kauere mich mit meiner gesüßten und gewürzten Milch,
die wirklich köstlich ist, neben ihn und versinke in den
fünfzigsten Hungerspielen. Nach der Hymne sieht man
278
Präsident Snow, der den Umschlag für das zweite Jubel-Ju-
biläum zieht. Er sieht jünger aus, aber genauso abstoßend.
Mit der gleichen Grabesstimme wie bei uns liest er von
seinem Blatt ab und teilt Panem mit, dass zu Ehren des
Jubel-Jubiläums doppelt so viele Tribute teilnehmen wer-
den wie sonst. Schnitt auf die Ernten, wo Name auf Name
aufgerufen wird.
Als wir zu Distrikt 12 kommen, bin ich schon über-
wältigt von der Anzahl der Kinder, die dem sicheren Tod
entgegengehen. Eine Frau, allerdings nicht Effie, ruft die
Namen von Distrikt 12 auf, und auch sie sagt: »Ladies
first!« Sie ruft den Namen eines Mädchens auf – man sieht
ihm an, das es aus dem Saum stammt –, und dann höre
ich den Namen: »Maysilee Donner.«
»Oh!«, sage ich. »Das war eine Freundin meiner Mut-
ter.« Die Kamera macht sie in der Menge ausfindig, wäh-
rend sie zwei Mädchen umarmt. Alle blond. Und eindeu-
tig Kaufmannstöchter.
»Das ist doch deine Mutter, die sie da umarmt«, sagt
Peeta leise. Er hat recht. Als Maysilee Donner sich tapfer
löst und zur Bühne geht, erhasche ich einen Blick auf mei-
ne Mutter, die damals so alt war wie ich heute. Was ihre
Schönheit angeht, hat man nicht übertrieben. Ein zweites
Mädchen, das Maysilee sehr ähnlich sieht, hält ihre Hand
279
und weint. Aber dieses Mädchen sieht noch jemandem
ähnlich, den ich kenne.
»Madge«, sage ich.
»Ihre Mutter. Sie und Maysilee waren Zwillinge oder
so«, sagt Peeta. »Das hat mein Dad mal erzählt.«
Ich denke an Madges Mutter. Die Frau von Bürgermeis-
ter Undersee. Die die Hälfte der Zeit von unerträglichen
Schmerzen ans Bett gefesselt ist und die Welt ausblendet.
Mir ist nie bewusst gewesen, dass es diese Verbindung zwi-
schen ihr und meiner Mutter gibt. Ich denke daran zurück,
wie Madge in dem Schneesturm aufgetaucht ist, um das
Schmerzmittel für Gale zu bringen. Denke an meine Spott-
tölpelbrosche und daran, dass sie eine andere Bedeutung hat,
seit ich weiß, dass Madges Tante, Maysilee Donner, sie einst
getragen hat – ein Tribut, der in der Arena ermordet wurde.
Als Letzter wird Haymitch aufgerufen. Ihn zu sehen,
schockiert mich noch mehr als der Anblick meiner Mutter
eben.
Jung. Stark. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber er
sieht echt toll aus. Dunkle Locken, die grauen Augen klar
und schon damals gefährlich.
»Mensch, Peeta, er wird doch nicht Maysilee getötet
haben, oder?«, bricht es aus mir heraus. Ich weiß nicht,
warum, aber die Vorstellung ist mir unerträglich.
280
»Bei achtundvierzig Spielern? Nicht sehr wahrschein-
lich, würde ich behaupten«, sagt Peeta.
Die Wagenparade – bei der die Kinder aus Distrikt
12 in grauenhaften Bergarbeiteroutfits stecken – und die
Interviews rauschen vorbei. Man hat kaum Zeit, sich auf
einen zu konzentrieren. Aber weil Haymitch der spätere
Sieger ist, wird ein Wortwechsel zwischen ihm und Caesar
Flickerman gezeigt, der in seinem nachtblauen Glitzeran-
zug exakt so aussieht wie immer. Nur die dunkelgrün ge-
färbten Haare, Lider und Lippen sind anders.
»Also, Haymitch, was hältst du davon, dass bei diesen
Spielen hundert Prozent mehr Mitstreiter dabei sind als
sonst?«, fragt Caesar.
Haymitch zuckt die Achseln. »Ich sehe da keinen gro-
ßen Unterschied. Sie werden hundert Prozent so dumm
sein wie sonst auch und deshalb schätze ich meine Chan-
cen eigentlich gleich ein.«
Die Zuschauer lachen, Haymitch schenkt ihnen ein
halbes Lächeln. Höhnisch. Arrogant. Gleichgültig.
»Dafür hat er sich nicht sonderlich verstellen müssen,
oder?«, sage ich.
Schnitt auf den Morgen, an dem die Spiele begin-
nen. Wir erleben aus der Perspektive einer Spielerin mit,
wie sie vom Startraum durch den Zylinder in die Arena
281
hinauffährt. Ich schnappe nach Luft. Unglauben zeichnet
sich auf den Gesichtern der Spieler ab. Sogar Haymitch
hebt erfreut die Augenbrauen, zieht sie dann aber sofort
wieder zu einer finsteren Miene zusammen.
Die Szenerie ist atemberaubend. Das goldene Füllhorn
thront mitten auf einer grünen Wiese mit lauter prächtigen
Blumen. Der Himmel ist azurblau mit bauschigen weißen
Wolken. Singvögel flattern fröhlich über den Köpfen der
Tribute, von denen einige schnuppernd die Nase recken.
Der Duft muss fantastisch sein. Eine Luftaufnahme zeigt,
dass die Wiese sich über viele Kilometer erstreckt. In der
Ferne liegt in der einen Richtung ein Wald, in der anderen
ein schneebedeckter Berg.
Die Spieler lassen sich von der Schönheit des Anblicks
verzaubern, und als der Gong ertönt, sehen die meisten
aus, als würden sie aus einem Traum erwachen. Nicht so
Haymitch. Im Nu ist er beim Füllhorn, hat sich Waffen
und einen Rucksack mit Vorräten gesichert. Ehe die an-
deren auch nur die Metallscheibe verlassen haben, ist er
schon auf dem Weg in den Wald.
Achtzehn Tribute werden beim Gemetzel des ersten
Tages getötet. Die anderen sterben wie die Fliegen, denn
rasch zeigt sich, dass fast alles an diesem bezaubern-
den Ort – die köstlichen Früchte, die an den Sträuchern
282
baumeln, das Wasser in den kristallklaren Bächen, sogar
der Duft der Blumen, wenn man ihn von Nahem ein-
atmet – tödlich giftig ist. Nur das Regenwasser und die
Nahrungsmittel aus dem Füllhorn lassen sich gefahrlos
konsumieren. Es gibt auch eine große, gut ausgerüstete
Karrierotruppe aus zehn Tributen, die auf der Suche nach
Opfern die Bergregion durchstreift.
Haymitch in seinem Wald kommt ganz schön in Be-
drängnis, weil die flauschigen goldenen Eichhörnchen sich
als rudelweise attackierende Fleischfresser herausstellen
und die Stiche der Schmetterlinge Höllenqualen hervor-
rufen – wenn sie nicht sogar tödlich sind. Aber er kämpft
sich immer weiter vorwärts, weg von dem fernen Berg hin-
ter ihm.
Maysilee Donner erweist sich als ganz schön erfinde-
risch für ein Mädchen, das am Füllhorn lediglich einen
kleinen Rucksack ergattert hat. Darin findet sie eine Scha-
le, etwas getrocknetes Rindfleisch und ein Blasrohr mit
zwei Dutzend Pfeilen. Sie nutzt die üppig vorhandenen
Gifte und verwandelt das Blasrohr in eine tödliche Waffe,
taucht die Pfeile in hochgiftige Substanzen und schießt sie
ins Fleisch ihrer Gegner.
Nach vier Tagen bricht der malerische Berg aus und eli-
miniert ein weiteres Dutzend Spieler, darunter die Hälfte
283
aller Karrieretribute. Da der Berg flüssiges Feuer spuckt
und die Wiese keinerlei Versteck bietet, haben die verblie-
benen dreizehn Tribute – einschließlich Haymitch und
Maysilee – keine andere Wahl: Sie müssen in den Wald.
Haymitch scheint entschlossen, immer der gleichen
Richtung zu folgen, fort von dem Berg, der zum Vulkan
geworden ist, doch ein Labyrinth aus dichten Hecken
zwingt ihn in einem Bogen zurück in die Mitte des Wal-
des, wo er auf drei der Karrieretribute trifft. Haymitch
zückt sein Messer. Sie sind vielleicht größer und stärker,
aber er ist sehr schnell und hat bereits zwei getötet, als
er vom dritten überwältigt wird. Der Karriero will ihm
gerade die Kehle aufschlitzen, da streckt ihn ein Pfeil zu
Boden.
Maysilee Donner tritt zwischen den Bäumen hervor.
»Zu zweit würden wir länger leben.«
»Schätze, das hast du soeben bewiesen«, sagt Haymitch
und reibt sich den Hals. »Verbündete?« Maysilee nickt.
Und mir nichts, dir nichts haben sie plötzlich eins dieser
Bündnisse geschlossen, die man irgendwann notgedrun-
gen brechen muss, wenn man jemals zurück nach Hause
und seinen Distrikt wiedersehen will.
Wie Peeta und ich sind sie zu zweit besser dran. Sie
schlafen mehr, denken sich gemeinsam eine Methode aus,
284
wie sie mehr Regenwasser gewinnen können, kämpfen im
Team und teilen das Essen aus den Rucksäcken der toten
Tribute. Trotzdem, Haymitch ist immer noch entschlos-
sen, weiterzumarschieren.
»Warum?«, fragt Maysilee immer wieder, doch er ig-
noriert sie, bis sie sich schließlich weigert, auch nur noch
einen Schritt zu machen, solange sie keine Antwort
bekommt.
»Weil es doch irgendwo ein Ende geben muss, oder?«,
sagt Haymitch. »Die Arena kann nicht unendlich sein.«
»Und was, glaubst du, wirst du dort finden?«, fragt
Maysilee.
»Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist da etwas, das wir ge-
brauchen können«, antwortet er.
Als sie mithilfe eines Schneidbrenners, den sie aus dem
Rucksack eines der toten Karrieros haben, endlich die
schier unüberwindliche Hecke hinter sich gebracht haben,
treten sie auf eine ausgetrocknete Ebene hinaus, die an ei-
ner Klippe endet. Weit unten sind zerklüftete Felsen zu
erkennen.
»Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren«, sagt
Maysilee.
»Nein, ich bleibe hier«, erwidert er.
»Gut. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können
285
wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen«, sagt sie. »Ich
möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig
sind.«
»Okay«, willigt er ein. Mehr nicht. Er hält ihr nicht die
Hand hin oder sieht sie an. Und so geht sie fort.
Haymitch folgt dem Rand der Klippe, als grübelte er
über etwas. Unter seinem Fuß löst sich ein kleiner Stein,
der in den Abgrund fällt, augenscheinlich für immer ver-
schwunden. Aber eine Minute später, Haymitch hat sich
inzwischen hingesetzt, um auszuruhen, wird der Stein
plötzlich zurückgeschleudert und landet neben ihm. Ver-
dutzt starrt Haymitch den Stein an, dann wird seine Mie-
ne seltsam angespannt. Er wirft einen faustgroßen Stein
über die Klippe und wartet. Als auch dieser Stein zurück-
geflogen kommt und wieder genau in seiner Hand landet,
lacht er los.
In diesem Augenblick hört man Maysilee schreien. Das
Bündnis ist Vergangenheit, sie hat es gebrochen, deshalb
könnte ihm niemand einen Vorwurf machen, wenn er sich
nicht um sie kümmern würde. Trotzdem rennt Haymitch
los. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen,
wie der letzte aus einer Schar bonbonrosafarbener Vögel
mit seinem langen, dünnen Schnabel ihren Hals durch-
bohrt. Während sie stirbt, hält Haymitch ihre Hand, und
286
ich muss die ganze Zeit an Rue denken und dass auch ich
zu spät gekommen bin, um sie zu retten.
Später an diesem Tag wird noch ein Tribut im Kampf
getötet und ein dritter von einem Rudel dieser flauschigen
Eichhörnchen aufgefressen, sodass nur noch Haymitch
und ein Mädchen aus Distrikt 1 um den Sieg wetteifern.
Sie ist größer als Haymitch und genauso schnell, und als
es zu dem unvermeidlichen Kampf kommt, ist er blutig
und schrecklich, und beide haben bereits Verletzungen er-
litten, die tödlich sein könnten. Da steht Haymitch plötz-
lich ohne Waffe da. Er taumelt durch den schönen Wald,
drückt die Eingeweide zurück in den Bauch, während das
Mädchen hinter ihm herstolpert, in der Hand die Axt, mit
der sie ihm den Todesstoß versetzen will. Auf kürzestem
Weg steuert Haymitch auf seine Klippe zu und ist eben
an der Felskante angekommen, als das Mädchen die Axt
schleudert. In diesem Augenblick lässt Haymitch sich fal-
len und die Axt fliegt über ihn hinweg in den Abgrund.
Jetzt, da sie ebenfalls unbewaffnet ist, steht das Mädchen
nur da und versucht das Blut zu stillen, das aus ihrer lee-
ren Augenhöhle rinnt. Vielleicht denkt sie, sie könne Hay-
mitch, der sich auf dem Boden windet, überleben. Aber im
Gegensatz zu ihm kennt sie das Geheimnis des Abgrunds
nicht, und als die Axt plötzlich wieder über die Kante
287
geflogen kommt, gräbt sie sich in den Schädel des Mäd-
chens. Die Kanone knallt, die Leiche wird fortgeschafft,
die Fanfaren verkünden Haymitchs Sieg.
Peeta schaltet das Band ab, wir bleiben eine Zeit lang
schweigend sitzen.
Endlich sagt Peeta: »Dieses Kraftfeld unterhalb der
Klippe erinnert mich an das Kraftfeld rings um das Dach
des Trainingscenters. Das schleudert einen auch zurück,
wenn man versucht, hinunterzuspringen und sich umzu-
bringen. Haymitch hat einen Weg gefunden, es als Waffe
einzusetzen.«
»Und nicht nur gegen die anderen Tribute, auch gegen
das Kapitol«, sage ich. »Damit hatten sie bestimmt nicht
gerechnet. Es war nicht als Teil der Arena gedacht. Sie
haben nie geplant, dass irgendjemand das Kraftfeld als
Waffe einsetzen sollte. Als Haymitch es dennoch schaffte,
standen sie ganz schön dumm da. Es hat bestimmt eine
Weile gedauert, bis sie sich eine passende Story dazu aus-
gedacht haben. Wahrscheinlich habe ich es deshalb auch
nicht im Fernsehen gesehen. Das ist ja fast so schlimm wie
wir mit den Beeren!«
Ich pruste los, zum ersten Mal seit Monaten kann ich
richtig lachen. Peeta schüttelt nur den Kopf, als hätte ich
den Verstand verloren – viel eicht ist es auch ein bisschen so.
288
»Fast, aber nicht ganz«, sagt Haymitch hinter uns. Ich
fahre herum und befürchte, er könne verärgert sein, weil
wir sein Band angesehen haben, aber er grinst nur und
nimmt einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche. So viel
zum Thema nüchtern bleiben. Wahrscheinlich müsste ich
jetzt wütend sein, weil er wieder trinkt, doch mich be-
schäftigt etwas anderes.
In den zurückliegenden Wochen habe ich mich nur
darum gekümmert zu erfahren, wer meine zukünftigen
Konkurrenten sind, und keinen Gedanken daran ver-
schwendet, wer meine Teamkameraden sind. Jetzt aber
macht sich eine neue Art von Zuversicht in mir breit, weil
ich glaube, dass ich endlich über Haymitch Bescheid weiß.
Und ich weiß allmählich auch, wer ich bin. Und zwei Leu-
te, die dem Kapitol so viel Ärger eingebrockt haben, wer-
den bestimmt einen Weg finden, Peeta lebend wieder nach
Hause zu bringen.
289
15 Ich habe ja schon einige Vorberei-
tungssitzungen mit Flavius, Venia und
Octavia hinter mir, weshalb das für mich eigentlich alles
Routine sein müsste, die ich nur irgendwie überstehen
muss. Aber die emotionale Tortur, die mich diesmal er-
wartet, habe ich nicht vorausgesehen. Mindestens zweimal
im Verlauf der Vorbereitung bricht jeder von ihnen in Trä-
nen aus und Octavia wimmert den ganzen Vormittag über
vor sich hin. Offenbar haben sie mich tatsächlich ins Herz
geschlossen, und die Vorstellung, dass ich noch einmal in
die Arena zurück muss, macht sie völlig fertig. Dass sie
zusammen mit mir auch die Zutrittsberechtigung zu all
den großen gesellschaftlichen Anlässen – insbesondere
meiner Hochzeit – verlieren werden, macht es vollends un-
erträglich. Der Gedanke, für einen anderen stark zu sein,
ist ihnen noch nie gekommen, und daher bin jetzt plötz-
lich ich es, die sie trösten muss. Das nervt ein bisschen,
schließlich soll ich mich abschlachten lassen, nicht sie.
Aber es ist doch interessant, was Peeta über den Diener
im Zug gesagt hat – er sei nicht glücklich darüber, dass
die Sieger noch mal kämpfen müssen. Und es gebe auch
290
Leute im Kapitol, die das nicht gut fänden. Meiner Mei-
nung nach wird all das zwar vergessen sein, sobald der
Gong ertönt und die Spiele beginnen, aber dass die Leute
im Kapitol überhaupt etwas für uns empfinden, ist schon
eine kleine Offenbarung. Mit anzusehen, wie Jahr für Jahr
aufs Neue junge Menschen getötet werden, bereitet ihnen
anscheinend keinerlei Problem. Aber über die Sieger und
besonders über die, die seit ewigen Zeiten Berühmtheiten
sind, wissen sie vielleicht zu viel, um zu vergessen, dass
wir auch Menschen sind. Plötzlich müssen sie selbst den
eigenen Freunden beim Sterben zusehen. Als hätten sich
die Distrikte die Spiele ausgedacht!
Als Cinna sich blicken lässt, bin ich vom vielen Trösten
gereizt und erschöpft, vor allem, weil das ständige Geheu-
le mich an die Tränen erinnert, die zweifellos zu Hause
um uns vergossen werden. Wie ich so in meinem dün-
nen Gewand dastehe und auf der Haut und im Herzen
die Stiche spüre, wird mir bewusst, dass ich noch so einen
mideidvollen Blick nicht ertrage. Deshalb blaffe ich Cin-
na, als er durch die Tür kommt, sofort an: »Wenn du jetzt
auch noch weinst, bringe ich dich auf der Stelle um, das
schwöre ich.«
Cinna lächelt nur. »War’s feucht heute Vormittag, oder
was?«
291
»Du könntest mich auswringen«, erwidere ich.
Cinna legt mir den Arm um die Schultern und führt
mich an den Mittagstisch. »Keine Bange. Ich lasse meine
Gefühle nur in meine Arbeit einfließen. Auf diese Weise
tue ich niemandem weh außer mir selbst.«
»Ich steh das nicht noch mal durch«, warne ich ihn.
»Ich weiß. Ich werde mit ihnen reden«, sagt Cinna.
Das Mittagessen tut mir gut. Fasan in juwelenfarbe-
nem Aspik, Miniaturausgaben echter Gemüse, in Butter
geschwenkt, sowie Kartoffelbrei mit Petersilie. Zum Nach-
tisch tunken wir Obststücke in einen Topf mit flüssiger
Schokolade. Ich löffele das Zeug pur in mich hinein, so-
dass Cinna einen zweiten Topf bestellen muss.
»Und was werden wir bei der Eröffnungsfeier tragen?«,
frage ich schließlich, während ich den zweiten Topf aus-
kratze. »Stirnlampen oder Feuer?« Ich weiß, dass Peeta
und ich während der Wagenparade irgendetwas an uns
haben müssen, das mit Kohle zu tun hat.
»Etwas in der Art«, sagt Cinna.
Als es Zeit ist, die Kostüme für die Eröffnungsfeier an-
zulegen, erscheint mein Vorbereitungsteam wieder, doch
Cinna schickt sie fort mit der Bemerkung, sie hätten ihren
Job am Vormittag so fantastisch erledigt, dass nichts mehr
zu tun sei. Dankbar ziehen sie sich zurück, um sich zu
292
erholen, und überlassen mich Cinnas Händen. Als Erstes
steckt er mein Haar in Zöpfen hoch, wie meine Mutter es
gezeigt hat, dann widmet er sich meinem Make-up. Letz-
tes Jahr hat er nur sehr wenig benutzt, damit das Publi-
kum mich in der Arena wiedererkennt. Doch jetzt wirkt
mein Gesicht mit den dramatischen Highlights und dunk-
len Schatten ganz fremd. Stark gewölbte Augenbrauen,
markante Wangenknochen, glühende Augen, tiefviolette
Lippen. Mein Outfit macht auf den ersten Blick nicht viel
her, ein maßgeschneiderter schwarzer Overall, der mich
vom Hals abwärts umschließt, mehr nicht. Cinna setzt
mir eine halbe Krone auf den Kopf, die so aussieht wie die
Krone, die ich als Siegerin aufgesetzt bekommen habe, nur
dass diese hier nicht aus Gold ist, sondern aus schwerem
schwarzem Metall. Dann dimmt er das Licht im Raum
zu einem Halbdunkel und drückt auf einen Knopf im
Stoff unten am Ärmel. Ich schaue nach unten und sehe
fasziniert, wie mein Kostüm langsam zum Leben erwacht,
ein sanftes goldenes Licht, das sich nach und nach in das
Orangerot eines Kohlenfeuers verwandelt. Ich sehe aus, als
wäre ich in glühende Kohle gekleidet – nein, ich bin ein
Stück glühende Kohle aus dem Kamin. Die Farben wer-
den heller und dunkler, wechseln und verschmelzen, wie
bei Kohle.
293
»Wie hast du das denn hingekriegt?«, frage ich staunend.
»Portia und ich haben viele Stunden ins Feuer geguckt«,
sagt Cinna. »Jetzt kannst du dich anschauen.«
Er dreht mich zu einem Spiegel hin, damit ich die Wir-
kung im Ganzen erkennen kann. Was ich sehe, ist kein
Mädchen und auch keine Frau, sondern eine überirdische
Erscheinung, die aussieht, als wäre sie in dem Vulkan zu
Hause, der bei Haymitchs Jubiläumsspielen so viele Tri-
bute vernichtet hat. Die schwarze Krone, die nun glühend
rot ist, wirft seltsame Schatten auf mein dramatisch ge-
schminktes Gesicht. Katniss, das Mädchen, das in Flam-
men stand, hat Feuerzungen, juwelenverzierte Umhänge
und sanfte Kerzenlichtkleider abgelegt. Sie ist so gefähr-
lich wie das Feuer selbst.
»Ich glaube … genau das habe ich gebraucht, um den
anderen gegenüberzutreten«, sage ich.
»Ja, ich finde, die Zeit der roten Lippenstifte und Haar-
bänder liegt hinter dir«, sagt Cinna. Er berührt den Knopf
an meinem Ärmel noch einmal und löscht das Licht. »Da-
mit die Batterie nicht zu sehr strapaziert wird. Wenn du
diesmal auf dem Wagen stehst, dann kein Winken, kein
Lächeln. Ich möchte, dass du nur geradeaus schaust, als
würdest du all die Zuschauer gar nicht wahrnehmen.«
»Endlich mal etwas, was ich gut kann«, sage ich.
294
Cinna muss sich noch um Verschiedenes kümmern,
deshalb beschließe ich, ins Erdgeschoss des Erneuerungs-
studios hinunterzufahren, wo die Tribute und ihre Wagen
in einer riesigen Halle darauf warten, dass die Eröffnungs-
feier beginnt. Ich hatte gehofft, dort Peeta und Haymitch
zu treffen, aber sie sind noch nicht da. Anders als letztes
Jahr, als die Tribute praktisch an ihren Wagen klebten und
keinen Kontakt suchten, geht es diesmal regelrecht gesellig
zu. Die Sieger, also die Jubiläumstribute und ihre Mento-
ren, stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich.
Natürlich, sie kennen sich ja alle, nur ich kenne nieman-
den, aber ich bin sowieso nicht der Typ, der herumgeht
und sich vorstellt. Deshalb tätschele ich nur einem meiner
Pferde den Rücken und versuche, nicht aufzufallen.
Klappt aber nicht.
Ich höre ein krachendes Kauen, noch ehe ich merke,
dass er neben mir steht: Ich drehe den Kopf und da sind
die berühmten meergrünen Augen von Finnick Odair
nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Er wirft sich
noch einen Zuckerwürfel in den Mund und lehnt sich ge-
gen mein Pferd.
