kauere mich mit meiner gesüßten und gewürzten Milch,

die wirklich köstlich ist, neben ihn und versinke in den

fünfzigsten Hungerspielen. Nach der Hymne sieht man

278

Präsident Snow, der den Umschlag für das zweite Jubel-Ju-

biläum zieht. Er sieht jünger aus, aber genauso abstoßend.

Mit der gleichen Grabesstimme wie bei uns liest er von

seinem Blatt ab und teilt Panem mit, dass zu Ehren des

Jubel-Jubiläums doppelt so viele Tribute teilnehmen wer-

den wie sonst. Schnitt auf die Ernten, wo Name auf Name

aufgerufen wird.

Als wir zu Distrikt 12 kommen, bin ich schon über-

wältigt von der Anzahl der Kinder, die dem sicheren Tod

entgegengehen. Eine Frau, allerdings nicht Effie, ruft die

Namen von Distrikt 12 auf, und auch sie sagt: »Ladies

first!« Sie ruft den Namen eines Mädchens auf – man sieht

ihm an, das es aus dem Saum stammt –, und dann höre

ich den Namen: »Maysilee Donner.«

»Oh!«, sage ich. »Das war eine Freundin meiner Mut-

ter.« Die Kamera macht sie in der Menge ausfindig, wäh-

rend sie zwei Mädchen umarmt. Alle blond. Und eindeu-

tig Kaufmannstöchter.

»Das ist doch deine Mutter, die sie da umarmt«, sagt

Peeta leise. Er hat recht. Als Maysilee Donner sich tapfer

löst und zur Bühne geht, erhasche ich einen Blick auf mei-

ne Mutter, die damals so alt war wie ich heute. Was ihre

Schönheit angeht, hat man nicht übertrieben. Ein zweites

Mädchen, das Maysilee sehr ähnlich sieht, hält ihre Hand

279

und weint. Aber dieses Mädchen sieht noch jemandem

ähnlich, den ich kenne.

»Madge«, sage ich.

»Ihre Mutter. Sie und Maysilee waren Zwillinge oder

so«, sagt Peeta. »Das hat mein Dad mal erzählt.«

Ich denke an Madges Mutter. Die Frau von Bürgermeis-

ter Undersee. Die die Hälfte der Zeit von unerträglichen

Schmerzen ans Bett gefesselt ist und die Welt ausblendet.

Mir ist nie bewusst gewesen, dass es diese Verbindung zwi-

schen ihr und meiner Mutter gibt. Ich denke daran zurück,

wie Madge in dem Schneesturm aufgetaucht ist, um das

Schmerzmittel für Gale zu bringen. Denke an meine Spott-

tölpelbrosche und daran, dass sie eine andere Bedeutung hat,

seit ich weiß, dass Madges Tante, Maysilee Donner, sie einst

getragen hat – ein Tribut, der in der Arena ermordet wurde.

Als Letzter wird Haymitch aufgerufen. Ihn zu sehen,

schockiert mich noch mehr als der Anblick meiner Mutter

eben.

Jung. Stark. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber er

sieht echt toll aus. Dunkle Locken, die grauen Augen klar

und schon damals gefährlich.

»Mensch, Peeta, er wird doch nicht Maysilee getötet

haben, oder?«, bricht es aus mir heraus. Ich weiß nicht,

warum, aber die Vorstellung ist mir unerträglich.

280

»Bei achtundvierzig Spielern? Nicht sehr wahrschein-

lich, würde ich behaupten«, sagt Peeta.

Die Wagenparade – bei der die Kinder aus Distrikt

12 in grauenhaften Bergarbeiteroutfits stecken – und die

Interviews rauschen vorbei. Man hat kaum Zeit, sich auf

einen zu konzentrieren. Aber weil Haymitch der spätere

Sieger ist, wird ein Wortwechsel zwischen ihm und Caesar

Flickerman gezeigt, der in seinem nachtblauen Glitzeran-

zug exakt so aussieht wie immer. Nur die dunkelgrün ge-

färbten Haare, Lider und Lippen sind anders.

»Also, Haymitch, was hältst du davon, dass bei diesen

Spielen hundert Prozent mehr Mitstreiter dabei sind als

sonst?«, fragt Caesar.

Haymitch zuckt die Achseln. »Ich sehe da keinen gro-

ßen Unterschied. Sie werden hundert Prozent so dumm

sein wie sonst auch und deshalb schätze ich meine Chan-

cen eigentlich gleich ein.«

Die Zuschauer lachen, Haymitch schenkt ihnen ein

halbes Lächeln. Höhnisch. Arrogant. Gleichgültig.

»Dafür hat er sich nicht sonderlich verstellen müssen,

oder?«, sage ich.

Schnitt auf den Morgen, an dem die Spiele begin-

nen. Wir erleben aus der Perspektive einer Spielerin mit,

wie sie vom Startraum durch den Zylinder in die Arena

281

hinauffährt. Ich schnappe nach Luft. Unglauben zeichnet

sich auf den Gesichtern der Spieler ab. Sogar Haymitch

hebt erfreut die Augenbrauen, zieht sie dann aber sofort

wieder zu einer finsteren Miene zusammen.

Die Szenerie ist atemberaubend. Das goldene Füllhorn

thront mitten auf einer grünen Wiese mit lauter prächtigen

Blumen. Der Himmel ist azurblau mit bauschigen weißen

Wolken. Singvögel flattern fröhlich über den Köpfen der

Tribute, von denen einige schnuppernd die Nase recken.

Der Duft muss fantastisch sein. Eine Luftaufnahme zeigt,

dass die Wiese sich über viele Kilometer erstreckt. In der

Ferne liegt in der einen Richtung ein Wald, in der anderen

ein schneebedeckter Berg.

Die Spieler lassen sich von der Schönheit des Anblicks

verzaubern, und als der Gong ertönt, sehen die meisten

aus, als würden sie aus einem Traum erwachen. Nicht so

Haymitch. Im Nu ist er beim Füllhorn, hat sich Waffen

und einen Rucksack mit Vorräten gesichert. Ehe die an-

deren auch nur die Metallscheibe verlassen haben, ist er

schon auf dem Weg in den Wald.

Achtzehn Tribute werden beim Gemetzel des ersten

Tages getötet. Die anderen sterben wie die Fliegen, denn

rasch zeigt sich, dass fast alles an diesem bezaubern-

den Ort – die köstlichen Früchte, die an den Sträuchern

282

baumeln, das Wasser in den kristallklaren Bächen, sogar

der Duft der Blumen, wenn man ihn von Nahem ein-

atmet – tödlich giftig ist. Nur das Regenwasser und die

Nahrungsmittel aus dem Füllhorn lassen sich gefahrlos

konsumieren. Es gibt auch eine große, gut ausgerüstete

Karrierotruppe aus zehn Tributen, die auf der Suche nach

Opfern die Bergregion durchstreift.

Haymitch in seinem Wald kommt ganz schön in Be-

drängnis, weil die flauschigen goldenen Eichhörnchen sich

als rudelweise attackierende Fleischfresser herausstellen

und die Stiche der Schmetterlinge Höllenqualen hervor-

rufen – wenn sie nicht sogar tödlich sind. Aber er kämpft

sich immer weiter vorwärts, weg von dem fernen Berg hin-

ter ihm.

Maysilee Donner erweist sich als ganz schön erfinde-

risch für ein Mädchen, das am Füllhorn lediglich einen

kleinen Rucksack ergattert hat. Darin findet sie eine Scha-

le, etwas getrocknetes Rindfleisch und ein Blasrohr mit

zwei Dutzend Pfeilen. Sie nutzt die üppig vorhandenen

Gifte und verwandelt das Blasrohr in eine tödliche Waffe,

taucht die Pfeile in hochgiftige Substanzen und schießt sie

ins Fleisch ihrer Gegner.

Nach vier Tagen bricht der malerische Berg aus und eli-

miniert ein weiteres Dutzend Spieler, darunter die Hälfte

283

aller Karrieretribute. Da der Berg flüssiges Feuer spuckt

und die Wiese keinerlei Versteck bietet, haben die verblie-

benen dreizehn Tribute – einschließlich Haymitch und

Maysilee – keine andere Wahl: Sie müssen in den Wald.

Haymitch scheint entschlossen, immer der gleichen

Richtung zu folgen, fort von dem Berg, der zum Vulkan

geworden ist, doch ein Labyrinth aus dichten Hecken

zwingt ihn in einem Bogen zurück in die Mitte des Wal-

des, wo er auf drei der Karrieretribute trifft. Haymitch

zückt sein Messer. Sie sind vielleicht größer und stärker,

aber er ist sehr schnell und hat bereits zwei getötet, als

er vom dritten überwältigt wird. Der Karriero will ihm

gerade die Kehle aufschlitzen, da streckt ihn ein Pfeil zu

Boden.

Maysilee Donner tritt zwischen den Bäumen hervor.

»Zu zweit würden wir länger leben.«

»Schätze, das hast du soeben bewiesen«, sagt Haymitch

und reibt sich den Hals. »Verbündete?« Maysilee nickt.

Und mir nichts, dir nichts haben sie plötzlich eins dieser

Bündnisse geschlossen, die man irgendwann notgedrun-

gen brechen muss, wenn man jemals zurück nach Hause

und seinen Distrikt wiedersehen will.

Wie Peeta und ich sind sie zu zweit besser dran. Sie

schlafen mehr, denken sich gemeinsam eine Methode aus,

284

wie sie mehr Regenwasser gewinnen können, kämpfen im

Team und teilen das Essen aus den Rucksäcken der toten

Tribute. Trotzdem, Haymitch ist immer noch entschlos-

sen, weiterzumarschieren.

»Warum?«, fragt Maysilee immer wieder, doch er ig-

noriert sie, bis sie sich schließlich weigert, auch nur noch

einen Schritt zu machen, solange sie keine Antwort

bekommt.

»Weil es doch irgendwo ein Ende geben muss, oder?«,

sagt Haymitch. »Die Arena kann nicht unendlich sein.«

»Und was, glaubst du, wirst du dort finden?«, fragt

Maysilee.

»Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist da etwas, das wir ge-

brauchen können«, antwortet er.

Als sie mithilfe eines Schneidbrenners, den sie aus dem

Rucksack eines der toten Karrieros haben, endlich die

schier unüberwindliche Hecke hinter sich gebracht haben,

treten sie auf eine ausgetrocknete Ebene hinaus, die an ei-

ner Klippe endet. Weit unten sind zerklüftete Felsen zu

erkennen.

»Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren«, sagt

Maysilee.

»Nein, ich bleibe hier«, erwidert er.

»Gut. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können

285

wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen«, sagt sie. »Ich

möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig

sind.«

»Okay«, willigt er ein. Mehr nicht. Er hält ihr nicht die

Hand hin oder sieht sie an. Und so geht sie fort.

Haymitch folgt dem Rand der Klippe, als grübelte er

über etwas. Unter seinem Fuß löst sich ein kleiner Stein,

der in den Abgrund fällt, augenscheinlich für immer ver-

schwunden. Aber eine Minute später, Haymitch hat sich

inzwischen hingesetzt, um auszuruhen, wird der Stein

plötzlich zurückgeschleudert und landet neben ihm. Ver-

dutzt starrt Haymitch den Stein an, dann wird seine Mie-

ne seltsam angespannt. Er wirft einen faustgroßen Stein

über die Klippe und wartet. Als auch dieser Stein zurück-

geflogen kommt und wieder genau in seiner Hand landet,

lacht er los.

In diesem Augenblick hört man Maysilee schreien. Das

Bündnis ist Vergangenheit, sie hat es gebrochen, deshalb

könnte ihm niemand einen Vorwurf machen, wenn er sich

nicht um sie kümmern würde. Trotzdem rennt Haymitch

los. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen,

wie der letzte aus einer Schar bonbonrosafarbener Vögel

mit seinem langen, dünnen Schnabel ihren Hals durch-

bohrt. Während sie stirbt, hält Haymitch ihre Hand, und

286

ich muss die ganze Zeit an Rue denken und dass auch ich

zu spät gekommen bin, um sie zu retten.

Später an diesem Tag wird noch ein Tribut im Kampf

getötet und ein dritter von einem Rudel dieser flauschigen

Eichhörnchen aufgefressen, sodass nur noch Haymitch

und ein Mädchen aus Distrikt 1 um den Sieg wetteifern.

Sie ist größer als Haymitch und genauso schnell, und als

es zu dem unvermeidlichen Kampf kommt, ist er blutig

und schrecklich, und beide haben bereits Verletzungen er-

litten, die tödlich sein könnten. Da steht Haymitch plötz-

lich ohne Waffe da. Er taumelt durch den schönen Wald,

drückt die Eingeweide zurück in den Bauch, während das

Mädchen hinter ihm herstolpert, in der Hand die Axt, mit

der sie ihm den Todesstoß versetzen will. Auf kürzestem

Weg steuert Haymitch auf seine Klippe zu und ist eben

an der Felskante angekommen, als das Mädchen die Axt

schleudert. In diesem Augenblick lässt Haymitch sich fal-

len und die Axt fliegt über ihn hinweg in den Abgrund.

Jetzt, da sie ebenfalls unbewaffnet ist, steht das Mädchen

nur da und versucht das Blut zu stillen, das aus ihrer lee-

ren Augenhöhle rinnt. Vielleicht denkt sie, sie könne Hay-

mitch, der sich auf dem Boden windet, überleben. Aber im

Gegensatz zu ihm kennt sie das Geheimnis des Abgrunds

nicht, und als die Axt plötzlich wieder über die Kante

287

geflogen kommt, gräbt sie sich in den Schädel des Mäd-

chens. Die Kanone knallt, die Leiche wird fortgeschafft,

die Fanfaren verkünden Haymitchs Sieg.

Peeta schaltet das Band ab, wir bleiben eine Zeit lang

schweigend sitzen.

Endlich sagt Peeta: »Dieses Kraftfeld unterhalb der

Klippe erinnert mich an das Kraftfeld rings um das Dach

des Trainingscenters. Das schleudert einen auch zurück,

wenn man versucht, hinunterzuspringen und sich umzu-

bringen. Haymitch hat einen Weg gefunden, es als Waffe

einzusetzen.«

»Und nicht nur gegen die anderen Tribute, auch gegen

das Kapitol«, sage ich. »Damit hatten sie bestimmt nicht

gerechnet. Es war nicht als Teil der Arena gedacht. Sie

haben nie geplant, dass irgendjemand das Kraftfeld als

Waffe einsetzen sollte. Als Haymitch es dennoch schaffte,

standen sie ganz schön dumm da. Es hat bestimmt eine

Weile gedauert, bis sie sich eine passende Story dazu aus-

gedacht haben. Wahrscheinlich habe ich es deshalb auch

nicht im Fernsehen gesehen. Das ist ja fast so schlimm wie

wir mit den Beeren!«

Ich pruste los, zum ersten Mal seit Monaten kann ich

richtig lachen. Peeta schüttelt nur den Kopf, als hätte ich

den Verstand verloren – viel eicht ist es auch ein bisschen so.

288

»Fast, aber nicht ganz«, sagt Haymitch hinter uns. Ich

fahre herum und befürchte, er könne verärgert sein, weil

wir sein Band angesehen haben, aber er grinst nur und

nimmt einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche. So viel

zum Thema nüchtern bleiben. Wahrscheinlich müsste ich

jetzt wütend sein, weil er wieder trinkt, doch mich be-

schäftigt etwas anderes.

