auch wenn die Sprungfedern und die Fül-

lung herausgucken.

»Dann hab ich auch alles noch schlimmer gemacht.

Indem ich ihnen das Geld geschenkt habe«, sagt Peeta.

Plötzlich schlägt er so fest gegen eine Lampe, die wack-

lig auf einer Kiste steht, dass sie quer durch das Zimmer

fliegt. Klirrend fällt sie zu Boden. »Damit muss Schluss

sein! Auf der Stelle! Mit diesem … diesem Spiel, das ihr

beide da spielt, dass ihr euch Geheimnisse erzählt, aus de-

nen ihr mich raushaltet, als wäre ich zu unwichtig oder zu

blöd oder zu schwach, um damit fertigzuwerden.«

»So ist es nicht, Peeta …«, setze ich an.

»Genau so ist es!«, brüllt er. »Ich hab auch Menschen,

102

die mir am Herzen liegen, Katniss! Freunde und Ver-

wandte in Distrikt 12, die genauso tot sein werden wie

deine, wenn wir diese Geschichte nicht hinkriegen. Nach

allem, was wir in der Arena zusammen durchgemacht ha-

ben, hab ich da nicht wenigstens die Wahrheit verdient?«

»Bei dir kann man sich immer darauf verlassen, dass du

deine Sache gut machst, Peeta«, sagt Haymitch. »Du weißt

genau, wie du dich vor der Kamera darstellen musst. Das

wollte ich nicht stören.«

»Also, da hast du mich aber überschätzt. Denn heute

hab ich’s ja gründlich vermasselt. Was glaubst du, was jetzt

mit Rues und Threshs Familien passiert? Meinst du, sie

bekommen ihren Anteil an unserem Preis? Meinst du, ich

hab ihnen eine strahlende Zukunft gesichert? Ich glaub,

die können froh sein, wenn sie den Tag überleben!« Peeta

schleudert noch etwas durchs Zimmer, eine Skulptur. So

habe ich ihn noch nie erlebt.

»Haymitch, er hat recht«, sage ich. »Es war ein Feh-

ler, dass wir es ihm nicht gesagt haben. Auch schon im

Kapitol.«

»Selbst in der Arena hattet ihr beide schon ein spezielles

System, oder?«, fragt Peeta. Er klingt jetzt ruhiger. »Und

ich war nicht eingeweiht.«

»Nein, das stimmt nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Ich

103

hab nur daran, was Haymitch mir geschickt oder nicht ge-

schickt hat, gemerkt, was er von mir wollte«, sage ich.

»Tja, die Chance hatte ich nicht. Mir hat er nämlich nie

irgendwas geschickt, bis du aufgetaucht bist«, sagt Peeta.

Darüber habe ich noch gar nicht groß nachgedacht.

Wie es auf Peeta gewirkt haben muss, als ich in der Are-

na auftauchte und Brandsalbe und Brot bekommen hatte,

während er, der an der Schwelle zum Tod stand, leer aus-

gegangen war. Als hielte Haymitch mich auf Peetas Kos-

ten am Leben.

»Hör mal, Junge …«, setzt Haymitch an.

»Spar dir den Atem, Haymitch. Mir ist schon klar, dass

du dich für einen von uns entscheiden musstest. Und ich

hätte selbst gewollt, dass du dich für sie entscheidest. Aber

das hier ist was anderes. Da draußen sind Menschen ge-

storben. Und wenn wir es nicht sehr geschickt anstellen,

wird es weitere Tote geben. Wir wissen alle, dass ich vor

der Kamera besser bin als Katniss. Mit mir braucht kei-

ner meine Rolle zu üben. Aber ich will wissen, worauf ich

mich einlasse«, sagt Peeta.

»Ab jetzt werde ich dich immer auf dem Laufenden

halten«, verspricht Haymitch.

»Das wil ich dir auch geraten haben«, sagt Peeta. Er

schaut mich noch nicht mal an, als er aus dem Zimmer geht.

104

Der Staub, den er aufgewirbelt hat, sinkt an anderen

Stellen hinab. Auf meine Haare, meine Augen, meine

glänzende Goldbrosche.

»Hattest du dich wirklich für mich entschieden, Hay-

mitch?«, frage ich.

»Ja«, sagt er.

»Warum? Du kannst ihn doch besser leiden.«

»Das stimmt. Aber überleg mal – bevor sie die Regeln

geändert haben, konnte ich nur darauf hoffen, einen von

euch lebend da rauszuholen«, sagt er. »Und da er ent-

schlossen war, dich zu beschützen, dachte ich mir, zu dritt

schaffen wir es vielleicht, dich nach Hause zu holen.«

»Ach so.« Mehr bringe ich nicht heraus.

»Da siehst du, was für Entscheidungen du mal treffen

musst. Wenn wir hier lebend rauskommen«, sagt Hay-

mitch. »Du wirst es noch lernen.«

Nun ja, eins habe ich heute auf jeden Fall gelernt. Das

hier ist keine größere Version von Distrikt 12. Unser Zaun

ist unbewacht und steht selten unter Strom. Unsere Frie-

denswächter sind zwar lästig, aber nicht so brutal. Die

Schwierigkeiten bei uns lösen eher Erschöpfung aus als

Wut. Hier in Distrikt 11 leiden die Menschen größere Not

und sie sind verzweifelter. Präsident Snow hat recht. Ein

Funke könnte ausreichen, um sie zu entflammen.

105

Für mich geht jetzt alles so schnell, dass ich nicht mehr

mitkomme. Die Warnung, die Schüsse, die Erkenntnis,

dass ich vielleicht etwas sehr Folgenschweres in Gang ge-

setzt habe. Das ist alles so absurd. Es wäre etwas anderes,

wenn ich geplant hätte, Unruhe zu stiften, aber so … Wie

hab ich es bloß geschafft, so ein Chaos anzurichten?

»Komm schon. Wir dürfen beim Abendessen nicht feh-

len«, sagt Haymitch.

Ich bleibe so lange unter der Dusche, bis sie mich rufen,

weil ich noch angekleidet werden muss. An dem Vorberei-

tungsteam scheinen die Ereignisse des Tages vol kommen

vorbeigegangen zu sein. Sie freuen sich al e auf das Abend-

essen. In den Distrikten sind sie wichtig genug, um dabei

sein zu dürfen, im Kapitol werden sie fast nie zu den ent-

scheidenden Partys eingeladen. Während sie darüber speku-

lieren, was es wohl zu essen gibt, sehe ich immer noch den

alten Mann vor mir, wie ihm der Kopf weggesprengt wird.

Ich achte gar nicht darauf, was sie mit mir anstel en, bis ich

fertig bin und mich im Spiegel anschaue. Ein trägerloses

zartrosa Kleid fäl t mir bis auf die Schuhe. Meine Haare

sind zurückgesteckt und kringeln sich auf meinem Rücken.

Cinna kommt von hinten zu mir und legt mir eine sil-

bern schimmernde Stola um die Schultern. Er fängt mei-

nen Blick im Spiegel auf. »Gefällt es dir?«

106

»Es ist wunderschön. Wie immer«, sage ich.

»Zeig mal, wie es mit einem Lächeln aussieht«, sagt er

freundlich. Das ist seine Art, mich daran zu erinnern, dass

gleich die Kameras wieder dabei sein werden. Ich schaffe

es, die Mundwinkel hochzuziehen. »Na also.«

Als wir uns alle treffen, um zum Essen zu gehen, mer-

ke ich, dass Effie verstimmt ist. Bestimmt hat Haymitch

ihr nicht erzählt, was auf dem Platz passiert ist. Ich wür-

de mich nicht wundern, wenn Cinna und Portia Bescheid

wüssten, doch es scheint ein unausgesprochenes Einver-

ständnis darüber zu geben, dass man schlechte Nachrich-

ten besser von Effie fernhält. Es dauert jedoch nicht lange,

bis sie von dem Problem Wind bekommt.