»Hallo, Katniss«, sagt er, als würden wir uns seit Jahren
kennen. Dabei sind wir uns noch nie begegnet.
»Hallo, Finnick«, sage ich beiläufig, obwohl mir in
295
seiner Nähe unwohl ist, besonders weil er so viel nackte
Haut zeigt.
»Möchtest du einen?«, fragt er und hält mir die Hand
hin, auf der ein ganzer Berg Zuckerwürfel liegt. »Sind ei-
gentlich für die Pferde, aber was soll’s? Sie haben noch vie-
le Jahre Zeit, Zucker zu essen, während du und ich … na,
wir zwei sollten ja wohl besser zugreifen, wenn wir was
Süßes sehen.«
Finnick Odair ist eine Art lebende Legende in Panem.
Mit vierzehn hat er die fünfundsechzigsten Hungerspiele
gewonnen, und deshalb ist er immer noch einer der jüngs-
ten Sieger überhaupt. Er stammt aus Distrikt 4 und war
ein Karrieretribut, weshalb die Chancen sowieso gut für
ihn standen. Aber was kein Trainer für sich verbuchen
konnte, war Finnicks außergewöhnliche Schönheit. Groß
gewachsen, athletisch, mit goldener Haut und bronzefar-
benem Haar und diesen unglaublichen Augen. Während
andere Tribute dieses Jahrgangs von den Sponsoren kaum
mal eine Handvoll Getreide oder Streichhölzer geschenkt
bekamen, mangelte es Finnick weder an Essen noch an
Medikamenten oder Waffen. Als seine Konkurrenten nach
einer Woche endlich begriffen hatten, dass sie vor allem
ihn töten mussten, war es schon zu spät. Mit den Speeren
und Messern, die er im Füllhorn gefunden hatte, konnte
296
er schon geschickt umgehen. Aber als er einen silbernen
Fallschirm mit einem Dreizack bekam – wohl das teuerste
Geschenk, das ich je gesehen habe –, war die Sache gelau-
fen. Distrikt 4 lebt für die Fischerei. Sein ganzes Leben
hat Finnick auf Booten verbracht. Der Dreizack war eine
natürliche, tödliche Verlängerung seines Arms. Aus Lia-
nen knüpfte er ein Netz, wickelte seine Gegner darin ein
und durchbohrte sie mit dem Dreizack. Innerhalb weniger
Tage hatte er die Krone errungen.
Seitdem waren die Bewohner des Kapitols ihm verfallen.
Aufgrund seiner Jugend durften sie ihn in den ersten
ein, zwei Jahren nicht anrühren. Aber seit er sechzehn
ist, wird er während seiner alljährlichen Aufenthalte im
Rahmen der Hungerspiele von glühenden Verehrerinnen
geradezu belagert. Keiner schenkt er seine Gunst lange.
Manchmal hat er in einem Jahr vier oder fünf Liebschaf-
ten nacheinander. Ob alt oder jung, hübsch oder hässlich,
reich oder megareich – er leistet ihnen Gesellschaft und
nimmt ihre extravaganten Geschenke an, aber er bleibt
nie, und wenn er einmal fort ist, kommt er nie zurück.
Ich kann nicht bestreiten, dass Finnick einer der um-
werfendsten und sinnlichsten Menschen auf unserem Pla-
neten ist. Und doch ist es die Wahrheit, wenn ich sage,
dass ich ihn nie anziehend fand. Vielleicht, weil er zu
297
hübsch ist, vielleicht auch, weil er zu leicht zu haben ist –
oder zu leicht zu verlieren.
»Nein danke«, sage ich zu dem angebotenen Zucker.
»Aber dein Outfit würd ich mir gern irgendwann mal
ausleihen.«
Er ist nur in ein goldenes Netz gehüllt, das geschickt in
der Leiste zusammengeknotet ist, sodass man ihn streng
genommen nicht als nackt bezeichnen kann. Viel nackter
könnte er aber nicht sein. Sein Stylist hält es offenbar für
vorteilhaft, wenn das Publikum so viel wie möglich von
Finnick zu sehen bekommt.
»In dieser Aufmachung jagst du mir echt Angst ein.
Was ist aus den hübschen Kleinmädchen-Kleidern gewor-
den?«, fragt er. Er benetzt mit der Zunge leicht die Lippen.
Wahrscheinlich macht das die meisten Leute völlig ver-
rückt. Aber aus irgendeinem Grund muss ich an den alten
Cray denken, der über einer armen, hungernden jungen
Frau geifert.
»Bin rausgewachsen«, sage ich.
Finnick fasst an den Kragen meines Overalls und reibt
den Stoff zwischen den Fingern. »Zu dumm, diese Sache
mit dem Jubiläum. Du hättest im Kapitol wie die Made
im Speck leben können. Schmuck, Geld, alles, was du
willst.«
298
»Ich mag keinen Schmuck, und Geld habe ich mehr,
als ich ausgeben kann. Wofür gibst du deins denn so aus,
Finnick?«, frage ich ihn.
»Och, mit so gewöhnlichen Dingen wie Geld habe ich
seit einer Ewigkeit nichts mehr am Hut«, antwortet er.
»Und womit lässt du dir dann das Vergnügen deiner
Gesellschaft vergüten?«, frage ich.
»Mit Geheimnissen«, sagt er sanft. Er neigt den Kopf
nach vorn, sodass sich unsere Lippen fast berühren. »Was
ist eigentlich mit dir, Mädchen in Flammen? Hast du ir-
gendwelche Geheimnisse, die meine Zeit wert wären?«
Aus irgendeinem albernen Grund werde ich rot, aber
ich zwinge mich, nicht zurückzuweichen. »Nein, ich bin
ein offenes Buch«, flüstere ich zurück. »Anscheinend
glaubt jeder, meine Geheimnisse zu kennen, bevor ich
selbst sie kenne.«
Er lächelt. »So leid es mir tut – aber ich glaube, das
stimmt.« Sein Blick zuckt zur Seite. »Da kommt Peeta.
Schade, dass ihr eure Hochzeit abblasen müsst. Ich weiß,
wie niederschmetternd das für dich sein muss.« Er wirft
sich noch einen Zuckerwürfel in den Mund und schlen-
dert davon.
Peeta stellt sich neben mich, er ist genauso gekleidet
wie ich. »Was wollte der denn?«, fragt er.
299
Ich drehe mich um, bringe meine Lippen ganz nah an
Peetas und senke die Lider genau wie Finnick. »Er hat mir
Zucker angeboten und wollte alle meine Geheimnisse er-
fahren«, sage ich, so verführerisch ich kann.
Peeta lacht. »Igitt. Das gibt’s doch nicht.«
»Oh doch«, antworte ich. »Den Rest erzähl ich dir,
wenn die Gänsehaut weg ist.«
»Meinst du, wenn nur einer von uns beiden gewon-
nen hätte, wären wir auch so geendet?«, fragt er und
wirft einen Blick auf die anderen Sieger. »Als Teil dieser
Freakshow?«
»Na klar. Vor allem du«, sage ich.
»Ach, und warum vor allem ich?«, fragt er und lächelt.
»Weil du eine Schwäche für die schönen Dinge hast
und ich nicht«, sage ich mit einem Anflug von Überlegen-
heit. »Wenn sie dich mit der Lebensart des Kapitols locken
würden, wärst du vollkommen verloren.«
»Einen Sinn für Schönheit zu haben, ist doch keine
Schwäche«, sagt Peeta. »Außer vielleicht, was dich be-
trifft.« Die Musik beginnt, die großen Tore öffnen sich für
den ersten Wagen, die Menge tobt. »Wollen wir?« Er reicht
mir die Hand und hilft mir auf den Wagen.
Ich klettere hinauf und ziehe ihn nach. »Halt still«,
sage ich und richte seine Krone. »Hast du deinen Overall
300
in eingeschaltetem Zustand gesehen? Wir werden wieder
fantastisch aussehen.«
»Und ob. Portia sagt, wir sollen diesmal über allem ste-
hen. Kein Winken oder so was«, sagt er. »Wo stecken die
beiden eigentlich?«
»Ich weiß nicht.« Ich suche die Prozession der Wagen ab.
»Viel eicht sol ten wir uns lieber selbst einschalten.« Das tun
wir, und sobald wir aufleuchten, deuten die anderen auf uns
und fangen an zu tuscheln. Ich weiß, dass wir auch dies-
mal das Gesprächsthema Nummer eins der Eröffnungsfeier
sein werden. Wir sind fast am Tor. Ich recke den Hals, doch
weder Portia noch Cinna, die voriges Jahr bis zur letzten
Sekunde bei uns waren, sind irgendwo zu sehen. »Sol en wir
dieses Jahr auch Händchen halten?«, frage ich.
»Ich glaube, das wollen sie uns überlassen«, sagt Peeta.
Ich schaue in diese blauen Augen, die kein noch so
dramatisches Make-up gefährlich erscheinen lassen kann,
und denke daran, dass ich noch vor einem Jahr bereit war,
ihn zu töten. Weil ich überzeugt war, dass er versuchen
würde, mich zu töten. Nun ist es genau umgekehrt. Ich
bin entschlossen, ihn zu retten, und ich weiß, dass es mich
mein eigenes Leben kosten wird, aber der Teil von mir, der
nicht so tapfer ist, wie ich es gern hätte, ist froh, dass jetzt
Peeta neben mir steht und nicht Haymitch. Ohne weitere
301
Diskussion finden sich unsere Hände. Keine Frage, wir
werden uns dieser Sache gemeinsam stellen.
Als wir in die Abenddämmerung hinausrollen, bricht
die Menge in Geschrei aus, aber keiner von uns beiden
reagiert. Ich starre einfach auf einen Punkt in der Ferne
und tue so, als gäbe es keine Zuschauer, keine Hysterie.
Unwillkürlich fällt mein Blick auf die riesigen Bildschirme
entlang der Strecke und ich erhasche ein paar Bilder von
uns: Wir sind nicht nur schön, wir sind düster, mächtig.
Mehr noch. Das tragische Liebespaar aus Distrikt 12, das
so viel gelitten hat und die Früchte des Sieges so wenig
hat auskosten dürfen, sucht nicht nach der Gunst der Fans,
schenkt ihnen kein Lächeln, fängt nicht ihre Küsse auf.
Wir sind unversöhnlich.
Und ich genieße es. Endlich mal ich selbst sein.
Als wir in den Kreisverkehr des Zentralen Platzes ein-
biegen, stelle ich fest, dass ein paar von den anderen Sty-
listen Cinnas und Portias Idee geklaut und ihre Tribute
beleuchtet haben. Die mit kleinen elektrischen Lämpchen
übersäten Outfits aus Distrikt 3, wo Elektronik hergestellt
wird, haben ja noch einen gewissen Sinn. Aber die Vieh-
hüter aus Distrikt 10, die angezogen sind wie Kühe mit
brennenden Gurten um den Bauch? Wollen die sich selbst
grillen? Lächerlich.
302
Peeta und ich dagegen in unserem sich dauernd ver-
ändernden Kohle-Kostüm wirken so hypnotisierend, dass
die meisten anderen Tribute uns nur anstarren. Besonders
fasziniert ist offenbar das Paar aus Distrikt 6, von dem be-
kannt ist, dass sie Morfixer sind: beide klapperdürr und
mit schlaffer gelblicher Haut. Sie können die übergroßen
Augen gar nicht abwenden, selbst dann nicht, als Präsi-
dent Snow auf seinem Balkon zu reden beginnt und uns
alle zum Jubel-Jubiläum willkommen heißt. Die Hymne
erklingt, und während wir das letzte Stück fahren – irre
ich mich? Oder starrt sogar der Präsident mich an?
Peeta und ich warten, bis die Tore des Trainingscen-
ters sich wieder hinter uns geschlossen haben. Erst dann
entspannen wir uns. Cinna und Portia erwarten uns, sie
sind angetan von unserem Auftritt, und dieses Jahr ist so-
gar Haymitch erschienen, nur dass er nicht zu uns kommt,
sondern am Wagen von Distrikt 11 steht. Ich sehe, wie er
in unsere Richtung nickt, und dann kommen sie allesamt
herüber, um uns zu begrüßen.
Chaff kenne ich vom Sehen, ich habe jahrelang im
Fernsehen verfolgt, wie er sich mit Haymitch die Flasche
teilt. Er ist dunkelhäutig, gut eins achtzig groß, und einer
seiner Arme endet in einem Stumpf, weil er die dazuge-
hörige Hand in den Hungerspielen verloren hat, die er vor
303
dreißig Jahren gewann. Bestimmt hat man ihm künstli-
chen Ersatz angeboten wie Peeta, als dem der Unterschen-
kel amputiert werden musste, aber wie es aussieht, hat er
abgelehnt.
Die Frau, Seeder, sieht mit ihrer olivfarbenen Haut und
dem glatten schwarzen Haar mit den silbernen Strähnen
fast aus, als stammte sie aus dem Saum. Nur ihre gold-
braunen Augen verraten den fremden Distrikt. Sie dürfte
um die sechzig sein, aber sie sieht immer noch stark aus,
und nichts deutet darauf hin, dass sie sich über die Jahre
in Alkohol oder Morfix oder sonst eine chemische Sub-
stanz geflüchtet hätte. Bevor einer von uns etwas sagen
kann, umarmt sie mich. Wegen Rue und Thresh, denke
ich. Ich kann mich nicht bremsen und flüstere: »Und was
ist mit den Familien?«
»Sie leben«, erwidert sie sanft und lässt mich los.
Chaff schlingt seinen gesunden Arm um mich und
drückt mir einen Schmatz direkt auf den Mund. Erschro-
cken zucke ich zurück, während er und Haymitch schal-
lend loslachen.
Mehr Zeit bleibt uns nicht, denn die Bediensteten des
Kapitols scheuchen uns in Richtung Aufzüge. Ich habe
den Eindruck, dass ihnen eine solche Verbrüderung unter
den Siegern nicht recht ist, aber denen ist das vollkommen
304
egal. Während ich mich, immer noch Hand in Hand mit
Peeta, auf den Weg zu den Aufzügen mache, pirscht sich
noch jemand an mich heran, eine junge Frau, die ihre
Kopfbedeckung aus Blätterzweigen abzieht und achtlos
hinter sich wirft.
Johanna Mason. Aus Distrikt 7. Holz und Papier, des-
halb das Geäst. Sie hat ihre Spiele gewonnen, indem sie
sich sehr überzeugend als schwach und hilflos darstellte,
sodass die anderen sie weitgehend ignorierten. Aber dann
bewies sie ein gemeines Talent zum Morden. Sie fährt sich
durchs dornige Haar und verdreht die weit auseinander-
stehenden braunen Augen. »Ist das nicht ein grässliches
Kostüm? Ich habe die dämlichste Stylistin des Kapitols.
Seit vierzig Jahren staffiert sie unsere Tribute als Bäume
aus. Ich hätte auch mal gern so einen wie Cinna. Du siehst
fantastisch aus.«
Mädchengeplapper. Was ich schon immer schlecht
konnte. Meinungen äußern über Kleidung, Haare, Make-
up. Also lüge ich. »Ja, er hat mir geholfen, meine eigene
Kleiderkollektion zu entwerfen. Du müsstest mal sehen,
was er aus Samt alles machen kann.« Samt. Der einzige
Stoff, der mir auf die Schnelle eingefallen ist.
»Hab ich. Auf deiner Siegertour. Das Schulterfreie,
das du in Distrikt 2 anhattest? Das Tiefblaue mit den
305
Diamanten? Es war so umwerfend, dass ich am liebsten
durch den Bildschirm gegriffen und es dir vom Leib geris-
sen hätte«, sagt Johanna.
Das glaube ich gern, denke ich. Und ein paar Zentimeter
meines Fleisches gleich mit.
Während wir auf die Aufzüge warten, schält Johanna
sich aus dem Rest ihres Baums, lässt ihn zu Boden fallen
und kickt ihn angewidert weg. Bis auf ihre waldgrünen
Slipper trägt sie jetzt keinen Fetzen mehr am Leib. »So
ist’s besser.«
Wir fahren im selben Aufzug, und die ganze Fahrt bis
in den siebten Stock plaudert sie mit Peeta über seine Ge-
mälde, während das Licht seines noch immer glühenden
Kostüms von ihren nackten Brüsten reflektiert wird. Als
sie ausgestiegen ist, tue ich so, als wäre nichts, aber ich
weiß, dass er grinst. Erst als sich die Tür hinter Chaff und
Seeder schließt und wir allein sind, stoße ich seine Hand
weg. Er prustet los.
»Was ist?«, fahre ich ihn an, als wir auf den Gang treten.
»Das ist deinetwegen, Katniss. Merkst du das nicht?«,
sagt er.
»Was ist meinetwegen?«, frage ich zurück.
»Na, dass die sich alle so benehmen. Finnick mit sei-
nen Zuckerwürfeln und Chaff, der dich küsst, und der
306
Striptease von Johanna.« Er versucht, etwas ernsthafter zu
klingen, aber es will ihm nicht gelingen. »Sie spielen mit
dir, weil du so … du weißt schon.«
»Nein, weiß ich nicht«, sage ich. Ich habe wirklich kei-
nen Schimmer, wovon er redet.
»Na, damals in der Arena, da wolltest du mich nicht
mal nackt angucken, als ich schon halb tot war. Du bist so
… rein«, sagt er schließlich.
»Bin ich nicht!«, entgegne ich. »Letztes Jahr habe ich
dir doch jedes Mal, wenn eine Kamera in der Nähe war,
die Kleider vom Leib gerissen!«
»Schon, aber … ich meine, für das Kapitol bist du rein«,
sagt er beschwichtigend. »Für mich bist du genau richtig.
Sie wollen dich nur ein bisschen aufziehen.«
»Nein, die wollen sich über mich lustig machen, genau
wie du!«, rufe ich.
»Nein.« Peeta schüttelt den Kopf, aber er unterdrückt
noch immer ein Lächeln. Ich bin drauf und dran, noch
mal zu überdenken, wer von uns beiden lebend aus die-
sen Spielen rauskommen soll, als sich der andere Aufzug
öffnet.
Haymitch und Effie gesellen sich zu uns und sehen ir-
gendwie zufrieden aus. Plötzlich verhärtet sich Haymitchs
Gesichtsausdruck.
307
Was habe ich jetzt schon wieder angestel t?, will ich gera-
de sagen, aber da merke ich, dass er über meine Schulter
hinweg auf den Eingang zum Speisesaal starrt.
Effie guckt in die gleiche Richtung, doch sie strahlt,
als sie sagt: »Offenbar bekommt ihr dieses Jahr zwei im
Partnerlook.«
Ich drehe mich um und sehe das rothaarige Avoxmäd-
chen, das mich letztes Jahr bis zum Beginn der Spiele be-
dient hat. Ich freue mich schon, hier eine Freundin zu ha-
ben, als mir auffällt, dass der junge Mann neben ihr, auch
ein Avox, ebenfalls rotes Haar hat. Das muss Effie mit
Partnerlook gemeint haben.
Dann überläuft mich ein Schauer. Ihn kenne ich auch.
Nicht aus dem Kapitol, sondern vom Hob, wo wir all die
Jahre miteinander geplaudert und bei einer Suppe von
Greasy Sae gescherzt haben, und von diesem letzten Tag,
als er bewusstlos auf dem Platz lag, während Gale zu ver-
bluten drohte.
Unser neuer Avox ist Darius.
308
16 Haymitch packt mich am Hand-
gelenk, als wollte er mich zurück-
halten, aber ich bin so unfähig zu sprechen wie Darius.
Haymitch hat mir mal erzählt, dass die Folterknechte
des Kapitols irgendwas mit den Zungen der Avoxe an-
stellen, damit sie nie mehr sprechen können. In meinem
Kopf höre ich Darius’ Stimme, wie sie hell und ausgelas-
sen über den Hob schallt und mich aufzieht. Aber nicht
so, wie die anderen Sieger mich jetzt hänseln, denn wir
mochten uns wirklich. Wenn Gale ihn sehen könnte …
Jede Bewegung auf Darius zu, jede Geste des Erken-
nens würde ihm unweigerlich eine Bestrafung einbringen,
das weiß ich. Und so starren wir einander nur an. Darius,
der jetzt ein stummer Sklave ist; ich, die dem Tod entge-
gengeht. Was sollten wir uns auch sagen? Dass es uns um
das Schicksal des anderen leidtut? Dass wir mit dem ande-
ren leiden? Dass wir froh sind, dass wir uns kennenlernen
durften?
Nein, Darius hat keinen Grund, froh darüber zu sein,
dass er mich kennengelernt hat. Wäre ich damals da gewe-
sen und hätte Thread gestoppt, wäre er nicht vorgetreten,
309
um Gale zu retten. Dann wäre er jetzt kein Avox. Wäre er
jetzt nicht mein Avox, um genau zu sein, denn Präsident
Snow hat ihn zweifellos zu meinem ganz persönlichen
Wohlbefinden hierher beordert. Ich winde mein Handge-
lenk aus Haymitchs Griff, stapfe zu meinem alten Schlaf-
zimmer und schließe die Tür hinter mir ab. Ich setze mich
auf die Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, die Stirn
auf den Fäusten, betrachte meinen in der Dunkelheit glü-
henden Overall und stelle mir vor, ich säße in meinem
alten Zuhause in Distrikt 12, zusammengekauert neben
dem Kamin. Die Batterie wird schwächer und langsam
wird der Lichtschein von Schwarz überlagert.
Als irgendwann Effie an die Tür klopft, um mich zum
Abendessen zu rufen, stehe ich auf und ziehe meinen
Anzug aus, falte ihn ordentlich und lege ihn zusammen
mit der Krone auf den Tisch. Im Bad wasche ich mir die
dunklen Make-up-Streifen aus dem Gesicht. Ich ziehe ein
einfaches T-Shirt und eine Hose an und gehe hinunter in
den Flur zum Speisesaal.
Während des Essens bekomme ich nicht viel mit, au-
ßer dass Darius und das rothaarige Avoxmädchen uns
bedienen. Effie, Haymitch, Cinna, Portia und Peeta sind
da und unterhalten sich, vermutlich über die Eröffnungs-
feier. Doch wirklich anwesend bin ich eigentlich nur ein
310
einziges Mal, als ich absichtlich eine Schüssel mit Erbsen
zu Boden fallen lasse und mich, bevor jemand eingreifen
kann, bücke, um sie aufzulesen. Darius hockt sich neben
mich, ich schiebe die Schüssel zu ihm hin, und für kurze
Zeit arbeiten wir Seite an Seite, für niemanden sichtbar,
und sammeln die Erbsen ein. Einen kurzen Augenblick
lang berühren sich unsere Hände. Unter der butterigen
Soße der Erbsen spüre ich seine raue Haut. In der kurzen,
verzweifelten Verschränkung unserer Finger drücken wir
all die Worte aus, die wir uns niemals werden sagen kön-
nen. Dann gackert Effie hinter mir: »Das ist nicht deine
Aufgabe, Katniss!«, und er lässt los.
Als wir hinübergehen, um uns die Aufzeichnung der
Eröffnungsfeier anzusehen, zwänge ich mich zwischen
Haymitch und Cinna aufs Sofa, ich will nicht neben Pee-
ta sitzen. Das schreckliche Erlebnis mit Darius gehört zu
mir und Gale, vielleicht noch zu Haymitch, aber nicht zu
Peeta. Vielleicht kannte er Darius vom flüchtigen Grüßen,
aber Peeta gehörte nicht auf den Hob wie wir. Abgesehen
davon bin ich immer noch sauer auf ihn, weil er mich
zusammen mit den anderen Siegern ausgelacht hat, und
Mitgefühl und Trost von ihm ist das Letzte, was ich jetzt
möchte. Ich will ihn in der Arena retten, das ja, aber mehr
bin ich ihm nicht schuldig.
311
Es ist ja in normalen Jahren schon schlimm, dass sie
uns in Kostüme stecken und auf Wagen durch die Straßen
ziehen lassen, überlege ich, während ich mir die Prozessi-
on um den Zentralen Platz anschaue. Jugendliche in Kos-
tümen sind schon lächerlich, aber alternde Sieger sind, wie
man sieht, einfach nur bemitleidenswert. Ein paar Jüngere
wie Johanna und Finnick oder solche, deren Körper noch
nicht vom Verfall gezeichnet sind, wie Seeder und Bru-
tus, können immerhin ein wenig Würde wahren. Aber die,
die Opfer von Alkohol, Morfix oder Krankheit sind, und
das sind die meisten, sehen in ihren Kostümen, die Kühe
oder Bäume oder Brotlaibe darstellen, einfach grotesk aus.