In den zurückliegenden Wochen habe ich mich nur

darum gekümmert zu erfahren, wer meine zukünftigen

Konkurrenten sind, und keinen Gedanken daran ver-

schwendet, wer meine Teamkameraden sind. Jetzt aber

macht sich eine neue Art von Zuversicht in mir breit, weil

ich glaube, dass ich endlich über Haymitch Bescheid weiß.

Und ich weiß allmählich auch, wer ich bin. Und zwei Leu-

te, die dem Kapitol so viel Ärger eingebrockt haben, wer-

den bestimmt einen Weg finden, Peeta lebend wieder nach

Hause zu bringen.

289

15 Ich habe ja schon einige Vorberei-

tungssitzungen mit Flavius, Venia und

Octavia hinter mir, weshalb das für mich eigentlich alles

Routine sein müsste, die ich nur irgendwie überstehen

muss. Aber die emotionale Tortur, die mich diesmal er-

wartet, habe ich nicht vorausgesehen. Mindestens zweimal

im Verlauf der Vorbereitung bricht jeder von ihnen in Trä-

nen aus und Octavia wimmert den ganzen Vormittag über

vor sich hin. Offenbar haben sie mich tatsächlich ins Herz

geschlossen, und die Vorstellung, dass ich noch einmal in

die Arena zurück muss, macht sie völlig fertig. Dass sie

zusammen mit mir auch die Zutrittsberechtigung zu all

den großen gesellschaftlichen Anlässen – insbesondere

meiner Hochzeit – verlieren werden, macht es vollends un-

erträglich. Der Gedanke, für einen anderen stark zu sein,

ist ihnen noch nie gekommen, und daher bin jetzt plötz-

lich ich es, die sie trösten muss. Das nervt ein bisschen,

schließlich soll ich mich abschlachten lassen, nicht sie.

Aber es ist doch interessant, was Peeta über den Diener

im Zug gesagt hat – er sei nicht glücklich darüber, dass

die Sieger noch mal kämpfen müssen. Und es gebe auch

290

Leute im Kapitol, die das nicht gut fänden. Meiner Mei-

nung nach wird all das zwar vergessen sein, sobald der

Gong ertönt und die Spiele beginnen, aber dass die Leute

im Kapitol überhaupt etwas für uns empfinden, ist schon

eine kleine Offenbarung. Mit anzusehen, wie Jahr für Jahr

aufs Neue junge Menschen getötet werden, bereitet ihnen

anscheinend keinerlei Problem. Aber über die Sieger und

besonders über die, die seit ewigen Zeiten Berühmtheiten

sind, wissen sie vielleicht zu viel, um zu vergessen, dass

wir auch Menschen sind. Plötzlich müssen sie selbst den

eigenen Freunden beim Sterben zusehen. Als hätten sich

die Distrikte die Spiele ausgedacht!

Als Cinna sich blicken lässt, bin ich vom vielen Trösten

gereizt und erschöpft, vor allem, weil das ständige Geheu-

le mich an die Tränen erinnert, die zweifellos zu Hause

um uns vergossen werden. Wie ich so in meinem dün-

nen Gewand dastehe und auf der Haut und im Herzen

die Stiche spüre, wird mir bewusst, dass ich noch so einen

mideidvollen Blick nicht ertrage. Deshalb blaffe ich Cin-

na, als er durch die Tür kommt, sofort an: »Wenn du jetzt

auch noch weinst, bringe ich dich auf der Stelle um, das

schwöre ich.«

Cinna lächelt nur. »War’s feucht heute Vormittag, oder

was?«

291

»Du könntest mich auswringen«, erwidere ich.

Cinna legt mir den Arm um die Schultern und führt

mich an den Mittagstisch. »Keine Bange. Ich lasse meine

Gefühle nur in meine Arbeit einfließen. Auf diese Weise

tue ich niemandem weh außer mir selbst.«

»Ich steh das nicht noch mal durch«, warne ich ihn.

»Ich weiß. Ich werde mit ihnen reden«, sagt Cinna.

Das Mittagessen tut mir gut. Fasan in juwelenfarbe-

nem Aspik, Miniaturausgaben echter Gemüse, in Butter

geschwenkt, sowie Kartoffelbrei mit Petersilie. Zum Nach-

tisch tunken wir Obststücke in einen Topf mit flüssiger

Schokolade. Ich löffele das Zeug pur in mich hinein, so-

dass Cinna einen zweiten Topf bestellen muss.

»Und was werden wir bei der Eröffnungsfeier tragen?«,

frage ich schließlich, während ich den zweiten Topf aus-

kratze. »Stirnlampen oder Feuer?« Ich weiß, dass Peeta

und ich während der Wagenparade irgendetwas an uns

haben müssen, das mit Kohle zu tun hat.

»Etwas in der Art«, sagt Cinna.

Als es Zeit ist, die Kostüme für die Eröffnungsfeier an-

zulegen, erscheint mein Vorbereitungsteam wieder, doch

Cinna schickt sie fort mit der Bemerkung, sie hätten ihren

Job am Vormittag so fantastisch erledigt, dass nichts mehr

zu tun sei. Dankbar ziehen sie sich zurück, um sich zu

292

erholen, und überlassen mich Cinnas Händen. Als Erstes

steckt er mein Haar in Zöpfen hoch, wie meine Mutter es

gezeigt hat, dann widmet er sich meinem Make-up. Letz-

tes Jahr hat er nur sehr wenig benutzt, damit das Publi-

kum mich in der Arena wiedererkennt. Doch jetzt wirkt

mein Gesicht mit den dramatischen Highlights und dunk-

len Schatten ganz fremd. Stark gewölbte Augenbrauen,

markante Wangenknochen, glühende Augen, tiefviolette

Lippen. Mein Outfit macht auf den ersten Blick nicht viel

her, ein maßgeschneiderter schwarzer Overall, der mich

vom Hals abwärts umschließt, mehr nicht. Cinna setzt

mir eine halbe Krone auf den Kopf, die so aussieht wie die

Krone, die ich als Siegerin aufgesetzt bekommen habe, nur

dass diese hier nicht aus Gold ist, sondern aus schwerem

schwarzem Metall. Dann dimmt er das Licht im Raum

zu einem Halbdunkel und drückt auf einen Knopf im

Stoff unten am Ärmel. Ich schaue nach unten und sehe

fasziniert, wie mein Kostüm langsam zum Leben erwacht,

ein sanftes goldenes Licht, das sich nach und nach in das

Orangerot eines Kohlenfeuers verwandelt. Ich sehe aus, als

wäre ich in glühende Kohle gekleidet – nein, ich bin ein

Stück glühende Kohle aus dem Kamin. Die Farben wer-

den heller und dunkler, wechseln und verschmelzen, wie

bei Kohle.

293

»Wie hast du das denn hingekriegt?«, frage ich staunend.

»Portia und ich haben viele Stunden ins Feuer geguckt«,

sagt Cinna. »Jetzt kannst du dich anschauen.«

Er dreht mich zu einem Spiegel hin, damit ich die Wir-

kung im Ganzen erkennen kann. Was ich sehe, ist kein

Mädchen und auch keine Frau, sondern eine überirdische

Erscheinung, die aussieht, als wäre sie in dem Vulkan zu

Hause, der bei Haymitchs Jubiläumsspielen so viele Tri-

bute vernichtet hat. Die schwarze Krone, die nun glühend

rot ist, wirft seltsame Schatten auf mein dramatisch ge-

schminktes Gesicht. Katniss, das Mädchen, das in Flam-

men stand, hat Feuerzungen, juwelenverzierte Umhänge

und sanfte Kerzenlichtkleider abgelegt. Sie ist so gefähr-

lich wie das Feuer selbst.

»Ich glaube … genau das habe ich gebraucht, um den

anderen gegenüberzutreten«, sage ich.

»Ja, ich finde, die Zeit der roten Lippenstifte und Haar-

bänder liegt hinter dir«, sagt Cinna. Er berührt den Knopf

an meinem Ärmel noch einmal und löscht das Licht. »Da-

mit die Batterie nicht zu sehr strapaziert wird. Wenn du

diesmal auf dem Wagen stehst, dann kein Winken, kein

Lächeln. Ich möchte, dass du nur geradeaus schaust, als

würdest du all die Zuschauer gar nicht wahrnehmen.«

»Endlich mal etwas, was ich gut kann«, sage ich.

294

Cinna muss sich noch um Verschiedenes kümmern,

deshalb beschließe ich, ins Erdgeschoss des Erneuerungs-

studios hinunterzufahren, wo die Tribute und ihre Wagen

in einer riesigen Halle darauf warten, dass die Eröffnungs-

feier beginnt. Ich hatte gehofft, dort Peeta und Haymitch

zu treffen, aber sie sind noch nicht da. Anders als letztes

Jahr, als die Tribute praktisch an ihren Wagen klebten und

keinen Kontakt suchten, geht es diesmal regelrecht gesellig

zu. Die Sieger, also die Jubiläumstribute und ihre Mento-

ren, stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich.

Natürlich, sie kennen sich ja alle, nur ich kenne nieman-

den, aber ich bin sowieso nicht der Typ, der herumgeht

und sich vorstellt. Deshalb tätschele ich nur einem meiner

Pferde den Rücken und versuche, nicht aufzufallen.

Klappt aber nicht.

Ich höre ein krachendes Kauen, noch ehe ich merke,

dass er neben mir steht: Ich drehe den Kopf und da sind

die berühmten meergrünen Augen von Finnick Odair

nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Er wirft sich

noch einen Zuckerwürfel in den Mund und lehnt sich ge-

gen mein Pferd.

»Hallo, Katniss«, sagt er, als würden wir uns seit Jahren

kennen. Dabei sind wir uns noch nie begegnet.

»Hallo, Finnick«, sage ich beiläufig, obwohl mir in

295

seiner Nähe unwohl ist, besonders weil er so viel nackte

Haut zeigt.

»Möchtest du einen?«, fragt er und hält mir die Hand

hin, auf der ein ganzer Berg Zuckerwürfel liegt. »Sind ei-

gentlich für die Pferde, aber was soll’s? Sie haben noch vie-

le Jahre Zeit, Zucker zu essen, während du und ich … na,

wir zwei sollten ja wohl besser zugreifen, wenn wir was

Süßes sehen.«

Finnick Odair ist eine Art lebende Legende in Panem.

Mit vierzehn hat er die fünfundsechzigsten Hungerspiele

gewonnen, und deshalb ist er immer noch einer der jüngs-

ten Sieger überhaupt. Er stammt aus Distrikt 4 und war

ein Karrieretribut, weshalb die Chancen sowieso gut für

ihn standen. Aber was kein Trainer für sich verbuchen

konnte, war Finnicks außergewöhnliche Schönheit. Groß

gewachsen, athletisch, mit goldener Haut und bronzefar-

benem Haar und diesen unglaublichen Augen. Während

andere Tribute dieses Jahrgangs von den Sponsoren kaum

mal eine Handvoll Getreide oder Streichhölzer geschenkt

bekamen, mangelte es Finnick weder an Essen noch an

Medikamenten oder Waffen. Als seine Konkurrenten nach

einer Woche endlich begriffen hatten, dass sie vor allem

ihn töten mussten, war es schon zu spät. Mit den Speeren

und Messern, die er im Füllhorn gefunden hatte, konnte

296

er schon geschickt umgehen. Aber als er einen silbernen

Fallschirm mit einem Dreizack bekam – wohl das teuerste

Geschenk, das ich je gesehen habe –, war die Sache gelau-

fen. Distrikt 4 lebt für die Fischerei. Sein ganzes Leben

hat Finnick auf Booten verbracht. Der Dreizack war eine

natürliche, tödliche Verlängerung seines Arms. Aus Lia-

nen knüpfte er ein Netz, wickelte seine Gegner darin ein

und durchbohrte sie mit dem Dreizack. Innerhalb weniger

Tage hatte er die Krone errungen.

Seitdem waren die Bewohner des Kapitols ihm verfallen.

Aufgrund seiner Jugend durften sie ihn in den ersten

ein, zwei Jahren nicht anrühren. Aber seit er sechzehn

ist, wird er während seiner alljährlichen Aufenthalte im

Rahmen der Hungerspiele von glühenden Verehrerinnen

geradezu belagert. Keiner schenkt er seine Gunst lange.

Manchmal hat er in einem Jahr vier oder fünf Liebschaf-

ten nacheinander. Ob alt oder jung, hübsch oder hässlich,

reich oder megareich – er leistet ihnen Gesellschaft und

nimmt ihre extravaganten Geschenke an, aber er bleibt

nie, und wenn er einmal fort ist, kommt er nie zurück.

Ich kann nicht bestreiten, dass Finnick einer der um-

werfendsten und sinnlichsten Menschen auf unserem Pla-

neten ist. Und doch ist es die Wahrheit, wenn ich sage,

dass ich ihn nie anziehend fand. Vielleicht, weil er zu

297

hübsch ist, vielleicht auch, weil er zu leicht zu haben ist –

oder zu leicht zu verlieren.

»Nein danke«, sage ich zu dem angebotenen Zucker.

»Aber dein Outfit würd ich mir gern irgendwann mal

ausleihen.«

Er ist nur in ein goldenes Netz gehüllt, das geschickt in

der Leiste zusammengeknotet ist, sodass man ihn streng

genommen nicht als nackt bezeichnen kann. Viel nackter

könnte er aber nicht sein. Sein Stylist hält es offenbar für

vorteilhaft, wenn das Publikum so viel wie möglich von

Finnick zu sehen bekommt.

»In dieser Aufmachung jagst du mir echt Angst ein.

Was ist aus den hübschen Kleinmädchen-Kleidern gewor-

den?«, fragt er. Er benetzt mit der Zunge leicht die Lippen.

Wahrscheinlich macht das die meisten Leute völlig ver-

rückt. Aber aus irgendeinem Grund muss ich an den alten

Cray denken, der über einer armen, hungernden jungen

Frau geifert.

»Bin rausgewachsen«, sage ich.

Finnick fasst an den Kragen meines Overalls und reibt

den Stoff zwischen den Fingern. »Zu dumm, diese Sache

mit dem Jubiläum. Du hättest im Kapitol wie die Made

im Speck leben können. Schmuck, Geld, alles, was du

willst.«

298

»Ich mag keinen Schmuck, und Geld habe ich mehr,

als ich ausgeben kann. Wofür gibst du deins denn so aus,

Finnick?«, frage ich ihn.

»Och, mit so gewöhnlichen Dingen wie Geld habe ich

seit einer Ewigkeit nichts mehr am Hut«, antwortet er.

»Und womit lässt du dir dann das Vergnügen deiner

Gesellschaft vergüten?«, frage ich.

»Mit Geheimnissen«, sagt er sanft. Er neigt den Kopf

nach vorn, sodass sich unsere Lippen fast berühren. »Was

ist eigentlich mit dir, Mädchen in Flammen? Hast du ir-

gendwelche Geheimnisse, die meine Zeit wert wären?«

Aus irgendeinem albernen Grund werde ich rot, aber

ich zwinge mich, nicht zurückzuweichen. »Nein, ich bin

ein offenes Buch«, flüstere ich zurück. »Anscheinend

glaubt jeder, meine Geheimnisse zu kennen, bevor ich

selbst sie kenne.«

Er lächelt. »So leid es mir tut – aber ich glaube, das

stimmt.« Sein Blick zuckt zur Seite. »Da kommt Peeta.