Sie geht den Plan für den Abend durch, dann fegt sie

das Blatt beiseite. »Und dann können wir endlich wieder

in den Zug und weg von hier«, sagt sie.

»Stimmt irgendwas nicht, Effie?«, fragt Cinna.

»Es gefällt mir nicht, wie wir hier behandelt werden.

Wie sie uns in Lastwagen pferchen und von der Bühne

drängen. Und dann hab ich mich vor etwa einer Stunde

mal im Justizgebäude umgeschaut. Ich verstehe ja eine

ganze Menge von Architektur«, sagt sie.

»Ach ja, davon hab ich schon gehört«, sagt Portia, bevor

das Schweigen zu lange andauert.

107

»Also hab ich mich ein bisschen umgeschaut, weil Dis-

triktruinen in diesem Jahr total angesagt sind. Da kamen

zwei Friedenswächter und haben mich zurück in unsere

Wohnung geschickt. Einer hat mir sogar das Gewehr an

die Brust gehalten!«, sagt Effie.

Das nehme ich als unmittelbare Reaktion darauf, dass

Haymitch, Peeta und ich uns zuvor aus dem Staub gemacht

hatten. Immerhin hat der Gedanke, dass Haymitch recht

hatte, etwas Beruhigendes. Dass niemand die verstaubte

Kuppel überwachen würde, wo wir miteinander geredet ha-

ben. Obwohl sie das ab jetzt ganz bestimmt tun werden.

Effie sieht so bekümmert aus, dass ich sie spontan um-

arme. »Das ist ja schrecklich, Effie. Vielleicht sollten wir

gar nicht zu dem Essen gehen. Wenigstens, bis sie sich ent-

schuldigt haben.« Ich weiß, dass sie nie zustimmen würde,

aber bei dem Vorschlag bessert sich ihre Laune erheblich,

sie fühlt sich ernst genommen.

»Nein, ich schaff das schon. Mit Höhen und Tiefen fer-

tigzuwerden, gehört zu meinem Job. Und ihr zwei dürft

nicht um euer Abendessen kommen. Aber danke für das

Angebot, Katniss.«

Effie stellt uns für unseren Auftritt auf. Erst die Vorbe-

reitungsteams, dann sie, die Stylisten und Haymitch. Pee-

ta und ich kommen natürlich zum Schluss.

108

Irgendwo unten fangen Musiker an zu spielen. Als die

Spitze unserer kleinen Prozession die Treppe hinuntergeht,

fassen Peeta und ich uns bei den Händen.

»Haymitch sagt, ich hätte dich nicht anbrüllen dürfen.

Du hast nur seine Anweisungen befolgt«, sagt Peeta. »Und

es ist ja nicht so, als hätte ich in der Vergangenheit nicht

auch mal etwas vor dir verborgen.«

Ich erinnere mich an den Schock, als Peeta vor ganz

Panem seine Liebe zu mir gestand. Haymitch hatte davon

gewusst und mir nichts gesagt. »Ich glaube, nach dem In-

terview damals hab ich auch das eine oder andere demo-

liert«, sage ich.

»Nur einen Blumenkübel«, erwidert er.

»Und deine Hände. Aber jetzt haben wir das nicht

mehr nötig, oder? Unaufrichtig zueinander zu sein«, sage

ich.

»Nein«, sagt Peeta. Wir stehen oben auf der Treppe

und lassen Haymitch fünfzehn Stufen Vorsprung, wie Ef-

fie gesagt hat. »War es wirklich das einzige Mal, dass du

Gale geküsst hast?«

Ich bin so perplex, dass ich ihm antworte. »Ja.« Hat ihn

diese Frage tatsächlich gequält, nach all dem, was heute

passiert ist?

»Fünfzehn. Los jetzt«, sagt er.

109

Ein Scheinwerfer trifft uns und ich setze mein breites-

tes Lächeln auf.

Wir gehen die Treppe hinunter und begeben uns in den

Sog aus immer gleichen Abendessen, Festlichkeiten und

Zugfahrten. Jeden Tag dasselbe. Aufwachen. Anziehen.

Durch jubelnde Menschenmengen fahren. Eine Rede auf

uns anhören. Mit einer Dankesrede antworten, aber nur

mit der, die das Kapitol vorgegeben hat, keine persönli-

chen Worte mehr. Manchmal eine kleine Rundfahrt: ein

kurzer Blick auf das Meer in dem einen Distrikt, riesige

Wälder in einem anderen, hässliche Fabriken, Weizen-

felder, stinkende Raffinerien. Abendgarderobe anziehen.

Festessen. Zum Zug.

Während der Feierlichkeiten sind wir immer ernst

und respektvoll, aber ständig in Kontakt, mit den Hän-

den oder mit den Armen. Beim Abendessen sind wir halb

wahnsinnig vor Liebe zueinander. Wir küssen uns, wir

tanzen, lassen uns dabei erwischen, wie wir uns zu zweit

davonstehlen wollen. Im Zug leiden wir stumm, während

wir uns unsere Wirkung ausmalen.

Selbst ohne persönliche Ansprachen, die das Volk auf-

rühren könnten – überflüssig zu erwähnen, dass unsere Re-

den in Distrikt 11 vor der Ausstrahlung herausgeschnitten

wurden –, ist zu spüren, dass etwas in der Luft liegt, wie

110

das Brodeln in einem Topf, der jeden Moment überzuko-

chen droht. Nicht überal . Mancherorts macht das Publi-

kum den Eindruck einer müden Viehherde, wie er auch in

Distrikt 12 bei den Siegesfeierlichkeiten für gewöhnlich vor-

herrscht. Doch anderswo – besonders in den Distrikten 8, 4

und 3 – zeigt sich Begeisterung in den Gesichtern der Men-

schen, als sie uns sehen, und unter der Begeisterung lauert

Wut. Wenn sie meinen Namen skandieren, ist das eher ein

Ruf nach Rache als ein Jubeln. Wenn die Friedenswächter

einschreiten, um die aufmüpfige Menge zu beruhigen, leis-

tet sie eher Widerstand, als dass sie sich zurückzieht. Und

ich weiß, dass ich dagegen machtlos bin. Kein Liebestheater,

und wäre es noch so glaubwürdig, könnte diese Wel e auf-

halten. Wenn es ein Akt des zeitweiligen Wahnsinns von

mir war, Peeta diese Beeren hinzuhalten, dann sind diese

Leute auch zum Wahnsinn bereit.

Cinna muss meine Kleider um die Taille herum enger

machen. Das Vorbereitungsteam ist besorgt wegen der

Ringe unter meinen Augen. Effie gibt mir Schlaftablet-

ten, doch sie helfen nicht. Jedenfalls nicht gut genug. Ich

döse ein, um aus Albträumen aufzuschrecken, die häufi-

ger und schlimmer geworden sind. Einmal hört Peeta, der

nachts durch den Zug wandert, mich schreien, während

ich mich aus dem Schleier der Medikamente zu kämpfen

111

versuche, die die schlimmen Träume nur verlängern. Er

schafft es, mich wach zu rütteln und zu beruhigen. Dann

kommt er zu mir ins Bett und hält mich in den Armen,

bis ich wieder eingeschlafen bin. Von da an weigere ich

mich, die Tabletten zu schlucken. Aber ich lasse ihn jede

Nacht in mein Bett. Wir überstehen die Dunkelheit wie

in der Arena, aneinandergeschmiegt, immer auf der Hut

vor Gefahren, die überall lauern können. Weiter passiert

nichts, aber schon bald wird im Zug über unser Arrange-

ment geklatscht.