Letztes Jahr haben wir uns über jeden Konkurrenten aus-
führlich unterhalten, aber heute fällt nur hier und da mal
ein Kommentar. Kein Wunder, dass die Menge durch-
dreht, als Peeta und ich erscheinen, denn in unseren fan-
tastischen Kostümen sehen wir wahnsinnig jung und stark
und schön aus. Genau so, wie Tribute aussehen sollen.
Sobald die Sendung vorüber ist, stehe ich auf, danke
Cinna und Portia für ihre tolle Arbeit und gehe schlafen.
Effie erinnert noch daran, dass wir uns zeitig zum Früh-
stück treffen wollen, um unsere Trainingsstrategie zu be-
sprechen, aber selbst ihre Stimme klingt hohl. Arme Effie.
Mit Peeta und mir hatte sie endlich mal ein anständiges
312
Jahr bei den Spielen, und jetzt ist alles so durcheinander-
geraten, dass selbst sie das Ganze nicht ins Positive drehen
kann. Und das, nehme ich an, ist für Leute aus dem Kapi-
tol eine echte Tragödie.
Gleich nachdem ich mich hingelegt habe, klopft es lei-
se an meine Tür, aber ich ignoriere es. Ich möchte Peeta
heute Nacht nicht bei mir haben. Schon gar nicht, wenn
Darius in der Nähe ist. Das ist fast so schlimm, als ob
Gale hier wäre. Gale. Wie könnte ich ihn loslassen, wäh-
rend Darius durch die Flure spukt?
In meinen Albträumen sind diesmal Zungen die
Hauptdarsteller. Erst schaue ich starr und hilflos zu, wie
behandschuhte Hände die blutige Amputation in Darius’
Mund ausführen. Dann bin ich auf einer Party, wo alle
Masken tragen und jemand mit einer zuckenden nassen
Zunge – Finnick, nehme ich an – mir nachstellt, doch als
er mich fängt und seine Maske abzieht, ist es Präsident
Snow, und von seinen Wulstlippen tropft blutiger Speichel.
Schließlich bin ich wieder in der Arena, meine Zunge ist
so trocken wie Sandpapier, während ich versuche, einen
Wassertümpel zu erreichen, der jedes Mal, wenn ich ihn
berühren will, zurückweicht.
Ich wache auf, taumele ins Bad, trinke Wasser aus
dem Hahn, bis ich nicht mehr kann. Ich streife die
313
verschwitzten Kleider ab, lasse mich nackt zurück ins Bett
fallen und schlafe irgendwie wieder ein.
Am nächsten Morgen trödele ich so gut es geht, denn
ich habe nicht die geringste Lust, unsere Trainingsstrate-
gie zu besprechen. Was gibt es da zu besprechen? Jeder Sie-
ger weiß doch bereits, was die anderen draufhaben. Oder
mal draufgehabt haben. Peeta und ich werden weiter die
Verliebten spielen, mehr nicht. Irgendwie ist mir nicht da-
nach, darüber zu reden, besonders wenn Darius stumm
dabeisteht. Ich dusche ausgiebig, ziehe gemächlich die
Sachen an, die Cinna mir fürs Training bereitgelegt hat,
und bestelle über eine Sprechanlage von der Speisekarte
Essen aufs Zimmer. Kurz darauf erscheinen Würstchen,
Eier, Bratkartoffeln, Brot, Saft und heiße Schokolade. Ich
esse mich satt und versuche das Ganze bis zehn Uhr in die
Länge zu ziehen, wenn wir hinunter ins Trainingscenter
müssen. Um halb zehn wummert ein offenbar stinksaurer
Haymitch gegen die Tür und befiehlt mir, in den Spei-
sesaal zu kommen, und zwar SOFORT! Aber ich putze
mir erst noch gemächlich die Zähne, bevor ich mich auf-
mache, den Flur hinunterzuschlendern, womit ich weitere
fünf Minuten schinde.
Der Speisesaal ist leer bis auf Peeta und Haymitch, des-
sen Gesicht von Alkohol und Ärger gerötet ist. Am Arm
314
trägt er einen massiv goldenen Armreif mit Flammenmus-
ter, den er unglücklich dreht – das muss sein Beitrag zu
Effies Partnerlook-Plan sein. Ein wirklich hübscher Arm-
reif, aber die Bewegung lässt ihn so aussehen wie etwas,
das einengt, eher eine Fessel als ein Schmuckstück. »Du
kommst zu spät«, schnauzt Haymitch mich an.
»Tut mir leid. Ich hab verschlafen, nachdem ich die
halbe Nacht von verstümmelten Zungen geträumt habe.«
Ich möchte feindselig klingen, doch am Ende des Satzes
stockt meine Stimme.
Haymitch wirft mir einen finsteren Blick zu, dann
lenkt er ein. »Okay, macht nichts. Heute beim Training
hast du zwei Aufgaben. Nummer eins: verliebt sein.«
»Natürlich«, sage ich.
»Nummer zwei: Freundschaften schließen«, fährt Hay-
mitch fort.
»Nein«, sage ich. »Ich traue keinem von denen, die
meisten kann ich nicht ausstehen. Ich würde mich lieber
nur auf uns beide verlassen.«
»Das habe ich auch erst gesagt, aber …«, hebt Peeta an.
»Aber das wird nicht reichen«, sagt Haymitch mit Nach-
druck. »Diesmal werdet ihr mehr Verbündete brauchen.«
»Warum?«, frage ich.
»Weil ihr im Nachteil seid. Eure Konkurrenten kennen
315
einander seit Jahren. Was glaubst du also, wen werden sie
als Erste ins Visier nehmen?«, fragt er.
»Uns. Und gegen alte Freundschaften kommen wir so-
wieso nicht an«, sage ich. »Warum also einen Gedanken
darauf verschwenden?«
»Weil ihr kämpfen könnt. Die Leute mögen euch. Das
könnte euch durchaus zu erstrebenswerten Verbünde-
ten machen. Aber nur, wenn ihr den anderen zeigt, dass
ihr bereit seid, euch mit ihnen zusammenzutun«, sagt
Haymitch.
»Wir sollen dieses Jahr also mit der Meute der Karrie-
ros gemeinsame Sache machen?«, frage ich und kann mei-
nen Widerwillen nicht verhehlen. Traditionell schließen
sich die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 zusammen,
nehmen manchmal noch ein paar herausragende Kämpfer
von den anderen in ihren Kreis auf und machen Jagd auf
die Schwächeren.
»War das nicht unsere Strategie? Zu trainieren wie die
Karrieros?«, entgegnet Haymitch. »Und wer zur Meute
der Karrieros gehört, das wird normalerweise schon vor
Beginn der Spiele ausgemacht. Letztes Jahr hat Peeta es
nur mit Ach und Krach noch geschafft, aufgenommen zu
werden.«
Ich erinnere mich gut, welchen Abscheu ich bei den
316
letzten Spielen empfand, als ich mitbekam, dass Peeta mit
den Karrieros gemeinsame Sache machte. »Wir sollen uns
also mit Finnick und Brutus gut stellen – willst du das
sagen?«
»Nicht unbedingt. Alle dort sind Sieger. Wenn ihr es
für richtig haltet, könnt ihr auch eure eigene Meute zu-
sammenstellen. Nehmt, wen ihr wollt. Ich schlage Chaff
und Seeder vor. Und Finnick sollte man auch nicht außer
Acht lassen«, sagt Haymitch. »Tut euch mit denen zusam-
men, die euch nützlich sein können. Vergesst nicht, ihr
seid nicht mehr Teil einer bibbernden Kinderschar. Diese
Leute sind allesamt erfahrene Killer, auch wenn sie nicht
so aussehen.«
Möglicherweise hat er recht. Nur, wem könnte ich
trauen? Seeder vielleicht. Aber möchte ich mit ihr wirklich
einen Pakt schließen, nur um sie später womöglich töten
zu müssen? Nein. Obwohl, mit Rue habe ich mich damals
unter den gleichen Umständen auch verbündet. Ich sage
Haymitch, dass ich es versuchen werde, doch insgeheim
denke ich, dass ich dabei ziemlich schlecht aussehen werde.
Effie erscheint ein bisschen früher, um uns nach un-
ten zu bringen, denn im vergangenen Jahr waren wir die
Letzten, obwohl wir pünktlich kamen. Aber Haymitch
möchte nicht, dass sie mit uns hinunter in die Turnhalle
317
fährt. Keiner der anderen Sieger wird in Begleitung eines
Babysitters erscheinen, und da wir die Jüngsten sind, ist es
umso wichtiger, selbstsicher aufzutreten. So muss sie sich
damit zufriedengeben, uns zum Aufzug zu begleiten und
den Knopf zu drücken, während sie sich über unsere Fri-
suren aufregt.
Die Fahrt ist so kurz, dass keine Zeit für eine Unterhal-
tung bleibt, doch als Peeta meine Hand nimmt, ziehe ich
sie nicht weg. Gestern Nacht habe ich ihn zurückgewiesen,
aber beim Training müssen wir als Einheit auftreten.
Effie hätte sich gar keine Sorgen machen müssen, dass
wir zu spät kommen. Nur Brutus und Enobaria, die Frau
aus Distrikt 2, sind da. Enobaria ist um die dreißig, und
ich weiß über sie nur noch, dass sie in einem Handgemen-
ge einen Tribut getötet hat, indem sie ihm mit den Zähnen
die Kehle aufgerissen hat. Dadurch wurde sie so berühmt,
dass sie sich nach ihrem Sieg die Zähne neu machen ließ.
Sie laufen jetzt alle spitz zu wie Reißzähne und haben ein
Goldinlay. Über fehlende Bewunderer im Kapitol kann
Enobaria sich nicht beklagen.
Um zehn Uhr ist erst etwa die Hälfte der Tribute da.
Atala, die das Training leitet, lässt sich davon nicht be-
eindrucken und beginnt pünktlich mit ihrer Ansprache.
Vielleicht hatte sie schon damit gerechnet, dass viele nicht
318
auftauchen würden. Ich bin irgendwie erleichtert, denn
das bedeutet, dass ein Dutzend weniger Leute da ist, de-
nen ich Freundschaft vorheucheln muss. Atala geht die
einzelnen Stationen mit den Kampf- und Überlebenstech-
niken durch und entlässt uns ins Training.
Ich schlage Peeta vor, dass wir uns aufteilen, um auf
breiterer Front vorzugehen. Er gesellt sich zu Brutus und
Chaff, gemeinsam schleudern sie Speere, während ich zur
Knotenstation gehe.
Kaum jemand macht sich je die Mühe, dort vorbeizu-
schauen. Ich mag den Trainer, und er ist beglückt, mich
zu sehen, vielleicht weil ich letztes Jahr schon bei ihm
war. Er freut sich, als ich ihm zeige, dass ich immer noch
die Falle beherrsche, durch die der gefangene Feind an
einem Bein von einem Baum baumelt. Bestimmt hat er
mitbekommen, welche Fallen ich letztes Jahr in der Arena
gestellt habe, und sieht in mir nun eine fortgeschrittene
Schülerin. Deshalb bitte ich ihn, alle Knoten zu wieder-
holen, die nützlich sein könnten, sowie ein paar, die ich
wahrscheinlich nie anwenden werde. Ich wäre froh, wenn
ich den Vormittag mit ihm allein verbringen könnte, aber
nach anderthalb Stunden legt mir jemand von hinten die
Arme um und vollendet mit seinen Fingern mühelos den
komplizierten Knoten, mit dem ich mich gerade abgemüht
319
habe. Finnick natürlich, der in seiner Kindheit offenbar
nichts anderes getan hat, als Dreizacke zu schwingen und
Schnüre auf raffinierte Weise zu Netzen zu verknoten.
Eine Weile schaue ich zu, wie er ein Tauende nimmt, eine
Schlinge macht und dann mir zu Gefallen so tut, als wür-
de er sich erhängen.
Ich verdrehe die Augen und gehe weiter zur nächsten
leeren Station, wo die Tribute lernen können, wie man
Feuer macht. Ich kann schon hervorragend Feuer ma-
chen, aber nicht ohne Streichhölzer. Deshalb lässt mich
der Trainer mit Feuerstein, Stahl und verkohlten Lumpen
üben. Das ist viel schwerer, als es aussieht, und obwohl
ich so konzentriert wie möglich arbeite, brauche ich eine
Stunde, bis ich ein Feuer in Gang habe. Als ich mit tri-
umphierendem Lächeln aufschaue, stelle ich fest, dass ich
Gesellschaft bekommen habe.
Die beiden Tribute aus Distrikt 3 stehen neben mir,
mühen sich mit Streichhölzern ab und entfachen doch nur
ein bescheidenes Feuerchen. Am liebsten würde ich weiter-
gehen, aber erstens möchte ich zu gern noch mal den Feu-
erstein ausprobieren, und außerdem muss ich Haymitch
nachher ja berichten können, dass ich versucht habe, mich
anzufreunden, und die zwei scheinen erträglich zu sein.
Beide sind klein, haben aschgraue Haut und schwarzes
320
Haar. Wiress, die Frau, ist etwa so alt wie meine Mutter,
sie spricht mit ruhiger, intelligenter Stimme. Aber mir fällt
sofort auf, dass sie oft mitten im Satz abbricht, als ob sie
die Anwesenheit ihres Gegenübers völlig vergessen hätte.
Beetee, der Mann, ist älter und ein unruhiger Typ. Er trägt
eine Brille, guckt aber die ganze Zeit drunter durch. Die
beiden sind irgendwie schräg, doch immerhin kann ich
bei ihnen ziemlich sicher sein, dass sie mir die Peinlichkeit
ersparen werden, sich nackt auszuziehen. Und außerdem
sind sie aus Distrikt 3. Vielleicht können sie meine Vermu-
tung bestätigen, dass es dort einen Aufstand gegeben hat.
Ich sehe mich im Trainingscenter um. Peeta steht in-
mitten einer lärmenden Runde von Messerwerfern. Die
Morfixer aus Distrikt 6 befinden sich an der Tarnstation
und bemalen einander die Gesichter mit hellrosa Kringeln.
Der männliche Tribut aus Distrikt 5 ist bei den Schwert-
kämpfern und erbricht gerade einen Schwall Wein. Fin-
nick und die alte Frau aus seinem Distrikt üben sich im
Bogenschießen. Johanna Mason ist wieder nackt und reibt
sich für die Ringerübung die Haut mit Öl ein. Ich be-
schließe zu bleiben, wo ich bin.
Wiress und Beetee entpuppen sich als unaufdringli-
che Zeitgenossen. Sie wirken freundlich, horchen mich
aber nicht aus. Wir unterhalten uns über unsere Talente;
321
sie erzählen, dass sie beide Erfinder sind, was mein ver-
meintliches Interesse an Mode ziemlich schwach erschei-
nen lässt. Wiress erwähnt irgendein Nähutensil, an dem
sie gerade tüftelt.
»Es spürt selbstständig die Dicke des Stoffes und wählt
danach die Stärke …«, sagt sie, doch bevor sie weiter-
sprechen kann, wird sie von einem trockenen Grashalm
abgelenkt.
»… die Stärke des Fadens«, führt Beetee die Erläute-
rung zu Ende. »Automatisch. Menschliches Versagen aus-
geschlossen.« Dann spricht er über seinen jüngsten Erfolg,
einen Musikchip, der so klein ist, dass er Platz in einer
Glitzerpaillette hat und trotzdem mehrere Stunden Musik
speichern kann. Ich erinnere mich, dass Octavia während
der Hochzeitsaufnahmen davon gesprochen hat, und ich
sehe eine Chance, auf den Aufstand anzuspielen.
»Oh ja. Mein Vorbereitungsteam war vor ein paar Mo-
naten ganz sauer darüber, dass sie nicht mehr zu kriegen
waren«, sage ich beiläufig. »Ich schätze, eine Menge Bestel-
lungen aus Distrikt 3 mussten warten.«
Beetee mustert mich unter seiner Brille hindurch. »Al-
lerdings. Hattet ihr in der Kohleförderung dieses Jahr
auch solche Verzögerungen?«, fragt er.
»Nein. Wir haben nur ein paar Wochen verloren, als wir
322
einen neuen Obersten Friedenswächter samt Mannschaft
bekommen haben, aber nichts Gravierendes«, sage ich.
»Was die Produktion betrifft, meine ich. Zwei Wochen zu
Hause herumzusitzen und nichts zu tun, bedeutet für die
meisten Leute allerdings, zwei Wochen zu hungern.«
Ich glaube, sie verstehen, was ich sagen will. Dass es
bei uns keinen Aufstand gegeben hat. »Oh. Das ist aber
schade«, sagt Wiress leicht enttäuscht. »Ich fand euren Di-
strikt sehr …« Sie verstummt, abgelenkt von irgendeinem
Gedanken.
»… interessant«, ergänzt Beetee. »Fanden wir beide.«
Ich bin etwas betreten, denn ich weiß, dass ihr Distrikt
viel mehr gelitten haben muss als unserer. Ich fühle mich ge-
nötigt, meine Leute in Schutz zu nehmen. »Wisst ihr, wir sind
nicht viele in Distrikt 12«, sage ich. »Das kann man heutzu-
tage ja nicht mehr an der Truppenstärke der Friedenswächter
erkennen. Aber ich glaube, wir sind interessant genug.«
Als wir zur Schutzstation hinübergehen, bleibt Wiress
stehen und sieht hoch zu den Tribünen, auf denen die
Spielmacher herumschlendern, essen und trinken und
manchmal auch zu uns herunterschauen. »Guck mal«,
sagt sie und nickt sachte in ihre Richtung. Ich schaue
auf und sehe Plutarch Heavensbee in seinem prächtigen
purpurfarbenen Gewand mit dem Pelzkragen, das ihn als
323
Obersten Spielmacher kennzeichnet. Er nagt an einem
Truthahnbein.
Ich weiß zwar nicht, weshalb das der Erwähnung wert
ist, aber ich sage trotzdem: »Ja, er ist dieses Jahr zum
Obersten Spielmacher befördert worden.«
»Nein, nein. Da, an der Tischecke. Du kannst es gera-
de noch …«, sagt Wiress.
Beetee schielt unter seiner Brille hindurch. »…
erkennen.«
Ratlos starre ich in die angegebene Richtung. Aber dann
sehe ich es. An der Ecke des Tisches ist ein Fleck, der fast
zu vibrieren scheint, etwa fünfzehn Quadratzentimeter
groß. Als würde sich die Luft in winzigen sichtbaren Wel en
kräuseln und dabei die scharfen Kanten des Holzes und das
Weinglas verzerren, das jemand dort abgestel t hat.
»Ein Kraftfeld. Sie haben ein Kraftfeld zwischen den
Spielmachern und uns installiert. Ich frage mich, wes-
halb«, sagt Beetee.
»Wegen mir wahrscheinlich«, gestehe ich. »Letztes Jahr
habe ich während meiner Einzelstunde einen Pfeil auf sie
abgeschossen.« Beetee und Wiress schauen mich neugierig
an. »Sie haben mich provoziert. Haben denn alle Kraftfel-
der so einen Fleck?«
»Punkt«, sagt Wiress vage.
324
»Einen wunden Punkt gewissermaßen«, erklärt Beetee.
»Im Idealfall wäre das Kraftfeld unsichtbar, nicht wahr?«
Ich würde gern noch mehr darüber erfahren, doch da
werden wir zum Mittagessen gerufen. Ich suche Peeta,
aber er hat sich einer Gruppe von ungefähr zehn Siegern
angeschlossen, deshalb beschließe ich, mit Distrikt 3 zu
essen. Vielleicht stößt Seeder ja noch dazu.
Als wir in den Speisesaal kommen, wird deutlich, dass
ein paar aus Peetas Gruppe etwas anderes vorhaben. Sie
schieben die kleinen Tische zu einer großen Tafel zusam-
men, sodass wir alle zusammen essen müssen. Jetzt bin ich
aufgeschmissen. Schon in der Schule habe ich es immer
vermieden, an einem voll besetzten Tisch zu essen. Wahr-
scheinlich hätte ich immer allein gesessen, wäre nicht Ma-
dge dazu übergegangen, sich zu mir zu setzen. Am liebsten
hätte ich wohl mit Gale gegessen, aber er war zwei Klassen
über mir und wir hatten unterschiedliche Pausenzeiten.
Ich nehme ein Tablett und gehe an den mit Essen bela-
denen Wagen entlang, die ringsum stehen. Beim Eintopf
gesellt sich Peeta zu mir. »Wie läuft’s?«
»Gut. Prima. Die Sieger aus Distrikt 3 finde ich nett«,
sage ich. »Wiress und Beetee.«
»Wirklich?«, fragt er. »Die anderen machen sich über sie
lustig.«
325
»Wieso überrascht mich das nicht?«, sage ich. Ich er-
innere mich daran, dass Peeta in der Schule immer mit
einer Schar Freunde herumhing. Komisch, dass er mich
überhaupt wahrgenommen hat außer als irgendwie
merkwürdig.
»Johanna nennt sie nur Plus und Minus«, sagt er. »Ich
glaube, Wiress ist Plus und Beetee ist Minus.«
»Aha, ich bin also blöd, weil ich glaube, dass sie nütz-
lich sein können. Wegen irgendeines Spruchs, den Johan-
na Mason von sich gegeben hat, während sie ihre Brüste
fürs Ringen eingeölt hat«, entgegne ich scharf.
»Ich glaube, ehrlich gesagt, diese Spitznamen tragen sie
schon seit Jahren. Und ich hab’s nicht als Beleidigung ge-
meint. Ich gebe nur Informationen weiter«, sagt er.
»Wiress und Beetee sind schlau. Sie sind Erfinder. Sie
erkennen mit bloßem Auge, dass zwischen uns und den
Spielmachern ein Kraftfeld installiert wurde. Wenn wir
schon Verbündete brauchen, dann möchte ich sie.« Ich
werfe den Schöpflöffel zurück in den Topf und spritze uns
beide mit Suppe voll.
»Wieso bist du so sauer?«, fragt Peeta, während er sich
die Suppe vom T-Shirt wischt. »Weil ich dich im Aufzug
geneckt habe? Das tut mir leid. Ich dachte, du würdest
darüber lachen.«
326
»Vergiss es«, sage ich und schüttele den Kopf. »Es hat
viele Gründe.«
»Darius«, sagt er.
»Darius. Die Spiele, Haymitch, der meint, wir mussten
uns mit anderen verbünden«, sage ich.
»Wir beide allein ginge auch, das weißt du«, sagt er.
»Ich weiß. Vielleicht hat Haymitch ja auch recht«, sage
ich. »Sag’s ihm bitte nicht weiter, aber was die Spiele anbe-
langt, hat er eigentlich immer recht.«
»Na ja, du kannst ja das letzte Wort haben, was unse-
re Verbündeten betrifft. Ich für meinen Teil gehe jetzt zu
Chaff und Seeder«, sagt Peeta.
»Seeder ist genehmigt, Chaff nicht«, sage ich. »Zumin-
dest noch nicht.«
»Komm und iss mit ihm. Ich verspreche, ich werde ver-
hindern, dass er dich noch mal küsst«, sagt Peeta.
Beim Mittagessen macht Chaff gar keinen schlechten
Eindruck. Er ist nüchtern. Er spricht zwar zu laut und
reißt dauernd schlechte Witze, aber die meisten gehen auf
seine Kosten. Ich begreife, warum er Haymitch mit sei-
nen düsteren Gedanken guttut. Aber ich weiß noch nicht
recht, ob ich bereit bin, mich mit ihm zu verbünden.
Ich bemühe mich, geselliger zu sein, nicht nur, was
Chaff betrifft, sondern gegenüber der ganzen Gruppe.
327
Nach dem Essen gehe ich an die Essbare-Insekten-Station,
wo schon die Tribute aus Distrikt 8 stehen: Cecelia, die
drei Kinder zu Hause hat, und Woof, ein alter Bursche,
der schwerhörig ist und offenbar nicht recht weiß, worum
es hier geht, denn er versucht, sich giftige Käfer in den
Mund zu stopfen. Ich würde gern meine Begegnung mit
Bonnie und Twill in den Wäldern erwähnen, aber ich
weiß nicht, wie. Cashmere und Gloss, das Geschwister-
paar aus Distrikt 1, winken mich zu sich, und wir flechten
eine Weile Hängematten. Die beiden sind höflich, aber
kühl, und ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich
letztes Jahr Glimmer und Marvel, die beiden Tribute aus
ihrem Distrikt, getötet habe.