Schade, dass ihr eure Hochzeit abblasen müsst. Ich weiß,

wie niederschmetternd das für dich sein muss.« Er wirft

sich noch einen Zuckerwürfel in den Mund und schlen-

dert davon.

Peeta stellt sich neben mich, er ist genauso gekleidet

wie ich. »Was wollte der denn?«, fragt er.

299

Ich drehe mich um, bringe meine Lippen ganz nah an

Peetas und senke die Lider genau wie Finnick. »Er hat mir

Zucker angeboten und wollte alle meine Geheimnisse er-

fahren«, sage ich, so verführerisch ich kann.

Peeta lacht. »Igitt. Das gibt’s doch nicht.«

»Oh doch«, antworte ich. »Den Rest erzähl ich dir,

wenn die Gänsehaut weg ist.«

»Meinst du, wenn nur einer von uns beiden gewon-

nen hätte, wären wir auch so geendet?«, fragt er und

wirft einen Blick auf die anderen Sieger. »Als Teil dieser

Freakshow?«

»Na klar. Vor allem du«, sage ich.

»Ach, und warum vor allem ich?«, fragt er und lächelt.

»Weil du eine Schwäche für die schönen Dinge hast

und ich nicht«, sage ich mit einem Anflug von Überlegen-

heit. »Wenn sie dich mit der Lebensart des Kapitols locken

würden, wärst du vollkommen verloren.«

»Einen Sinn für Schönheit zu haben, ist doch keine

Schwäche«, sagt Peeta. »Außer vielleicht, was dich be-

trifft.« Die Musik beginnt, die großen Tore öffnen sich für

den ersten Wagen, die Menge tobt. »Wollen wir?« Er reicht

mir die Hand und hilft mir auf den Wagen.

Ich klettere hinauf und ziehe ihn nach. »Halt still«,

sage ich und richte seine Krone. »Hast du deinen Overall

300

in eingeschaltetem Zustand gesehen? Wir werden wieder

fantastisch aussehen.«

»Und ob. Portia sagt, wir sollen diesmal über allem ste-

hen. Kein Winken oder so was«, sagt er. »Wo stecken die

beiden eigentlich?«

»Ich weiß nicht.« Ich suche die Prozession der Wagen ab.

»Viel eicht sol ten wir uns lieber selbst einschalten.« Das tun

wir, und sobald wir aufleuchten, deuten die anderen auf uns

und fangen an zu tuscheln. Ich weiß, dass wir auch dies-

mal das Gesprächsthema Nummer eins der Eröffnungsfeier

sein werden. Wir sind fast am Tor. Ich recke den Hals, doch

weder Portia noch Cinna, die voriges Jahr bis zur letzten

Sekunde bei uns waren, sind irgendwo zu sehen. »Sol en wir

dieses Jahr auch Händchen halten?«, frage ich.

»Ich glaube, das wollen sie uns überlassen«, sagt Peeta.

Ich schaue in diese blauen Augen, die kein noch so

dramatisches Make-up gefährlich erscheinen lassen kann,

und denke daran, dass ich noch vor einem Jahr bereit war,

ihn zu töten. Weil ich überzeugt war, dass er versuchen

würde, mich zu töten. Nun ist es genau umgekehrt. Ich

bin entschlossen, ihn zu retten, und ich weiß, dass es mich

mein eigenes Leben kosten wird, aber der Teil von mir, der

nicht so tapfer ist, wie ich es gern hätte, ist froh, dass jetzt

Peeta neben mir steht und nicht Haymitch. Ohne weitere

301

Diskussion finden sich unsere Hände. Keine Frage, wir

werden uns dieser Sache gemeinsam stellen.

Als wir in die Abenddämmerung hinausrollen, bricht

die Menge in Geschrei aus, aber keiner von uns beiden

reagiert. Ich starre einfach auf einen Punkt in der Ferne

und tue so, als gäbe es keine Zuschauer, keine Hysterie.

Unwillkürlich fällt mein Blick auf die riesigen Bildschirme

entlang der Strecke und ich erhasche ein paar Bilder von

uns: Wir sind nicht nur schön, wir sind düster, mächtig.

Mehr noch. Das tragische Liebespaar aus Distrikt 12, das

so viel gelitten hat und die Früchte des Sieges so wenig

hat auskosten dürfen, sucht nicht nach der Gunst der Fans,

schenkt ihnen kein Lächeln, fängt nicht ihre Küsse auf.

Wir sind unversöhnlich.

Und ich genieße es. Endlich mal ich selbst sein.

Als wir in den Kreisverkehr des Zentralen Platzes ein-

biegen, stelle ich fest, dass ein paar von den anderen Sty-

listen Cinnas und Portias Idee geklaut und ihre Tribute

beleuchtet haben. Die mit kleinen elektrischen Lämpchen

übersäten Outfits aus Distrikt 3, wo Elektronik hergestellt

wird, haben ja noch einen gewissen Sinn. Aber die Vieh-

hüter aus Distrikt 10, die angezogen sind wie Kühe mit

brennenden Gurten um den Bauch? Wollen die sich selbst

grillen? Lächerlich.

302

Peeta und ich dagegen in unserem sich dauernd ver-

ändernden Kohle-Kostüm wirken so hypnotisierend, dass

die meisten anderen Tribute uns nur anstarren. Besonders

fasziniert ist offenbar das Paar aus Distrikt 6, von dem be-

kannt ist, dass sie Morfixer sind: beide klapperdürr und

mit schlaffer gelblicher Haut. Sie können die übergroßen

Augen gar nicht abwenden, selbst dann nicht, als Präsi-

dent Snow auf seinem Balkon zu reden beginnt und uns

alle zum Jubel-Jubiläum willkommen heißt. Die Hymne

erklingt, und während wir das letzte Stück fahren – irre

ich mich? Oder starrt sogar der Präsident mich an?

Peeta und ich warten, bis die Tore des Trainingscen-

ters sich wieder hinter uns geschlossen haben. Erst dann

entspannen wir uns. Cinna und Portia erwarten uns, sie

sind angetan von unserem Auftritt, und dieses Jahr ist so-

gar Haymitch erschienen, nur dass er nicht zu uns kommt,

sondern am Wagen von Distrikt 11 steht. Ich sehe, wie er

in unsere Richtung nickt, und dann kommen sie allesamt

herüber, um uns zu begrüßen.

Chaff kenne ich vom Sehen, ich habe jahrelang im

Fernsehen verfolgt, wie er sich mit Haymitch die Flasche

teilt. Er ist dunkelhäutig, gut eins achtzig groß, und einer

seiner Arme endet in einem Stumpf, weil er die dazuge-

hörige Hand in den Hungerspielen verloren hat, die er vor

303

dreißig Jahren gewann. Bestimmt hat man ihm künstli-

chen Ersatz angeboten wie Peeta, als dem der Unterschen-

kel amputiert werden musste, aber wie es aussieht, hat er

abgelehnt.

Die Frau, Seeder, sieht mit ihrer olivfarbenen Haut und

dem glatten schwarzen Haar mit den silbernen Strähnen

fast aus, als stammte sie aus dem Saum. Nur ihre gold-

braunen Augen verraten den fremden Distrikt. Sie dürfte

um die sechzig sein, aber sie sieht immer noch stark aus,

und nichts deutet darauf hin, dass sie sich über die Jahre

in Alkohol oder Morfix oder sonst eine chemische Sub-

stanz geflüchtet hätte. Bevor einer von uns etwas sagen

kann, umarmt sie mich. Wegen Rue und Thresh, denke

ich. Ich kann mich nicht bremsen und flüstere: »Und was

ist mit den Familien?«

»Sie leben«, erwidert sie sanft und lässt mich los.

Chaff schlingt seinen gesunden Arm um mich und

drückt mir einen Schmatz direkt auf den Mund. Erschro-

cken zucke ich zurück, während er und Haymitch schal-

lend loslachen.

Mehr Zeit bleibt uns nicht, denn die Bediensteten des

Kapitols scheuchen uns in Richtung Aufzüge. Ich habe

den Eindruck, dass ihnen eine solche Verbrüderung unter

den Siegern nicht recht ist, aber denen ist das vollkommen

304

egal. Während ich mich, immer noch Hand in Hand mit

Peeta, auf den Weg zu den Aufzügen mache, pirscht sich

noch jemand an mich heran, eine junge Frau, die ihre

Kopfbedeckung aus Blätterzweigen abzieht und achtlos

hinter sich wirft.

Johanna Mason. Aus Distrikt 7. Holz und Papier, des-

halb das Geäst. Sie hat ihre Spiele gewonnen, indem sie

sich sehr überzeugend als schwach und hilflos darstellte,

sodass die anderen sie weitgehend ignorierten. Aber dann

bewies sie ein gemeines Talent zum Morden. Sie fährt sich

durchs dornige Haar und verdreht die weit auseinander-

stehenden braunen Augen. »Ist das nicht ein grässliches

Kostüm? Ich habe die dämlichste Stylistin des Kapitols.

Seit vierzig Jahren staffiert sie unsere Tribute als Bäume

aus. Ich hätte auch mal gern so einen wie Cinna. Du siehst

fantastisch aus.«

Mädchengeplapper. Was ich schon immer schlecht

konnte. Meinungen äußern über Kleidung, Haare, Make-

up. Also lüge ich. »Ja, er hat mir geholfen, meine eigene

Kleiderkollektion zu entwerfen. Du müsstest mal sehen,

was er aus Samt alles machen kann.« Samt. Der einzige

Stoff, der mir auf die Schnelle eingefallen ist.

»Hab ich. Auf deiner Siegertour. Das Schulterfreie,

das du in Distrikt 2 anhattest? Das Tiefblaue mit den

305

Diamanten? Es war so umwerfend, dass ich am liebsten

durch den Bildschirm gegriffen und es dir vom Leib geris-

sen hätte«, sagt Johanna.

Das glaube ich gern, denke ich. Und ein paar Zentimeter

meines Fleisches gleich mit.

Während wir auf die Aufzüge warten, schält Johanna

sich aus dem Rest ihres Baums, lässt ihn zu Boden fallen

und kickt ihn angewidert weg. Bis auf ihre waldgrünen

Slipper trägt sie jetzt keinen Fetzen mehr am Leib. »So

ist’s besser.«

Wir fahren im selben Aufzug, und die ganze Fahrt bis

in den siebten Stock plaudert sie mit Peeta über seine Ge-

mälde, während das Licht seines noch immer glühenden

Kostüms von ihren nackten Brüsten reflektiert wird. Als

sie ausgestiegen ist, tue ich so, als wäre nichts, aber ich

weiß, dass er grinst. Erst als sich die Tür hinter Chaff und

Seeder schließt und wir allein sind, stoße ich seine Hand

weg. Er prustet los.

»Was ist?«, fahre ich ihn an, als wir auf den Gang treten.

»Das ist deinetwegen, Katniss. Merkst du das nicht?«,

sagt er.

»Was ist meinetwegen?«, frage ich zurück.

»Na, dass die sich alle so benehmen. Finnick mit sei-

nen Zuckerwürfeln und Chaff, der dich küsst, und der

306

Striptease von Johanna.« Er versucht, etwas ernsthafter zu

klingen, aber es will ihm nicht gelingen. »Sie spielen mit

dir, weil du so … du weißt schon.«

»Nein, weiß ich nicht«, sage ich. Ich habe wirklich kei-

nen Schimmer, wovon er redet.

»Na, damals in der Arena, da wolltest du mich nicht

mal nackt angucken, als ich schon halb tot war. Du bist so

… rein«, sagt er schließlich.

»Bin ich nicht!«, entgegne ich. »Letztes Jahr habe ich

dir doch jedes Mal, wenn eine Kamera in der Nähe war,

die Kleider vom Leib gerissen!«

»Schon, aber … ich meine, für das Kapitol bist du rein«,

sagt er beschwichtigend. »Für mich bist du genau richtig.

Sie wollen dich nur ein bisschen aufziehen.«

»Nein, die wollen sich über mich lustig machen, genau

wie du!«, rufe ich.

»Nein.« Peeta schüttelt den Kopf, aber er unterdrückt

noch immer ein Lächeln. Ich bin drauf und dran, noch

mal zu überdenken, wer von uns beiden lebend aus die-

sen Spielen rauskommen soll, als sich der andere Aufzug

öffnet.

Haymitch und Effie gesellen sich zu uns und sehen ir-

gendwie zufrieden aus. Plötzlich verhärtet sich Haymitchs

Gesichtsausdruck.

307

Was habe ich jetzt schon wieder angestel t?, will ich gera-

de sagen, aber da merke ich, dass er über meine Schulter

hinweg auf den Eingang zum Speisesaal starrt.

Effie guckt in die gleiche Richtung, doch sie strahlt,

als sie sagt: »Offenbar bekommt ihr dieses Jahr zwei im

Partnerlook.«

Ich drehe mich um und sehe das rothaarige Avoxmäd-

chen, das mich letztes Jahr bis zum Beginn der Spiele be-

dient hat. Ich freue mich schon, hier eine Freundin zu ha-

ben, als mir auffällt, dass der junge Mann neben ihr, auch

ein Avox, ebenfalls rotes Haar hat. Das muss Effie mit

Partnerlook gemeint haben.

Dann überläuft mich ein Schauer. Ihn kenne ich auch.

Nicht aus dem Kapitol, sondern vom Hob, wo wir all die

Jahre miteinander geplaudert und bei einer Suppe von

Greasy Sae gescherzt haben, und von diesem letzten Tag,

als er bewusstlos auf dem Platz lag, während Gale zu ver-

bluten drohte.

Unser neuer Avox ist Darius.

308

16 Haymitch packt mich am Hand-

gelenk, als wollte er mich zurück-

halten, aber ich bin so unfähig zu sprechen wie Darius.

Haymitch hat mir mal erzählt, dass die Folterknechte

des Kapitols irgendwas mit den Zungen der Avoxe an-

stellen, damit sie nie mehr sprechen können. In meinem

Kopf höre ich Darius’ Stimme, wie sie hell und ausgelas-

sen über den Hob schallt und mich aufzieht. Aber nicht

so, wie die anderen Sieger mich jetzt hänseln, denn wir

mochten uns wirklich. Wenn Gale ihn sehen könnte …

Jede Bewegung auf Darius zu, jede Geste des Erken-

nens würde ihm unweigerlich eine Bestrafung einbringen,

das weiß ich. Und so starren wir einander nur an. Darius,

der jetzt ein stummer Sklave ist; ich, die dem Tod entge-

gengeht. Was sollten wir uns auch sagen? Dass es uns um

das Schicksal des anderen leidtut? Dass wir mit dem ande-

ren leiden? Dass wir froh sind, dass wir uns kennenlernen

durften?