Als Effie mir davon erzählt, denke ich: Gut so. Viel eicht

dringt es ja bis zu Präsident Snow durch. Ich sage ihr, wir

würden versuchen, ein wenig diskreter zu sein, aber wir

denken gar nicht daran.

Die Auftritte in Distrikt 2 und dann in 1 sind auf ihre

ganz eigene Weise grauenhaft. Cato und Clove, die beiden

Tribute aus Distrikt 2, hätten es beide nach Hause schaf-

fen können, wenn Peeta und ich nicht gewonnen hätten.

Das Mädchen aus Distrikt 1, Glimmer, und den Jungen

habe ich persönlich umgebracht. Während ich versuche,

seine Familie nicht anzusehen, erfahre ich, dass er Marvel

hieß. Wie ist es möglich, dass ich das nicht wusste? Wahr-

scheinlich habe ich vor den Spielen nicht darauf geachtet

und hinterher wollte ich es gar nicht mehr wissen.

112

Als wir im Kapitol ankommen, sind wir verzweifelt.

Wir haben endlose Auftritte vor einem Publikum, das uns

anhimmelt. Hier besteht keine Gefahr eines Aufstands,

hier bei den Privilegierten, bei denen, deren Namen zur

Ernte nie in die Lostrommel wandern, deren Kinder nie

für die vermeintlichen Verbrechen sterben, die vor Gene-

rationen begangen wurden. Im Kapitol brauchen wir nie-

manden von unserer Liebe zu überzeugen, wir klammern

uns nur an die schwache Hoffnung, ein paar Zweifler in

den Distrikten zu erreichen. Was wir auch tun, es kommt

uns zu wenig vor, zu spät.

Als wir wieder in unserem alten Quartier im Trainig-

scenter sind, mache ich den Vorschlag mit dem öffentli-

chen Heiratsantrag. Peeta ist einverstanden, aber danach

verschwindet er für lange Zeit in seinem Zimmer. Hay-

mitch sagt, ich soll ihn in Ruhe lassen.

»Ich dachte, er wollte es sowieso«, sage ich.

»Aber nicht so«, sagt Haymitch. »Er wollte, dass es echt

ist.«

Ich gehe in mein Zimmer und lege mich ins Bett, ich

versuche, nicht an Gale zu denken, und denke doch an

nichts anderes.

An diesem Abend quasseln wir uns auf der Bühne vor

dem Trainingscenter durch einen ganzen Fragenkatalog.

113

Caesar Flickerman in seinem glitzernden nachtblauen An-

zug, die Haare, Lider und Lippen immer noch taubenblau

gefärbt, führt uns fehlerfrei durch das Interview. Als er

uns nach der Zukunft fragt, kniet Peeta nieder, schüttet

mir sein Herz aus und bittet mich, ihn zu heiraten. Natür-

lich nehme ich seinen Antrag an. Caesar ist außer sich, das

Publikum im Kapitol flippt aus, Aufnahmen von Men-

schen überall in Panem zeigen ein Volk im Glück.

Präsident Snow höchstpersönlich macht einen Über-

raschungsbesuch, um uns zu gratulieren. Er drückt Peeta

die Hand und klopft ihm anerkennend auf die Schulter.

Er umarmt mich, hüllt mich in den Geruch aus Blut und

Rosen und drückt mir einen schmatzigen Kuss auf die

Wange. Als er sich zurückzieht, die Finger in meinen Arm

gräbt und mir ins Gesicht lächelt, wage ich es, die Brau-

en zu heben. Sie stellen die Frage, die ich nicht über die

Lippen bringe. Habe ich es geschafft? Hat es gereicht? Hat

es gereicht, dass ich dir al es gegeben habe, dass ich das Spiel

weitergespielt und versprochen habe, Peeta zu heiraten?

Zur Antwort schüttelt er fast unmerklich den Kopf.

114

6 In dieser winzigen Bewegung erken-

ne ich das Ende der Hoffnung, die be-

ginnende Zerstörung all dessen, was mir lieb ist auf der

Welt. Ich habe keine Ahnung, wie meine Strafe ausfällt,

wie weit das Netz ausgeworfen wird, doch am Ende wird

höchstwahrscheinlich nichts mehr übrig sein. Also soll-

te man meinen, dass ich in diesem Moment am Boden

zerstört sein müsste. Aber es ist ganz merkwürdig. Ich

empfinde vor allem eine Art Erleichterung. Dass ich das

Spiel aufgeben kann. Dass die Frage, ob ich dieses Un-

ternehmen gewinnen kann, beantwortet ist, selbst wenn

die Antwort ein dröhnendes Nein ist. Und wenn verzwei-

felte Zeiten verzweifelte Maßnahmen erfordern, dann

kann ich mich so verzweifelt aufführen, wie ich will.

Allerdings nicht hier, noch nicht jetzt. Das Wichtigs-

te ist, dass ich zurück in den Distrikt 12 komme, denn

zu meinem Plan werden auf jeden Fall meine Mutter und

meine Schwester, Gale und seine Familie gehören. Und

Peeta, wenn ich ihn überreden kann mitzukommen. Auch

Haymitch setze ich auf die Liste. Das sind die Menschen,

die ich mitnehmen muss, wenn ich in die Wildnis fliehe.

115

Wie ich sie überzeugen soll, wo wir im tiefsten Winter hin-

können, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein, das sind

unbeantwortete Fragen. Aber wenigstens weiß ich jetzt,

was zu tun ist.

Anstatt also weinend zu Boden zu sinken, merke ich,

dass ich so aufrecht und selbstbewusst dastehe wie seit

Wochen nicht. Mein Lächeln ist zwar etwas idiotisch, aber

nicht gezwungen. Und als Präsident Snow das Publikum

zum Schweigen bringt und sagt: »Was halten Sie davon,

wenn die beiden hier im Kapitol ihre Hochzeit feiern?«,

da verwandle ich mich mühelos in das Mädchen, das vor

Freude fast ausrastet.

Caesar Flickerman fragt den Präsidenten, ob er schon

einen Termin ins Auge gefasst habe.

»Oh, ehe wir uns auf einen Termin festlegen, sollten

wir uns lieber mit Katniss’ Mutter einigen«, sagt der Prä-

sident. Das Publikum grölt und der Präsident legt einen

Arm um mich. »Wenn alle im Land es ganz fest wollen,

dann kommst du vielleicht unter die Haube, bevor du

dreißig bist.«

»Wahrscheinlich müssen Sie dafür ein neues Gesetz er-

lassen«, sage ich kichernd.

»Wenn’s weiter nichts ist«, sagt der Präsident mit einem

verschwörerischen Grinsen.

116

Ach, wie wir zwei uns miteinander amüsieren.

Das Fest, das im Bankettsaal von Präsident Snows An-

wesen stattfindet, sucht seinesgleichen. Die weit über zehn

Meter hohe Decke ist in einen Nachthimmel verwandelt

worden und die Sterne sehen genauso aus wie zu Hause.

Vom Kapitol aus sehen sie vermutlich auch so aus, aber wer

weiß? In der Stadt ist immer zu viel Licht, um die Sterne

zu sehen. Irgendwo in der Mitte zwischen dem Fußboden

und der Decke schweben die Musiker auf etwas, das aus-

sieht wie bauschige weiße Wolken, aber ich kann nicht er-

kennen, was sie in der Luft hält. Statt der großen Tische

sind überall im Saal Sofas und Sessel gruppiert, einige um

Kamine herum, andere an duftenden Blumengärten oder

Teichen mit exotischen Fischen, und die Gäste können in

aller Bequemlichkeit essen und trinken und tun, was ih-

nen gefällt. In der Mitte des Saals ist eine große geflieste

Fläche, die zum Tanzen, als Bühne für die unterschied-

lichsten Künstler und einfach als Treffpunkt für die extra-

vagant gekleideten Gäste dient.