Wahrscheinlich kannten sie sie, vielleicht waren sie
sogar ihre Mentoren. Sowohl meine Hängematte als
auch mein Versuch, Kontakt herzustellen, gelingen mehr
schlecht als recht. Ich gehe zu Enobaria beim Schwert-
kampf, wir wechseln ein paar Bemerkungen, doch es ist
offensichtlich, dass sich keine mit der anderen verbün-
den will. Ich bekomme gerade Tipps zum Fischen, als
Finnick wieder auftaucht, aber diesmal möchte er mir
einfach nur Mags vorstellen, die ältere Frau, die wie er
aus Distrikt 4 stammt. Wegen ihres Distriktakzents und
ihrer brabbeligen Aussprache – vermutlich hat sie einen
328
Schlaganfall hinter sich – verstehe ich nur ein Viertel von
dem, was sie sagt. Aber dafür kann sie buchstäblich aus
allem Angelhaken herstellen – aus Dornen, dem Schlüs-
selbein eines Vogels, einem Ohrring. Nach einer Weile
höre ich nicht mehr auf das, was der Trainer sagt, son-
dern versuche nur noch nachzumachen, was Mags tut.
Als ich aus einem krummen Nagel einen ordentlichen
Haken fabriziere und ihn an eine Schnur aus Strähnen
meiner Haare binde, schenkt sie mir ein zahnloses Lä-
cheln und einen unverständlichen Kommentar, mög-
licherweise ein Lob. Plötzlich fällt mir wieder ein, wie
sie sich anstelle der hysterischen jungen Frau aus ihrem
Distrikt freiwillig gemeldet hat. Bestimmt nicht, weil sie
sich Chancen ausgerechnet hat, die Spiele zu gewinnen.
Sie wollte das Mädchen retten, so wie ich mich letztes
Jahr gemeldet habe, um Prim zu retten. Ich beschließe,
dass Mags zu meinem Team gehören soll.
Großartig. Jetzt muss ich Haymitch sagen, dass ich
eine Achtzigjährige sowie Plus und Minus als Verbündete
haben will. Das findet er bestimmt toll.
Ich geb’s auf, Freunde finden zu wollen, und gehe zur
Erholung hinüber zum Bogenschießstand. Es ist wunder-
bar, all die verschiedenen Bogen und Pfeile auszuprobie-
ren. Als Tax, der Trainer, merkt, dass stehende Ziele für
329
mich keine Herausforderung sind, wirft er Stoffvögel hoch
in die Luft, und ich muss sie abschießen. Erst kommt
mir das albern vor, aber dann macht es doch Spaß. So-
gar mehr, als ein Lebewesen zu jagen. Da ich alles treffe,
was er hochwirft, beginnt er mehrere Vögel gleichzeitig zu
werfen. Ich vergesse die Turnhalle um mich herum und
die Sieger und mein Unglück und gebe mich ganz dem
Schießen hin. Als ich fünf Vögel auf einmal abschieße,
wird es um mich herum so ruhig, dass ich höre, wie sie
einzeln auf dem Boden aufschlagen. Ich drehe mich um
und sehe, dass fast alle Sieger ihr Treiben unterbrochen
haben und mir zuschauen. In ihren Gesichtern spiegelt
sich alles, von Neid über Hass bis zu Bewunderung.
Nach dem Training lungern Peeta und ich herum und
warten, dass Haymitch und Effie erscheinen. Als wir zum
Abendessen gerufen werden, stürzt sich Haymitch sofort
auf mich. »Mindestens die Hälfte der Sieger hat ihre Men-
toren angewiesen, dich als Wunschverbündete anzugeben.
Kann mir nicht vorstellen, dass es wegen deines sonnigen
Wesens ist.«
»Sie haben sie schießen gesehen«, sagt Peeta lächelnd.
»Und ich habe sie auch zum ersten Mal richtig schießen
gesehen. Ich trage mich mit dem Gedanken, ebenfalls ei-
nen förmlichen Antrag zu stellen.«
330
»Bist du wirklich so gut?«, fragt Haymitch mich. »So
gut, dass Brutus dich will?«
Ich zucke die Schultern. »Aber ich will Brutus nicht.
Ich will Mags und die beiden aus Distrikt 3.«
»Das war ja klar«, seufzt Haymitch und bestellt eine
Flasche Wein. »Ich werde allen sagen, du überlegst noch.«
Nach meiner Schießdarbietung kommt nur noch hier
und da mal eine Stichelei, aber ich fühle mich nicht mehr
verspottet. Es kommt mir vor, als wäre ich erst jetzt in den
Kreis der Sieger aufgenommen worden. An den folgenden
beiden Tagen verbringe ich viel Zeit mit fast jedem, der
in die Arena muss. Sogar mit den Morfixern, die mich
mit Peetas Hilfe anmalen und in ein Feld aus gelben Blu-
men verwandeln. Sogar mit Finnick, der mir im Tausch
für eine Stunde Bogenschießen eine Stunde lang beibringt,
wie man mit dem Dreizack umgeht. Und je besser ich
diese Leute kennenlerne, desto schlimmer wird es. Denn
ich hasse sie ja nicht. Manche mag ich sogar. Und viele
sind so lädiert, dass ich sie eigentlich instinktiv beschüt-
zen möchte. Aber sie alle müssen sterben, damit ich Peeta
retten kann.
Der letzte Tag des Trainings endet mit unseren Einzel-
stunden. Jeder hat fünfzehn Minuten, um die Spielmacher
mit seinen Fähigkeiten für sich einzunehmen, aber ich
331
weiß nicht, was wir ihnen zeigen könnten. Beim Mittages-
sen machen wir uns darüber lustig. Darüber, was wir tun
könnten. Singen, tanzen, strippen, Witze erzählen. Mags,
die ich jetzt ein bisschen besser verstehe, meint, sie werde
einfach ein Nickerchen halten. Ich weiß nicht, was ich tun
werde. Ein paar Pfeile abschießen, schätze ich mal. Hay-
mitch hat gesagt, dass wir sie möglichst überraschen sollen,
nur fällt mir absolut nichts ein.
Ich bin das Mädchen aus Distrikt 12 und deshalb kom-
me ich als Letzte dran. Je mehr Tribute zu ihrem Auftritt
gerufen werden, desto stiller wird es im Speisesaal. Zu
mehreren fällt es leichter, respektlos und unbesiegbar zu
wirken, wie wir es uns alle angewöhnt haben. Bei jedem,
der durch die Tür geht, denke ich unwillkürlich, dass er
höchstens noch ein paar Tage zu leben hat.
Schließlich sind nur noch Peeta und ich übrig. Er fasst
über den Tisch meine Hände. »Hast du dich schon ent-
schieden, was du den Spielmachern zeigen willst?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich kann sie nicht noch ein-
mal als Zielscheibe benutzen, wegen des Kraftfelds. Viel-
leicht bastele ich ein paar Angelhaken. Und du?«
»Keine Ahnung. Ich wünsche mir die ganze Zeit, ich
könnte einen Kuchen backen oder so was«, sagt er.
»Mach was mit Tarnung«, schlage ich vor.
332
»Falls die Morfixer mir etwas übrig gelassen haben«,
sagt er spöttisch. »Das ganze Training über sind sie an die-
ser einen Station geblieben wie festgeklebt.«
Wir sitzen eine Weile still da, dann platze ich mit der
Sache heraus, die uns beiden auf der Seele liegt. »Wie sol-
len wir es nur anstellen, diese Leute zu töten, Peeta?«
»Ich weiß es nicht.« Er legt die Stirn auf unsere um-
schlungenen Hände.
»Ich will sie nicht als Verbündete haben. Warum woll-
te Haymitch, dass wir sie kennenlernen?«, sage ich. »Das
wird es viel schwieriger machen als beim letzten Mal. Rue
einmal ausgenommen. Aber ich glaube, sie hätte ich so-
wieso nie töten können. Sie war Prim einfach zu ähnlich.«
Peeta schaut zu mir hoch, die Brauen nachdenklich zu-
sammengezogen. »Ihr Tod war der abscheulichste, nicht
wahr?«
»Keiner war besonders schön«, sage ich und muss an
Glimmers und Catos Ende denken.
Dann wird Peeta hereingerufen und ich warte ganz al-
lein. Fünfzehn Minuten vergehen, eine halbe Stunde. Erst
nach fast vierzig Minuten werde ich aufgerufen.
Als ich hineinkomme, nehme ich den scharfen Geruch
von Putzmittel wahr und bemerke, dass eine der Matten
in die Mitte des Raums gezogen wurde. Die Stimmung ist
333
ganz anders als letztes Jahr, als die Spielmacher halb be-
trunken und eigentlich nur damit beschäftigt waren, Le-
ckerbissen vom Büfett zu picken. Sie flüstern miteinander
und wirken leicht ungehalten. Was hat Peeta getan? Hat er
sie gegen sich aufgebracht?
Plötzlich mache ich mir Sorgen. Das ist nicht gut. Ich
möchte nicht, dass Peeta den Zorn der Spielmacher auf
sich zieht. Das ist meine Aufgabe. Peeta aus der Schusslinie
zu bringen. Aber womit hat er sie bloß gegen sich aufge-
bracht? Ich würde es ihm gern gleichtun, und noch mehr.
Die selbstgefällige Fassade dieser Leute durchbrechen, die
ihren Grips darauf verwenden, sich amüsante Todesarten
für uns auszumalen. Ihnen klarzumachen, dass nicht nur
wir den Grausamkeiten des Kapitols schutzlos ausgesetzt
sind, sondern auch sie selbst.
Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich euch has-
se?, denke ich. Euch, die ihr eure Talente in den Dienst der
Spiele stel t?
Ich versuche, Plutarch Heavensbee in die Augen zu
schauen, aber er scheint mich genauso demonstrativ zu
ignorieren wie während der ganzen Trainingsphase schon.
Mir fällt ein, wie er mich zum Tanzen aufgefordert hat,
wie erfreut er war, als er mir den Spotttölpel auf seiner
Uhr zeigte. Für derartige Freundlichkeiten ist hier kein
334
Platz. Wie auch, schließlich bin ich ein einfacher Tribut
und er ist der Oberste Spielmacher. So mächtig, so uner-
reichbar, so sicher …
Plötzlich weiß ich, was ich tun werde. Etwas, das al-
les, was Peeta getan haben mag, in den Schatten stellen
wird. Ich gehe zur Knotenstation und nehme ein Seil. Ich
versuche mich an einem bestimmten Knoten, aber es ist
schwer, denn diesen Knoten habe ich noch nie selbst ge-
macht. Ich habe nur ein Mal Finnicks geschickten Fin-
gern dabei zugeschaut, und damals ist alles so schnell
gegangen. Nach zehn Minuten habe ich dann aber doch
eine passable Schlinge zustande gebracht. Ich befestige
sie an einer Klimmzugstange, ziehe eine der Zielpuppen
in die Mitte des Raums, hebe sie hoch und lege ihr die
Schlinge um den Hals, sodass sie an der Stange herunter-
baumelt. Ich könnte ihr jetzt noch die Hände auf den Rü-
cken binden, das wäre ein nettes Detail, aber dafür wird
die Zeit vielleicht zu knapp. Ich renne zur Tarnstation, wo
irgendwelche Tribute, bestimmt die Morfixer, eine Riesen-
sauerei veranstaltet haben. Trotzdem finde ich noch einen
angebrochenen Behälter mit blutrotem Beerensaft, der für
meine Zwecke vollkommen ausreicht. Der fleischfarbene
Stoff der Puppenhaut bildet eine gute, aufnahmefähige
Leinwand. Sorgfältig und so, dass die Spielmacher es nicht
335
sehen können, male ich mit den Fingern zwei Wörter auf
den Puppenkörper. Dann trete ich rasch beiseite, um die
Reaktion in den Gesichtern der Spielmacher zu beobach-
ten, als sie den Namen auf der Puppe lesen.
SENECA CRANE.
336
17 Die Wirkung auf die Spielmacher ist
prompt und zufriedenstellend. Einige
stoßen spitze Schreie aus. Anderen fällt das Weinglas aus
der Hand und zerschellt mit Getöse auf dem Boden. Zwei
scheinen in Ohnmacht fallen zu wollen. Allenthalben er-
schrockene Gesichter.
Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit von Plutarch Hea-
vensbee. Während ihm der Saft des Pfirsichs, den er in
der Hand zerquetscht hat, durch die Finger rinnt, starrt er
mich schweigend an. Schließlich räuspert er sich und sagt:
»Sie können jetzt gehen, Miss Everdeen.«
Ich nicke ehrerbietig und wende mich zum Gehen,
doch dann kann ich nicht widerstehen und werfe die Dose
mit dem Beerensaft hinter mich. Ich höre, wie der Inhalt
gegen die Puppe klatscht, während weitere Weingläser
zerschellen. Kurz bevor sich die Tür des Aufzugs schließt,
sehe ich gerade noch, dass niemand sich gerührt hat.
Damit haben sie nicht gerechnet, denke ich. Es war unüber-
legt und gefährlich und zweifel os werde ich zehnfach und
mehr dafür bezahlen müssen. Doch für den Augenblick emp-
finde ich fast so etwas wie Euphorie und genieße es einfach.
337
Ich möchte sofort zu Haymitch und ihm von meiner
Einzelstunde erzählen, aber es ist niemand da. Vermutlich
machen sie sich al e fürs Abendessen zurecht, also beschlie-
ße ich, auch zu duschen, denn meine Hände kleben von
dem Saft. Unter dem Wasserstrahl überlege ich, ob es klug
war, was ich da eben gemacht habe. Mein Handeln sol te
jetzt eigentlich immer von der Frage geleitet werden: »Hel-
fe ich damit Peeta, am Leben zu bleiben?« Für diese Akti-
on trifft das wohl nicht zu, wenn auch indirekt. Was beim
Training geschieht, ist streng geheim, und wenn niemand
erfährt, was ich angestel t habe, gibt es auch keinen Grund,
gegen mich vorzugehen. Letztes Jahr wurde ich für meine
Dreistigkeit sogar belohnt. Doch das hier ist eine Art Ver-
brechen. Wenn die Spielmacher wütend auf mich sind und
beschließen, mich in der Arena zu bestrafen, könnte auch
Peeta davon betroffen sein. Viel eicht war ich zu impulsiv.
Trotzdem … ich kann nicht behaupten, dass ich es bereue.
Als wir uns alle zum Abendessen versammeln, sehe ich
Farbflecken auf Peetas Händen, obwohl seine Haare noch
feucht sind vom Duschen. Anscheinend hat er doch ir-
gendeine Tarnung vorgeführt. Als die Suppe serviert wird,
spricht Haymitch direkt an, was alle beschäftigt. »Und,
wie ist eure Einzelstunde gelaufen?«
Ich tausche einen Blick mit Peeta. Irgendwie bin ich
338
nicht so scharf darauf, das, was ich getan habe, in Worte
zu fassen. In der Stille des Speisesaals wirkt es so ungeheu-
erlich. »Du zuerst«, sage ich. »Das muss ja wirklich was
Besonderes gewesen sein. Ich musste vierzig Minuten war-
ten, bis ich reindurfte.«
Peeta wirkt ebenso unwillig wie ich. »Also, ich … ich
hab diese Tarnungsnummer vorgeführt, wie du vorge-
schlagen hast, Katniss.« Er zögert. »Tarnung ist vielleicht
nicht das richtige Wort. Ich meine, ich hab was mit Far-
ben gemacht.«
»Und was?«, fragt Portia.
Mir fällt wieder ein, wie ungehalten die Spielmacher
wirkten, als ich zu meiner Einzelstunde in die Turnhalle
kam. Der Geruch nach Putzmittel. Die Matte über dem
Fleck in der Mitte der Turnhalle. Wollten sie damit etwas
verdecken, was sich nicht entfernen ließ? »Du hast was ge-
malt, oder? Ein Bild.«
»Hast du es gesehen?«, fragt Peeta.
»Nein. Aber sie haben sich große Mühe gegeben, es zu
verdecken«, sage ich.
»Das ist ja nichts Besonderes. Kein Tribut darf erfah-
ren, was die anderen gemacht haben«, sagt Effie unbeein-
druckt. »Was hast du gemalt, Peeta?« Ihr Blick wird weich.
»Ein Bild von Katniss?«
339
»Wieso sollte er ein Bild von mir malen, Effie?«, frage
ich leicht verärgert.
»Um zu zeigen, dass er alles Menschenmögliche tun
wird, um dich zu beschützen. Das erwarten sowieso alle
im Kapitol. Hat er sich nicht freiwillig gemeldet, um mit
dir in die Arena zu gehen?«, sagt Effie, als wäre es das Of-
fensichtlichste auf der Welt.
»Ich habe aber ein Bild von Rue gemalt«, sagt Peeta.
»Wie sie aussah, als Katniss sie mit Blumen bedeckt hatte.«
Am Tisch bleibt es lange still, während alle die Worte
verdauen.
»Und was genau wolltest du damit bezwecken?«, fragt
Haymitch, der sich nur mit Mühe beherrschen kann.
»Ich weiß nicht recht. Ich wollte sie zur Verantwortung
ziehen, und sei es nur für einen Augenblick«, sagt Peeta.
»Dafür, dass sie das kleine Mädchen ermordet haben.«
»Das ist entsetzlich.« Effie hört sich so an, als würde sie
gleich anfangen zu weinen. »So zu denken … das ist ver-
boten, Peeta. Absolut. Damit bringst du dich und Katniss
nur in Schwierigkeiten.«
»Da muss ich Effie zustimmen«, sagt Haymitch. Portia
und Cinna schweigen, aber ihre Gesichter sind todernst.
Natürlich haben sie recht. Doch obwohl es mich mit Sorge
erfül t – ich finde das, was Peeta getan hat, bewundernswert.
340
»Wahrscheinlich ist das jetzt kein guter Moment zu
erwähnen, dass ich eine Puppe erhängt und den Namen
Seneca Cranes daraufgeschrieben habe«, sage ich. Meine
Worte haben den gewünschten Effekt. Nach einem Au-
genblick der Fassungslosigkeit trifft mich das gesammelte
Missfallen im Raum wie ein Hammer.
»Du … hast … Seneca Crane erhängt?«, sagt Cinna.
»Ja. Ich hab meine neuen Knotentechniken vorgeführt
und irgendwie ist er in die Schlinge geraten«, sage ich.
»Oh, Katniss«, sagt Effie gedämpft. »Woher weißt du
überhaupt davon?«
»Ist das ein Geheimnis? Präsident Snow hat nicht so
getan, als ob es eins wäre. Er schien sogar ganz wild
darauf zu sein, dass ich davon erfahre«, sage ich. Effie
steht vom Tisch auf und rennt hinaus, eine Serviette
vors Gesicht gepresst. »Jetzt habe ich Effie aufgeregt. Ich
hätte lügen und erzählen sollen, ich hätte ein paar Pfeile
abgeschossen.«
»Man könnte meinen, wir hätten das geplant«, sagt
Peeta und sieht mich mit einem schwachen Lächeln an.
»Habt ihr das nicht?«, fragt Portia. Sie hält sich mit den
Fingern die Lider zu, als müsste sie die Augen vor einem
grellen Licht schützen.
»Nein«, sage ich und schaue Peeta mit neuer
341
Hochachtung an. »Als wir reingingen, hatten wir noch gar
keine Ahnung, was wir machen sollten.«
»Und übrigens, Haymitch«, sagt Peeta. »Wir haben be-
schlossen, dass wir in der Arena keine weiteren Verbünde-
ten haben wollen.«
»Das ist gut. Dann bin ich nicht dafiir verantwortlich,
wenn ihr mit eurer Dämlichkeit einen meiner Freunde
umbringt«, sagt er.
»Genau das haben wir uns auch gedacht«, sage ich.
Schweigend essen wir zu Ende, aber als wir aufstehen,
um in den Salon zu gehen, legt Cinna mir den Arm um
und drückt mich. »Komm, jetzt holen wir uns die Bewer-
tungen für die Einzelstunde ab.«
Wir versammeln uns um den Fernseher und Effie ge-
sellt sich mit verweinten Augen dazu. Die Gesichter der
Tribute erscheinen, ein Distrikt nach dem anderen, und
unter den Porträts leuchten die Punktzahlen auf. Von eins
bis zwölf. Die erwartungsgemäß hohen Wertungen für
Cashmere, Gloss, Brutus, Enobaria und Finnick. Mittel
bis niedrig für die Übrigen.
»Gab es auch schon mal null Punkte?«, frage ich.
»Nein, aber es gibt immer ein erstes Mal«, antwortet
Cinna.
Und damit hat er recht. Denn Peeta und ich bekommen
342
beide eine Zwölf und das ist in der Geschichte der Hun-
gerspiele noch nie vorgekommen. Doch niemandem ist
nach Feiern zumute.
»Warum haben sie das gemacht?«, frage ich.
»Damit den anderen gar nichts anderes übrig bleibt, als
euch ins Visier zu nehmen«, sagt Haymitch rundheraus.
»Geht ins Bett. Ich kann euch jetzt nicht mehr sehen.«
Schweigend begleitet Peeta mich zu meinem Zimmer,
doch bevor er Gute Nacht sagen kann, schlinge ich die
Arme um ihn und lege den Kopf an seine Brust. Seine
Hände wandern meinen Rücken hoch und seine Wange
ruht an meinem Haar. »Tut mir leid, wenn ich alles noch
schlimmer gemacht hab«, sage ich.
»Nicht schlimmer als ich. Warum hast du das denn ge-
tan?«, sagt er.
»Ich weiß nicht. Vielleicht, um ihnen zu zeigen, dass
ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.«
Er lacht leise, bestimmt denkt er an letztes Jahr, an die
Nacht vor den Spielen. Da waren wir auf dem Dach, kei-
ner von uns konnte schlafen. Damals hat Peeta auch so
etwas in der Art gesagt, aber ich verstand nicht, was er
meinte. Jetzt verstehe ich es.
»Ich auch«, sagt er. »Und ich will auch gar nicht sagen,
dass ich es nicht versuchen werde. Dich nach Hause zu
343
bekommen, meine ich. Aber wenn ich ganz ehrlich sein
soll …«
»Wenn du ganz ehrlich sein sollst, dann glaubst du,
dass Präsident Snow Anweisung gegeben hat, dafür zu sor-
gen, dass wir ohnehin in der Arena sterben«, sage ich.
»Diesen Gedanken hatte ich, ja«, sagt Peeta.
Auch mir ist dieser Gedanke gekommen. Und nicht
nur einmal. Doch während ich mir sicher bin, dass ich
die Arena auf keinen Fall lebend verlassen werde, hoffe ich
noch immer, dass Peeta es schafft. Schließlich hat nicht
er die Beeren herausgeholt, sondern ich. Niemand hat je
daran gezweifelt, dass Peeta dem Kapitol nur aus Liebe
Widerstand geleistet hat. Also lässt Präsident Snow ihn
vielleicht lieber am Leben – niedergeschmettert, mit ge-
brochenem Herzen, als lebende Warnung für andere.
»Aber selbst wenn, werden alle wissen, dass wir ge-
kämpft haben, stimmt’s?«, sagt Peeta.
»Genau«, sage ich. Und zum ersten Mal habe ich
Abstand zu meiner eigenen Tragödie, die mich seit der
Verkündung des Jubel-Jubiläums beschäftigt hat. Ich
denke an den alten Mann, den sie in Distrikt 11 nie-
dergeschossen haben, und an Bonnie und Twill und die
Gerüchte über die Aufstände. Ja, alle in den Distrikten
werden mir zuschauen, um zu sehen, wie ich mit dieser
344
Todesstrafe umgehe, mit dieser letzten Machtdemonst-
ration von Präsident Snow. Sie werden nach einem Zei-
chen Ausschau halten, dass ihre Kämpfe nicht vergebens
waren. Wenn ich deutlich machen kann, dass ich mich
dem Kapitol bis zum Ende widersetze, dann wird man
zwar mich getötet haben … nicht jedoch meinen Geist.
Gibt es eine bessere Möglichkeit, den Rebellen Hoff-
nung zu machen?
Das Schöne an dieser Idee ist, dass schon meine Ent-
scheidung, Peeta zu retten, indem ich mein eigenes Leben
opfere, einen Akt des Widerstands darstellt. Eine Weige-
rung, die Hungerspiele nach den Regeln des Kapitols zu
spielen. Meine privaten Interessen sind im Einklang mit
meinen politischen. Und wenn ich Peeta wirklich retten
könnte … Für eine Revolution wäre das optimal. Denn
tot bin ich mehr wert als lebendig. Sie können mich zu
einer Märtyrerin erheben und mein Gesicht auf Fahnen
malen, und das wird die Leute besser mobilisieren, als eine
lebende Katniss es könnte. Aber Peeta wird lebendig mehr
wert sein, als tragischer Held wird er seinen Schmerz in
Worte fassen können, die die Menschen verändern.
Peeta würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich so et-
was denke, deshalb sage ich nur: »Und was sollen wir mit
unseren letzten Tagen anfangen?«
345
»Ich würde gern jede Minute meines restlichen Lebens
mit dir verbringen«, antwortet er.
»Dann komm«, sage ich und ziehe ihn in mein Zimmer.