Nein, Darius hat keinen Grund, froh darüber zu sein,

dass er mich kennengelernt hat. Wäre ich damals da gewe-

sen und hätte Thread gestoppt, wäre er nicht vorgetreten,

309

um Gale zu retten. Dann wäre er jetzt kein Avox. Wäre er

jetzt nicht mein Avox, um genau zu sein, denn Präsident

Snow hat ihn zweifellos zu meinem ganz persönlichen

Wohlbefinden hierher beordert. Ich winde mein Handge-

lenk aus Haymitchs Griff, stapfe zu meinem alten Schlaf-

zimmer und schließe die Tür hinter mir ab. Ich setze mich

auf die Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, die Stirn

auf den Fäusten, betrachte meinen in der Dunkelheit glü-

henden Overall und stelle mir vor, ich säße in meinem

alten Zuhause in Distrikt 12, zusammengekauert neben

dem Kamin. Die Batterie wird schwächer und langsam

wird der Lichtschein von Schwarz überlagert.

Als irgendwann Effie an die Tür klopft, um mich zum

Abendessen zu rufen, stehe ich auf und ziehe meinen

Anzug aus, falte ihn ordentlich und lege ihn zusammen

mit der Krone auf den Tisch. Im Bad wasche ich mir die

dunklen Make-up-Streifen aus dem Gesicht. Ich ziehe ein

einfaches T-Shirt und eine Hose an und gehe hinunter in

den Flur zum Speisesaal.

Während des Essens bekomme ich nicht viel mit, au-

ßer dass Darius und das rothaarige Avoxmädchen uns

bedienen. Effie, Haymitch, Cinna, Portia und Peeta sind

da und unterhalten sich, vermutlich über die Eröffnungs-

feier. Doch wirklich anwesend bin ich eigentlich nur ein

310

einziges Mal, als ich absichtlich eine Schüssel mit Erbsen

zu Boden fallen lasse und mich, bevor jemand eingreifen

kann, bücke, um sie aufzulesen. Darius hockt sich neben

mich, ich schiebe die Schüssel zu ihm hin, und für kurze

Zeit arbeiten wir Seite an Seite, für niemanden sichtbar,

und sammeln die Erbsen ein. Einen kurzen Augenblick

lang berühren sich unsere Hände. Unter der butterigen

Soße der Erbsen spüre ich seine raue Haut. In der kurzen,

verzweifelten Verschränkung unserer Finger drücken wir

all die Worte aus, die wir uns niemals werden sagen kön-

nen. Dann gackert Effie hinter mir: »Das ist nicht deine

Aufgabe, Katniss!«, und er lässt los.

Als wir hinübergehen, um uns die Aufzeichnung der

Eröffnungsfeier anzusehen, zwänge ich mich zwischen

Haymitch und Cinna aufs Sofa, ich will nicht neben Pee-

ta sitzen. Das schreckliche Erlebnis mit Darius gehört zu

mir und Gale, vielleicht noch zu Haymitch, aber nicht zu

Peeta. Vielleicht kannte er Darius vom flüchtigen Grüßen,

aber Peeta gehörte nicht auf den Hob wie wir. Abgesehen

davon bin ich immer noch sauer auf ihn, weil er mich

zusammen mit den anderen Siegern ausgelacht hat, und

Mitgefühl und Trost von ihm ist das Letzte, was ich jetzt

möchte. Ich will ihn in der Arena retten, das ja, aber mehr

bin ich ihm nicht schuldig.

311

Es ist ja in normalen Jahren schon schlimm, dass sie

uns in Kostüme stecken und auf Wagen durch die Straßen

ziehen lassen, überlege ich, während ich mir die Prozessi-

on um den Zentralen Platz anschaue. Jugendliche in Kos-

tümen sind schon lächerlich, aber alternde Sieger sind, wie

man sieht, einfach nur bemitleidenswert. Ein paar Jüngere

wie Johanna und Finnick oder solche, deren Körper noch

nicht vom Verfall gezeichnet sind, wie Seeder und Bru-

tus, können immerhin ein wenig Würde wahren. Aber die,

die Opfer von Alkohol, Morfix oder Krankheit sind, und

das sind die meisten, sehen in ihren Kostümen, die Kühe

oder Bäume oder Brotlaibe darstellen, einfach grotesk aus.

Letztes Jahr haben wir uns über jeden Konkurrenten aus-

führlich unterhalten, aber heute fällt nur hier und da mal

ein Kommentar. Kein Wunder, dass die Menge durch-

dreht, als Peeta und ich erscheinen, denn in unseren fan-

tastischen Kostümen sehen wir wahnsinnig jung und stark

und schön aus. Genau so, wie Tribute aussehen sollen.

Sobald die Sendung vorüber ist, stehe ich auf, danke

Cinna und Portia für ihre tolle Arbeit und gehe schlafen.

Effie erinnert noch daran, dass wir uns zeitig zum Früh-

stück treffen wollen, um unsere Trainingsstrategie zu be-

sprechen, aber selbst ihre Stimme klingt hohl. Arme Effie.

Mit Peeta und mir hatte sie endlich mal ein anständiges

312

Jahr bei den Spielen, und jetzt ist alles so durcheinander-

geraten, dass selbst sie das Ganze nicht ins Positive drehen

kann. Und das, nehme ich an, ist für Leute aus dem Kapi-

tol eine echte Tragödie.

Gleich nachdem ich mich hingelegt habe, klopft es lei-

se an meine Tür, aber ich ignoriere es. Ich möchte Peeta

heute Nacht nicht bei mir haben. Schon gar nicht, wenn

Darius in der Nähe ist. Das ist fast so schlimm, als ob

Gale hier wäre. Gale. Wie könnte ich ihn loslassen, wäh-

rend Darius durch die Flure spukt?

In meinen Albträumen sind diesmal Zungen die

Hauptdarsteller. Erst schaue ich starr und hilflos zu, wie

behandschuhte Hände die blutige Amputation in Darius’

Mund ausführen. Dann bin ich auf einer Party, wo alle

Masken tragen und jemand mit einer zuckenden nassen

Zunge – Finnick, nehme ich an – mir nachstellt, doch als

er mich fängt und seine Maske abzieht, ist es Präsident

Snow, und von seinen Wulstlippen tropft blutiger Speichel.

Schließlich bin ich wieder in der Arena, meine Zunge ist

so trocken wie Sandpapier, während ich versuche, einen

Wassertümpel zu erreichen, der jedes Mal, wenn ich ihn

berühren will, zurückweicht.

Ich wache auf, taumele ins Bad, trinke Wasser aus

dem Hahn, bis ich nicht mehr kann. Ich streife die

313

verschwitzten Kleider ab, lasse mich nackt zurück ins Bett

fallen und schlafe irgendwie wieder ein.

Am nächsten Morgen trödele ich so gut es geht, denn

ich habe nicht die geringste Lust, unsere Trainingsstrate-

gie zu besprechen. Was gibt es da zu besprechen? Jeder Sie-

ger weiß doch bereits, was die anderen draufhaben. Oder

mal draufgehabt haben. Peeta und ich werden weiter die

Verliebten spielen, mehr nicht. Irgendwie ist mir nicht da-

nach, darüber zu reden, besonders wenn Darius stumm

dabeisteht. Ich dusche ausgiebig, ziehe gemächlich die

Sachen an, die Cinna mir fürs Training bereitgelegt hat,

und bestelle über eine Sprechanlage von der Speisekarte

Essen aufs Zimmer. Kurz darauf erscheinen Würstchen,

Eier, Bratkartoffeln, Brot, Saft und heiße Schokolade. Ich

esse mich satt und versuche das Ganze bis zehn Uhr in die

Länge zu ziehen, wenn wir hinunter ins Trainingscenter

müssen. Um halb zehn wummert ein offenbar stinksaurer

Haymitch gegen die Tür und befiehlt mir, in den Spei-

sesaal zu kommen, und zwar SOFORT! Aber ich putze

mir erst noch gemächlich die Zähne, bevor ich mich auf-

mache, den Flur hinunterzuschlendern, womit ich weitere

fünf Minuten schinde.

Der Speisesaal ist leer bis auf Peeta und Haymitch, des-

sen Gesicht von Alkohol und Ärger gerötet ist. Am Arm

314

trägt er einen massiv goldenen Armreif mit Flammenmus-

ter, den er unglücklich dreht – das muss sein Beitrag zu

Effies Partnerlook-Plan sein. Ein wirklich hübscher Arm-

reif, aber die Bewegung lässt ihn so aussehen wie etwas,

das einengt, eher eine Fessel als ein Schmuckstück. »Du

kommst zu spät«, schnauzt Haymitch mich an.

»Tut mir leid. Ich hab verschlafen, nachdem ich die

halbe Nacht von verstümmelten Zungen geträumt habe.«

Ich möchte feindselig klingen, doch am Ende des Satzes

stockt meine Stimme.

Haymitch wirft mir einen finsteren Blick zu, dann

lenkt er ein. »Okay, macht nichts. Heute beim Training

hast du zwei Aufgaben. Nummer eins: verliebt sein.«

»Natürlich«, sage ich.

»Nummer zwei: Freundschaften schließen«, fährt Hay-

mitch fort.

»Nein«, sage ich. »Ich traue keinem von denen, die

meisten kann ich nicht ausstehen. Ich würde mich lieber

nur auf uns beide verlassen.«

»Das habe ich auch erst gesagt, aber …«, hebt Peeta an.

»Aber das wird nicht reichen«, sagt Haymitch mit Nach-

druck. »Diesmal werdet ihr mehr Verbündete brauchen.«

»Warum?«, frage ich.

»Weil ihr im Nachteil seid. Eure Konkurrenten kennen

315

einander seit Jahren. Was glaubst du also, wen werden sie

als Erste ins Visier nehmen?«, fragt er.

»Uns. Und gegen alte Freundschaften kommen wir so-

wieso nicht an«, sage ich. »Warum also einen Gedanken

darauf verschwenden?«

»Weil ihr kämpfen könnt. Die Leute mögen euch. Das

könnte euch durchaus zu erstrebenswerten Verbünde-

ten machen. Aber nur, wenn ihr den anderen zeigt, dass

ihr bereit seid, euch mit ihnen zusammenzutun«, sagt

Haymitch.

»Wir sollen dieses Jahr also mit der Meute der Karrie-

ros gemeinsame Sache machen?«, frage ich und kann mei-

nen Widerwillen nicht verhehlen. Traditionell schließen

sich die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 zusammen,

nehmen manchmal noch ein paar herausragende Kämpfer

von den anderen in ihren Kreis auf und machen Jagd auf

die Schwächeren.

»War das nicht unsere Strategie? Zu trainieren wie die

Karrieros?«, entgegnet Haymitch. »Und wer zur Meute

der Karrieros gehört, das wird normalerweise schon vor

Beginn der Spiele ausgemacht. Letztes Jahr hat Peeta es

nur mit Ach und Krach noch geschafft, aufgenommen zu

werden.«

Ich erinnere mich gut, welchen Abscheu ich bei den

316

letzten Spielen empfand, als ich mitbekam, dass Peeta mit

den Karrieros gemeinsame Sache machte. »Wir sollen uns

also mit Finnick und Brutus gut stellen – willst du das

sagen?«

»Nicht unbedingt. Alle dort sind Sieger. Wenn ihr es

für richtig haltet, könnt ihr auch eure eigene Meute zu-

sammenstellen. Nehmt, wen ihr wollt. Ich schlage Chaff

und Seeder vor. Und Finnick sollte man auch nicht außer

Acht lassen«, sagt Haymitch. »Tut euch mit denen zusam-

men, die euch nützlich sein können. Vergesst nicht, ihr

seid nicht mehr Teil einer bibbernden Kinderschar. Diese

Leute sind allesamt erfahrene Killer, auch wenn sie nicht

so aussehen.«

Möglicherweise hat er recht. Nur, wem könnte ich

trauen? Seeder vielleicht. Aber möchte ich mit ihr wirklich

einen Pakt schließen, nur um sie später womöglich töten

zu müssen? Nein. Obwohl, mit Rue habe ich mich damals

unter den gleichen Umständen auch verbündet. Ich sage

Haymitch, dass ich es versuchen werde, doch insgeheim

denke ich, dass ich dabei ziemlich schlecht aussehen werde.

Effie erscheint ein bisschen früher, um uns nach un-

ten zu bringen, denn im vergangenen Jahr waren wir die

Letzten, obwohl wir pünktlich kamen. Aber Haymitch

möchte nicht, dass sie mit uns hinunter in die Turnhalle

317

fährt. Keiner der anderen Sieger wird in Begleitung eines

Babysitters erscheinen, und da wir die Jüngsten sind, ist es

umso wichtiger, selbstsicher aufzutreten. So muss sie sich

damit zufriedengeben, uns zum Aufzug zu begleiten und

den Knopf zu drücken, während sie sich über unsere Fri-

suren aufregt.

Die Fahrt ist so kurz, dass keine Zeit für eine Unterhal-

tung bleibt, doch als Peeta meine Hand nimmt, ziehe ich

sie nicht weg. Gestern Nacht habe ich ihn zurückgewiesen,

aber beim Training müssen wir als Einheit auftreten.

Effie hätte sich gar keine Sorgen machen müssen, dass

wir zu spät kommen. Nur Brutus und Enobaria, die Frau

aus Distrikt 2, sind da. Enobaria ist um die dreißig, und

ich weiß über sie nur noch, dass sie in einem Handgemen-

ge einen Tribut getötet hat, indem sie ihm mit den Zähnen

die Kehle aufgerissen hat. Dadurch wurde sie so berühmt,

dass sie sich nach ihrem Sieg die Zähne neu machen ließ.

Sie laufen jetzt alle spitz zu wie Reißzähne und haben ein

Goldinlay. Über fehlende Bewunderer im Kapitol kann

Enobaria sich nicht beklagen.

Um zehn Uhr ist erst etwa die Hälfte der Tribute da.

Atala, die das Training leitet, lässt sich davon nicht be-

eindrucken und beginnt pünktlich mit ihrer Ansprache.

Vielleicht hatte sie schon damit gerechnet, dass viele nicht

318

auftauchen würden. Ich bin irgendwie erleichtert, denn

das bedeutet, dass ein Dutzend weniger Leute da ist, de-

nen ich Freundschaft vorheucheln muss. Atala geht die

einzelnen Stationen mit den Kampf- und Überlebenstech-

niken durch und entlässt uns ins Training.

Ich schlage Peeta vor, dass wir uns aufteilen, um auf

breiterer Front vorzugehen. Er gesellt sich zu Brutus und

Chaff, gemeinsam schleudern sie Speere, während ich zur

Knotenstation gehe.

Kaum jemand macht sich je die Mühe, dort vorbeizu-

schauen. Ich mag den Trainer, und er ist beglückt, mich

zu sehen, vielleicht weil ich letztes Jahr schon bei ihm

war. Er freut sich, als ich ihm zeige, dass ich immer noch

die Falle beherrsche, durch die der gefangene Feind an

einem Bein von einem Baum baumelt. Bestimmt hat er

mitbekommen, welche Fallen ich letztes Jahr in der Arena

gestellt habe, und sieht in mir nun eine fortgeschrittene

Schülerin. Deshalb bitte ich ihn, alle Knoten zu wieder-

holen, die nützlich sein könnten, sowie ein paar, die ich

wahrscheinlich nie anwenden werde. Ich wäre froh, wenn

ich den Vormittag mit ihm allein verbringen könnte, aber

nach anderthalb Stunden legt mir jemand von hinten die

Arme um und vollendet mit seinen Fingern mühelos den

komplizierten Knoten, mit dem ich mich gerade abgemüht

319

habe. Finnick natürlich, der in seiner Kindheit offenbar

nichts anderes getan hat, als Dreizacke zu schwingen und

Schnüre auf raffinierte Weise zu Netzen zu verknoten.