Doch der eigentliche Star des Abends ist das Essen.

Tafeln voller Köstlichkeiten sind an den Wänden entlang

aufgebaut. Alles, was man sich nur vorstellen kann, steht

dort bereit, Speisen, die man sich nie hätte träumen lassen.

Ganze gebratene Rinder, Schweine und Ziegen, die sich

117

noch am Spieß drehen. Riesige Platten mit Geflügel, ge-

füllt mit herrlichen Früchten und Nüssen. Meerestiere, die

mit Soßen beträufelt sind oder darauf warten, in würzige

Dips getunkt zu werden. Zahllose Käsesorten, verschie-

dene Brote, Gemüse, Desserts; Kaskaden von Wein und

Ströme von Spirituosen, auf denen die Flammen züngeln.

Mit meinem Kampfgeist ist auch mein Appetit wie-

der erwacht. Nachdem ich wochenlang vor lauter Sorgen

kaum essen konnte, habe ich jetzt einen Riesenhunger.

»Ich will alles probieren, was es gibt«, sage ich zu Peeta.

Ich sehe ihm an, dass er versucht, meine Miene zu

deuten, den Wandel nachzuvollziehen. Er weiß ja nicht,

dass ich in den Augen von Präsident Snow versagt habe,

deshalb kann er nur schlussfolgern, dass ich glaube, wir

hätten es geschafft. Vielleicht sogar, dass ich mich über

unsere Verlobung wirklich ein bisschen freue. Seine Ver-

wirrung spiegelt sich in seinem Blick, aber nur kurz, denn

wir werden gefilmt. »Dann lass es lieber langsam angehen«,

sagt er.

»Na gut, nicht mehr als einen Bissen von jedem Ge-

richt«, sage ich. Ich werde meinem Vorsatz schon an dem

ersten Tisch mit rund zwanzig Suppen untreu, als ich eine

cremige Kürbissuppe mit geraspelten Nüssen und kleinen

schwarzen Samen probiere. »Die könnte ich den ganzen

118

Abend essen!«, rufe ich. Aber das tue ich nicht. Bei einer

klaren grünen Brühe, deren Geschmack sich nur mit dem

Wort »frühlingshaft« beschreiben lässt, werde ich erneut

schwach, und dann noch einmal, als ich ein rosafarbenes,

mit Himbeeren getupftes Schaumsüppchen koste.

Gesichter tauchen auf, Namen werden ausgetauscht,

Fotos geknipst, Küsschen auf Wangen gehaucht. Meine

Spotttölpelbrosche hat anscheinend eine neue Mode ins Le-

ben gerufen, mehrere Leute kommen zu mir, um mir ihre

Accessoires zu zeigen. Der Vogel ist auf Gürtelschnal en zu

sehen, auf Seidenrevers gestickt, sogar an intimen Stel en

eintätowiert. Al e wol en das Zeichen der Siegerin tragen.

Ich kann nur ahnen, wie das Präsident Snow zur Weißglut

bringen muss. Aber was kann er tun? Die Spiele sind so gut

angekommen, hier, wo die Beeren nur für das verzweifelte

Mädchen stehen, das den Geliebten retten wil .

Peeta und ich suchen keine Gesellschaft, ganz von

selbst kommen die Leute zu uns. Wir sind die Hauptat-

traktion auf dem Fest. Ich tue so, als wäre ich hocherfreut,

aber die Leute vom Kapitol interessieren mich kein biss-

chen. Sie lenken mich nur vom Essen ab.

Jeder Tisch hält neue Verlockungen bereit und selbst

mit der Al es-nur-einmal-probieren-Regel werde ich schnell

satt. Ich nehme mir einen kleinen gebratenen Vogel, beiße

119

hinein und Orangensoße breitet sich auf meiner Zunge aus.

Köstlich. Doch den Rest dränge ich Peeta auf, weil ich noch

mehr probieren möchte, und die Vorstel ung, Essen wegzu-

werfen, wie es hier so viele Leute gedankenlos tun, ist mir

ein Graus. Nach etwa zehn Tischen bin ich satt, dabei ha-

ben wir nur einen kleinen Teil der Gerichte durchprobiert.

Genau in dem Moment kommt mein Vorberei-

tungsteam auf uns zugestürmt. Sie sind ganz außer sich

von dem Alkohol und vor Begeisterung darüber, bei so ei-

ner großen Sache dabei zu sein.

»Warum isst du nichts?«, fragt Octavia.

»Hab ich schon, jetzt kriege ich nichts mehr runter«,

sage ich. Alle lachen, als wäre es das Albernste, was sie je

gehört haben.

»Davon lässt man sich doch nicht abhalten!«, sagt Fla-

vius. Sie führen uns zu einem Tisch, auf dem kleine Wein-

gläser stehen, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt sind.

»Trinkt das!«

Als Peeta ein Glas nimmt, um einen Schluck zu trin-

ken, flippen sie aus.

»Doch nicht hier!«, schreit Octavia.

»Du musst es da drin trinken«, sagt Venia und zeigt auf

eine Tür, die zu den Toiletten führt. »Sonst landet doch

alles auf dem Boden!«

120

Peeta schaut wieder auf das Glas, bis er begreift. »Du

meinst, dass ich mich davon übergeben muss?«

Mein Vorbereitungsteam lacht hysterisch. »Na klar, da-

mit du weiteressen kannst«, sagt Octavia. »Ich war schon

zweimal dadrin. Alle machen das, wie soll man so ein

Festessen sonst genießen?«

Ich bin sprachlos, ich starre auf die hübschen kleinen

Gläser und denke an Octavias Worte. Peeta stellt sein

Glas mit einer Präzision zurück, als könnte es explodieren.

»Komm, Katniss, wir tanzen.«

Musik dringt durch die Wolken herab, während er

mich von dem Team und dem Tisch wegführt und mit

mir zur Tanzfläche geht. Von zu Hause kennen wir nur

wenige Tänze, solche, die zu Fideln und Flöten passen

und für die man ziemlich viel Platz braucht. Doch Effie

hat uns einige Tänze gezeigt, die im Kapitol beliebt sind.

Die Musik ist langsam und traumgleich, also zieht Peeta

mich in seine Arme, und wir drehen uns im Kreis, fast

ohne Schritte. Diesen Tanz könnte man auf einem Kuch-

enteller tanzen. Eine Weile schweigen wir. Dann spricht

Peeta mit gepresster Stimme.

»Da macht man mit, denkt sich, man kommt damit klar

und viel eicht sind sie doch nicht so übel, und dann …« Er

verstummt.

121

Ich muss an die ausgemergelten Kinder auf unserem Kü-

chentisch denken, an meine Mutter, die das verschreibt, was

die Eltern nicht haben. Mehr zu essen. Jetzt, da wir reich

sind, wird sie ihnen einiges mit nach Hause geben. Aber

damals hatten wir oft nichts, was sie ihnen hätte geben kön-

nen, und häufig kam für das Kind ohnehin jede Hilfe zu

spät. Und hier im Kapitol übergeben sich die Leute, um sich

die Bäuche nur zum Spaß erneut vol schlagen zu können.

Nicht weil sie körperlich oder seelisch krank wären, nicht

weil das Essen verdorben wäre. Das macht man eben so auf

einem Fest. Es wird erwartet. Gehört zum Vergnügen dazu.

Einmal, als ich bei Hazelle vorbeiging, um ihr Wild zu

bringen, war Vick mit einem schlimmen Husten zu Hause.