Es ist der reine Luxus, wieder mit Peeta in einem Bett zu
schlafen. Erst jetzt merke ich, wie sehr es mich nach mensch-
licher Nähe verlangt. Nach seinem Körper neben mir in der
Dunkelheit. Hätte ich die letzten Nächte doch nicht vergeu-
det, indem ich ihn aussperrte. Ich lasse mich in den Schlaf
sinken, eingehül t in seine Wärme, und als ich die Augen
öffne, flutet das Tageslicht durch die Fenster herein.
»Keine Albträume«, sagt er.
»Keine Albträume«, bestätige ich. »Und du?«
»Auch keine. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es ist,
eine Nacht richtig zu schlafen.«
Eine Weile liegen wir da, wir haben es nicht eilig, den
Tag zu beginnen. Morgen Abend sind die Fernsehinter-
views, also werden Effie und Haymitch uns heute darauf
vorbereiten. Schon wieder hochhackige Schuhe und sarkasti-
sche Bemerkungen, denke ich. Doch dann bringt uns das
rothaarige Avoxmädchen einen Zettel von Effie, auf dem
steht, dass sie und Haymitch nach der Tour durch die
Disktrikte der Meinung seien, dass wir uns in der Öffent-
lichkeit angemessen zu verhalten wüssten. Die Vorberei-
tungssitzungen sind gestrichen.
346
»Echt?«, sagt Peeta, nimmt mir den Zettel aus der
Hand und wirft einen Blick darauf. »Weißt du, was das
heißt? Wir haben den ganzen Tag für uns!«
»Schade, dass wir nirgendwohin können«, sage ich
wehmütig.
»Wer sagt das?«, fragt er.
Das Dach. Wir bestellen jede Menge Essen, schnappen
uns ein paar Decken und verziehen uns zu einem Picknick
aufs Dach. Ein Picknick von morgens bis abends im Blu-
mengarten, in dem überall die Windspiele klimpern. Wir
essen. Wir liegen in der Sonne. Ich breche herabhängende
Lianen ab und nutze mein neues Wissen aus dem Trai-
ning, um Knoten zu machen und Netze zu knüpfen. Peeta
zeichnet mich. Wir erfinden ein Spiel mit dem Kraftfeld,
von dem das Dach umgeben ist – einer wirft einen Apfel
hinein, und der andere muss ihn fangen.
Niemand stört uns. Am späten Nachmittag liege ich
mit dem Kopf in Peetas Schoß und flechte einen Blumen-
kranz, während er die Hände in meinem Haar hat, um
Knoten zu üben, wie er behauptet. Nach einer Weile ver-
harren seine Hände. »Was ist?«, frage ich.
»Am liebsten würde ich diesen Augenblick anhalten,
hier und jetzt, und für immer darin leben«, sagt er.
Normalerweise bekomme ich jedes Mal ein schlechtes
347
Gewissen und fühle mich schrecklich, wenn er solche Be-
merkungen macht und auf seine unsterbliche Liebe zu mir
anspielt. Doch in diesem Moment fühle ich mich so warm
und entspannt, so weit entfernt von der Sorge um eine Zu-
kunft, die ich niemals haben werde, dass ich das Wort ein-
fach hinausschlüpfen lasse. »Okay.«
Ich höre das Lächeln in seiner Stimme. »Dann lässt du
es zu?«
»Ich lasse es zu«, sage ich.
Er vergräbt die Finger wieder in meinem Haar, und ich
döse ein, doch zum Sonnenuntergang weckt er mich. Es
ist ein spektakulärer gelborangefarbener Lichtschein hin-
ter der Skyline des Kapitols. »Den willst du dir bestimmt
nicht entgehen lassen, dachte ich mir«, sagt er.
»Danke«, sage ich. Ich kann die Sonnenuntergänge, die
mir noch bleiben, an den Fingern abzählen, und keinen
davon möchte ich versäumen.
Zum Abendessen gehen wir nicht zu den anderen, es
ruft uns auch niemand.
»Ein Glück. Ich bin es leid, alle um mich herum so
unglücklich zu machen«, sagt Peeta. »Zum Weinen zu
bringen. Und Haymitch …« Er braucht nicht weiterzu-
sprechen.
Wir bleiben auf dem Dach, bis es Zeit zum Schlafen-
348
gehen ist, dann huschen wir leise hinunter und in mein
Zimmer, ohne jemandem zu begegnen.
Am nächsten Morgen werden wir von meinem Vor-
bereitungsteam geweckt. Der Anblick von Peeta und mir,
wie wir nebeneinander schlafen, ist zu viel für Octavia, sie
bricht sofort in Tränen aus. »Denk daran, was Cinna uns
gesagt hat«, sagt Venia eindringlich. Octavia nickt und
geht schluchzend aus dem Zimmer.
Peeta muss zur Vorbereitung in sein Zimmer und ich
bleibe mit Venia und Flavius allein. Das übliche Geplapper
fällt heute aus. Es wird überhaupt kaum geredet, höchs-
tens wenn ich das Kinn heben soll oder wenn etwas über
eine Schminktechnik gesagt wird. Es ist fast Mittag, als
ich merke, dass etwas auf meine Schulter tropft, und als
ich mich umdrehe, sehe ich Flavius, wie er mir die Haare
schneidet, während ihm stumm die Tränen über das Ge-
sicht laufen. Venia wirft ihm einen strengen Blick zu und
da legt er die Schere vorsichtig auf dem Tisch ab und geht.
Dann ist nur noch Venia übrig, ihre Haut ist so blass,
dass die Tattoos herauszuspringen scheinen. Fast starr
vor Entschlossenheit frisiert sie mich, sie manikürt mir
die Nägel und schminkt mich mit schnellen Fingern, so
macht sie das Fehlen ihrer Kollegen wett. Die ganze Zeit
weicht sie meinem Blick aus. Erst als Cinna kommt, um
mich zu begutachten, nimmt sie meine Hände, schaut mir
direkt in die Augen und sagt: »Wir möchten dir alle sagen,
was für eine … Ehre es war, dich schön machen zu dür-
fen.« Dann geht sie eilig aus dem Zimmer.
Mein Vorbereitungsteam. Meine albernen, oberfläch-
lichen, liebevollen Schätzchen mit ihren Feder- und Par-
tyticks brechen mir mit ihrem Abschied fast das Herz. Ve-
nias letzte Worte zeigen es deutlich: Wir alle wissen, dass
ich nicht zurückkehren werde. Weiß es die ganze Welt?,
frage ich mich. Ich schaue Cinna an. Er weiß es, ganz be-
stimmt. Doch er hält sein Versprechen, von ihm drohen
keine Tränen.
»Also, was ziehe ich heute Abend an?«, frage ich mit ei-
nem Blick auf die Tasche, in der mein Kleid steckt.
»Präsident Snow höchstpersönlich hat die Kleiderord-
nung festgelegt«, sagt Cinna. Er zieht den Reißverschluss
auf, und zum Vorschein kommt eins der Hochzeitskleider,
die ich beim Fototermin getragen habe. Schwere weiße
Seide mit tiefem Ausschnitt, eng anliegender Taille und
Ärmeln, die vom Handgelenk bis zum Boden fallen. Und
Perlen über Perlen. Eingestickt in das Kleid und in die
Bänder, die ich um den Hals trage, ebenso wie auf der
Krone für den Schleier. »Am Abend des Fotoshootings
wurde zwar das Jubel-Jubiläum verkündet, aber die Leute
haben trotzdem über ihr Lieblingskleid abgestimmt, und
das hier hat gewonnen. Der Präsident sagt, du musst es
heute Abend tragen. Unsere Einwände blieben ungehört.«
Ich reibe ein Stück Seide zwischen den Fingern und ver-
suche Präsident Snows Gedankengang nachzuvollziehen.
Da mich die größte Schuld trifft, will er offenbar meinen
Schmerz, meinen Verlust und meine Erniedrigung in den
Mittelpunkt rücken. Und hiermit glaubt er das deutlich
machen zu können. Es ist so barbarisch, mein Hochzeits-
kleid zu meinem Totenhemd zu machen, dass es mich hart
trifft und einen dumpfen Schmerz in meinem Innern hin-
terlässt. »Tja, es wär ja auch schade um das schöne Kleid«,
ist alles, was ich sage.
Vorsichtig hilft Cinna mir in das Kleid. Als ich es auf
den Schultern spüre, ziehe ich sie unwillkürlich hoch.
»War das immer schon so schwer?«, frage ich. Ich erinnere
mich, dass einige der Kleider aus dickem Stoff waren, aber
dieses scheint einen Zentner zu wiegen.
»Ich musste es wegen der Beleuchtung ein wenig än-
dern«, sagt Cinna. Ich nicke, ohne zu verstehen, was
das damit zu tun hat. Er zieht mir die Schuhe an und
schmückt mich mit Perlen und Schleier. Verleiht meinem
Make-up den letzten Strich. Lässt mich ein paar Schritte
gehen.
»Du siehst hinreißend aus«, sagt er. »Katniss, das Ober-
teil ist so passgenau, dass ich dich bitte, die Arme nicht
über den Kopf zu heben. Jedenfalls nicht, ehe du dich
drehst.«
»Soll ich mich wieder drehen?«, frage ich und denke an
mein Kleid vom letzten Jahr.
»Bestimmt wird Caesar dich darum bitten. Und wenn
nicht, schlag es selbst vor. Aber nicht gleich. Bewahr es dir
für das große Finale auf«, sagt Cinna.
»Gib mir ein Zeichen, damit ich Bescheid weiß, wann
es so weit ist«, sage ich.
»Mach ich. Hast du dir für das Interview irgendwas
überlegt? Ich weiß, dass Haymitch es ganz euch überlassen
hat«, sagt er.
»Nein, dieses Jahr werde ich einfach improvisieren. Ko-
mischerweise bin ich überhaupt nicht aufgeregt.« Das bin
ich wirklich nicht. Sosehr Präsident Snow mich auch has-
sen mag, das Publikum im Kapitol gehört mir.
Wir treffen Effie, Haymitch, Portia und Peeta vor dem
Aufzug. Peeta trägt einen eleganten Smoking und weiße
Handschuhe. So zieht man sich hier im Kapitol als Bräu-
tigam an.
Bei uns zu Hause ist alles so viel bescheidener. Die
Frau leiht sich normalerweise ein weißes Kleid, das schon
352
unzählige Male getragen wurde. Der Mann zieht irgend-
etwas Sauberes an, das er nicht im Bergwerk trägt. Sie
füllen im Justizgebäude ein paar Formulare aus und dann
wird ihnen ein Haus zugewiesen. Freunde und Verwandte
kommen zu einem Essen oder etwas Kuchen zusammen,
wenn man es sich leisten kann. Und auch wenn nicht, ein
traditionelles Lied wird immer gesungen, wenn das Paar
über die Schwelle zum neuen Heim tritt. Und dann ha-
ben wir eine kleine Zeremonie: Das Brautpaar zündet sein
erstes Feuer an, röstet ein wenig Brot und teilt es. Es mag
altmodisch sein, aber bevor man das Brot nicht geröstet
hat, fühlt man sich in Distrikt 12 nicht richtig verheiratet.
Die anderen Tribute haben sich bereits hinter den Ku-
lissen versammelt und reden leise miteinander, doch als
Peeta und ich kommen, verstummen sie. Ich merke, dass
sie alle mein Brautkleid anstarren. Sind sie neidisch, weil
es so schön ist? Darauf, dass es vielleicht die Macht hat,
die Massen zu beeinflussen?
Schließlich sagt Finnick: »Ich fasse es nicht, dass Cinna
dich in dieses Ding gesteckt hat.«
»Er hatte keine Wahl. Präsident Snow hat ihn gezwun-
gen«, sage ich trotzig. Ich lasse es nicht zu, dass jemand
etwas gegen Cinna sagt.
Cashmere wirft die blonde Lockenmähne zurück und
353
giftet: »Du siehst lächerlich aus!« Sie fasst ihren Bruder bei
der Hand und zieht ihn mit sich, damit sie die Prozes-
sion auf die Bühne anführen können. Auch die anderen
Tribute stellen sich auf. Ich bin verwirrt, denn irgendwie
sind alle wütend, aber manche klopfen uns trotzdem mit-
fühlend auf die Schulter, und Johanna Mason bleibt sogar
stehen, um meine Perlenkette zu richten.
»Zahl es ihm heim, ja?«, sagt sie.
Ich nicke, aber ich weiß nicht, was sie meint. Erst als
wir alle auf der Bühne sitzen und Caesar Flickerman,
Haare und Gesicht dieses Jahr lavendelfarben, seinen Er-
öffnungssermon hinter sich gebracht hat und die Tribute
mit den Interviews beginnen – erst da wird mir bewusst,
wie betrogen sich die meisten Sieger fühlen und wie wü-
tend sie sind. Doch sie sind gerissen, sie drücken es so
gekonnt aus, dass alles auf die Regierung und besonders
auf Präsident Snow zurückfällt. Zwar gilt das nicht für
alle, zum Beispiel nicht für die Unverbesserlichen, Brutus
und Enobaria, für die dies einfach nur irgendwelche Spiele
sind, und einige andere, die zu verwirrt oder betäubt oder
verloren sind, um bei dem Angriff mitzumachen. Doch es
gibt genügend Sieger, die den Mut und die Geistesgegen-
wart besitzen, um zu kämpfen.
Cashmere bringt die Sache ins Rollen, indem sie
354
erzählt, dass sie gar nicht aufhören kann zu weinen, wenn
sie daran denkt, wie sehr die Menschen im Kapitol leiden
müssen, weil sie uns verlieren werden. Gloss erinnert an
den freundlichen Empfang, der ihm und seiner Schwester
hier zuteilwurde. Beetee zieht in seiner nervösen, unruhi-
gen Art die Rechtmäßigkeit des Jubel-Jubiläums in Zwei-
fel, er fragt sich, ob die Angelegenheit in letzter Zeit ein-
mal von den Experten überprüft worden sei. Finnick trägt
ein selbst verfasstes Gedicht für seine einzige wahre Liebe
im Kapitol vor, und an die hundert Damen fallen in Ohn-
macht, weil sie sich angesprochen fühlen. Johanna Mason
steht auf und fragt, ob man nichts an der Lage ändern
könne. Sicher hätten die Erfinder des Jubel-Jubiläums
nicht geahnt, dass sich zwischen den Siegern und dem Ka-
pitol eine solche Liebe entwickeln würde. Niemand könne
so grausam sein, eine solch tiefe Verbundenheit zu zerstö-
ren. Seeder sinniert ruhig darüber, dass in Distrikt 11 alle
davon ausgingen, Präsident Snow sei allmächtig. Doch
wenn er allmächtig sei, warum schaffe er dieses Jubel-Jubi-
läum dann nicht ab? Und Chaff, der gleich nach ihr dran
ist, behauptet, der Präsident könne dieses Jubel-Jubiläum
abschaffen, wenn er wollte, aber er glaube wohl nicht, dass
es jemandem viel bedeute.
Als ich vorgestellt werde, ist das Publikum schon völlig
355
fertig. Die Leute weinen, einige sind zusammengebrochen,
sogar eine Änderung des Programms wird gefordert. Als
ich in meinem Brautkleid aus weißer Seide auftrete, bricht
ein Tumult los. Mein Ende, das Ende des tragischen Lie-
bespaars, das glücklich bis in alle Zeit lebt, das Ende der
Hochzeit. Selbst Caesars Professionalität bekommt Risse,
als er vergeblich versucht, die Menge so weit zu beruhi-
gen, dass ich sprechen kann, doch meine drei Minuten
schrumpfen schnell zusammen.
Schließlich tritt eine Ruhepause ein und er kann an-
bringen: »Tja, Katniss, offenbar ist das für alle eine sehr
bewegende Nacht. Möchtest du etwas sagen?«
Als ich spreche, zittert meine Stimme. »Nur, dass es mir
so leidtut, dass Sie alle nicht zu meiner Hochzeit kommen
können … aber ich bin froh, dass Sie mich wenigstens in
dem Kleid sehen können. Ist es nicht … einfach wunder-
schön?« Ich muss Cinna nicht anschauen, um das Zeichen
zu bekommen. Ich weiß, dass jetzt der richtige Moment
ist. Langsam beginne ich mich im Kreis zu drehen und
hebe die Ärmel des schweren Kleides über den Kopf.
Als ich Schreie in der Menge höre, denke ich, es ist, weil
ich so umwerfend aussehe. Da merke ich, dass um mich
herum Rauch aufsteigt. Rauch von einem Feuer. Nicht
das flackernde Zeug wie letztes Jahr bei der Wagenparade,
356
sondern echte Flammen, die mein Kleid verschlingen. Pa-
nik erfasst mich, als der Rauch dichter wird. Verkohlte
Fetzen geschwärzter Seide wirbeln in die Luft, Perlen pras-
seln auf die Bühne. Irgendwie traue ich mich nicht, stehen
zu bleiben, denn meine Haut brennt ja gar nicht, und ich
weiß, dass Cinna hinter alldem stecken muss. Also dre-
he ich mich rundherum, rundherum. Kurz bekomme ich
keine Luft mehr, bin eingehüllt in die seltsamen Flammen.
Dann ist das Feuer ganz plötzlich aus. Langsam bleibe ich
stehen, ich frage mich, ob ich wohl nackt bin und war-
um Cinna es so eingerichtet hat, dass mein Hochzeitskleid
verbrennt.
Aber ich bin nicht nackt. Ich trage ein Kleid, das ge-
nauso aussieht wie mein Hochzeitskleid, nur dass es die
Farbe von Kohle hat und aus winzigen Federn besteht. Er-
staunt hebe ich die langen, fließenden Ärmel und in die-
sem Moment sehe ich mich auf dem Bildschirm. Ganz in
Schwarz bis auf die weißen Flecken auf den Ärmeln. Oder
sollte ich sagen, auf den Flügeln? Cinna hat mich in einen
Spotttölpel verwandelt.
357
18 Ich glimme immer noch ein wenig,
deshalb streckt Caesar die Hand etwas
zögerlich aus, um meinen Schleier zu berühren. Das Weiß
ist abgebrannt, übrig geblieben ist ein glatter schwarzer
Schleier, der hinten über den Halsausschnitt des Kleides
fällt. »Federn«, sagt Caesar. »Du siehst aus wie ein Vogel.«
»Wie ein Spotttölpel, oder?«, sage ich und schlage ein
wenig mit den Flügeln. »Das ist der Vogel auf der Brosche,
die ich als Glücksbringer getragen habe.«
Ein Schatten der Erkenntnis huscht über Caesars Ge-
sicht, er weiß, dass der Spotttölpel nicht nur mein Glücks-
bringer ist. Dass er jetzt für so viel mehr steht. Dass das,
was im Kapitol als spektakulärer Gag wahrgenommen
wird, in den Distrikten einen ganz anderen Widerhall fin-
det. Doch er macht das Beste daraus.
»Also, Hut ab vor deinem Stylisten. Es wird wohl kei-
ner bestreiten, dass wir so etwas Spektakuläres in einem
Interview noch nie zu sehen bekommen haben. Cinna,
eine Verbeugung bitte!« Caesar gibt Cinna mit einer Geste
zu verstehen, dass er sich erheben soll. Er tut es und macht
eine kleine, elegante Verbeugung. Und auf einmal habe
358
ich riesige Angst um ihn. Was hat er getan? Etwas furcht-
bar Gefährliches. Ein rebellischer Akt. Und er hat es für
mich getan. Ich erinnere mich an seine Worte …
»Keine Bange. Ich lasse meine Gefühle in meine Arbeit
einfließen. Auf diese Weise tue ich niemandem weh außer
mir selbst.«
Und ich fürchte, er hat sich so wehgetan, dass es nicht
wiedergutzumachen ist. Die tiefere Bedeutung meiner feu-
rigen Verwandlung kann Präsident Snow nicht entgangen
sein.
Das Publikum ist erst starr vor Staunen und applau-
diert dann heftig. Ich höre kaum den Signalton, der an-
zeigt, dass meine drei Minuten um sind. Caesar dankt mir
und ich gehe wieder zu meinem Platz, mein Kleid fühlt
sich jetzt leichter an als Luft.
Ich begegne Peeta, der nach mir dran ist, aber er weicht
meinem Blick aus. Vorsichtig setze ich mich hin, doch ab-
gesehen von einigen Rauchspuren scheine ich unversehrt
zu sein, und so richte ich meine Aufmerksamkeit auf ihn.
Seit ihrem Auftritt vor einem Jahr sind Caesar und
Peeta ein eingespieltes Team. Die Leichtigkeit, mit der sie
sich die Bälle zuspielen, die treffsicheren Pointen und der
gekonnte Übergang zu Herz und Schmerz wie damals, als
Peeta seine Liebe zu mir eingestanden hat, haben ihnen
359
großen Erfolg beim Publikum beschert. Mühelos eröffnen
sie das Gespräch mit ein paar witzigen Bemerkungen über
Feuer und Federn und verbranntes Geflügel. Aber man
sieht, dass Peeta mit den Gedanken weit weg ist, deshalb
spricht Caesar direkt das Thema an, das allen am Herzen
liegt.
»Erzähl mal, wie das war, Peeta, als du, nach allem, was
du durchgemacht hattest, die Neuigkeit vom Jubel-Jubilä-
um erfuhrst«, sagt Caesar.
»Es war ein Schock für mich. Eben noch hatte ich Kat-
niss gesehen, so wunderschön in all den Hochzeitskleidern,
und im nächsten Augenblick …« Der Satz bleibt in der
Luft hängen.
»Da wurde dir klar, dass es niemals eine Hochzeit ge-
ben wird?«, fragt Caesar sanft.
Peeta schweigt lange, als müsse er etwas überdenken.
Er sieht zu den gebannten Zuschauern, dann auf den Bo-
den, dann schließlich zu Caesar. »Caesar, meinst du, unse-
re Freunde hier können ein Geheimnis für sich behalten?«
Ein unbehagliches Lachen ist im Publikum zu hören.
Was meint er wohl damit? Vor wem sollen sie ein Geheim-
nis bewahren? Die ganze Welt schaut uns zu.
»Da bin ich mir ganz sicher«, sagt Caesar.
»Wir sind bereits verheiratet«, sagt Peeta ruhig. Das
360
Publikum reagiert mit Erstaunen, und ich muss das Ge-
sicht in meinem Kleid verbergen, damit man meine Ver-
wirrung nicht sieht. Worauf will er bloß hinaus?
»Aber … wie ist das möglich?«, fragt Caesar.
»Oh, es war keine offizielle Hochzeit. Wir sind nicht
zum Justizgebäude gegangen oder so. Aber wir haben in
Distrikt 12 so ein Hochzeitsritual. Ich weiß nicht, wie es
in den anderen Distrikten ist. Wir machen da etwas ganz
Spezielles«, sagt Peeta und beschreibt kurz die Sache mit
dem Brot.
»Waren eure Familien dabei?«, fragt Caesar.
»Nein, wir haben niemandem davon erzählt. Nicht ein-
mal Haymitch. Und Katniss’ Mutter wäre bestimmt nicht
einverstanden gewesen. Aber wir wussten ja, wenn wir im
Kapitol heiraten, dann findet das Ritual nicht statt. Und
wir wollten beide nicht länger warten. Also haben wir es
eines Tages einfach gemacht«, sagt Peeta. »Und wir fühlen
uns mehr verheiratet, als wir es durch irgendein Stück Pa-
pier oder eine große Feier könnten.«
»Dann war das also vor der Ankündigung des Jubel-
Jubiläums?«, fragt Caesar.
»Ja, natürlich war das vorher. Bestimmt hätten wir es
niemals getan, nachdem wir davon wussten«, sagt Peeta.
Er redet sich in Rage. »Aber wer hätte das kommen sehen?
361
Niemand. Wir haben die Spiele durchgemacht, wir wur-
den Sieger, alle schienen so begeistert zu sein, uns zusam-
men zu sehen, und dann, aus dem Nichts – ich meine, wie
hätten wir das vorhersehen können?«
»Das konntet ihr nicht, Peeta.« Caesar legt ihm ei-
nen Arm um die Schultern. »Wie du sagst, das konnte
niemand. Doch ich muss zugeben, ich bin froh, dass ihr
beide wenigstens ein paar glückliche Monate miteinander
hattet.«
Tosender Applaus. Als wäre ich dadurch ermutigt, hebe
ich den Blick von den Federn und zeige dem Publikum
zum Dank ein tragisches Lächeln. Von dem Rauch in den
Federn tränen mir passenderweise die Augen.