Eine Weile schaue ich zu, wie er ein Tauende nimmt, eine

Schlinge macht und dann mir zu Gefallen so tut, als wür-

de er sich erhängen.

Ich verdrehe die Augen und gehe weiter zur nächsten

leeren Station, wo die Tribute lernen können, wie man

Feuer macht. Ich kann schon hervorragend Feuer ma-

chen, aber nicht ohne Streichhölzer. Deshalb lässt mich

der Trainer mit Feuerstein, Stahl und verkohlten Lumpen

üben. Das ist viel schwerer, als es aussieht, und obwohl

ich so konzentriert wie möglich arbeite, brauche ich eine

Stunde, bis ich ein Feuer in Gang habe. Als ich mit tri-

umphierendem Lächeln aufschaue, stelle ich fest, dass ich

Gesellschaft bekommen habe.

Die beiden Tribute aus Distrikt 3 stehen neben mir,

mühen sich mit Streichhölzern ab und entfachen doch nur

ein bescheidenes Feuerchen. Am liebsten würde ich weiter-

gehen, aber erstens möchte ich zu gern noch mal den Feu-

erstein ausprobieren, und außerdem muss ich Haymitch

nachher ja berichten können, dass ich versucht habe, mich

anzufreunden, und die zwei scheinen erträglich zu sein.

Beide sind klein, haben aschgraue Haut und schwarzes

320

Haar. Wiress, die Frau, ist etwa so alt wie meine Mutter,

sie spricht mit ruhiger, intelligenter Stimme. Aber mir fällt

sofort auf, dass sie oft mitten im Satz abbricht, als ob sie

die Anwesenheit ihres Gegenübers völlig vergessen hätte.

Beetee, der Mann, ist älter und ein unruhiger Typ. Er trägt

eine Brille, guckt aber die ganze Zeit drunter durch. Die

beiden sind irgendwie schräg, doch immerhin kann ich

bei ihnen ziemlich sicher sein, dass sie mir die Peinlichkeit

ersparen werden, sich nackt auszuziehen. Und außerdem

sind sie aus Distrikt 3. Vielleicht können sie meine Vermu-

tung bestätigen, dass es dort einen Aufstand gegeben hat.

Ich sehe mich im Trainingscenter um. Peeta steht in-

mitten einer lärmenden Runde von Messerwerfern. Die

Morfixer aus Distrikt 6 befinden sich an der Tarnstation

und bemalen einander die Gesichter mit hellrosa Kringeln.

Der männliche Tribut aus Distrikt 5 ist bei den Schwert-

kämpfern und erbricht gerade einen Schwall Wein. Fin-

nick und die alte Frau aus seinem Distrikt üben sich im

Bogenschießen. Johanna Mason ist wieder nackt und reibt

sich für die Ringerübung die Haut mit Öl ein. Ich be-

schließe zu bleiben, wo ich bin.

Wiress und Beetee entpuppen sich als unaufdringli-

che Zeitgenossen. Sie wirken freundlich, horchen mich

aber nicht aus. Wir unterhalten uns über unsere Talente;

321

sie erzählen, dass sie beide Erfinder sind, was mein ver-

meintliches Interesse an Mode ziemlich schwach erschei-

nen lässt. Wiress erwähnt irgendein Nähutensil, an dem

sie gerade tüftelt.

»Es spürt selbstständig die Dicke des Stoffes und wählt

danach die Stärke …«, sagt sie, doch bevor sie weiter-

sprechen kann, wird sie von einem trockenen Grashalm

abgelenkt.

»… die Stärke des Fadens«, führt Beetee die Erläute-

rung zu Ende. »Automatisch. Menschliches Versagen aus-

geschlossen.« Dann spricht er über seinen jüngsten Erfolg,

einen Musikchip, der so klein ist, dass er Platz in einer

Glitzerpaillette hat und trotzdem mehrere Stunden Musik

speichern kann. Ich erinnere mich, dass Octavia während

der Hochzeitsaufnahmen davon gesprochen hat, und ich

sehe eine Chance, auf den Aufstand anzuspielen.

»Oh ja. Mein Vorbereitungsteam war vor ein paar Mo-

naten ganz sauer darüber, dass sie nicht mehr zu kriegen

waren«, sage ich beiläufig. »Ich schätze, eine Menge Bestel-

lungen aus Distrikt 3 mussten warten.«

Beetee mustert mich unter seiner Brille hindurch. »Al-

lerdings. Hattet ihr in der Kohleförderung dieses Jahr

auch solche Verzögerungen?«, fragt er.

»Nein. Wir haben nur ein paar Wochen verloren, als wir

322

einen neuen Obersten Friedenswächter samt Mannschaft

bekommen haben, aber nichts Gravierendes«, sage ich.

»Was die Produktion betrifft, meine ich. Zwei Wochen zu

Hause herumzusitzen und nichts zu tun, bedeutet für die

meisten Leute allerdings, zwei Wochen zu hungern.«

Ich glaube, sie verstehen, was ich sagen will. Dass es

bei uns keinen Aufstand gegeben hat. »Oh. Das ist aber

schade«, sagt Wiress leicht enttäuscht. »Ich fand euren Di-

strikt sehr …« Sie verstummt, abgelenkt von irgendeinem

Gedanken.

»… interessant«, ergänzt Beetee. »Fanden wir beide.«

Ich bin etwas betreten, denn ich weiß, dass ihr Distrikt

viel mehr gelitten haben muss als unserer. Ich fühle mich ge-

nötigt, meine Leute in Schutz zu nehmen. »Wisst ihr, wir sind

nicht viele in Distrikt 12«, sage ich. »Das kann man heutzu-

tage ja nicht mehr an der Truppenstärke der Friedenswächter

erkennen. Aber ich glaube, wir sind interessant genug.«

Als wir zur Schutzstation hinübergehen, bleibt Wiress

stehen und sieht hoch zu den Tribünen, auf denen die

Spielmacher herumschlendern, essen und trinken und

manchmal auch zu uns herunterschauen. »Guck mal«,

sagt sie und nickt sachte in ihre Richtung. Ich schaue

auf und sehe Plutarch Heavensbee in seinem prächtigen

purpurfarbenen Gewand mit dem Pelzkragen, das ihn als

323

Obersten Spielmacher kennzeichnet. Er nagt an einem

Truthahnbein.

Ich weiß zwar nicht, weshalb das der Erwähnung wert

ist, aber ich sage trotzdem: »Ja, er ist dieses Jahr zum

Obersten Spielmacher befördert worden.«

»Nein, nein. Da, an der Tischecke. Du kannst es gera-

de noch …«, sagt Wiress.

Beetee schielt unter seiner Brille hindurch. »…

erkennen.«

Ratlos starre ich in die angegebene Richtung. Aber dann

sehe ich es. An der Ecke des Tisches ist ein Fleck, der fast

zu vibrieren scheint, etwa fünfzehn Quadratzentimeter

groß. Als würde sich die Luft in winzigen sichtbaren Wel en

kräuseln und dabei die scharfen Kanten des Holzes und das

Weinglas verzerren, das jemand dort abgestel t hat.

»Ein Kraftfeld. Sie haben ein Kraftfeld zwischen den

Spielmachern und uns installiert. Ich frage mich, wes-

halb«, sagt Beetee.

»Wegen mir wahrscheinlich«, gestehe ich. »Letztes Jahr

habe ich während meiner Einzelstunde einen Pfeil auf sie

abgeschossen.« Beetee und Wiress schauen mich neugierig

an. »Sie haben mich provoziert. Haben denn alle Kraftfel-

der so einen Fleck?«

»Punkt«, sagt Wiress vage.

324

»Einen wunden Punkt gewissermaßen«, erklärt Beetee.

»Im Idealfall wäre das Kraftfeld unsichtbar, nicht wahr?«

Ich würde gern noch mehr darüber erfahren, doch da

werden wir zum Mittagessen gerufen. Ich suche Peeta,

aber er hat sich einer Gruppe von ungefähr zehn Siegern

angeschlossen, deshalb beschließe ich, mit Distrikt 3 zu

essen. Vielleicht stößt Seeder ja noch dazu.

Als wir in den Speisesaal kommen, wird deutlich, dass

ein paar aus Peetas Gruppe etwas anderes vorhaben. Sie

schieben die kleinen Tische zu einer großen Tafel zusam-

men, sodass wir alle zusammen essen müssen. Jetzt bin ich

aufgeschmissen. Schon in der Schule habe ich es immer

vermieden, an einem voll besetzten Tisch zu essen. Wahr-

scheinlich hätte ich immer allein gesessen, wäre nicht Ma-

dge dazu übergegangen, sich zu mir zu setzen. Am liebsten

hätte ich wohl mit Gale gegessen, aber er war zwei Klassen

über mir und wir hatten unterschiedliche Pausenzeiten.

Ich nehme ein Tablett und gehe an den mit Essen bela-

denen Wagen entlang, die ringsum stehen. Beim Eintopf

gesellt sich Peeta zu mir. »Wie läuft’s?«

»Gut. Prima. Die Sieger aus Distrikt 3 finde ich nett«,

sage ich. »Wiress und Beetee.«

»Wirklich?«, fragt er. »Die anderen machen sich über sie

lustig.«

325

»Wieso überrascht mich das nicht?«, sage ich. Ich er-

innere mich daran, dass Peeta in der Schule immer mit

einer Schar Freunde herumhing. Komisch, dass er mich

überhaupt wahrgenommen hat außer als irgendwie

merkwürdig.

»Johanna nennt sie nur Plus und Minus«, sagt er. »Ich

glaube, Wiress ist Plus und Beetee ist Minus.«

»Aha, ich bin also blöd, weil ich glaube, dass sie nütz-

lich sein können. Wegen irgendeines Spruchs, den Johan-

na Mason von sich gegeben hat, während sie ihre Brüste

fürs Ringen eingeölt hat«, entgegne ich scharf.

»Ich glaube, ehrlich gesagt, diese Spitznamen tragen sie

schon seit Jahren. Und ich hab’s nicht als Beleidigung ge-

meint. Ich gebe nur Informationen weiter«, sagt er.

»Wiress und Beetee sind schlau. Sie sind Erfinder. Sie

erkennen mit bloßem Auge, dass zwischen uns und den

Spielmachern ein Kraftfeld installiert wurde. Wenn wir

schon Verbündete brauchen, dann möchte ich sie.« Ich

werfe den Schöpflöffel zurück in den Topf und spritze uns

beide mit Suppe voll.

»Wieso bist du so sauer?«, fragt Peeta, während er sich

die Suppe vom T-Shirt wischt. »Weil ich dich im Aufzug

geneckt habe? Das tut mir leid. Ich dachte, du würdest

darüber lachen.«

326

»Vergiss es«, sage ich und schüttele den Kopf. »Es hat

viele Gründe.«

»Darius«, sagt er.

»Darius. Die Spiele, Haymitch, der meint, wir mussten

uns mit anderen verbünden«, sage ich.

»Wir beide allein ginge auch, das weißt du«, sagt er.

»Ich weiß. Vielleicht hat Haymitch ja auch recht«, sage

ich. »Sag’s ihm bitte nicht weiter, aber was die Spiele anbe-

langt, hat er eigentlich immer recht.«

»Na ja, du kannst ja das letzte Wort haben, was unse-

re Verbündeten betrifft. Ich für meinen Teil gehe jetzt zu

Chaff und Seeder«, sagt Peeta.

»Seeder ist genehmigt, Chaff nicht«, sage ich. »Zumin-

dest noch nicht.«

»Komm und iss mit ihm. Ich verspreche, ich werde ver-

hindern, dass er dich noch mal küsst«, sagt Peeta.

Beim Mittagessen macht Chaff gar keinen schlechten

Eindruck. Er ist nüchtern. Er spricht zwar zu laut und

reißt dauernd schlechte Witze, aber die meisten gehen auf

seine Kosten. Ich begreife, warum er Haymitch mit sei-

nen düsteren Gedanken guttut. Aber ich weiß noch nicht

recht, ob ich bereit bin, mich mit ihm zu verbünden.

Ich bemühe mich, geselliger zu sein, nicht nur, was

Chaff betrifft, sondern gegenüber der ganzen Gruppe.

327

Nach dem Essen gehe ich an die Essbare-Insekten-Station,

wo schon die Tribute aus Distrikt 8 stehen: Cecelia, die

drei Kinder zu Hause hat, und Woof, ein alter Bursche,

der schwerhörig ist und offenbar nicht recht weiß, worum

es hier geht, denn er versucht, sich giftige Käfer in den

Mund zu stopfen. Ich würde gern meine Begegnung mit

Bonnie und Twill in den Wäldern erwähnen, aber ich

weiß nicht, wie. Cashmere und Gloss, das Geschwister-

paar aus Distrikt 1, winken mich zu sich, und wir flechten

eine Weile Hängematten. Die beiden sind höflich, aber

kühl, und ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich

letztes Jahr Glimmer und Marvel, die beiden Tribute aus

ihrem Distrikt, getötet habe.

Wahrscheinlich kannten sie sie, vielleicht waren sie

sogar ihre Mentoren. Sowohl meine Hängematte als

auch mein Versuch, Kontakt herzustellen, gelingen mehr

schlecht als recht. Ich gehe zu Enobaria beim Schwert-

kampf, wir wechseln ein paar Bemerkungen, doch es ist

offensichtlich, dass sich keine mit der anderen verbün-

den will. Ich bekomme gerade Tipps zum Fischen, als

Finnick wieder auftaucht, aber diesmal möchte er mir

einfach nur Mags vorstellen, die ältere Frau, die wie er

aus Distrikt 4 stammt. Wegen ihres Distriktakzents und

ihrer brabbeligen Aussprache – vermutlich hat sie einen

328

Schlaganfall hinter sich – verstehe ich nur ein Viertel von

dem, was sie sagt. Aber dafür kann sie buchstäblich aus

allem Angelhaken herstellen – aus Dornen, dem Schlüs-

selbein eines Vogels, einem Ohrring. Nach einer Weile

höre ich nicht mehr auf das, was der Trainer sagt, son-

dern versuche nur noch nachzumachen, was Mags tut.

Als ich aus einem krummen Nagel einen ordentlichen

Haken fabriziere und ihn an eine Schnur aus Strähnen

meiner Haare binde, schenkt sie mir ein zahnloses Lä-

cheln und einen unverständlichen Kommentar, mög-

licherweise ein Lob. Plötzlich fällt mir wieder ein, wie

sie sich anstelle der hysterischen jungen Frau aus ihrem

Distrikt freiwillig gemeldet hat. Bestimmt nicht, weil sie

sich Chancen ausgerechnet hat, die Spiele zu gewinnen.

Sie wollte das Mädchen retten, so wie ich mich letztes

Jahr gemeldet habe, um Prim zu retten. Ich beschließe,

dass Mags zu meinem Team gehören soll.