Da der Kleine zu Gales Familie gehört, bekommt er mehr

zu essen als neunzig Prozent der Bevölkerung von Dist-

rikt 12. Trotzdem redete er eine Viertelstunde davon, dass

sie eine Dose Maissirup vom Pakettag aufgemacht hätten,

dass jeder einen Löffel voll aufs Brot bekommen habe und

dass es im Laufe der Woche vielleicht noch mehr geben

werde. Und Hazelle hatte gesagt, sie könne ihm vielleicht

ein bisschen Sirup in den Tee tun gegen den Husten, aber

er fand das ungerecht, wenn die anderen nicht auch etwas

bekämen. Wenn es schon bei Gale so zugeht, wie muss es

dann erst in den anderen Häusern sein?

122

»Peeta, die bringen uns her, damit wir uns zu ihrer Un-

terhaltung bis auf den Tod bekämpfen«, sage ich. »Im Ver-

gleich dazu ist das hier doch gar nichts.«

»Ich weiß. Ich weiß ja. Aber manchmal halte ich es ein-

fach nicht mehr aus. Bis … bis ich nicht mehr weiß, was

ich tun werde.« Er schweigt, dann flüstert er: »Vielleicht

haben wir einen Fehler gemacht, Katniss.«

»Was meinst du?«, frage ich.

»Vielleicht hätten wir nicht versuchen sollen, die Unru-

hen in den Distrikten zu unterdrücken«, sagt er. Schnell

schaue ich nach links und rechts, doch niemand scheint

es gehört zu haben. Die Kameraleute haben sich an einen

Tisch mit Meeresfrüchten locken lassen, und die tanzen-

den Paare um uns herum sind entweder zu betrunken oder

zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um etwas zu merken.

»Tut mir leid«, sagt er. Richtig so. Hier ist nicht der Ort,

um solche Gedanken auszusprechen.

»Spar dir das für zu Hause auf«, sage ich.

In diesem Moment kommt Portia mit einem großen

Mann an, der mir vage bekannt vorkommt. Sie stellt ihn

als Plutarch Heavensbee vor, den neuen Obersten Spiel-

macher. Plutarch fragt Peeta, ob er mich für einen Tanz

entführen dürfe. Peeta hat jetzt wieder sein Kamerage-

sicht aufgesetzt und reicht mich freundlich weiter, warnt

123

den Mann jedoch, mich nicht zu sehr in Beschlag zu

nehmen.

Ich will nicht mit Plutarch Heavensbee tanzen. Will

nicht seine Hände spüren, eine an meiner Hand, eine auf

meiner Hüfte. Ich bin es nicht gewohnt, angefasst zu wer-

den, außer von Peeta oder meiner Familie, und Spielma-

cher rangieren bei mir, was meinen Wunsch nach Körper-

kontakt angeht, irgendwo unter Maden. Immerhin scheint

er das zu spüren und hält mich auf Armeslänge von sich,

während wir uns auf dem Tanzboden drehen.

Wir plaudern über das Fest, über die Unterhaltung, das

Essen, und dann macht er einen Witz darüber, dass er seit

dem Training einen weiten Bogen um Punsch mache. Ich

verstehe nicht, was er meint, bis mir klar wird, dass er der-

jenige ist, der rückwärts in eine Schüssel mit Punsch ge-

stolpert ist, als ich während des Trainings einen Pfeil auf

die Spielmacher abgeschossen habe. Eigentlich nicht auf

die Spielmacher. Ich habe ihrem Spanferkel den Apfel aus

dem Maul geschossen. Aber ich habe sie erschreckt.

»Ach, Sie sind das …« Ich lache bei der Erinnerung da-

ran, wie er in den Punsch geplatscht ist.

»Ja. Und es wird Sie freuen zu hören, dass ich mich im-

mer noch nicht richtig davon erholt habe«, sagt Plutarch.

Ich würde gern erwidern, dass zweiundzwanzig tote

124

Tribute sich auch nicht mehr von den Spielen erholen wer-

den, an deren Planung er beteiligt war. Doch ich sage nur:

»Gut. Dann sind Sie dieses Jahr also der Oberste Spielma-

cher? Das ist ja bestimmt eine große Ehre.«

»Unter uns gesagt, gab es nicht viele Kandidaten für

den Job«, sagt er. »So eine große Verantwortung für den

Ausgang der Spiele.«

Ja, und der letzte Verantwortliche ist tot, denke ich. Na-

türlich weiß er Bescheid über Seneca Crane, aber er wirkt

ganz ungerührt. »Planen Sie schon das Jubel-Jubiläum?«,

frage ich.

»Oh ja. Die Vorbereitungen laufen selbstverständlich

schon seit Jahren. Arenen werden nicht an einem Tag er-

baut. Doch über die besondere Würze der Spiele, wenn

wir es einmal so nennen wollen, wird jetzt entschieden.

Ob Sie es glauben oder nicht, heute Nacht habe ich eine

Strategiebesprechung«, sagt er.

Plutarch tritt einen Schritt zurück und zieht eine gol-

dene Taschenuhr aus der Westentasche. Er klappt den

Deckel auf, und als er sieht, wie spät es ist, runzelt er die

Stirn. »Ich muss gleich gehen.« Er dreht die Uhr so herum,

dass ich das Zifferblatt sehen kann. »Um Mitternacht geht

es los.«

»Das ist aber spät für …«, setze ich an, doch da fällt mir

125

etwas auf. Plutarch fährt mit dem Daumen über das Kris-

tallglas der Uhr und ganz kurz flackert ein Bild auf. Es ist

ein Spotttölpel. Genau wie die Brosche an meinem Kleid.

Nur dass dieser wieder verschwindet. Plutarch klappt die

Uhr zu.

»Das ist eine sehr schöne Uhr«, sage ich.

»Oh, sie ist mehr als schön. Sie ist einmalig«, sagt er.

»Falls jemand nach mir fragen sollte, sagen Sie bitte, ich

sei zu Bett gegangen. Die Besprechungen sollen geheim

bleiben. Doch ich dachte mir, Ihnen könnte ich davon

erzählen.«

»Ja. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, sage

ich.

Als wir uns die Hände reichen, verbeugt er sich leicht,

eine übliche Geste hier im Kapitol. »Nun denn, wir sehen

uns im nächsten Sommer bei den Spielen, Katniss. Alles

Gute für Ihre Verlobung und viel Glück mit Ihrer Mutter.«

»Das kann ich brauchen«, sage ich.

Plutarch verschwindet, und ich schlendere auf der Su-

che nach Peeta durch die Menge, während fremde Men-

schen mir gratulieren. Zu meiner Verlobung, zu meinem

Sieg bei den Spielen, zur Farbe meines Lippenstifts. Ich

antworte ihnen, doch in Wirklichkeit denke ich daran,

wie Plutarch mir stolz seine schöne, einmalige Taschenuhr

126

gezeigt hat. Irgendetwas daran war merkwürdig. Fast

heimlichtuerisch. Aber warum? Vielleicht denkt er, je-

mand könnte seine Idee klauen, einen Spotttölpel auf einer

Uhr aufblitzen zu lassen. Ja, wahrscheinlich hat er ein Ver-

mögen dafür bezahlt, und jetzt kann er sie keinem zeigen,

weil er befürchtet, dass jemand ein billiges Imitat anferti-

gen lässt. Nur im Kapitol kann er sie sehen lassen.

Als ich Peeta finde, bewundert er gerade einen Tisch

mit kunstvoll dekorierten Torten. Die Bäcker sind extra

aus der Küche gekommen, um mit ihm über Zuckerguss

und Co. zu fachsimpeln; sie überschlagen sich fast, um

seine Fragen zu beantworten. Auf seine Bitte hin stellen

sie eine Auswahl kleiner Torten zusammen, die er mit

nach Distrikt 12 nehmen kann, um ihre Arbeit in Ruhe

zu studieren.