»Ich bin nicht froh«, sagt Peeta. »Mir wäre es lieber, wir
hätten bis zur offiziellen Trauung gewartet.«
Das überrascht sogar Caesar. »Aber selbst eine kurze
Zeit ist doch besser als gar nichts, oder?«
»Vielleicht würde ich auch so denken, Caesar«, sagt
Peeta bitter. »Wenn das Baby nicht wäre.«
Da. Er hat es schon wieder geschafft. Hat eine Bombe
hochgehen lassen, die alle Anstrengungen der Tribute vor
ihm zunichtemacht. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht
hat er dieses Jahr nur eine Bombe gezündet, die die Sieger
selbst gebaut haben. In der Hoffnung, dass jemand sie zur
362
Explosion bringen würde. Zum Beispiel ich in meinem
Brautkleid. Sie wissen ja nicht, wie abhängig ich von Cin-
nas Talenten bin, während Peeta nur seinen Grips benötigt.
Als Echo auf die Bombe fliegen Vorwürfe in alle Rich-
tungen: ungerecht, barbarisch, grausam. Selbst der Kapi-
tolhörigste, Spielehungrigste, Blutrünstigste im Publikum
kann nicht übersehen, wenigstens für einen Augenblick,
wie entsetzlich das alles ist.
Ich bin schwanger.
Die Zuschauer können die Neuigkeit nicht sofort er-
fassen. Sie muss erst geschluckt und verarbeitet und von
anderen Stimmen bestätigt werden, ehe Laute zu hören
sind wie von einer Herde verwundeter Tiere, sie stöhnen,
schreien und rufen um Hilfe. Und ich? Ich weiß, dass
mein Gesicht in Großaufnahme auf dem Bildschirm zu
sehen ist, doch ich unternehme keine Anstrengung, es zu
verbergen. Denn einen Moment lang muss selbst ich das
verarbeiten, was Peeta gerade gesagt hat. Ist es nicht genau
das, was mich am meisten an der Hochzeit, an der Zu-
kunft geängstigt hat – dass ich meine Kinder an die Spiele
verlieren könnte? Und jetzt könnte es Wirklichkeit werden.
Wenn ich nicht mein Leben lang Abwehrmauern errichtet
hätte, bis ich schon bei der bloßen Andeutung von Heirat
oder Familie zurückschrecke.
363
Caesar bekommt die Menge nicht mehr in den Griff,
nicht einmal, als das Signal ertönt. Peeta nickt zum Ab-
schied und geht ohne ein weiteres Wort zurück zu seinem
Platz. Ich sehe, wie Caesars Lippen sich bewegen, doch
im Publikum herrscht der reinste Aufruhr und ich verste-
he kein Wort. Einzig das Getöse der Nationalhymne, so
laut aufgedreht, dass es mir durch Mark und Bein geht,
zeigt uns an, wo wir mit dem Programm angekommen
sind. Ich stehe automatisch auf und spüre, dass Peeta nach
meiner Hand fasst. Als ich sie ergreife, laufen ihm Trä-
nen über das Gesicht. Wie echt sind die Tränen? Sind sie
ein Zeichen dafür, dass er von denselben Ängsten verfolgt
wird wie ich? Wie jeder Sieger? Wie alle Eltern in jedem
Distrikt von Panem?
Ich schaue wieder ins Publikum, doch die Gesichter
von Rues Mutter und Vater schieben sich vor meine Au-
gen. Ihre Trauer. Ihr Verlust. Ich drehe mich spontan zu
Chaff um und reiche ihm die Hand. Meine Finger schlie-
ßen sich um den Stumpf, in dem sein Arm jetzt ausläuft,
und halten ihn fest.
Und dann geschieht es. Von einem Ende der Reihe bis
zum anderen reichen sich die Sieger die Hände. Einige
spontan, wie die Morfixer und Wiress und Beetee. Ande-
re unsicher, aber mitgerissen durch die Aufforderung der
364
anderen, wie Brutus und Enobaria. Als die letzten Töne der
Hymne erklingen, stehen wir al e vierundzwanzig in einer
geschlossenen Reihe – seit den Dunklen Tagen ist das wohl
die erste öffentliche Demonstration von Einheit unter den
Distrikten. Man sieht, wie diese Erkenntnis durchdringt,
als die Bildschirme einer nach dem anderen schwarz wer-
den. Doch zu spät. In der al gemeinen Verwirrung haben
sie uns nicht rechtzeitig abgeschaltet. Al e haben es gesehen.
Auch auf der Bühne bricht Chaos aus, die Scheinwerfer
erlöschen, und wir stolpern zurück zum Trainingscenter.
Ich habe Chaff verloren, aber Peeta führt mich zu einem
Aufzug. Finnick und Johanna wollen mit hinein, doch ein
gestresster Friedenswächter versperrt ihnen den Weg, und
wir sausen allein nach oben.
In dem Moment, als wir den Aufzug verlassen, fasst
Peeta mich bei den Schultern. »Wir haben nicht viel
Zeit, also sag es mir jetzt. Muss ich mich für irgendetwas
entschuldigen?«
»Für gar nichts«, sage ich. Es war ein gewagter Schritt
ohne meine Einwilligung, aber ich bin nur froh, dass ich
nichts davon wusste und keine Zeit hatte, ihm reinzure-
den; froh, dass mein schlechtes Gewissen Gale gegenüber
meine Gefühle für das, was Peeta getan hat, nicht schmä-
lern konnte. Und ich fühle mich gestärkt.
365
Irgendwo in weiter Ferne gibt es einen Distrikt 12, wo
meine Mutter, meine Schwester und meine Freunde mit
den Folgen dieses Abends leben müssen. Nur einen klei-
nen Flug mit dem Hovercraft entfernt liegt eine Arena, wo
auf Peeta und mich und die anderen Tribute unsere Strafe
wartet. Doch selbst wenn wir alle ein schreckliches Ende
finden, ist heute Abend auf der Bühne etwas passiert, das
nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Wir Sie-
ger haben unseren eigenen Aufstand inszeniert und viel-
leicht, ganz vielleicht, wird es dem Kapitol nicht gelingen,
ihn zu unterdrücken.
Wir warten auf die anderen, doch als die Fahrstuhltür
aufgeht, erscheint nur Haymitch. »Das ist Wahnsinn da
draußen. Sie haben al e nach Hause geschickt und die Zu-
sammenfassung der Interviews im Fernsehen ist gestrichen.«
Peeta und ich laufen schnell zum Fenster und versu-
chen, in dem Tumult weit unter uns auf den Straßen et-
was zu erkennen. »Was sagen sie?«, fragt Peeta. »Fordern
sie den Präsidenten auf, die Spiele zu stoppen?«
»Ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie fordern sollen.
Die ganze Situation ist beispiellos. Schon die Vorstellung,
sich den Plänen des Kapitols zu widersetzen, verwirrt die
Leute hier«, sagt Haymitch. »Aber es ist ausgeschlossen,
dass Snow die Spiele absetzt. Das wisst ihr doch, oder?«
366
Ich weiß es. Natürlich kann er jetzt keinen Rückzieher
mehr machen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zurück-
zuschlagen, und zwar mit voller Härte. »Sind die anderen
nach Hause gegangen?«, frage ich.
»Das wurde ihnen befohlen. Ich weiß nicht, ob sie heil
durch die Menschenmenge kommen«, sagt Haymitch.
»Dann werden wir Effie nie wiedersehen«, sagt Peeta.
Im letzten Jahr haben wir sie am Morgen der Spiele nicht
getroffen. »Richte ihr unseren Dank aus.«
»Mehr als das. Mach etwas ganz Besonderes daraus. Es
ist schließlich Effie«, sage ich. »Sag ihr, wie sehr wir ihre
Hilfe zu schätzen wissen, dass sie die beste Betreuerin aller
Zeiten war, und sag ihr … sag ihr ganz liebe Grüße.«
Eine Zeit lang stehen wir nur schweigend da und zögern
das Unvermeidliche hinaus. Dann spricht Haymitch es
aus. »Und jetzt müssen wir uns wohl auch verabschieden.«
»Irgendeinen letzten Ratschlag?«, fragt Peeta.
»Bleibt am Leben«, sagt Haymitch schroff. Das ist
schon fast ein Running Gag zwischen uns. Er nimmt uns
beide kurz in den Arm, und ich weiß, dass es das Äußerste
ist, was er ertragen kann. »Geht ins Bett. Ihr müsst euch
ausruhen.«
Ich weiß, dass ich Haymitch eine ganze Menge sagen
müsste, aber mir fällt nichts ein, was er nicht schon weiß,
367
und außerdem ist meine Kehle so zugeschnürt, dass ich
wahrscheinlich sowieso keinen Ton herausbringen würde.
Also lasse ich schon wieder Peeta für uns beide sprechen.
»Pass auf dich auf, Haymitch«, sagt er.
Wir sind schon im Flur, als Haymitchs Stimme uns
aufhält. »Katniss, wenn du in der Arena bist«, sagt er.
Dann stockt er. Er blickt so finster, dass ich mir sicher bin,
ihn jetzt schon enttäuscht zu haben.
»Was dann?«, frage ich abwehrend.
»Dann vergiss nicht, wer der Feind ist«, sagt Haymitch.
»Das ist alles. Jetzt los. Raus mit euch.«
Wir gehen den Flur entlang. Peeta will in sein Zimmer,
um die Schminke abzuwaschen, und in ein paar Minuten
nachkommen, aber das lasse ich nicht zu. Wenn eine Tür
zwischen uns zugeht, wird sie garantiert verschlossen, und
dann muss ich die Nacht ohne ihn verbringen. Außerdem
gibt es in meinem Zimmer auch eine Dusche. Ich weigere
mich, seine Hand loszulassen.
Schlafen wir? Ich weiß es nicht. Wir verbringen die
Nacht eng umschlungen, in einem Land zwischen Träu-
men und Wachen. Wir reden nicht. Keiner will den ande-
ren stören und wir hoffen, so ein paar kostbare Minuten
der Ruhe zu gewinnen.
Cinna und Portia kommen mit dem Morgengrauen,
368
und ich weiß, dass Peeta gehen muss. Die Tribute müssen
allein in die Arena. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss. »Bis
bald«, sagt er.
»Ja, bis bald«, antworte ich.
Cinna, der mir beim Ankleiden für die Spiele helfen
wird, begleitet mich hinaus aufs Dach. Ich will schon die
Leiter ins Hovercraft hinaufsteigen, als es mir einfällt. »Ich
hab mich nicht von Portia verabschiedet.«
»Ich werde es ihr ausrichten«, sagt Cinna.
Der elektrische Strom hält mich oben auf der Leiter,
bis der Arzt mir den Aufspürer in den linken Unterarm
einpflanzt. Damit können sie mich in der Arena jederzeit
finden. Das Hovercraft hebt ab, und ich schaue aus dem
Fenster, bis es schwarz wird. Cinna drängt mich zu essen
und dann, als er damit keinen Erfolg hat, zu trinken. Ich
schaffe es, kleine Schlucke Wasser zu trinken, ich denke
an die Tage im letzten Jahr, als ich so ausgetrocknet war,
dass ich fast gestorben wäre. Und ich denke daran, dass
ich meine Kraft brauche, um Peeta zu retten.
Als wir im Startraum der Arena ankommen, gehe ich
unter die Dusche. Cinna flicht mir einen Zopf, ich ziehe
einfache Unterwäsche an, und Cinna hilft mir mit dem
Rest. In diesem Jahr gehen die Tribute in einem eng anlie-
genden blauen Overall aus hauchdünnem Stoff, der vorn
369
mit einem Reißverschluss zugezogen wird. Dazu ein fünf-
zehn Zentimeter breiter gepolsterter Gurt aus glänzendem
lila Plastik. Nylonschuhe mit Gummisohlen.
»Was hältst du davon?«, frage ich und halte Cinna den
Stoff hin, damit er ihn fühlen kann.
Mit gerunzelter Stirn reibt er das dünne Material zwi-
schen den Fingern. »Ich weiß nicht. Er wird wenig Schutz
gegen Kälte oder Nässe bieten.«
»Und gegen Sonne?«, frage ich und stelle mir gleißende
Sonne über einer öden Wüste vor.
»Vielleicht. Wenn er behandelt ist«, sagt er. »Ach, das
hier hätte ich fast vergessen.« Er holt meine goldene Spott-
tölpelbrosche aus der Tasche und steckt sie mir an den
Overall.
»Mein Kleid gestern Abend war wundervoll«, sage
ich. Wundervoll und waghalsig. Aber das weiß Cinna
natürlich.
»Ich dachte mir, dass es dir gefallen könnte«, sagt er mit
einem gezwungenen Lächeln.
Genau wie letztes Jahr sitzen wir Hände haltend da, bis
die Stimme mir sagt, ich soll mich startklar machen. Er
begleitet mich zu der runden Metallplatte und zieht den
Reißverschluss oben ganz zu. »Nicht vergessen, Mädchen
in Flammen«, sagt er. »Ich setze immer noch auf dich.« Er
370
küsst mich auf die Stirn und tritt zurück, als sich die Glas-
glocke über mich senkt.
»Danke«, sage ich, obwohl er mich wahrscheinlich nicht
hören kann. Ich hebe das Kinn, trage den Kopf hoch, wie
er mir immer rät, und warte darauf, dass die Metallplatte
abhebt. Aber nichts passiert. Und immer noch nicht.
Ich schaue Cinna an und hebe fragend die Augenbrau-
en. Er schüttelt nur leicht den Kopf, genauso verwirrt wie
ich. Weshalb die Verzögerung?
Plötzlich wird die Tür hinter ihm aufgerissen und drei
Friedenswächter stürmen in den Raum. Zwei drehen Cin-
na die Arme auf den Rücken und legen ihm Handschellen
an, während der dritte ihm mit solcher Gewalt gegen die
Schläfe schlägt, dass er auf die Knie sinkt. Doch sie schla-
gen ihn mit ihren metallbesetzten Handschuhen immer
weiter, bis er überall im Gesicht und am Körper klaffen-
de Wunden hat. Ich schreie wie am Spieß, schlage gegen
das Glas, das nicht nachgibt, und versuche, zu ihm zu ge-
langen. Die Friedenswächter beachten mich gar nicht, sie
ziehen Cinnas schlaffen Körper aus dem Raum. Nur die
Blutspuren auf dem Boden bleiben übrig.
Elend und panisch merke ich, wie die Metallplatte ab-
hebt. Ich bin immer noch an das Glas gelehnt, als mir eine
Brise in die Haare fährt und ich mich zwinge, aufrecht zu
371
stehen. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt entfernt sich
das Glas und ich stehe ungeschützt in der Arena. Irgend-
etwas scheint mit meinen Augen nicht zu stimmen. Der
Boden ist zu hell und leuchtend und hört nicht auf zu
schwanken. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich
auf meine Füße und sehe, dass die Metallplatte von blau-
en Wellen umgeben ist, die über meine Stiefel schwappen.
Langsam hebe ich den Blick und sehe das Wasser, das sich
in alle Richtungen erstreckt.
Ich kann nur einen klaren Gedanken fassen.
Das ist kein Ort für ein Mädchen in Flammen.
372
Teil 3
Der Feind
19 »Meine Damen und Herren, die fünf-
undsiebzigsten Hungerspiele sind
eröffnet!« Die Stimme von Claudius Templesmith, dem
Moderator der Hungerspiele, hämmert mir in den Ohren.
Ich habe weniger als eine Minute Zeit, mich zu orientie-
ren. Dann wird der Gong ertönen und die Tribute kön-
nen sich von ihren Metallplatten entfernen. Doch wohin?
Ich kann nicht klar denken. Die ganze Zeit habe ich
Cinna vor Augen, wie er blutig am Boden liegt. Wo ist er
jetzt? Was tun sie ihm an? Foltern sie ihn? Bringen sie ihn
um? Verwandeln sie ihn in einen Avox? Offenbar sollte der
Anschlag auf ihn mich aus dem Gleichgewicht bringen,
genauso wie Darius’ plötzliches Auftauchen in meinem
Quartier. Und er hat mich wirklich aus dem Gleichge-
wicht gebracht. Am liebsten würde ich auf meiner Metall-
platte zusammenbrechen. Aber nach allem, was ich gerade
mit angesehen habe, ist das kaum möglich. Ich muss stark
sein. Das bin ich Cinna schuldig, der alles riskiert hat, in-
dem er Präsident Snow verhöhnt und mein Brautkleid in
das Gefieder eines Spotttölpels verwandelt hat. Und ich
bin es den Rebellen schuldig, die, durch Cinnas Beispiel
375
ermutigt, in diesem Moment vielleicht kämpfen, um das
Kapitol zu stürzen. Meine Weigerung, die Spiele nach den
Regeln des Kapitols zu spielen, soll mein letzter rebelli-
scher Akt sein. Also beiße ich die Zähne zusammen und
mache gute Miene zum bösen Spiel.
Wo bin ich? Ich werde aus meiner Umgebung immer
noch nicht schlau. Wo bin ich?! Ich verlange eine Antwort
von mir und langsam bekommt die Welt Konturen. Blau-
es Wasser. Rosa Himmel. Weiß gleißende Sonne, die vom
Himmel knallt. Ach ja, da ist das Füllhorn aus goldglän-
zendem Metall, etwa vierzig Meter entfernt. Erst sieht es
so aus, als befände es sich auf einer runden Insel. Doch bei
genauerem Hinsehen erkenne ich schmale Streifen Land,
die strahlenförmig von der Füllhorninsel ausgehen wie die
Speichen eines Rades. Es sind schätzungsweise zehn bis
zwölf und sie scheinen alle den gleichen Abstand vonei-
nander zu haben. Zwischen den Speichen ist nur Wasser.
Wasser und je zwei Tribute.
So ist das also. Es gibt zwölf Speichen, dazwischen je-
weils zwei Tribute, die sich auf Metallplatten halten. Der
zweite Tribut in meinem Wasserkeil ist der alte Woof aus
Distrikt 8. Er befindet sich zu meiner Rechten, etwa ge-
nauso weit entfernt wie der Landstreifen zu meiner Lin-
ken. Jenseits des Wassers liegt, wohin man auch blickt, ein
376
schmaler Strand und dahinter dichtes Grün. Ich suche
den Kreis nach Tributen ab, halte nach Peeta Ausschau,
doch das Füllhorn versperrt mir den Blick.
Ich schöpfe eine Handvoll Wasser und rieche daran.
Dann berühre ich mit dem nassen Finger meine Zunge.
Salzwasser, ganz wie ich gedacht habe. Genau wie die
Wellen, die Peeta und ich auf unserem kurzen Abstecher
zum Strand in Distrikt 4 gesehen haben. Aber immerhin
scheint es sauber zu sein.
Es gibt keine Boote, keine Seile, nicht mal ein bisschen
Treibholz, an dem man sich festhalten könnte. Nein, es
gibt nur einen Weg zum Füllhorn. Als der Gong ertönt,
zögere ich nicht und tauche nach links. Es ist weiter, als
ich gewohnt bin, und durch die Wellen zu schwimmen,
ist nicht so einfach wie das Schwimmen in meinem ruhi-
gen See zu Hause, doch mein Körper fühlt sich eigenartig
leicht an, und ich gleite mühelos durchs Wasser. Vielleicht
liegt es an dem Salz. Tropfnass ziehe ich mich an Land
und renne über den Sand bis zum Füllhorn. Ich sehe nie-
manden, der sich von meiner Seite her nähert, allerdings
versperrt mir das goldene Horn zu einem Gutteil die Sicht.
Doch ich lasse mich von dem Gedanken an mögliche
Gegner nicht bremsen. Ich denke jetzt wie ein Karriero
und als Erstes will ich mir eine Waffe schnappen.
377
Im letzten Jahr waren die Vorräte ziemlich weit um
das Füllhorn herum verstreut und die wertvollsten Sachen
befanden sich ganz nah am Horn. Doch in diesem Jahr
scheint die Beute an der gut sechs Meter hohen Öffnung
gestapelt zu sein. Mein Blick fällt sofort auf einen golde-
nen Bogen in Reichweite und ich reiße ihn heraus.
Da ist jemand hinter mir. Eine leichte Bewegung im
Sand oder vielleicht nur eine Veränderung des Luftstroms
hat mich alarmiert. Ich ziehe einen Pfeil aus dem Köcher,
der immer noch in dem Stapel eingeklemmt ist, und wäh-
rend ich mich umdrehe, spanne ich die Sehne.
Da steht ein paar Meter von mir entfernt Finnick in all
seiner Pracht, er hält einen Dreizack bereit. An seiner an-
deren Hand baumelt ein Netz. Er lächelt ein wenig, aber
die Muskeln seines Oberkörpers sind schon gespannt. »Du
kannst ja auch schwimmen«, sagt er. »Wo hast du das in
Distrikt 12 gelernt?«
»Wir haben eine große Badewanne«, gebe ich zurück.
»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Gefällt dir die Arena?«
»Nicht besonders. Aber dir doch sicherlich. Sie haben
sie bestimmt extra für dich erbaut«, sage ich eine Spur bit-
ter. So sieht es jedenfalls aus, mit all dem Wasser, denn
garantiert kann nur eine Handvoll der Sieger schwimmen.
Und im Trainingscenter gab es kein Schwimmbecken,
378
keine Chance, es zu lernen. Entweder kommt man als
Schwimmer hierher oder man sollte es schleunigst lernen.
Selbst wer nur an dem anfänglichen Blutbad teilnehmen
will, muss erst mal zwanzig Meter Wasser durchqueren.
Damit hat Distrikt 4 einen gewaltigen Vorteil.
Einen Augenblick lang sind wir wie erstarrt, schätzen
einander ab, die Waffen des anderen, sein Geschick. Da
grinst Finnick plötzlich los. »Gut, dass wir Verbündete
sind. Oder?«
Ich wittere eine Falle und will den Pfeil schon abschie-
ßen, in der Hoffnung, dass er sein Herz durchbohrt, be-
vor ich von dem Dreizack aufgespießt werde, doch da
bewegt er die Hand, und etwas auf seinem Handgelenk
blitzt in der Sonne auf. Ein Armreif aus massivem Gold
mit Flammenmuster. Derselbe, den ich heute Morgen an
Haymitchs Handgelenk gesehen habe, als ich mit dem
Training anfing. Ganz kurz überlege ich, ob Finnick ihn
gestohlen hat, um mich reinzulegen, aber irgendwie weiß
ich, dass es nicht so ist. Haymitch hat ihm den Armreif
gegeben. Als Zeichen für mich. Oder besser als Befehl. Ich
soll Finnick vertrauen.
Ich höre weitere Schritte näher kommen. Ich muss
mich sofort entscheiden. »Na gut!«, sage ich schroff, denn
auch wenn Haymitch mein Mentor ist und versucht, mir
379
das Leben zu retten, ärgert es mich. Warum hat er mir
nichts von diesem Arrangement erzählt? Wahrscheinlich,
weil Peeta und ich Verbündete ausgeschlossen hatten. Da
hat Haymitch einfach selbst einen ausgesucht.
»Duck dich!«, kommandiert Finnick mich mit durch-
dringender Stimme, die so ganz anders ist als sein ein-
schmeichelndes Gesäusel, dass ich gehorche. Sein Dreizack
saust über meinen Kopf und ich höre einen ekelerregenden
Schlag, als er sein Ziel trifft. Der Mann aus Distrikt 5, der
Trinker, der sich bei der Schwertkampfstation übergeben
hat, sinkt auf die Knie, während Finnick den Dreizack aus
seiner Brust zieht. »1 und 2 darfst du nicht trauen«, sagt
Finnick.
Es bleibt keine Zeit, das infrage zu stellen. Ich ziehe
den Köcher mit den Pfeilen aus dem Stapel heraus. »Jeder
eine Seite?«, sage ich. Er nickt und ich sause um den Sta-
pel herum. Etwa vier Speichen weiter schaffen es Enobaria
und Gloss gerade an Land. Entweder sind sie langsame
Schwimmer, oder sie dachten, im Wasser könnten ande-
re Gefahren lauern, was auch gut möglich ist. Manchmal
sollte man sich gar nicht zu viele Gedanken machen. Aber
jetzt, da sie am Strand sind, werden sie in wenigen Sekun-
den bei uns sein.
»Irgendwas Brauchbares?«, höre ich Finnick rufen.
380
Schnell suche ich den Stapel auf meiner Seite ab und
finde Keulen, Schwerter, Pfeil und Bogen, Dreizacke,
Messer, Speere, Äxte, Metallgegenstände, die ich nicht be-
nennen kann … und sonst nichts.
»Waffen!«, rufe ich. »Nichts als Waffen!«
»Hier auch«, gibt er zur Antwort. »Schnapp dir irgend-
was und dann weg hier!«
Ich schieße einen Pfeil auf Enobaria ab, die gefährlich
nah gekommen ist, doch sie hat damit gerechnet und
taucht wieder ins Wasser, ohne getroffen zu werden. Gloss
ist nicht ganz so schnell, und ich jage ihm einen Pfeil in
die Wade, als er in die Wellen springt. Ich hänge mir noch
einen Bogen und einen zweiten Köcher mit Pfeilen um
und stecke mir zwei lange Messer und eine Ahle, so ein
spitzes Ding, mit dem man Löcher in Ledergürtel macht,
in den Gurt. Dann laufe ich zurück zu Finnick.