Großartig. Jetzt muss ich Haymitch sagen, dass ich

eine Achtzigjährige sowie Plus und Minus als Verbündete

haben will. Das findet er bestimmt toll.

Ich geb’s auf, Freunde finden zu wollen, und gehe zur

Erholung hinüber zum Bogenschießstand. Es ist wunder-

bar, all die verschiedenen Bogen und Pfeile auszuprobie-

ren. Als Tax, der Trainer, merkt, dass stehende Ziele für

329

mich keine Herausforderung sind, wirft er Stoffvögel hoch

in die Luft, und ich muss sie abschießen. Erst kommt

mir das albern vor, aber dann macht es doch Spaß. So-

gar mehr, als ein Lebewesen zu jagen. Da ich alles treffe,

was er hochwirft, beginnt er mehrere Vögel gleichzeitig zu

werfen. Ich vergesse die Turnhalle um mich herum und

die Sieger und mein Unglück und gebe mich ganz dem

Schießen hin. Als ich fünf Vögel auf einmal abschieße,

wird es um mich herum so ruhig, dass ich höre, wie sie

einzeln auf dem Boden aufschlagen. Ich drehe mich um

und sehe, dass fast alle Sieger ihr Treiben unterbrochen

haben und mir zuschauen. In ihren Gesichtern spiegelt

sich alles, von Neid über Hass bis zu Bewunderung.

Nach dem Training lungern Peeta und ich herum und

warten, dass Haymitch und Effie erscheinen. Als wir zum

Abendessen gerufen werden, stürzt sich Haymitch sofort

auf mich. »Mindestens die Hälfte der Sieger hat ihre Men-

toren angewiesen, dich als Wunschverbündete anzugeben.

Kann mir nicht vorstellen, dass es wegen deines sonnigen

Wesens ist.«

»Sie haben sie schießen gesehen«, sagt Peeta lächelnd.

»Und ich habe sie auch zum ersten Mal richtig schießen

gesehen. Ich trage mich mit dem Gedanken, ebenfalls ei-

nen förmlichen Antrag zu stellen.«

330

»Bist du wirklich so gut?«, fragt Haymitch mich. »So

gut, dass Brutus dich will?«

Ich zucke die Schultern. »Aber ich will Brutus nicht.

Ich will Mags und die beiden aus Distrikt 3.«

»Das war ja klar«, seufzt Haymitch und bestellt eine

Flasche Wein. »Ich werde allen sagen, du überlegst noch.«

Nach meiner Schießdarbietung kommt nur noch hier

und da mal eine Stichelei, aber ich fühle mich nicht mehr

verspottet. Es kommt mir vor, als wäre ich erst jetzt in den

Kreis der Sieger aufgenommen worden. An den folgenden

beiden Tagen verbringe ich viel Zeit mit fast jedem, der

in die Arena muss. Sogar mit den Morfixern, die mich

mit Peetas Hilfe anmalen und in ein Feld aus gelben Blu-

men verwandeln. Sogar mit Finnick, der mir im Tausch

für eine Stunde Bogenschießen eine Stunde lang beibringt,

wie man mit dem Dreizack umgeht. Und je besser ich

diese Leute kennenlerne, desto schlimmer wird es. Denn

ich hasse sie ja nicht. Manche mag ich sogar. Und viele

sind so lädiert, dass ich sie eigentlich instinktiv beschüt-

zen möchte. Aber sie alle müssen sterben, damit ich Peeta

retten kann.

Der letzte Tag des Trainings endet mit unseren Einzel-

stunden. Jeder hat fünfzehn Minuten, um die Spielmacher

mit seinen Fähigkeiten für sich einzunehmen, aber ich

331

weiß nicht, was wir ihnen zeigen könnten. Beim Mittages-

sen machen wir uns darüber lustig. Darüber, was wir tun

könnten. Singen, tanzen, strippen, Witze erzählen. Mags,

die ich jetzt ein bisschen besser verstehe, meint, sie werde

einfach ein Nickerchen halten. Ich weiß nicht, was ich tun

werde. Ein paar Pfeile abschießen, schätze ich mal. Hay-

mitch hat gesagt, dass wir sie möglichst überraschen sollen,

nur fällt mir absolut nichts ein.

Ich bin das Mädchen aus Distrikt 12 und deshalb kom-

me ich als Letzte dran. Je mehr Tribute zu ihrem Auftritt

gerufen werden, desto stiller wird es im Speisesaal. Zu

mehreren fällt es leichter, respektlos und unbesiegbar zu

wirken, wie wir es uns alle angewöhnt haben. Bei jedem,

der durch die Tür geht, denke ich unwillkürlich, dass er

höchstens noch ein paar Tage zu leben hat.

Schließlich sind nur noch Peeta und ich übrig. Er fasst

über den Tisch meine Hände. »Hast du dich schon ent-

schieden, was du den Spielmachern zeigen willst?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich kann sie nicht noch ein-

mal als Zielscheibe benutzen, wegen des Kraftfelds. Viel-

leicht bastele ich ein paar Angelhaken. Und du?«

»Keine Ahnung. Ich wünsche mir die ganze Zeit, ich

könnte einen Kuchen backen oder so was«, sagt er.

»Mach was mit Tarnung«, schlage ich vor.

332

»Falls die Morfixer mir etwas übrig gelassen haben«,

sagt er spöttisch. »Das ganze Training über sind sie an die-

ser einen Station geblieben wie festgeklebt.«

Wir sitzen eine Weile still da, dann platze ich mit der

Sache heraus, die uns beiden auf der Seele liegt. »Wie sol-

len wir es nur anstellen, diese Leute zu töten, Peeta?«

»Ich weiß es nicht.« Er legt die Stirn auf unsere um-

schlungenen Hände.

»Ich will sie nicht als Verbündete haben. Warum woll-

te Haymitch, dass wir sie kennenlernen?«, sage ich. »Das

wird es viel schwieriger machen als beim letzten Mal. Rue

einmal ausgenommen. Aber ich glaube, sie hätte ich so-

wieso nie töten können. Sie war Prim einfach zu ähnlich.«

Peeta schaut zu mir hoch, die Brauen nachdenklich zu-

sammengezogen. »Ihr Tod war der abscheulichste, nicht

wahr?«

»Keiner war besonders schön«, sage ich und muss an

Glimmers und Catos Ende denken.

Dann wird Peeta hereingerufen und ich warte ganz al-

lein. Fünfzehn Minuten vergehen, eine halbe Stunde. Erst

nach fast vierzig Minuten werde ich aufgerufen.

Als ich hineinkomme, nehme ich den scharfen Geruch

von Putzmittel wahr und bemerke, dass eine der Matten

in die Mitte des Raums gezogen wurde. Die Stimmung ist

333

ganz anders als letztes Jahr, als die Spielmacher halb be-

trunken und eigentlich nur damit beschäftigt waren, Le-

ckerbissen vom Büfett zu picken. Sie flüstern miteinander

und wirken leicht ungehalten. Was hat Peeta getan? Hat er

sie gegen sich aufgebracht?

Plötzlich mache ich mir Sorgen. Das ist nicht gut. Ich

möchte nicht, dass Peeta den Zorn der Spielmacher auf

sich zieht. Das ist meine Aufgabe. Peeta aus der Schusslinie

zu bringen. Aber womit hat er sie bloß gegen sich aufge-

bracht? Ich würde es ihm gern gleichtun, und noch mehr.

Die selbstgefällige Fassade dieser Leute durchbrechen, die

ihren Grips darauf verwenden, sich amüsante Todesarten

für uns auszumalen. Ihnen klarzumachen, dass nicht nur

wir den Grausamkeiten des Kapitols schutzlos ausgesetzt

sind, sondern auch sie selbst.

Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich euch has-

se?, denke ich. Euch, die ihr eure Talente in den Dienst der

Spiele stel t?

Ich versuche, Plutarch Heavensbee in die Augen zu

schauen, aber er scheint mich genauso demonstrativ zu

ignorieren wie während der ganzen Trainingsphase schon.

Mir fällt ein, wie er mich zum Tanzen aufgefordert hat,

wie erfreut er war, als er mir den Spotttölpel auf seiner

Uhr zeigte. Für derartige Freundlichkeiten ist hier kein

334

Platz. Wie auch, schließlich bin ich ein einfacher Tribut

und er ist der Oberste Spielmacher. So mächtig, so uner-

reichbar, so sicher …

Plötzlich weiß ich, was ich tun werde. Etwas, das al-

les, was Peeta getan haben mag, in den Schatten stellen

wird. Ich gehe zur Knotenstation und nehme ein Seil. Ich

versuche mich an einem bestimmten Knoten, aber es ist

schwer, denn diesen Knoten habe ich noch nie selbst ge-

macht. Ich habe nur ein Mal Finnicks geschickten Fin-

gern dabei zugeschaut, und damals ist alles so schnell

gegangen. Nach zehn Minuten habe ich dann aber doch

eine passable Schlinge zustande gebracht. Ich befestige

sie an einer Klimmzugstange, ziehe eine der Zielpuppen

in die Mitte des Raums, hebe sie hoch und lege ihr die

Schlinge um den Hals, sodass sie an der Stange herunter-

baumelt. Ich könnte ihr jetzt noch die Hände auf den Rü-

cken binden, das wäre ein nettes Detail, aber dafür wird

die Zeit vielleicht zu knapp. Ich renne zur Tarnstation, wo

irgendwelche Tribute, bestimmt die Morfixer, eine Riesen-

sauerei veranstaltet haben. Trotzdem finde ich noch einen

angebrochenen Behälter mit blutrotem Beerensaft, der für

meine Zwecke vollkommen ausreicht. Der fleischfarbene

Stoff der Puppenhaut bildet eine gute, aufnahmefähige

Leinwand. Sorgfältig und so, dass die Spielmacher es nicht

335

sehen können, male ich mit den Fingern zwei Wörter auf

den Puppenkörper. Dann trete ich rasch beiseite, um die

Reaktion in den Gesichtern der Spielmacher zu beobach-

ten, als sie den Namen auf der Puppe lesen.

SENECA CRANE.

336

17 Die Wirkung auf die Spielmacher ist

prompt und zufriedenstellend. Einige

stoßen spitze Schreie aus. Anderen fällt das Weinglas aus

der Hand und zerschellt mit Getöse auf dem Boden. Zwei

scheinen in Ohnmacht fallen zu wollen. Allenthalben er-

schrockene Gesichter.

Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit von Plutarch Hea-

vensbee. Während ihm der Saft des Pfirsichs, den er in

der Hand zerquetscht hat, durch die Finger rinnt, starrt er

mich schweigend an. Schließlich räuspert er sich und sagt:

»Sie können jetzt gehen, Miss Everdeen.«

Ich nicke ehrerbietig und wende mich zum Gehen,

doch dann kann ich nicht widerstehen und werfe die Dose

mit dem Beerensaft hinter mich. Ich höre, wie der Inhalt

gegen die Puppe klatscht, während weitere Weingläser

zerschellen. Kurz bevor sich die Tür des Aufzugs schließt,

sehe ich gerade noch, dass niemand sich gerührt hat.

Damit haben sie nicht gerechnet, denke ich. Es war unüber-

legt und gefährlich und zweifel os werde ich zehnfach und

mehr dafür bezahlen müssen. Doch für den Augenblick emp-

finde ich fast so etwas wie Euphorie und genieße es einfach.

337

Ich möchte sofort zu Haymitch und ihm von meiner

Einzelstunde erzählen, aber es ist niemand da. Vermutlich

machen sie sich al e fürs Abendessen zurecht, also beschlie-

ße ich, auch zu duschen, denn meine Hände kleben von

dem Saft. Unter dem Wasserstrahl überlege ich, ob es klug

war, was ich da eben gemacht habe. Mein Handeln sol te

jetzt eigentlich immer von der Frage geleitet werden: »Hel-

fe ich damit Peeta, am Leben zu bleiben?« Für diese Akti-

on trifft das wohl nicht zu, wenn auch indirekt. Was beim

Training geschieht, ist streng geheim, und wenn niemand

erfährt, was ich angestel t habe, gibt es auch keinen Grund,

gegen mich vorzugehen. Letztes Jahr wurde ich für meine

Dreistigkeit sogar belohnt. Doch das hier ist eine Art Ver-

brechen. Wenn die Spielmacher wütend auf mich sind und

beschließen, mich in der Arena zu bestrafen, könnte auch

Peeta davon betroffen sein. Viel eicht war ich zu impulsiv.

Trotzdem … ich kann nicht behaupten, dass ich es bereue.

Als wir uns alle zum Abendessen versammeln, sehe ich

Farbflecken auf Peetas Händen, obwohl seine Haare noch

feucht sind vom Duschen. Anscheinend hat er doch ir-

gendeine Tarnung vorgeführt. Als die Suppe serviert wird,

spricht Haymitch direkt an, was alle beschäftigt. »Und,

wie ist eure Einzelstunde gelaufen?«

Ich tausche einen Blick mit Peeta. Irgendwie bin ich

338

nicht so scharf darauf, das, was ich getan habe, in Worte

zu fassen. In der Stille des Speisesaals wirkt es so ungeheu-

erlich. »Du zuerst«, sage ich. »Das muss ja wirklich was

Besonderes gewesen sein. Ich musste vierzig Minuten war-

ten, bis ich reindurfte.«

Peeta wirkt ebenso unwillig wie ich. »Also, ich … ich

hab diese Tarnungsnummer vorgeführt, wie du vorge-

schlagen hast, Katniss.« Er zögert. »Tarnung ist vielleicht

nicht das richtige Wort. Ich meine, ich hab was mit Far-

ben gemacht.«

»Und was?«, fragt Portia.

Mir fällt wieder ein, wie ungehalten die Spielmacher

wirkten, als ich zu meiner Einzelstunde in die Turnhalle

kam. Der Geruch nach Putzmittel. Die Matte über dem

Fleck in der Mitte der Turnhalle. Wollten sie damit etwas

verdecken, was sich nicht entfernen ließ? »Du hast was ge-

malt, oder? Ein Bild.«

»Hast du es gesehen?«, fragt Peeta.

»Nein. Aber sie haben sich große Mühe gegeben, es zu

verdecken«, sage ich.

»Das ist ja nichts Besonderes. Kein Tribut darf erfah-

ren, was die anderen gemacht haben«, sagt Effie unbeein-

druckt. »Was hast du gemalt, Peeta?« Ihr Blick wird weich.

»Ein Bild von Katniss?«

339

»Wieso sollte er ein Bild von mir malen, Effie?«, frage

ich leicht verärgert.

»Um zu zeigen, dass er alles Menschenmögliche tun

wird, um dich zu beschützen. Das erwarten sowieso alle

im Kapitol. Hat er sich nicht freiwillig gemeldet, um mit

dir in die Arena zu gehen?«, sagt Effie, als wäre es das Of-

fensichtlichste auf der Welt.

»Ich habe aber ein Bild von Rue gemalt«, sagt Peeta.

»Wie sie aussah, als Katniss sie mit Blumen bedeckt hatte.«

Am Tisch bleibt es lange still, während alle die Worte

verdauen.

»Und was genau wolltest du damit bezwecken?«, fragt

Haymitch, der sich nur mit Mühe beherrschen kann.

»Ich weiß nicht recht. Ich wollte sie zur Verantwortung

ziehen, und sei es nur für einen Augenblick«, sagt Peeta.