»Effie sagte, wir müssen um eins im Zug sein. Ich fra-

ge mich, wie spät es wohl ist«, sagt er und schaut in die

Runde.

»Kurz vor Mitternacht«, sage ich. Ich nehme eine Scho-

koladenblume von einer Torte und knabbere daran, über

Manieren mache ich mir jetzt gar keine Gedanken.

»Es ist Zeit, Danke und Auf Wiedersehen zu sagen«,

flötet Effie an meiner Seite. In einem Moment wie die-

sem liebe ich sie für ihre zwanghafte Pünktlichkeit. Wir

127

sammeln Cinna und Portia ein, und Effie führt uns her-

um, damit wir uns von den wichtigen Leuten verabschie-

den können, dann scheucht sie uns zur Tür.

»Müssen wir uns nicht bei Präsident Snow bedanken?«,

fragt Peeta. »Schließlich ist es sein Haus.«

»Ach, er ist nicht so ein Partylöwe. Zu beschäftigt«,

sagt Effie. »Ich habe schon dafür gesorgt, dass er morgen

die nötigen Karten und Geschenke bekommt. Da seid ihr

ja!« Effie winkt zwei Dienern des Kapitols zu, die einen

alkoholisierten Haymitch in ihrer Mitte haben.

In einem Wagen mit getönten Scheiben fahren wir

durch die Straßen des Kapitols. Die Vorbereitungsteams

folgen uns in einem anderen Wagen. Die Scharen der fei-

ernden Menschen sind so dicht, dass wir nur langsam vo-

rankommen. Doch Effie hat alles bis ins Kleinste geplant

und um Punkt eins sind wir wieder im Zug und verlassen

den Bahnhof.

Haymitch wird in seinem Abteil abgelegt. Cinna be-

stellt Tee, und wir setzen uns alle an den Tisch, während

Effie mit ihren Zeitplänen raschelt und uns daran erinnert,

dass wir uns immer noch auf der Tour befinden. »Wir

müssen an das Erntefest in Distrikt 12 denken. Daher

schlage ich vor, dass wir jetzt unseren Tee trinken und

dann direkt ins Bett gehen.« Niemand widerspricht.

128

Als ich die Augen wieder öffne, ist es früher Nachmit-

tag. Mein Kopf ruht auf Peetas Arm. Ich kann mich nicht

daran erinnern, dass er letzte Nacht hereingekommen ist.

Ich drehe mich um, vorsichtig, um ihn nicht zu stören,

aber er ist schon wach.

»Keine Albträume«, sagt er. »Was?«, frage ich.

»Letzte Nacht hattest du keine Albträume«, sagt er.

Das stimmt. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit habe

ich durchgeschlafen. »Aber ich habe etwas geträumt«, er-

widere ich und versuche mich zu erinnern. »Ich bin einem

Spotttölpel durch den Wald gefolgt. Ganz lange. In Wirk-

lichkeit war er Rue. Als er sang, hatte er ihre Stimme.«

»Wohin hat sie dich geführt?«, fragt Peeta und streicht

mir die Haare aus der Stirn.

»Ich weiß nicht. Wir sind nicht angekommen«, sage ich.

»Aber ich war glücklich.«

»Du hast auch geschlafen, als ob du glücklich wärst«,

sagt er.

»Peeta, wieso merke ich es nie, wenn du einen Alb-

traum hast?«, frage ich.

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich weine oder

um mich schlage oder so. Ich wache einfach auf und bin

wie gelähmt vor Panik«, sagt er.

»Dann weck mich doch«, sage ich und denke daran,

129

dass ich ihn in meinen schlechten Nächten oft zwei- oder

dreimal wecke. Und dass es dann oft ganz lange dauert,

bis ich mich wieder beruhigt habe.

»Das ist nicht nötig. Meine Albträume handeln meis-

tens davon, dass ich dich verliere«, sagt er. »Wenn ich mer-

ke, dass du da bist, geht es mir schon wieder gut.«

Uff. Peeta sagt so etwas einfach dahin und es trifft

mich wie ein Schlag in den Magen. Er hat mir nur eine

ehrliche Antwort auf meine Frage gegeben. Er drängt

mich nicht, darauf etwas zu erwidern, irgendeine Liebes-

erklärung zu machen. Trotzdem fühle ich mich schreck-

lich, als hätte ich ihn gemein ausgenutzt. Habe ich das?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mir zum ersten

Mal unmoralisch vorkommt, ihn hier in meinem Bett zu

haben. Was schon paradox ist – schließlich sind wir jetzt

offiziell verlobt.

»Wenn wir erst zu Hause sind und ich wieder allein

schlafe, wird das schlimmer«, sagt er.

Stimmt ja, wir sind fast zu Hause.

Für Distrikt 12 steht heute ein Abendessen im Haus

von Bürgermeister Undersee auf dem Programm und mor-

gen während des Erntefests eine Siegesfeier auf dem Platz.

Das Erntefest wird immer am letzten Tag der Tour gefei-

ert, doch normalerweise bedeutet es ein Essen zu Hause

130

oder mit ein paar Freunden, wenn man es sich leisten

kann. Dieses Jahr wird es eine öffentliche Veranstaltung

sein, und da das Kapitol alles spendiert, wird sich der gan-

ze Distrikt den Bauch vollschlagen können.

Die Vorbereitung wird zum größten Teil im Haus des

Bürgermeisters stattfinden, denn jetzt müssen wir uns für

die Auftritte im Freien wieder in Pelze hüllen. Am Bahn-

hof bleiben wir nur kurz, wir lächeln und winken, wäh-

rend wir uns ins Auto zwängen. Nicht einmal unsere Fa-

milien bekommen wir vor dem Abendessen zu Gesicht.

Ich bin froh, dass das Essen beim Bürgermeister statt-

findet und nicht im Justizgebäude, wo die Gedenkfeier für

meinen Vater abgehalten wurde und wo ich mich nach der

Ernte so qualvoll von meiner Familie verabschieden muss-

te. Das Justizgebäude ist zu sehr mit Trauer verbunden.

Das Haus von Bürgermeister Undersee dagegen gefällt

mir, besonders seit seine Tochter Madge und ich Freun-

dinnen sind. In gewisser Weise waren wir das schon im-

mer. Offiziell wurden wir es, als sie sich persönlich von

mir verabschiedet hat, bevor ich in die Spiele ziehen muss-

te. Da hat sie mir die Spotttölpelbrosche als Glücksbrin-

ger gegeben. Als ich wieder zu Hause war, haben wir uns

hin und wieder getroffen. Es stellte sich heraus, dass auch

Madge viele leere Stunden füllen muss. Am Anfang war

131

es ein bisschen krampfig, weil wir nicht wussten, was wir

machen sollten. Andere Mädchen in unserem Alter habe

ich über Jungs reden hören oder über andere Mädchen

oder über Mode. Madge und ich tratschen nicht gern und

Kleider finde ich sterbenslangweilig. Doch nach einigen

missglückten Anläufen begriff ich, dass sie für ihr Leben

gern in den Wald wollte, also habe ich sie ein paarmal

mitgenommen und ihr gezeigt, wie man mit Pfeil und Bo-

gen umgeht. Sie versucht mir Klavierspielen beizubringen,

aber ich höre lieber zu, wenn sie spielt. Manchmal esse ich

bei ihr zu Hause oder sie bei mir. Madge gefällt es bei mir

besser. Ihre Eltern scheinen nett zu sein, aber ich glaube

nicht, dass Madge sie oft zu Gesicht bekommt. Ihr Vater

hat als Oberhaupt von Distrikt 12 jede Menge zu tun, und

ihre Mutter leidet häufig unter heftigen Kopfschmerzen,

die sie tagelang ans Bett fesseln.