»Mach was dagegen, ja?«, sagt er und deutet auf Brutus,
der auf uns zugerannt kommt. Er hat den Gurt abgenom-
men und hält ihn wie einen Schild zwischen den Händen.
Ich ziele und schieße, doch er wehrt den Pfeil mit dem
Gurt ab, bevor er ihm die Leber durchbohren kann. Dort,
wo der Pfeil den Gurt durchsticht, spritzt eine lilafarbe-
ne Flüssigkeit heraus und Brutus ins Gesicht. Als ich die
Sehne erneut spanne, wirft er sich flach auf den Boden,
381
rollt sich ein paar Meter bis zum Wasser und taucht unter.
Ich höre, wie hinter mir etwas Metallisches zu Boden fällt.
»Lass uns abhauen«, sage ich zu Finnick.
Während ich mit Brutus zugange war, haben Enobaria
und Gloss es klammheimlich bis zum Füllhorn geschafft.
Brutus ist in Schussweite und irgendwo ganz in der Nähe
wird auch Cashmere sein. Diese vier klassischen Karrie-
ros sind garantiert schon längst Verbündete. Wenn ich nur
meine eigene Sicherheit zu bedenken hätte, würde ich es
vielleicht mit ihnen aufnehmen, mit Finnick an meiner
Seite. Doch ich denke an Peeta. Da entdecke ich ihn, er
sitzt immer noch auf seiner Metallplatte. Ich laufe los, und
Finnick folgt mir, ohne Fragen zu stellen, als hätte er ge-
wusst, dass ich genau das tun würde. Als ich so nah wie
möglich bei Peeta bin, ziehe ich die Messer aus meinem
Gurt, ich will zu ihm schwimmen und ihn irgendwie an
Land bringen.
Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich hole
ihn.«
Misstrauen lodert in mir auf. Könnte das nur ein Trick
sein? Erst mein Vertrauen gewinnen und dann zu Peeta
schwimmen und ihn ertränken? »Das mach ich schon«,
beharre ich.
Doch Finnick hat bereits alle Waffen fallen lassen.
382
»Streng dich lieber nicht zu sehr an. Nicht in deinem Zu-
stand«, sagt er und tätschelt mir den Bauch.
Ach ja, ich bin ja schwanger, denke ich. Während ich
überlege, was er wohl denkt und wie ich mich verhalten
soll – vielleicht mich übergeben oder so –, hat Finnick sich
schon ans Ufer gestellt.
»Gib mir Deckung«, sagt er und taucht mit einem ge-
konnten Kopfsprung ins Wasser.
Ich halte den Bogen hoch, um alle Angreifer, die uns
verfolgen könnten, vom Füllhorn fernzuhalten, aber an-
scheinend legt es niemand darauf an. Wie zu erwarten,
haben sich Gloss, Cashmere, Enobaria und Brutus schon
zusammengerottet und überlegen nun, welche Waffen sie
nehmen sollen. Ein schneller Rundumblick verrät mir,
dass die meisten Tribute immer noch auf ihren Platten
festsitzen. Nein, Moment mal, da steht jemand auf der
Speiche links neben mir, gegenüber von Peeta. Es ist Mags.
Doch weder steuert sie das Füllhorn an, noch versucht sie
zu fliehen. Stattdessen hüpft sie ins Wasser und paddelt
auf mich zu, ihre grauen Haare tauchen immer wieder
auf. Sie ist zwar alt, aber nach achtzig Jahren in Distrikt
4 kann sie sich vermutlich noch immer problemlos über
Wasser halten.
Finnick ist jetzt bei Peeta und schleppt ihn ab, einen
383
Arm um seine Brust gelegt, während er mit dem anderen
mit leichten Schlägen durchs Wasser rudert. Peeta lässt
sich willig mitziehen. Ich weiß nicht, wie Finnick ihn
überzeugt hat, sich ihm zu überlassen – vielleicht hat er
ihm den Armreif gezeigt. Vielleicht hat es Peeta auch ge-
nügt, dass ich auf ihn warte. Als sie den Strand erreichen,
helfe ich dabei, Peeta aufs Trockene zu ziehen.
»Da bin ich wieder«, sagt er und gibt mir einen Kuss.
»Wir haben Verbündete.«
»Ja. Ganz in Haymitchs Sinn«, sage ich.
»Hilf mir mal auf die Sprünge, haben wir sonst noch
eine Abmachung mit irgendwem?«, fragt Peeta.
»Nur mit Mags, glaube ich.« Ich mache eine Kopfbewe-
gung zu der alten Frau, die sich stoisch in unsere Richtung
vorwärtskämpft.
»Mags kann ich nicht im Stich lassen«, sagt Finnick.
»Sie ist eine der wenigen, die mich wirklich mögen.«
»Ich hab nichts gegen Mags«, sage ich. »Vor allem jetzt,
wo ich die Arena sehe. Mit Mags’ Angelhaken haben
wir bestimmt die besten Chancen, zu einer Mahlzeit zu
kommen.«
»Katniss wollte sie ja schon vom ersten Tag an als Ver-
bündete«, sagt Peeta.
»Katniss hat ein erstaunlich gutes Urteilsvermögen«,
384
sagt Finnick. Er fasst mit der Hand ins Wasser und hebt
Mags heraus, als wäre sie so leicht wie ein Hündchen.
Sie macht irgendeine Bemerkung, in der ich das Wort
»treiben« herauszuhören meine, dann klopft sie auf ihren
Gurt.
»Guck mal, sie hat recht. Und da hat es noch jemand
rausgekriegt.« Finnick zeigt auf Beetee. Er rudert mit den
Armen wild durch die Wellen, schafft es aber, den Kopf
über Wasser zu halten.
»Was?«, frage ich.
»Die Gurte. Das sind Schwimmhilfen«, sagt Finnick.
»Bewegen muss man sich aus eigener Kraft, aber immer-
hin bewahren die Dinger einen vor dem Ertrinken.«
Fast hätte ich Finnick gebeten, auf Beetee und Wi-
ress zu warten und sie mitzunehmen, aber Beetee ist drei
Speichen weit entfernt und Wiress sehe ich nicht mal. Ich
schätze, Finnick würde sie genauso schnell umbringen wie
den Tribut aus Distrikt 5, deshalb schlage ich lieber vor
weiterzugehen. Ich reiche Peeta einen Bogen, einen Köcher
mit Pfeilen und ein Messer, den Rest behalte ich für mich.
Doch Mags zieht mich am Ärmel und redet auf mich ein,
bis ich ihr die Ahle gebe. Erfreut klemmt sie sich den Griff
zwischen den zahnlosen Kiefer und streckt die Arme nach
Finnick aus. Er wirft sein Netz über die Schulter, hebt
385
Mags hoch, nimmt den Dreizack in die freie Hand, und
dann rennen wir davon, fort vom Füllhorn.
Hinter dem Strand erhebt sich ein Wald mit hohen
Bäumen. Nein, eigentlich kein Wald. Jedenfalls nicht so
einer, wie ich ihn kenne. Ein Dschungel. Das fremde, fast
schon veraltete Wort fällt mir ein. Ich habe es in irgend-
welchen Hungerspielen gehört oder von meinem Vater ge-
lernt. Die meisten Bäume kenne ich nicht, sie haben glatte
Stämme und nur wenige Äste. Die Erde ist ganz schwarz
und schwammig, an vielen Stellen wird sie verdeckt von
einem Rankengewirr mit bunten Blüten. Die Sonne ist
gleißend, die Luft feuchtwarm und schwer; ich habe das
Gefühl, dass man hier niemals richtig trocken wird. Der
dünne blaue Stoff meines Overalls lässt das Meerwasser
schnell verdunsten, aber jetzt klebt er schon vor Schweiß
an mir.
Peeta übernimmt die Führung, er bahnt sich mit dem
langen Messer einen Weg durchs dichte Gestrüpp. Ich las-
se Finnick an zweiter Stelle gehen, denn auch wenn er der
Stärkste ist, mit Mags hat er alle Hände voll zu tun. Au-
ßerdem kann er zwar großartig mit dem Dreizack umge-
hen, aber der ist hier im Dschungel weniger nützlich als
meine Pfeile. Bei der Hitze und den Steigungen dauert es
nicht lange, bis wir außer Atem geraten. Doch Peeta und
386
ich haben hart trainiert, und Finnick hat so eine außerge-
wöhnliche Konstitution, dass er sogar mit Mags über der
Schulter eineinhalb Kilometer zügig marschiert, ehe er um
eine Pause bittet. Und selbst dann scheint er das eher für
Mags zu tun als für sich selbst.
Durch das Laub ist das Rad im Wasser nicht mehr zu
sehen, deshalb klettere ich auf einen Baum mit gummiar-
tigen Ästen, um etwas zu erkennen. Ich bereue es sofort.
Um das Füllhorn herum scheint der Boden zu bluten,
das Wasser ist dunkelrot gefleckt. Leichen liegen auf dem
Boden und treiben im Wasser, doch aus dieser Entfernung
kann ich nicht erkennen, wer tot ist und wer lebt, zumal
alle die gleiche Kleidung tragen. Ich sehe nur, dass einige
der kleinen blauen Gestalten immer noch kämpfen. Nun
ja, was hatte ich erwartet? Dass die geschlossene Kette der
Sieger gestern Abend eine Art allgemeinen Waffenstill-
stand in der Arena bedeuten würde? Nein, das habe ich
nie gedacht. Aber ich hatte wohl gehofft, dass die Leute
ein bisschen … Zurückhaltung zeigen würden? Oder we-
nigstens Widerstreben. Bevor sie sich ins Gemetzel stür-
zen. Dabei kanntet ihr euch al e, denke ich. Man hatte den
Eindruck, ihr wärt Freunde.
Ich habe nur einen richtigen Freund hier drin. Und der
stammt nicht aus Distrikt 4.
387
Ich lasse mir von der schwachen, feuchten Brise die
Wangen kühlen, während ich zu einer Entscheidung ge-
lange. Trotz des Armreifs sollte ich es einfach hinter mich
bringen und Finnick erschießen. Dieses Bündnis hat ein-
fach keine Zukunft. Und er ist zu gefährlich, um ihn lau-
fen zu lassen. Vielleicht ist jetzt, da wir sein zögerliches
Vertrauen haben, meine einzige Chance, ihn zu töten.
Ich könnte ihm leicht einen Pfeil in den Rücken schie-
ßen, während wir gehen. Das ist natürlich verachtenswert,
aber wird es weniger verachtenswert, wenn ich warte? Ihn
besser kennenlerne? Ihm noch mehr zu verdanken habe?
Nein, jetzt ist der richtige Moment. Von meinem Baum
aus schaue ich ein letztes Mal zu den Kämpfenden, auf die
blutige Erde, um mich in meinem Entschluss zu bestärken,
dann lasse ich mich zu Boden gleiten.
Doch als ich unten ankomme, merke ich, dass Finnick
mit meinen Gedanken Schritt gehalten hat. Als wüsste er,
was ich gesehen habe und wie es auf mich gewirkt haben
muss. Er hat seinen Dreizack in einer lässigen Verteidi-
gungshaltung erhoben.
»Was ist da unten los, Katniss? Halten sie sich alle an
den Händen? Haben sie die Waffen ins Meer geworfen,
um dem Kapitol die Stirn zu bieten?«, fragt Finnick.
»Nein«, sage ich.
388
»Nein«, wiederholt er. »Denn was gestern passiert ist,
war gestern. Keiner in dieser Arena ist zufällig Sieger ge-
worden.« Er wirft einen Seitenblick zu Peeta. »Außer viel-
leicht Peeta.«
Dann weiß Finnick also, was Haymitch und ich wissen.
Über Peeta. Dass er wirklich und wahrhaftig besser ist als
wir anderen. Finnick hat diesen Tribut aus Distrikt 5 um-
gelegt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wie lange
habe ich gebraucht, um mich zum Töten zu entschließen?
Ich habe auf Enobaria und Gloss und Brutus gezielt. Peeta
hätte wenigstens erst mal versucht zu verhandeln. Hätte
versucht, ein breiteres Bündnis herzustellen. Aber mit wel-
chem Ziel? Finnick hat recht. Und ich habe recht. Diejeni-
gen, die jetzt und hier in der Arena sind, wurden nicht für
ihre Barmherzigkeit zu Siegern gekrönt.
Ich halte seinem Blick stand, schätze ab, wer von uns
beiden schneller ist. Die Zeit, die ich brauche, um ihm
einen Pfeil durchs Hirn zu jagen, gegen die Zeit, die sein
Dreizack bis zu mir braucht. Ich sehe, wie er darauf war-
tet, dass ich den ersten Schritt mache. Er wägt ab, ob er
sich lieber schützen oder direkt zum Angriff übergehen
soll. Ich spüre, dass wir beide so weit sind, als Peeta sich
zwischen uns stellt.
»Wie viele sind tot?«, fragt er.
389
Aus dem Weg, du Idiot, denke ich. Aber er weicht nicht
von der Stelle.
»Schwer zu sagen«, antworte ich. »Mindestens sechs,
glaube ich. Und sie kämpfen immer noch.«
»Kommt, wir gehen weiter. Wir brauchen Wasser«, sagt
er.
Bis jetzt gibt es keinen Hinweis auf einen Bach oder
Tümpel und das Salzwasser kann man nicht trinken. Wie-
der denke ich an die letzten Spiele, als ich fast verdurstet
wäre.
»Wir sollten zusehen, dass wir schnell welches finden«,
sagt Finnick. »Heute Nacht müssen wir uns verstecken, da
machen die anderen Jagd auf uns.«
Wir. Uns. Jagd. Na gut, vielleicht wäre es etwas voreilig,
Finnick jetzt umzubringen. Bisher war er hilfsbereit. Hay-
mitch hat ihn abgesegnet. Und wer weiß, was die Nacht
bereithält?
Schlimmstenfalls kann ich ihn immer noch abmurk-
sen, während er schläft. Also lasse ich die Gelegenheit ver-
streichen. Wie Finnick.
Die Tatsache, dass wir kein Wasser haben, verstärkt
meinen Durst. Ich halte gut Ausschau, während wir weiter
bergauf gehen, doch ohne Erfolg. Nach einem weiteren Ki-
lometer sehe ich das Ende des Waldes und schließe daraus,
390
dass wir gleich auf dem Gipfel des Hügels angelangt sind.
»Vielleicht haben wir auf der anderen Seite mehr Glück.
Vielleicht finden wir da eine Quelle oder so.«
Aber es gibt keine andere Seite. Das weiß ich als Erste,
obwohl ich am weitesten vom Gipfel entfernt bin. Mein
Blick fällt auf ein merkwürdiges geriffeltes Viereck, das
wie eine verzogene Fensterscheibe in der Luft hängt. Erst
denke ich, es ist der Glanz der Sonne oder die Hitze, die
über dem Boden flimmert. Doch es bleibt immer an der-
selben Stelle, wandert nicht mit, als ich weitergehe. Ur-
plötzlich stelle ich die Verbindung zwischen dem Viereck
und Wiress und Beetee im Trainingscenter her, und ich
begreife, was da vor uns liegt. Ich habe den Warnruf auf
den Lippen, aber er kommt zu spät: Peeta schwingt schon
das Messer, um einige Ranken wegzuschlagen.
Ein lautes Zischeln ertönt. Einen Moment lang sind
die Bäume verschwunden und auf einem kleinen Fleck
sehe ich die nackte Erde. Dann wird Peeta von dem Kraft-
feld zurückgeschleudert und reißt Finnick und Mags mit
zu Boden.
Ich renne zu ihm, reglos liegt er in einem Geflecht aus
Ranken. »Peeta?« Es riecht schwach nach versengten Haa-
ren. Wieder rufe ich seinen Namen, rüttele an ihm, doch
er reagiert nicht. Ich streiche über seine Lippen, und dort
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ist kein warmer Atem, obwohl er eben noch gekeucht hat.
Ich lege das Ohr an seine Brust, dorthin, wo ich immer
den Kopf ausruhe, wo ich den starken, gleichmäßigen
Schlag seines Herzens höre. Aber es ist ganz still.
392
20 »Peeta!«, schreie ich. Ich rüttele fester,
gebe ihm sogar eine Ohrfeige, aber
es hat keinen Sinn. Sein Herz hat versagt. Meine Schläge
gehen ins Leere. »Peeta!«
Finnick lehnt Mags an einen Baum und schiebt mich
beiseite. »Lass mich mal.« Er berührt Punkte an Peetas
Hals, fährt über seine Rippen und die Wirbelsäule. Dann
hält er Peeta die Nase zu.
»Nein!«, schreie ich und stürze mich auf Finnick. Be-
stimmt will er sich vergewissern, dass Peeta tot ist, dass
keine Hoffnung besteht, er könne je wieder zum Leben
erwachen. Finnick hebt die Hand und schlägt mir so fest
vor die Brust, dass ich gegen den nächsten Baumstamm
fliege. Einen Augenblick lang bin ich benommen von dem
Schmerz und versuche nur, wieder zu Atem zu kommen.
Finnick hält Peeta wieder die Nase zu. Im Sitzen ziehe ich
einen Pfeil heraus, lege an und will ihn schon abschießen,
als Finnick sich herunterbeugt und Peeta küsst. Und das
ist selbst für Finnicks Verhältnisse so absurd, dass ich in-
nehalte. Aber nein, er küsst ihn nicht. Er hält Peeta die
Nase zu, den Mund jedoch geöffnet, und jetzt bläst er
393
ihm Luft in die Lunge. Ich kann es sehen, ich sehe regel-
recht, wie Peetas Brust sich hebt und senkt. Dann öffnet
Finnick den Reißverschluss von Peetas Overall und presst
die Handballen auf Peetas Herz. Jetzt, da ich den Schock
überwunden habe, begreife ich, was er macht.
Ich habe meine Mutter schon mal bei so was beobach-
tet, allerdings nur ganz selten. Wenn in Distrikt 12 jeman-
dem das Herz versagt, schafft die Familie es meist nicht,
ihn rechtzeitig zu meiner Mutter zu bringen. Ihre Pati-
enten haben gewöhnlich Verbrennungen erlitten, sie sind
verwundet oder krank. Oder ausgehungert natürlich.
Aber Finnick kommt aus einer anderen Welt. Er weiß,
was er tut, das hat er auf jeden Fall schon öfter gemacht.
Er geht methodisch vor, in einem festgelegten Rhythmus.
Ich lasse den Pfeil zu Boden sinken, lehne mich zurück
und warte verzweifelt auf ein Zeichen des Erfolgs. Quälen-
de Minuten verstreichen und meine Hoffnung schrumpft.
Als ich zu dem Schluss komme, dass es zu spät ist, dass
Peeta tot ist, weitergezogen, für immer unerreichbar, hus-
tet er leicht, und Finnick lehnt sich zurück.
Ich werfe meine Waffen weg und stürze zu ihm. »Pee-
ta?«, flüstere ich. Ich streiche ihm die feuchten blonden
Haarsträhnen aus der Stirn, spüre, wie der Puls an seinem
Hals gegen meine Finger pocht.
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Seine Lider gehen flatternd auf und er schaut mir in
die Augen. »Pass auf«, sagt er schwach. »Da vorn ist ein
Kraftfeld.«
Ich lache, aber Tränen laufen mir über die Wangen.
»Muss stärker sein als das im Trainingscenter«, sagt er.
»Aber mir geht’s gut. Bin nur ein bisschen fertig.«
»Du warst tot! Dein Herz stand still!«, platze ich heraus,
ehe ich darüber nachdenken kann, ob das klug ist. Ich
schlage mir die Hand vor den Mund, denn jetzt kommen
diese schrecklichen erstickten Laute heraus, wie immer,
wenn ich schluchze.
»Na, jetzt scheint’s ja wieder zu schlagen«, sagt er. »Es
ist alles gut, Katniss.« Ich nicke, doch die Geräusche hö-
ren nicht auf. »Katniss?« Jetzt macht Peeta sich Sorgen um
mich, was das Ganze noch verrückter macht.
»Alles okay. Sind nur ihre Hormone«, sagt Finnick.
»Wegen des Babys.« Ich schaue auf. Finnick kniet da und
lehnt sich zurück, immer noch ein wenig keuchend vom
Anstieg und der Hitze und der Anstrengung, Peeta wieder
zum Leben zu erwecken.
»Nein. Das ist es nicht …«, stoße ich hervor, aber da
werde ich von einem noch hysterischeren Heulkrampf
übermannt, eine weitere Bestätigung für Finnicks Be-
merkung mit dem Baby. Er schaut mir in die Augen und
395
ich starre ihn durch die Tränen hindurch wütend an. Ich
weiß, es ist idiotisch, dass ich mich so über ihn ärgere. Ich
wollte Peeta unbedingt das Leben retten, ich konnte es
nicht, und Finnick konnte es, also müsste ich ihm einfach
nur dankbar sein. Das bin ich ja auch. Aber zugleich bin
ich wütend, denn es bedeutet, dass ich Finnick Odair für
immer und ewig zu Dank verpflichtet sein werde. Wie soll
ich ihn da umbringen, während er schläft?
Ich hätte einen selbstzufriedenen oder sarkastischen
Gesichtsausdruck erwartet, doch er sieht seltsam verwirrt
aus. Er schaut zwischen Peeta und mir hin und her, als
wollte er etwas herausfinden, dann schüttelt er leicht den
Kopf, als könnte er so besser denken. »Wie geht es dir?«,
fragt er Peeta. »Meinst du, du kannst weiter?«
»Nein, er muss sich ausruhen«, sage ich. Meine Nase
läuft wie verrückt, und ich habe nicht mal einen Stofffet-
zen, den ich als Taschentuch benutzen könnte. Mags reißt
eine Handvoll loses Moos von einem Ast ab und gibt es
mir. Ich bin zu durcheinander, um mich darüber zu wun-
dern. Ich putze mir lautstark die Nase und wische mir die
Tränen ab. Das Moos fühlt sich schön an. Es ist saugfähig
und überraschend weich.
Ich bemerke etwas Goldschimmerndes auf Peetas
Brust. Ich strecke die Hand aus und fasse es an: eine
396
Scheibe, die an einer Kette um seinen Hals hängt. Darauf
ist mein Spotttölpel eingraviert. »Ist das dein Talisman?«,
frage ich.
»Ja. Stört es dich, dass ich deinen Spotttölpel übernom-
men habe? Ich wollte, dass wir das gleiche Zeichen haben«,
sagt er.
»Nein, warum sollte mich das stören?«, sage ich. Ich
zwinge mich zu einem Lächeln. Dass Peeta mit einem
Spotttölpel in der Arena auftaucht, ist Fluch und Segen
zugleich. Einerseits gibt es den Rebellen in den Distrikten
bestimmt Auftrieb. Andererseits wird Präsident Snow es
kaum übersehen, und das macht es noch schwieriger, Pee-
ta das Leben zu retten.
»Wollt ihr euch hier häuslich niederlassen, oder was?«,
fragt Finnick.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, ant-
wortet Peeta. »Ohne Wasser und ohne Schutz hierzublei-
ben. Mir geht es wirklich schon wieder ganz gut. Wir
müssen eben langsam gehen.«
»Besser langsam als gar nicht.« Finnick hilft Peeta auf
und ich reiße mich zusammen. Seit ich heute Morgen auf-
gestanden bin, habe ich mit angesehen, wie Cinna zu Brei
geschlagen wurde, ich bin zum zweiten Mal in einer Are-
na gelandet und habe Peeta sterben sehen. Ich bin froh,
397
dass Finnick die Schwangerschaft für mich ins Feld führt,
denn aus Sicht eines Sponsors mache ich meine Sache
nicht besonders gut.
Ich überprüfe meine Waffen, obwohl ich weiß, dass sie
völlig in Ordnung sind, aber so sieht es aus, als hätte ich
alles im Griff. »Ich gehe voran«, verkünde ich.
Peeta will widersprechen, doch Finnick schneidet ihm
das Wort ab. »Nein, lass sie das machen.« Er sieht mich
mit finsterer Miene an. »Du wusstest, dass da ein Kraft-
feld war, stimmt’s? Im allerletzten Moment wolltest du uns
warnen.« Ich nicke. »Woher wusstest du es?«
Ich zögere. Es könnte gefährlich sein, wenn ich verrate,
dass ich den Trick von Beetee und Wiress habe. Ich weiß
nicht, ob die Spielmacher es beim Training mitbekommen
haben. Ich bin im Besitz einer sehr wertvollen Informa-
tion. Und wenn sie das wissen, könnten sie das Kraftfeld
so verändern, dass ich das Flimmern nicht mehr erkenne.