»Dafür, dass sie das kleine Mädchen ermordet haben.«

»Das ist entsetzlich.« Effie hört sich so an, als würde sie

gleich anfangen zu weinen. »So zu denken … das ist ver-

boten, Peeta. Absolut. Damit bringst du dich und Katniss

nur in Schwierigkeiten.«

»Da muss ich Effie zustimmen«, sagt Haymitch. Portia

und Cinna schweigen, aber ihre Gesichter sind todernst.

Natürlich haben sie recht. Doch obwohl es mich mit Sorge

erfül t – ich finde das, was Peeta getan hat, bewundernswert.

340

»Wahrscheinlich ist das jetzt kein guter Moment zu

erwähnen, dass ich eine Puppe erhängt und den Namen

Seneca Cranes daraufgeschrieben habe«, sage ich. Meine

Worte haben den gewünschten Effekt. Nach einem Au-

genblick der Fassungslosigkeit trifft mich das gesammelte

Missfallen im Raum wie ein Hammer.

»Du … hast … Seneca Crane erhängt?«, sagt Cinna.

»Ja. Ich hab meine neuen Knotentechniken vorgeführt

und irgendwie ist er in die Schlinge geraten«, sage ich.

»Oh, Katniss«, sagt Effie gedämpft. »Woher weißt du

überhaupt davon?«

»Ist das ein Geheimnis? Präsident Snow hat nicht so

getan, als ob es eins wäre. Er schien sogar ganz wild

darauf zu sein, dass ich davon erfahre«, sage ich. Effie

steht vom Tisch auf und rennt hinaus, eine Serviette

vors Gesicht gepresst. »Jetzt habe ich Effie aufgeregt. Ich

hätte lügen und erzählen sollen, ich hätte ein paar Pfeile

abgeschossen.«

»Man könnte meinen, wir hätten das geplant«, sagt

Peeta und sieht mich mit einem schwachen Lächeln an.

»Habt ihr das nicht?«, fragt Portia. Sie hält sich mit den

Fingern die Lider zu, als müsste sie die Augen vor einem

grellen Licht schützen.

»Nein«, sage ich und schaue Peeta mit neuer

341

Hochachtung an. »Als wir reingingen, hatten wir noch gar

keine Ahnung, was wir machen sollten.«

»Und übrigens, Haymitch«, sagt Peeta. »Wir haben be-

schlossen, dass wir in der Arena keine weiteren Verbünde-

ten haben wollen.«

»Das ist gut. Dann bin ich nicht dafiir verantwortlich,

wenn ihr mit eurer Dämlichkeit einen meiner Freunde

umbringt«, sagt er.

»Genau das haben wir uns auch gedacht«, sage ich.

Schweigend essen wir zu Ende, aber als wir aufstehen,

um in den Salon zu gehen, legt Cinna mir den Arm um

und drückt mich. »Komm, jetzt holen wir uns die Bewer-

tungen für die Einzelstunde ab.«

Wir versammeln uns um den Fernseher und Effie ge-

sellt sich mit verweinten Augen dazu. Die Gesichter der

Tribute erscheinen, ein Distrikt nach dem anderen, und

unter den Porträts leuchten die Punktzahlen auf. Von eins

bis zwölf. Die erwartungsgemäß hohen Wertungen für

Cashmere, Gloss, Brutus, Enobaria und Finnick. Mittel

bis niedrig für die Übrigen.

»Gab es auch schon mal null Punkte?«, frage ich.

»Nein, aber es gibt immer ein erstes Mal«, antwortet

Cinna.

Und damit hat er recht. Denn Peeta und ich bekommen

342

beide eine Zwölf und das ist in der Geschichte der Hun-

gerspiele noch nie vorgekommen. Doch niemandem ist

nach Feiern zumute.

»Warum haben sie das gemacht?«, frage ich.

»Damit den anderen gar nichts anderes übrig bleibt, als

euch ins Visier zu nehmen«, sagt Haymitch rundheraus.

»Geht ins Bett. Ich kann euch jetzt nicht mehr sehen.«

Schweigend begleitet Peeta mich zu meinem Zimmer,

doch bevor er Gute Nacht sagen kann, schlinge ich die

Arme um ihn und lege den Kopf an seine Brust. Seine

Hände wandern meinen Rücken hoch und seine Wange

ruht an meinem Haar. »Tut mir leid, wenn ich alles noch

schlimmer gemacht hab«, sage ich.

»Nicht schlimmer als ich. Warum hast du das denn ge-

tan?«, sagt er.

»Ich weiß nicht. Vielleicht, um ihnen zu zeigen, dass

ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.«

Er lacht leise, bestimmt denkt er an letztes Jahr, an die

Nacht vor den Spielen. Da waren wir auf dem Dach, kei-

ner von uns konnte schlafen. Damals hat Peeta auch so

etwas in der Art gesagt, aber ich verstand nicht, was er

meinte. Jetzt verstehe ich es.

»Ich auch«, sagt er. »Und ich will auch gar nicht sagen,

dass ich es nicht versuchen werde. Dich nach Hause zu

343

bekommen, meine ich. Aber wenn ich ganz ehrlich sein

soll …«

»Wenn du ganz ehrlich sein sollst, dann glaubst du,

dass Präsident Snow Anweisung gegeben hat, dafür zu sor-

gen, dass wir ohnehin in der Arena sterben«, sage ich.

»Diesen Gedanken hatte ich, ja«, sagt Peeta.

Auch mir ist dieser Gedanke gekommen. Und nicht

nur einmal. Doch während ich mir sicher bin, dass ich

die Arena auf keinen Fall lebend verlassen werde, hoffe ich

noch immer, dass Peeta es schafft. Schließlich hat nicht

er die Beeren herausgeholt, sondern ich. Niemand hat je

daran gezweifelt, dass Peeta dem Kapitol nur aus Liebe

Widerstand geleistet hat. Also lässt Präsident Snow ihn

vielleicht lieber am Leben – niedergeschmettert, mit ge-

brochenem Herzen, als lebende Warnung für andere.

»Aber selbst wenn, werden alle wissen, dass wir ge-

kämpft haben, stimmt’s?«, sagt Peeta.

»Genau«, sage ich. Und zum ersten Mal habe ich

Abstand zu meiner eigenen Tragödie, die mich seit der

Verkündung des Jubel-Jubiläums beschäftigt hat. Ich

denke an den alten Mann, den sie in Distrikt 11 nie-

dergeschossen haben, und an Bonnie und Twill und die

Gerüchte über die Aufstände. Ja, alle in den Distrikten

werden mir zuschauen, um zu sehen, wie ich mit dieser

344

Todesstrafe umgehe, mit dieser letzten Machtdemonst-

ration von Präsident Snow. Sie werden nach einem Zei-

chen Ausschau halten, dass ihre Kämpfe nicht vergebens

waren. Wenn ich deutlich machen kann, dass ich mich

dem Kapitol bis zum Ende widersetze, dann wird man

zwar mich getötet haben … nicht jedoch meinen Geist.

Gibt es eine bessere Möglichkeit, den Rebellen Hoff-

nung zu machen?

Das Schöne an dieser Idee ist, dass schon meine Ent-

scheidung, Peeta zu retten, indem ich mein eigenes Leben

opfere, einen Akt des Widerstands darstellt. Eine Weige-

rung, die Hungerspiele nach den Regeln des Kapitols zu

spielen. Meine privaten Interessen sind im Einklang mit

meinen politischen. Und wenn ich Peeta wirklich retten

könnte … Für eine Revolution wäre das optimal. Denn

tot bin ich mehr wert als lebendig. Sie können mich zu

einer Märtyrerin erheben und mein Gesicht auf Fahnen

malen, und das wird die Leute besser mobilisieren, als eine

lebende Katniss es könnte. Aber Peeta wird lebendig mehr

wert sein, als tragischer Held wird er seinen Schmerz in

Worte fassen können, die die Menschen verändern.

Peeta würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich so et-

was denke, deshalb sage ich nur: »Und was sollen wir mit

unseren letzten Tagen anfangen?«

345

»Ich würde gern jede Minute meines restlichen Lebens

mit dir verbringen«, antwortet er.

»Dann komm«, sage ich und ziehe ihn in mein Zimmer.

Es ist der reine Luxus, wieder mit Peeta in einem Bett zu

schlafen. Erst jetzt merke ich, wie sehr es mich nach mensch-

licher Nähe verlangt. Nach seinem Körper neben mir in der

Dunkelheit. Hätte ich die letzten Nächte doch nicht vergeu-

det, indem ich ihn aussperrte. Ich lasse mich in den Schlaf

sinken, eingehül t in seine Wärme, und als ich die Augen

öffne, flutet das Tageslicht durch die Fenster herein.

»Keine Albträume«, sagt er.

»Keine Albträume«, bestätige ich. »Und du?«

»Auch keine. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es ist,

eine Nacht richtig zu schlafen.«

Eine Weile liegen wir da, wir haben es nicht eilig, den

Tag zu beginnen. Morgen Abend sind die Fernsehinter-

views, also werden Effie und Haymitch uns heute darauf

vorbereiten. Schon wieder hochhackige Schuhe und sarkasti-

sche Bemerkungen, denke ich. Doch dann bringt uns das

rothaarige Avoxmädchen einen Zettel von Effie, auf dem

steht, dass sie und Haymitch nach der Tour durch die

Disktrikte der Meinung seien, dass wir uns in der Öffent-

lichkeit angemessen zu verhalten wüssten. Die Vorberei-

tungssitzungen sind gestrichen.

346

»Echt?«, sagt Peeta, nimmt mir den Zettel aus der

Hand und wirft einen Blick darauf. »Weißt du, was das

heißt? Wir haben den ganzen Tag für uns!«

»Schade, dass wir nirgendwohin können«, sage ich

wehmütig.

»Wer sagt das?«, fragt er.

Das Dach. Wir bestellen jede Menge Essen, schnappen

uns ein paar Decken und verziehen uns zu einem Picknick

aufs Dach. Ein Picknick von morgens bis abends im Blu-

mengarten, in dem überall die Windspiele klimpern. Wir

essen. Wir liegen in der Sonne. Ich breche herabhängende

Lianen ab und nutze mein neues Wissen aus dem Trai-

ning, um Knoten zu machen und Netze zu knüpfen. Peeta

zeichnet mich. Wir erfinden ein Spiel mit dem Kraftfeld,

von dem das Dach umgeben ist – einer wirft einen Apfel

hinein, und der andere muss ihn fangen.

Niemand stört uns. Am späten Nachmittag liege ich

mit dem Kopf in Peetas Schoß und flechte einen Blumen-

kranz, während er die Hände in meinem Haar hat, um

Knoten zu üben, wie er behauptet. Nach einer Weile ver-

harren seine Hände. »Was ist?«, frage ich.

»Am liebsten würde ich diesen Augenblick anhalten,

hier und jetzt, und für immer darin leben«, sagt er.

Normalerweise bekomme ich jedes Mal ein schlechtes

347

Gewissen und fühle mich schrecklich, wenn er solche Be-

merkungen macht und auf seine unsterbliche Liebe zu mir

anspielt. Doch in diesem Moment fühle ich mich so warm

und entspannt, so weit entfernt von der Sorge um eine Zu-

kunft, die ich niemals haben werde, dass ich das Wort ein-

fach hinausschlüpfen lasse. »Okay.«

Ich höre das Lächeln in seiner Stimme. »Dann lässt du

es zu?«

»Ich lasse es zu«, sage ich.

Er vergräbt die Finger wieder in meinem Haar, und ich

döse ein, doch zum Sonnenuntergang weckt er mich. Es

ist ein spektakulärer gelborangefarbener Lichtschein hin-

ter der Skyline des Kapitols. »Den willst du dir bestimmt

nicht entgehen lassen, dachte ich mir«, sagt er.

»Danke«, sage ich. Ich kann die Sonnenuntergänge, die

mir noch bleiben, an den Fingern abzählen, und keinen

davon möchte ich versäumen.

Zum Abendessen gehen wir nicht zu den anderen, es

ruft uns auch niemand.

»Ein Glück. Ich bin es leid, alle um mich herum so

unglücklich zu machen«, sagt Peeta. »Zum Weinen zu

bringen. Und Haymitch …« Er braucht nicht weiterzu-

sprechen.

Wir bleiben auf dem Dach, bis es Zeit zum Schlafen-

348

gehen ist, dann huschen wir leise hinunter und in mein

Zimmer, ohne jemandem zu begegnen.

Am nächsten Morgen werden wir von meinem Vor-

bereitungsteam geweckt. Der Anblick von Peeta und mir,

wie wir nebeneinander schlafen, ist zu viel für Octavia, sie

bricht sofort in Tränen aus. »Denk daran, was Cinna uns

gesagt hat«, sagt Venia eindringlich. Octavia nickt und

geht schluchzend aus dem Zimmer.

Peeta muss zur Vorbereitung in sein Zimmer und ich

bleibe mit Venia und Flavius allein. Das übliche Geplapper

fällt heute aus. Es wird überhaupt kaum geredet, höchs-

tens wenn ich das Kinn heben soll oder wenn etwas über

eine Schminktechnik gesagt wird. Es ist fast Mittag, als

ich merke, dass etwas auf meine Schulter tropft, und als

ich mich umdrehe, sehe ich Flavius, wie er mir die Haare

schneidet, während ihm stumm die Tränen über das Ge-

sicht laufen. Venia wirft ihm einen strengen Blick zu und

da legt er die Schere vorsichtig auf dem Tisch ab und geht.

Dann ist nur noch Venia übrig, ihre Haut ist so blass,

dass die Tattoos herauszuspringen scheinen. Fast starr

vor Entschlossenheit frisiert sie mich, sie manikürt mir

die Nägel und schminkt mich mit schnellen Fingern, so

macht sie das Fehlen ihrer Kollegen wett. Die ganze Zeit

weicht sie meinem Blick aus. Erst als Cinna kommt, um

mich zu begutachten, nimmt sie meine Hände, schaut mir

direkt in die Augen und sagt: »Wir möchten dir alle sagen,

was für eine … Ehre es war, dich schön machen zu dür-

fen.« Dann geht sie eilig aus dem Zimmer.

Mein Vorbereitungsteam. Meine albernen, oberfläch-

lichen, liebevollen Schätzchen mit ihren Feder- und Par-

tyticks brechen mir mit ihrem Abschied fast das Herz. Ve-

nias letzte Worte zeigen es deutlich: Wir alle wissen, dass

ich nicht zurückkehren werde. Weiß es die ganze Welt?,

frage ich mich. Ich schaue Cinna an. Er weiß es, ganz be-

stimmt. Doch er hält sein Versprechen, von ihm drohen

keine Tränen.

»Also, was ziehe ich heute Abend an?«, frage ich mit ei-

nem Blick auf die Tasche, in der mein Kleid steckt.