»Vielleicht solltet ihr sie mal ins Kapitol bringen«, sagte

ich einmal, als es wieder so schlimm war. An dem Tag

spielten wir nicht Klavier, denn selbst über zwei Stockwer-

ke hinweg war das Geräusch für ihre Mutter schmerzhaft.

»Die würden sie wieder hinkriegen, jede Wette.«

»Ja. Aber ins Kapitol geht man nicht, außer man ist

eingeladen«, sagte Madge unglücklich. Auch die Privilegi-

en eines Bürgermeisters sind begrenzt.

132

Als wir zum Haus des Bürgermeisters kommen, kann

ich Madge nur kurz drücken, bevor Effie mich in den

zweiten Stock scheucht, damit ich mich umziehe. Nach-

dem ich zurechtgemacht und in ein langes Silberkleid

gehüllt bin, muss ich immer noch eine Stunde bis zum

Abendessen totschlagen, also stehle ich mich davon, um

Madge zu suchen.

Ihr Zimmer liegt im ersten Stock, wo sich auch meh-

rere Gästezimmer und das Arbeitszimmer ihres Vaters

befinden. Ich strecke den Kopf zur Tür des Arbeitszim-

mers hinein, um ihrem Vater Guten Tag zu sagen, doch

er ist nicht da. Der Fernseher läuft vor sich hin und ich

sehe Bilder von Peeta und mir auf dem Fest im Kapitol

gestern Abend. Wie wir tanzen, essen und uns küssen.

Das läuft in diesem Moment in jedem Haushalt von Pa-

nem. Den Zuschauern muss das tragische Liebespaar aus

Distrikt 12 schon zum Hals raushängen. So geht es mir

jedenfalls.

Ich gehe aus dem Zimmer, als ich plötzlich ein Piep-

sen höre. Ich drehe mich um und sehe, wie der Bild-

schirm des Fernsehers schwarz wird. Dann blinken die

Worte »AKTUELLER BERICHT AUS DISTRIKT 8«

auf. Ich weiß instinktiv, dass das nicht für meine Augen

bestimmt ist, sondern nur für die des Bürgermeisters. Ich

133

müsste jetzt gehen. Und zwar schnell. Stattdessen trete ich

näher an den Fernseher heran.

Jetzt erscheint eine Sprecherin, die ich noch nie gese-

hen habe. Sie hat grau meliertes Haar und eine heisere,

herrische Stimme. Sie sagt, dass die Zustände sich ver-

schlimmern und dass Alarmstufe 3 ausgerufen wurde. Zu-

sätzliche Truppen würden nach Distrikt 8 geschickt, die

gesamte Textilproduktion sei eingestellt worden.

Dann ein Schnitt von der Sprecherin zum zentralen

Platz von Distrikt 8. Ich erkenne ihn, weil ich vor einer

Woche noch dort war. Von den Dächern wehen immer

noch Flaggen mit meinem Gesicht darauf. Darunter spielt

sich ein Riesenchaos ab. Schreiende Menschen sind auf

dem Platz, die Gesichter hinter Tüchern und selbst ge-

machten Masken versteckt, sie werfen mit Ziegelsteinen.

Häuser stehen in Flammen. Friedenswächter schießen in

die Menge, töten wahllos.

Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber es kann nur

eins bedeuten. Ich sehe das, was Präsident Snow einen

Aufstand genannt hat.

134

7 Ein Lederbeutel mit Essen und eine Ther-

moskanne mit heißem Tee. Ein Paar mit

Fell gefütterte Handschuhe, die Cinna dagelassen hat.

Drei Zweige, von den kahlen Bäumen abgebrochen, lie-

gen im Schnee und zeigen in die Richtung, in die ich

gehen werde. Diese Sachen hinterlasse ich Gale am ers-

ten Sonntag nach dem Erntefest an unserem Treffpunkt.

Ich bin immer weiter durch die kalten, nebligen Wäl-

der gelaufen, auf einem Weg, den Gale nicht kennen wird,

der für meine Füße jedoch leicht zu finden ist. Er führt

zum See. Ich vertraue nicht mehr darauf, dass unser übli-

cher Treffpunkt Abgeschiedenheit bietet, doch genau das

und noch mehr brauche ich, um Gale heute mein Herz

auszuschütten. Aber wird er überhaupt kommen? Wenn

nicht, habe ich keine Wahl, dann muss ich mitten in der

Nacht zu ihm gehen. Es gibt etwas, das er wissen muss …

Er muss mir helfen, es zu verstehen …

In dem Moment, als ich begriff, was ich bei Bürger-

meister Undersee im Fernsehen sah, ging ich zur Tür und

durch den Flur. Gerade rechtzeitig, denn kurz darauf kam

der Bürgermeister die Treppe hoch. Ich winkte ihm zu.

135

»Suchst du Madge?«, fragte er freundlich.

»Ja. Ich möchte ihr mein Kleid zeigen«, sagte ich.

»Na, du weißt ja, wo du sie findest.« In dem Augenblick

kam wieder das Piepsen aus seinem Büro. Seine Miene

wurde ernst. »Entschuldige mich bitte«, sagte er. Er ging

in sein Arbeitszimmer und machte die Tür fest hinter sich

zu.

Ich wartete im Flur, bis ich mich wieder gefasst hatte.

Erinnerte mich daran, dass ich mich normal benehmen

musste. Dann ging ich zu Madge. Sie saß in ihrem Zim-

mer an der Kommode vor einem Spiegel und kämmte sich

das blond gewellte Haar. Sie trug dasselbe hübsche wei-

ße Kleid wie am Tag der Ernte. Sie sah mich im Spiegel

und lächelte. »Schau dich an. Als kämst du direkt von den

Straßen im Kapitol.«

Ich trat näher. Meine Finger berührten den Spotttöl-

pel. »Selbst meine Brosche passt jetzt. Spotttölpel sind im

Kapitol total angesagt, durch dich. Willst du die Brosche

wirklich nicht zurückhaben?«, fragte ich.

»Quatsch, ich hab sie dir geschenkt«, sagte Madge. Sie

band die Haare mit einem festlichen Goldband zurück.

»Woher hast du sie eigentlich?«, fragte ich.

»Sie hat meiner Tante gehört«, sagte sie. »Aber ich glau-

be, sie ist schon lange im Familienbesitz.«

136

»Merkwürdig, ausgerechnet ein Spotttölpel«, sagte ich.

»Ich meine, wegen der Rebellion. Da haben die Schnatter-

tölpel dem Kapitol doch einen Strich durch die Rechnung

gemacht.«

Die Schnattertölpel waren Mutationen, genetisch ver-

änderte männliche Vögel, die das Kapitol erschaffen hat-

te, um Rebellen im Distrikt auszuspionieren. Die Vögel

konnten sich viele Wörter merken und sie wiederholen,

deshalb wurden sie in die aufständischen Gebiete ge-

schickt, damit sie dem Kapitol berichten konnten, was

dort geredet wurde. Die Rebellen bekamen das spitz und

setzten die Schnattertölpel gegen das Kapitol ein, indem

sie ihnen lauter Lügen erzählten. Als das herauskam, ließ

man die Schnattertölpel aussterben. Binnen weniger Jahre

kamen sie in der Wildnis nicht mehr vor, doch zuvor hat-

ten sie sich mit weiblichen Spottdrosseln gepaart und eine

ganz neue Art erschaffen.

»Aber Spotttölpel sind nie als Waffe eingesetzt worden«,

sagte Madge. »Sie sind nur Singvögel. Oder?«

»Ja, das stimmt wohl«, sagte ich. Aber dem ist nicht so.