Also lüge ich. »Ich weiß nicht. Es ist fast, als könnte ich es
hören. Horcht mal.« Wir sind alle still. Wir hören Insek-
ten, Vögel, den leichten Wind in den Blättern.
»Ich höre nichts«, sagt Peeta.
»Doch«, sage ich. »Es ist wie in Distrikt 12, wenn der
Zaun angeschaltet ist, nur viel, viel leiser.« Wieder lau-
schen sie konzentriert. Auch ich lausche, obwohl es nichts
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zu hören gibt. »Da!«, sage ich. »Hört ihr? Genau aus der
Richtung, wo Peeta den Schlag gekriegt hat.«
»Ich höre auch nichts«, sagt Finnick. »Aber wenn du es
hörst, dann geh auf jeden Fall voran.«
Ich beschließe, das Spiel auf Teufel komm raus weiter-
zuspielen. »Komisch«, sage ich. Ich drehe den Kopf hin
und her, als wäre ich ganz verwundert. »Ich höre es nur
mit dem linken Ohr.«
»Mit dem Ohr, das die Ärzte repariert haben?«, fragt
Peeta.
»Ja«, sage ich, dann zucke ich die Achseln. »Vielleicht
haben sie es besser hingekriegt, als sie dachten. Weißt du,
manchmal höre ich links echt komische Sachen. Sachen,
von denen man gar nicht denkt, dass sie Geräusche ma-
chen. Zum Beispiel Insektenflügel. Oder Schnee, der auf
den Boden fällt.« Genial. Jetzt werden sie sich auf die Chi-
rurgen stürzen, die mein taubes Ohr nach den Spielen im
letzten Jahr operiert haben, und die werden erklären müs-
sen, wieso ich auf einmal hören kann wie eine Fledermaus.
»Du«, sagt Mags. Sie schiebt mich vorwärts und ich
übernehme die Führung. Da wir sowieso langsam gehen
müssen, möchte Mags einen Ast als Gehhilfe. Im Hand-
umdrehen hat Finnick ihr einen Spazierstock gebastelt.
Für Peeta macht er auch einen Stock, und das ist gut so,
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denn Peeta protestiert zwar, aber ich glaube, dass er sich
eigentlich am liebsten hinlegen würde. Finnick bildet das
Schlusslicht, sodass wir wenigstens jemanden haben, der
nach hinten absichert.
Das Kraftfeld zu meiner Linken, weil das ja angeblich
die Seite mit meinem übermenschlichen Ohr ist, bewe-
ge ich mich vorwärts. Doch da das alles frei erfunden ist,
schneide ich sicherheitshalber ein paar harte Nüsse ab, die
wie Trauben an einem Baum hängen, und werfe sie vor
mich, denn ich habe das Gefühl, dass mir die Flecken, an
denen man ein Kraftfeld erkennt, meist entgehen. Immer
wenn eine Nuss auf das Feld trifft, entsteht eine Rauch-
wolke, und dann landet die Nuss, schwarz und mit aufge-
brochener Schale, zu meinen Füßen.
Nach einer Weile höre ich hinter mir ein schmatzendes
Geräusch. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Mags eine
Nuss aus der Schale pellt und in ihren bereits vollen Mund
stopft. »Mags!«, schreie ich. »Spuck sie aus. Die könnten
giftig sein.«
Sie murmelt irgendwas, beachtet mich jedoch nicht
weiter und leckt sich genüsslich die Lippen. Ich schaue
Hilfe suchend zu Finnick, aber der lacht nur. »Das werden
wir schon merken«, sagt er.
Ich gehe weiter und wundere mich über Finnick, der
400
die alte Mags gerettet hat, aber nichts dagegen unter-
nimmt, dass sie unbekannte Nüsse isst. Den Haymitch
abgesegnet hat. Der Peeta wieder zum Leben erweckt hat.
Warum hat er ihn nicht einfach sterben lassen? Man hätte
ihm nichts vorwerfen können. Ich hätte nie gedacht, dass
es in seiner Macht stünde, ihn wiederzubeleben. Warum
wollte er Peeta bloß retten? Und warum war er so wild
entschlossen, sich mit mir zu verbünden? Und mich not-
falls auch zu töten. Wobei er die Entscheidung, ob wir ge-
geneinander kämpfen, mir überlassen hat.
Ich gehe weiter, werfe meine Nüsse, entdecke hier und
da einen Zipfel des Kraftfelds, versuche mich weiter links
zu halten, einen Durchschlupf zu finden, weg vom Füll-
horn und hoffentlich hin zu einer Wasserquelle. Doch
nach etwa einer Stunde merke ich, dass es zwecklos ist.
Wir kommen nicht weiter nach links. Der Weg scheint in
einem Bogen um das Kraftfeld herum zu verlaufen. Ich
bleibe stehen und schaue zu der humpelnden Mags, sehe
den Schweiß auf Peetas Gesicht glänzen. »Kommt, wir
machen hier eine Pause«, sage ich. »Ich muss mir das noch
mal von oben angucken.«
Ich suche mir einen Baum aus, der noch höher ge-
wachsen ist als die anderen. Ich klettere die gewunde-
nen Aste hinauf und halte mich so dicht wie möglich am
401
Stamm. Ich weiß ja nicht, wie schnell diese gummiarti-
gen Äste brechen können. Trotzdem klettere ich höher,
als ich sollte; ich muss sehen, was da los ist. Ich klamme-
re mich an einen Ast, der nicht dicker ist als ein Setzling
und in der feuchten Brise hin und her schwankt, und
finde meinen Verdacht bestätigt. Es ist völlig klar, wes-
halb wir nicht weiter nach links kommen und auch nie
kommen werden. Von diesem gewagten Aussichtspunkt
kann ich zum ersten Mal die Form der gesamten Arena
erkennen. Es ist ein vollkommener Kreis. Mit einem voll-
kommenen Rad in der Mitte. Der Himmel über diesem
Kreis ist gleichmäßig rosa gefärbt. Und ich meine, zwei
von diesen welligen Vierecken zu erkennen, die wunden
Punkte, wie Wiress und Beetee sie genannt haben, denn
sie verraten etwas, das verborgen bleiben soll, und sind
deshalb Schwachstellen. Nur um ganz sicherzugehen,
schieße ich einen Pfeil in die Luft über den Bäumen. Ein
Lichtstrahl, ein Aufblitzen des echten blauen Himmels,
dann fällt der Pfeil zurück in den Dschungel. Ich klette-
re vom Baum, um den anderen die schlechte Nachricht
zu überbringen.
»Das Kraftfeld hält uns in einem Kreis gefangen. In ei-
ner Kuppel, genauer gesagt. Ich weiß nicht, wie hoch sie
ist. Es gibt das Füllhorn, das Meer und den Dschungel
402
drum herum. Ganz exakt. Ganz symmetrisch. Und nicht
besonders groß«, sage ich.
»Hast du irgendwo Wasser gesehen?«, fragt Finnick.
»Nur das Salzwasser vom Anfang der Spiele«, sage ich.
»Es muss noch irgendwo anders Wasser geben«, sagt
Peeta mit gerunzelter Stirn. »Sonst sind wir alle in weni-
gen Tagen tot.«
»Tja, das Laub ist dicht. Vielleicht gibt es irgendwo
Tümpel oder Quellen«, sage ich zweifelnd. Mein Ge-
fühl sagt mir, dass das Kapitol diese unpopulären Spiele
vielleicht so schnell wie möglich hinter sich bringen will.
Möglicherweise hat Plutarch Heavensbee schon den Be-
fehl erhalten, uns zu erledigen. »Jedenfalls hat es keinen
Zweck zu gucken, was hinter diesem Hügel ist, denn die
Antwort lautet: Nichts.«
»Zwischen dem Kraftfeld und dem Rad muss es irgend-
wo Trinkwasser geben«, beharrt Peeta. Wir wissen alle,
was das heißt. Wieder nach unten. Zurück zu den Kar-
rieros und dem Blutbad. Und das, wo Mags kaum laufen
kann und Peeta zu schwach zum Kämpfen ist.
Wir beschließen, ein paar Hundert Meter bergab dem
Kreis zu folgen. Vielleicht gibt es auf dieser Höhe Was-
ser. Ich gehe wieder voran, pfeffere hin und wieder eine
Nuss nach links, doch das Kraftfeld ist jetzt weiter weg.
403
Die Sonne brennt auf uns herab, verwandelt die Luft in
Dampf, spielt unseren Augen Streiche. Am Nachmittag ist
klar, dass Peeta und Mags nicht mehr weiterkönnen.
Finnick wählt für die Rast einen Platz etwa zehn Me-
ter unterhalb des Kraftfelds aus, er sagt, wir könnten es
als Waffe einsetzen, indem wir unsere Feinde dorthin len-
ken, wenn sie uns angreifen. Dann pflücken er und Mags
Blätter von dem harten Gras, das in zwei Meter hohen
Büschen wächst, und weben daraus Matten. Da Mags die
Nüsse offenbar gut vertragen hat, sammelt Peeta weitere
und röstet sie, indem er sie gegen das Kraftfeld wirft. Ge-
duldig pellt er die Schale ab und sammelt die Kerne auf ei-
nem Blatt. Ich stehe Wache, unruhig und schwitzend und
mitgenommen von den Eindrücken des Tages.
Durst. Ich hab solchen Durst. Schließlich halte ich es
nicht mehr aus. »Finnick, halt du doch mal Wache und
ich suche noch ein bisschen nach Wasser«, sage ich. Keiner
ist begeistert von meiner Idee, allein loszuziehen, aber die
Gefahr auszutrocknen schwebt über uns.
»Keine Angst, ich gehe nicht weit«, verspreche ich Peeta.
»Ich komme mit«, sagt er.
»Nein, ich will auch auf die Jagd gehen, wenn möglich«,
sage ich. Ich füge nicht hinzu: »Und du kannst nicht mit-
kommen, weil du zu laut bist.« Aber das versteht sich von
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selbst. Er würde die Beute verscheuchen und mich mit sei-
nem schweren Schritt in Gefahr bringen. »Ich bleib nicht
lange weg.«
Ich schleiche zwischen den Bäumen hindurch und stel-
le erfreut fest, dass man sich auf dem Boden hier sehr gut
geräuschlos bewegen kann. Ich gehe schräg bergab, doch
außer noch mehr üppigem Grün finde ich nichts.
Ein Kanonendonner lässt mich innehalten. Das an-
fängliche Gemetzel am Füllhorn ist offenbar vorbei. Jetzt
können wir die Zahl der Toten erfahren. Ich zähle die
Schüsse, jeder Schuss bedeutet einen toten Sieger. Acht.
Weniger als letztes Jahr. Doch es kommt mir mehr vor,
weil ich die meisten mit Namen kenne.
Ich fühle mich plötzlich schwach und lehne mich an
einen Baum, um zu verschnaufen. Ich spüre, wie die Hitze
meinem Körper wie einem Schwamm das Wasser entzieht.
Schon jetzt fällt es mir schwer zu schlucken, ich beginne
mich matt zu fühlen. Ich streiche mit der Hand über mei-
nen Bauch in der Hoffnung, dass draußen im Kapitol eine
mitfühlende Schwangere mich sponsert und dass Hay-
mitch ein wenig Wasser schicken kann. Vergeblich. Ich
sinke zu Boden.
Während ich so still dasitze, sehe ich die Tiere: merk-
würdige Vögel mit prächtigem Gefieder, Baumleguane
405
mit zuckender blauer Zunge und etwas, das aussieht wie
eine Kreuzung aus Ratte und Opossum und sich an den
Ästen nah am Stamm festhält. Ich erschieße eins, um es
mir genauer anzuschauen. Es ist hässlich, keine Frage, ein
großes Nagetier mit grau geflecktem Fell und zwei fiesen
Nagezähnen, die über den Unterkiefer ragen. Während
ich es ausnehme und häute, fällt mir noch etwas anderes
auf. Die Schnauze ist nass. Als hätte das Tier aus einem
Bach getrunken. Aufgeregt mache ich mich auf die Suche.
Die Wasserquelle des Tiers kann nicht weit entfernt sein.
Nichts. Ich finde nichts. Nicht mal einen Tautropfen.
Weil ich weiß, dass Peeta sich Sorgen um mich macht,
kehre ich schließlich zu unserem Lager zurück, mir ist
noch heißer als vorher und ich bin noch frustrierter.
Die anderen haben inzwischen das Lager wohnlich
gemacht. Aus Grasmatten haben Mags und Finnick eine
Art Hütte gebaut, an einer Seite offen, doch mit drei Wän-
den, einem Fußboden und einem Dach. Mags hat auch
einige Schalen geflochten, die Peeta mit gerösteten Nüs-
sen gefüllt hat. Hoffnungsvoll schauen die drei mich an,
doch ich schüttele den Kopf. »Nichts. Kein Wasser. Aber
es muss welches da sein. Das Tier hier wusste auch, wo«,
sage ich und hebe das gehäutete Nagetier hoch, sodass alle
es sehen können. »Kurz bevor ich es von seinem Baum
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herunterschoss, muss es getrunken haben, aber ich konnte
die Quelle nicht finden. Ich hab in einem Umkreis von
dreißig Metern jeden Fleck abgegrast.«
»Kann man es essen?«, fragt Peeta.
»Weiß nicht. Aber sein Fleisch sieht so ähnlich aus wie
das eines Eichhörnchens. Es müsste gebraten werden …«
Bei der Vorstellung, hier aus dem Nichts ein Feuer anzu-
zünden, zögere ich. Selbst wenn es mir gelingen sollte, ist
da immer noch der Rauch. In dieser Arena sind wir alle so
nah beieinander, dass ein Feuer nicht unentdeckt bliebe.
Peeta hat eine andere Idee. Er schneidet ein Stück
Fleisch heraus, steckt es auf einen spitzen Stock und
wirft diesen gegen das Kraftfeld. Ein scharfes Zischen ist
zu hören, dann kommt der Stock zurückgeflogen. Der
Fleischwürfel ist außen schwarz, innen jedoch gut durch-
gebraten. Wir klatschen Beifall, aber da fällt uns ein, wo
wir sind, und wir halten schnell inne.
Als wir uns in der Hütte zusammensetzen, versinkt die
weiße Sonne im rosigen Himmel. Ich traue den Nüssen
immer noch nicht so ganz, aber Finnick sagt, dass Mags
sie aus früheren Spielen kennt. Diesmal habe ich beim
Training keine Zeit an der Station mit den essbaren Pflan-
zen verbracht, weil mir das im letzten Jahr so wenig ge-
nützt hat. Jetzt bereue ich es. Bestimmt wären dort einige
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der unbekannten Pflanzen um mich herum vorgekom-
men. Und ich hätte vielleicht eine Ahnung gehabt, wohin
die Reise geht. Aber Mags scheinen sie gut zu bekommen,
sie futtert diese Nüsse schon seit Stunden. Also nehme
ich eine und knabbere ein wenig daran. Die Nuss hat ei-
nen milden, süßlichen Geschmack, ein bisschen wie eine
Esskastanie. Ich komme zu dem Schluss, dass sie genieß-
bar ist. Das Nagetier schmeckt streng nach Wild, ist aber
überraschend saftig. Für unseren ersten Abend in der Are-
na ist das gar keine üble Mahlzeit. Wenn wir nur etwas
zum Runterspülen hätten.
Finnick fragt mich über das Nagetier aus, das wir
Baumratte nennen. Auf welcher Höhe es im Baum saß,
wie lange ich es beobachtet habe, ehe ich schoss, und was
es gemacht hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass es
groß was gemacht hätte. Es hat nach Insekten geschnüffelt
oder so.
Mir graut vor der Nacht. Immerhin bieten die dicht ge-
flochtenen Grasmatten etwas Schutz vor dem, was nach
einbrechender Dunkelheit womöglich über den Dschun-
gelboden kriechen wird. Doch kurz nachdem die Sonne
hinter den Horizont geglitten ist, geht ein blasser Mond
auf, sodass wir gerade genug sehen können. Unsere Ge-
spräche verstummen, denn wir wissen, was jetzt kommt.
408
Wir stellen uns am Eingang der Hütte in einer Reihe auf
und Peeta schiebt seine Hand in meine.
Der Himmel wird hell erleuchtet vom Wappen des Ka-
pitols, das aussieht, als würde es im Himmel schweben.
Während ich der Hymne lausche, denke ich: Für Finnick
und Mags wird es schwerer. Aber dann ist es auch für mich
schwer, die Gesichter der acht toten Sieger zu sehen, die in
den Himmel projiziert werden.
Der Mann aus Distrikt 5, den Finnick mit seinem
Dreizack umgebracht hat, erscheint als Erster. Das bedeu-
tet, dass alle Tribute von 1 bis 4 noch am Leben sind –
die vier Karrieros, Beetee und Wiress und natürlich Mags
und Finnick. Auf den Mann aus Distrikt 5 folgen der
männliche Morfixer aus 6, Cecelia und Woof aus 8, die
beiden aus 9, die Frau aus 10 und Seeder aus 11. Danach
erscheint wieder das Wappen des Kapitols mit ein wenig
abschließender Musik und dann wird der Himmel dunkel
bis auf den Mond.
Keiner sagt etwas. Ich kann nicht behaupten, ich hätte
einen der Toten gut gekannt. Aber ich denke an die drei
Kinder, die sich an Cecelia geklammert haben, als sie fort-
gebracht wurde.
Daran, wie freundlich Seeder bei unserer Begegnung
im Trainingscenter zu mir war. Selbst der Gedanke an den
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Morfixer mit den glasigen Augen, wie er mir gelbe Blumen
auf die Wangen malt, versetzt mir einen Stich. Alle tot.
Alle weg.
Ich weiß nicht, wie lange wir noch so dagestanden hät-
ten, wäre nicht ein silberner Fallschirm durch die Blätter
geglitten und vor uns gelandet. Niemand streckt die Hän-
de danach aus.
»Was glaubt ihr, für wen das ist?«, sage ich schließlich.
»Keine Ahnung«, sagt Finnick. »Was haltet ihr davon,
wenn Peeta ihn bekommt? Weil er heute gestorben ist.«
Peeta knotet die Schnur auf und breitet das kreisrun-
de Stück Seide auf dem Boden aus. Auf dem Fallschirm
liegt ein kleiner Metallgegenstand, den ich nicht einord-
nen kann. »Was ist das?«, frage ich. Keiner weiß es. Wir
lassen ihn von Hand zu Hand gehen und untersuchen
ihn der Reihe nach. Es ist ein Metallrohr, das sich am
einen Ende leicht verjüngt. Am anderen Ende hat es eine
kleine, nach unten gebogene Tülle. Es kommt mir vage
bekannt vor. Ein Teil, das von einem Fahrrad abgefallen
sein könnte, von einer Gardinenstange, es könnte alles
Mögliche sein.
Peeta bläst hinein, um zu prüfen, ob es einen Ton
macht. Macht es nicht. Finnick steckt den kleinen Finger
hinein, um es als Waffe auszuprobieren. Unbrauchbar.
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»Kannst du damit fischen, Mags?«, frage ich. Mags, die
mit fast allem fischen kann, schüttelt den Kopf und grunzt.
Ich lege das Rohr auf meine Hand und lasse es hin und
her rollen. Da wir Verbündete sind, arbeitet Haymitch be-
stimmt mit den Mentoren von Distrikt 4 zusammen. Er
hat das Geschenk mit ausgesucht. Das bedeutet, dass es
wertvoll ist. Uns sogar das Leben retten kann. Ich erin-
nere mich an letztes Jahr, als ich so nötig Wasser brauchte
und er es mir nicht geschickt hat, weil er wusste, dass ich
es finden konnte, wenn ich mir Mühe gab. In Haymitchs
Geschenken oder in ihrem Ausbleiben verstecken sich
wichtige Botschaften. Ich kann fast hören, wie er mich
anknurrt: Streng dein Gehirn an, fal s du eins hast. Was ist
das?
Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und hal-
te das Geschenk ins Mondlicht. Ich drehe und wende es,
schaue es aus verschiedenen Winkeln an, bedecke einzelne
Teile und gebe sie dann wieder frei. Damit es mir seinen
Zweck verrät. Schließlich stecke ich frustriert ein Ende in
die Erde. »Ich geb’s auf. Vielleicht kriegen Beetee und Wi-
ress es raus, wenn wir uns mit ihnen zusammentun.«
Ich strecke mich, lege die heiße Wange auf die Gras-
matte, starre verärgert auf das Ding. Peeta reibt einen
verspannten Punkt zwischen meinen Schultern und ich
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werde ein wenig lockerer. Ich frage mich, warum es sich
kein bisschen abgekühlt hat, jetzt, da die Sonne unterge-
gangen ist. Ich frage mich, was sie zu Hause wohl machen.
Prim. Meine Mutter. Gale. Madge. Ich stelle mir vor,
wie sie mir zu Hause zuschauen. Jedenfalls hoffe ich, dass
sie zu Hause sind. Nicht von Thread verhaftet. Oder be-
straft wie Cinna. Wie Darius. Bestraft wegen mir. Alle.
Jetzt sehne ich mich nach ihnen, nach meinem Distrikt,
meinem Wald. Ein anständiger Wald mit kräftigen Hart-
holzbäumen, reichlich Nahrung, mit Wild, vor dem man
sich nicht ekeln muss. Rauschende Bäche. Kühle Brisen.
Nein, kalte Winde, die diese erstickende Hitze wegblasen.
Ich beschwöre einen solchen Wind mit meinen Gedanken,
lasse mir von ihm kalte Wangen machen und taube Fin-
ger, und auf einmal hat das Metallding, das halb in der
schwarzen Erde steckt, einen Namen.
»Ein Zapfen!«, rufe ich und setze mich kerzengerade
auf.
»Was?«, fragt Finnick.
Ich ziehe das Ding aus der Erde und wische es sauber.
Schließe die Hand um das sich verjüngende Ende, ver-
berge es und schaue auf die Tülle. Ja, so ein Ding habe
ich schon mal gesehen. An einem kalten, windigen Tag
vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater im Wald war.
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Es steckte fest in einem Loch, das in den Stamm eines
Ahornbaums gebohrt war. Eine Öffnung für den Saft, der
dann in unseren Eimer floss. Mit Ahornsirup wurde selbst
unser fades Brot zu einer Leckerei. Nach dem Tod meines
Vaters blieben seine Zapfhähne verschwunden, ich wusste
nicht, was mit ihnen passiert war. Wahrscheinlich hatte er
sie irgendwo im Wald versteckt. Wo niemand sie je finden
wird.
»Das ist ein Zapfen. So was wie ein Hahn. Man steckt
ihn in einen Baum und dann kommt Saft raus.« Ich
schaue auf die kräftigen grünen Stämme um mich herum.
»Na ja, es muss die richtige Sorte Baum sein.«
»Saft?«, sagt Finnick. Am Meer wächst auch nicht die
richtige Sorte Bäume.
»Für Sirup«, sagt Peeta. »Aber in diesen Bäumen muss
etwas anderes sein.«
Plötzlich sind wir alle auf den Beinen. Unser Durst.
Der Mangel an Wasserquellen. Die spitzen Vorderzähne
der Baumratte und ihr nasses Maul. In diesen Bäumen
kann es nur eines geben, was begehrenswert ist. Finnick
will den Zapfhahn schon mit einem Stein in die grüne
Rinde eines kräftigen Baums hämmern, doch ich halte
ihn zurück. »Warte. Nachher machst du ihn noch kaputt.
Wir müssen erst ein Loch bohren«, sage ich.
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Wir haben nichts zum Bohren, also bietet Mags ihre
Ahle an, und Peeta schiebt sie direkt in die Rinde, sodass
der Stift fünf Zentimeter tief im Stamm steckt. Abwech-
selnd vergrößern Peeta und Finnick das Loch mit der Ahle
und den Messern, bis der Zapfhahn hineinpasst. Vorsich-
tig schiebe ich ihn in das Loch und dann treten wir alle
erwartungsvoll zurück.
Zunächst passiert gar nichts. Dann rollt ein Wasser-
tropfen an der Tülle herab und landet in Mags’ Hand. Sie
leckt ihn ab und streckt die Hand wieder aus.
Wir bewegen den Zapfhahn hin und her, bis ein
dünner Strahl herausfließt. Abwechselnd halten wir den
Mund unter den Hahn und benetzen unsere ausgedörrte
Zunge. Mags bringt eine Schale herbei, das Gras ist so fest
geflochten, dass sie das Wasser hält. Wir füllen die Schale
und lassen sie herumgehen, nehmen große Schlucke, und
später, als unser Durst gelöscht ist, spritzen wir uns Was-