Eine Spottdrossel ist nur ein Singvogel. Ein Spotttölpel ist

ein Tier, das es nach dem Willen des Kapitols gar nicht

geben dürfte. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der

streng überwachte Schnattertölpel so schlau sein würde,

137

sich an die Wildnis anzupassen, seinen genetischen Code

weiterzugeben, sich in neuer Gestalt weiterzuentwickeln.

Sie hatten nicht mit seinem Lebenswillen gerechnet.

Während ich jetzt durch den Schnee stapfe, sehe ich

die Spotttölpel, wie sie von Zweig zu Zweig hüpfen, wäh-

rend sie die Melodien anderer Vögel aufschnappen, sie

nachahmen und in etwas Neues verwandeln. Wie immer

erinnern sie mich an Rue. Ich denke an den Traum, den

ich letzte Nacht im Zug hatte, als ich sie in Gestalt eines

Spotttölpels sah und ihr folgte. Hätte ich doch noch ein

wenig länger geschlafen und herausgefunden, wohin sie

mich führen wollte.

Zum See ist es ein ganz schöner Marsch, keine Fra-

ge. Wenn Gale sich überhaupt entscheidet, mir zu folgen,

wird er sich darüber ärgern, dass er so viel Energie ver-

schwendet, die er besser auf die Jagd verwenden könn-

te. Es war auffällig, dass zu dem Festessen im Haus des

Bürgermeisters seine Familie gekommen ist, er selbst aber

nicht. Hazelle sagte, er sei krank, das war offensichtlich

gelogen. Beim Erntefestival konnte ich ihn auch nicht

entdecken. Vick hat mir erzählt, er sei auf der Jagd. Das

stimmte wahrscheinlich.

Nach einigen Stunden komme ich zu einem alten Haus

nah am Ufer des Sees. »Haus« ist vielleicht übertrieben. Es

138

besteht nur aus einem Zimmer, ungefähr vier Quadratme-

ter groß. Mein Vater meinte, dass es hier vor langer Zeit

viele Häuser gab – man kann noch Teile der Fundamente

sehen – und dass die Leute herkamen, um am See zu spie-

len und zu fischen. Dieses Haus hat die anderen überlebt,

weil es aus Beton erbaut wurde. Der Boden, das Dach, die

Decke. Nur eines der vier Glasfenster ist erhalten, es ist

mit der Zeit wellig und trüb geworden. Strom und flie-

ßend Wasser gibt es nicht, aber der Kamin funktioniert

noch, und in einer Ecke ist Holz aufgestapelt, das mein

Vater und ich vor Jahren gesammelt haben. Ich zünde

ein kleines Feuer an, der Nebel dürfte den verräterischen

Rauch verbergen. Während das Feuer anfangt zu brennen,

fege ich den Schnee weg, der sich unter den Fenstern ohne

Scheiben angesammelt hat; ich benutze dafür einen Rei-

sigbesen, den mein Vater mir gemacht hat, als ich unge-

fähr acht war und hier Vater-Mutter-Kind gespielt habe.

Ich setze mich auf die kleine Betonplatte des Kamins, las-

se mich am Feuer auftauen und warte auf Gale.

Überraschend schnell taucht er auf. Er trägt einen Bo-

gen über der Schulter und an seinem Gürtel hängt ein to-

ter Truthahn. Gale steht in der Tür, als überlegte er, ob er

hereinkommen soll oder nicht. Er hält den ungeöffneten

Lederbeutel mit Essen in den Händen, die Thermoskanne,

139

Cinnas Handschuhe. Geschenke, die er nicht annehmen

will, weil er so wütend auf mich ist. Ich weiß genau, wie es

in ihm aussieht. Habe ich nicht dasselbe mit meiner Mut-

ter gemacht?

Ich schaue ihm in die Augen. Seine Wut kann nicht

ganz überdecken, wie verletzt er ist, wie verraten er sich we-

gen meiner Verlobung mit Peeta fühlt. Dieses Treffen heute

ist meine letzte Chance, Gale nicht für immer zu verlieren.

Ich könnte ihm stundenlang al es erklären und selbst dann

noch könnte er mich zurückweisen. Stattdessen komme ich

direkt zum Hauptpunkt meiner Verteidigung.

»Präsident Snow hat mir persönlich damit gedroht,

dich töten zu lassen«, sage ich.

Gale hebt die Augenbrauen, aber richtig ängstlich oder

überrascht sieht er nicht aus. »Sonst noch jemanden?«

»Nun ja, er hat mir nicht direkt eine Liste überreicht.

Aber wir können wohl davon ausgehen, dass unsere beiden

Familien betroffen sind«, sage ich.

Jetzt kommt er doch zum Kamin. Er hockt sich vor das

Feuer und wärmt sich auf. »Es sei denn?«

»Kein ›es sei denn‹, so, wie es jetzt aussieht«, sage ich.

Das müsste ich natürlich genauer erklären, aber ich weiß

nicht, wo ich anfangen soll, also sitze ich nur da und starre

bedrückt ins Feuer.

140

Nach einer Weile bricht Gale das Schweigen. »Tja, dan-

ke für die Warnung.«

Ich drehe mich zu einer schroffen Erwiderung um, als

ich das Funkeln in seinen Augen sehe. Ich hasse mich da-

für, dass ich lächeln muss. An der Situation ist nichts Ko-

misches, aber es ist wohl ein bisschen viel auf einmal. Sie

werden uns alle auslöschen, ganz gleich, was passiert. »Ich

hab einen Plan, weißt du.«

»Ja, der ist bestimmt klasse«, sagt er. Er schmeißt mir

die Handschuhe auf den Schoß. »Da. Ich will keine abge-

legten Handschuhe von deinem Verlobten haben.«

»Er ist nicht mein Verlobter. Das ist Teil der Komödie.

Und die Handschuhe sind auch nicht von ihm. Sie haben

Cinna gehört«, sage ich.

»Dann gib sie wieder her«, sagt er. Er zieht die Hand-

schuhe an, bewegt die Finger und nickt anerkennend.

»Wenigstens werde ich mit warmen Händen sterben.«

»Sehr optimistisch. Du weißt ja gar nicht, was passiert

ist«, sage ich.

»Lass hören«, sagt er.

Ich fange mit dem Abend an, als Peeta und ich zu den

Siegern der Hungerspiele gekrönt wurden und Haymitch

mich vor dem Zorn des Kapitols warnte. Ich erzähle von

der Sorge, die mich nicht losließ, selbst als ich schon zu

141

Hause war, von Präsident Snows Besuch, den Morden in

Distrikt 11, den Spannungen in der Bevölkerung, dem al-

lerletzten Rettungsversuch durch die Verlobung, der An-

deutung des Präsidenten, dass es nicht gereicht hat, von

meiner Überzeugung, dass ich werde büßen müssen.

Gale unterbricht mich kein einziges Mal. Während

ich erzähle, steckt er die Handschuhe in die Tasche und

bereitet aus dem Essen im Lederbeutel eine Mahlzeit für

uns. Er röstet Brot und Käse, entkernt Äpfel, legt Kasta-

nien zum Rösten ins Feuer. Ich beobachte seine Hände,

seine schönen, geschickten Finger. Narbig, so wie meine

waren, ehe im Kapitol meine Haut geglättet wurde, aber

stark und flink. Diese Hände sind kräftig genug, Kohle zu

hauen, und fein genug, komplizierte Fallen zu bauen. Es

sind Hände, denen ich vertraue.

Ich halte inne und trinke einen Schluck Tee aus der

Thermoskanne, ehe ich von meiner Heimkehr erzähle.