»Präsident Snow höchstpersönlich hat die Kleiderord-

nung festgelegt«, sagt Cinna. Er zieht den Reißverschluss

auf, und zum Vorschein kommt eins der Hochzeitskleider,

die ich beim Fototermin getragen habe. Schwere weiße

Seide mit tiefem Ausschnitt, eng anliegender Taille und

Ärmeln, die vom Handgelenk bis zum Boden fallen. Und

Perlen über Perlen. Eingestickt in das Kleid und in die

Bänder, die ich um den Hals trage, ebenso wie auf der

Krone für den Schleier. »Am Abend des Fotoshootings

wurde zwar das Jubel-Jubiläum verkündet, aber die Leute

haben trotzdem über ihr Lieblingskleid abgestimmt, und

das hier hat gewonnen. Der Präsident sagt, du musst es

heute Abend tragen. Unsere Einwände blieben ungehört.«

Ich reibe ein Stück Seide zwischen den Fingern und ver-

suche Präsident Snows Gedankengang nachzuvollziehen.

Da mich die größte Schuld trifft, will er offenbar meinen

Schmerz, meinen Verlust und meine Erniedrigung in den

Mittelpunkt rücken. Und hiermit glaubt er das deutlich

machen zu können. Es ist so barbarisch, mein Hochzeits-

kleid zu meinem Totenhemd zu machen, dass es mich hart

trifft und einen dumpfen Schmerz in meinem Innern hin-

terlässt. »Tja, es wär ja auch schade um das schöne Kleid«,

ist alles, was ich sage.

Vorsichtig hilft Cinna mir in das Kleid. Als ich es auf

den Schultern spüre, ziehe ich sie unwillkürlich hoch.

»War das immer schon so schwer?«, frage ich. Ich erinnere

mich, dass einige der Kleider aus dickem Stoff waren, aber

dieses scheint einen Zentner zu wiegen.

»Ich musste es wegen der Beleuchtung ein wenig än-

dern«, sagt Cinna. Ich nicke, ohne zu verstehen, was

das damit zu tun hat. Er zieht mir die Schuhe an und

schmückt mich mit Perlen und Schleier. Verleiht meinem

Make-up den letzten Strich. Lässt mich ein paar Schritte

gehen.

»Du siehst hinreißend aus«, sagt er. »Katniss, das Ober-

teil ist so passgenau, dass ich dich bitte, die Arme nicht

über den Kopf zu heben. Jedenfalls nicht, ehe du dich

drehst.«

»Soll ich mich wieder drehen?«, frage ich und denke an

mein Kleid vom letzten Jahr.

»Bestimmt wird Caesar dich darum bitten. Und wenn

nicht, schlag es selbst vor. Aber nicht gleich. Bewahr es dir

für das große Finale auf«, sagt Cinna.

»Gib mir ein Zeichen, damit ich Bescheid weiß, wann

es so weit ist«, sage ich.

»Mach ich. Hast du dir für das Interview irgendwas

überlegt? Ich weiß, dass Haymitch es ganz euch überlassen

hat«, sagt er.

»Nein, dieses Jahr werde ich einfach improvisieren. Ko-

mischerweise bin ich überhaupt nicht aufgeregt.« Das bin

ich wirklich nicht. Sosehr Präsident Snow mich auch has-

sen mag, das Publikum im Kapitol gehört mir.

Wir treffen Effie, Haymitch, Portia und Peeta vor dem

Aufzug. Peeta trägt einen eleganten Smoking und weiße

Handschuhe. So zieht man sich hier im Kapitol als Bräu-

tigam an.

Bei uns zu Hause ist alles so viel bescheidener. Die

Frau leiht sich normalerweise ein weißes Kleid, das schon

352

unzählige Male getragen wurde. Der Mann zieht irgend-

etwas Sauberes an, das er nicht im Bergwerk trägt. Sie

füllen im Justizgebäude ein paar Formulare aus und dann

wird ihnen ein Haus zugewiesen. Freunde und Verwandte

kommen zu einem Essen oder etwas Kuchen zusammen,

wenn man es sich leisten kann. Und auch wenn nicht, ein

traditionelles Lied wird immer gesungen, wenn das Paar

über die Schwelle zum neuen Heim tritt. Und dann ha-

ben wir eine kleine Zeremonie: Das Brautpaar zündet sein

erstes Feuer an, röstet ein wenig Brot und teilt es. Es mag

altmodisch sein, aber bevor man das Brot nicht geröstet

hat, fühlt man sich in Distrikt 12 nicht richtig verheiratet.

Die anderen Tribute haben sich bereits hinter den Ku-

lissen versammelt und reden leise miteinander, doch als

Peeta und ich kommen, verstummen sie. Ich merke, dass

sie alle mein Brautkleid anstarren. Sind sie neidisch, weil

es so schön ist? Darauf, dass es vielleicht die Macht hat,

die Massen zu beeinflussen?

Schließlich sagt Finnick: »Ich fasse es nicht, dass Cinna

dich in dieses Ding gesteckt hat.«

»Er hatte keine Wahl. Präsident Snow hat ihn gezwun-

gen«, sage ich trotzig. Ich lasse es nicht zu, dass jemand

etwas gegen Cinna sagt.

Cashmere wirft die blonde Lockenmähne zurück und

353

giftet: »Du siehst lächerlich aus!« Sie fasst ihren Bruder bei

der Hand und zieht ihn mit sich, damit sie die Prozes-

sion auf die Bühne anführen können. Auch die anderen

Tribute stellen sich auf. Ich bin verwirrt, denn irgendwie

sind alle wütend, aber manche klopfen uns trotzdem mit-

fühlend auf die Schulter, und Johanna Mason bleibt sogar

stehen, um meine Perlenkette zu richten.

»Zahl es ihm heim, ja?«, sagt sie.

Ich nicke, aber ich weiß nicht, was sie meint. Erst als

wir alle auf der Bühne sitzen und Caesar Flickerman,

Haare und Gesicht dieses Jahr lavendelfarben, seinen Er-

öffnungssermon hinter sich gebracht hat und die Tribute

mit den Interviews beginnen – erst da wird mir bewusst,

wie betrogen sich die meisten Sieger fühlen und wie wü-

tend sie sind. Doch sie sind gerissen, sie drücken es so

gekonnt aus, dass alles auf die Regierung und besonders

auf Präsident Snow zurückfällt. Zwar gilt das nicht für

alle, zum Beispiel nicht für die Unverbesserlichen, Brutus

und Enobaria, für die dies einfach nur irgendwelche Spiele

sind, und einige andere, die zu verwirrt oder betäubt oder

verloren sind, um bei dem Angriff mitzumachen. Doch es

gibt genügend Sieger, die den Mut und die Geistesgegen-

wart besitzen, um zu kämpfen.

Cashmere bringt die Sache ins Rollen, indem sie

354

erzählt, dass sie gar nicht aufhören kann zu weinen, wenn

sie daran denkt, wie sehr die Menschen im Kapitol leiden

müssen, weil sie uns verlieren werden. Gloss erinnert an

den freundlichen Empfang, der ihm und seiner Schwester

hier zuteilwurde. Beetee zieht in seiner nervösen, unruhi-

gen Art die Rechtmäßigkeit des Jubel-Jubiläums in Zwei-

fel, er fragt sich, ob die Angelegenheit in letzter Zeit ein-

mal von den Experten überprüft worden sei. Finnick trägt

ein selbst verfasstes Gedicht für seine einzige wahre Liebe

im Kapitol vor, und an die hundert Damen fallen in Ohn-

macht, weil sie sich angesprochen fühlen. Johanna Mason

steht auf und fragt, ob man nichts an der Lage ändern

könne. Sicher hätten die Erfinder des Jubel-Jubiläums

nicht geahnt, dass sich zwischen den Siegern und dem Ka-

pitol eine solche Liebe entwickeln würde. Niemand könne

so grausam sein, eine solch tiefe Verbundenheit zu zerstö-

ren. Seeder sinniert ruhig darüber, dass in Distrikt 11 alle

davon ausgingen, Präsident Snow sei allmächtig. Doch

wenn er allmächtig sei, warum schaffe er dieses Jubel-Jubi-

läum dann nicht ab? Und Chaff, der gleich nach ihr dran

ist, behauptet, der Präsident könne dieses Jubel-Jubiläum

abschaffen, wenn er wollte, aber er glaube wohl nicht, dass

es jemandem viel bedeute.

Als ich vorgestellt werde, ist das Publikum schon völlig

355

fertig. Die Leute weinen, einige sind zusammengebrochen,

sogar eine Änderung des Programms wird gefordert. Als

ich in meinem Brautkleid aus weißer Seide auftrete, bricht

ein Tumult los. Mein Ende, das Ende des tragischen Lie-

bespaars, das glücklich bis in alle Zeit lebt, das Ende der

Hochzeit. Selbst Caesars Professionalität bekommt Risse,

als er vergeblich versucht, die Menge so weit zu beruhi-

gen, dass ich sprechen kann, doch meine drei Minuten

schrumpfen schnell zusammen.

Schließlich tritt eine Ruhepause ein und er kann an-

bringen: »Tja, Katniss, offenbar ist das für alle eine sehr

bewegende Nacht. Möchtest du etwas sagen?«

Als ich spreche, zittert meine Stimme. »Nur, dass es mir

so leidtut, dass Sie alle nicht zu meiner Hochzeit kommen

können … aber ich bin froh, dass Sie mich wenigstens in

dem Kleid sehen können. Ist es nicht … einfach wunder-

schön?« Ich muss Cinna nicht anschauen, um das Zeichen

zu bekommen. Ich weiß, dass jetzt der richtige Moment

ist. Langsam beginne ich mich im Kreis zu drehen und

hebe die Ärmel des schweren Kleides über den Kopf.

Als ich Schreie in der Menge höre, denke ich, es ist, weil

ich so umwerfend aussehe. Da merke ich, dass um mich

herum Rauch aufsteigt. Rauch von einem Feuer. Nicht

das flackernde Zeug wie letztes Jahr bei der Wagenparade,

356

sondern echte Flammen, die mein Kleid verschlingen. Pa-

nik erfasst mich, als der Rauch dichter wird. Verkohlte

Fetzen geschwärzter Seide wirbeln in die Luft, Perlen pras-

seln auf die Bühne. Irgendwie traue ich mich nicht, stehen

zu bleiben, denn meine Haut brennt ja gar nicht, und ich

weiß, dass Cinna hinter alldem stecken muss. Also dre-

he ich mich rundherum, rundherum. Kurz bekomme ich

keine Luft mehr, bin eingehüllt in die seltsamen Flammen.

Dann ist das Feuer ganz plötzlich aus. Langsam bleibe ich

stehen, ich frage mich, ob ich wohl nackt bin und war-

um Cinna es so eingerichtet hat, dass mein Hochzeitskleid

verbrennt.

Aber ich bin nicht nackt. Ich trage ein Kleid, das ge-

nauso aussieht wie mein Hochzeitskleid, nur dass es die

Farbe von Kohle hat und aus winzigen Federn besteht. Er-

staunt hebe ich die langen, fließenden Ärmel und in die-

sem Moment sehe ich mich auf dem Bildschirm. Ganz in

Schwarz bis auf die weißen Flecken auf den Ärmeln. Oder

sollte ich sagen, auf den Flügeln? Cinna hat mich in einen

Spotttölpel verwandelt.

357

18 Ich glimme immer noch ein wenig,

deshalb streckt Caesar die Hand etwas

zögerlich aus, um meinen Schleier zu berühren. Das Weiß

ist abgebrannt, übrig geblieben ist ein glatter schwarzer

Schleier, der hinten über den Halsausschnitt des Kleides

fällt. »Federn«, sagt Caesar. »Du siehst aus wie ein Vogel.«

»Wie ein Spotttölpel, oder?«, sage ich und schlage ein

wenig mit den Flügeln. »Das ist der Vogel auf der Brosche,

die ich als Glücksbringer getragen habe.«

Ein Schatten der Erkenntnis huscht über Caesars Ge-

sicht, er weiß, dass der Spotttölpel nicht nur mein Glücks-

bringer ist. Dass er jetzt für so viel mehr steht. Dass das,

was im Kapitol als spektakulärer Gag wahrgenommen

wird, in den Distrikten einen ganz anderen Widerhall fin-

det. Doch er macht das Beste daraus.

»Also, Hut ab vor deinem Stylisten. Es wird wohl kei-

ner bestreiten, dass wir so etwas Spektakuläres in einem

Interview noch nie zu sehen bekommen haben. Cinna,

eine Verbeugung bitte!« Caesar gibt Cinna mit einer Geste

zu verstehen, dass er sich erheben soll. Er tut es und macht

eine kleine, elegante Verbeugung. Und auf einmal habe

358

ich riesige Angst um ihn. Was hat er getan? Etwas furcht-

bar Gefährliches. Ein rebellischer Akt. Und er hat es für

mich getan. Ich erinnere mich an seine Worte …

»Keine Bange. Ich lasse meine Gefühle in meine Arbeit

einfließen. Auf diese Weise tue ich niemandem weh außer

mir selbst.«

Und ich fürchte, er hat sich so wehgetan, dass es nicht

wiedergutzumachen ist. Die tiefere Bedeutung meiner feu-

rigen Verwandlung kann Präsident Snow nicht entgangen

sein.

Das Publikum ist erst starr vor Staunen und applau-

diert dann heftig. Ich höre kaum den Signalton, der an-

zeigt, dass meine drei Minuten um sind. Caesar dankt mir

und ich gehe wieder zu meinem Platz, mein Kleid fühlt

sich jetzt leichter an als Luft.

Ich begegne Peeta, der nach mir dran ist, aber er weicht

meinem Blick aus. Vorsichtig setze ich mich hin, doch ab-

gesehen von einigen Rauchspuren scheine ich unversehrt

zu sein, und so richte ich meine Aufmerksamkeit auf ihn.

Seit ihrem Auftritt vor einem Jahr sind Caesar und

Peeta ein eingespieltes Team. Die Leichtigkeit, mit der sie

sich die Bälle zuspielen, die treffsicheren Pointen und der

gekonnte Übergang zu Herz und Schmerz wie damals, als

Peeta seine Liebe zu mir eingestanden hat, haben ihnen

359

großen Erfolg beim Publikum beschert. Mühelos eröffnen

sie das Gespräch mit ein paar witzigen Bemerkungen über

Feuer und Federn und verbranntes Geflügel. Aber man

sieht, dass Peeta mit den Gedanken weit weg ist, deshalb

spricht Caesar direkt das Thema an, das allen am Herzen

liegt.

»Erzähl mal, wie das war, Peeta, als du, nach allem, was

du durchgemacht hattest, die Neuigkeit vom Jubel-Jubilä-

um erfuhrst«, sagt Caesar.

»Es war ein Schock für mich. Eben noch hatte ich Kat-

niss gesehen, so wunderschön in all den Hochzeitskleidern,

und im nächsten Augenblick …« Der Satz bleibt in der

Luft hängen.

»Da wurde dir klar, dass es niemals eine Hochzeit ge-

ben wird?«, fragt Caesar sanft.

Peeta schweigt lange, als müsse er etwas überdenken.

Er sieht zu den gebannten Zuschauern, dann auf den Bo-

den, dann schließlich zu Caesar. »Caesar, meinst du, unse-

re Freunde hier können ein Geheimnis für sich behalten?«

Ein unbehagliches Lachen ist im Publikum zu hören.

Was meint er wohl damit? Vor wem sollen sie ein Geheim-

nis bewahren? Die ganze Welt schaut uns zu.

»Da bin ich mir ganz sicher«, sagt Caesar.

»Wir sind bereits verheiratet«, sagt Peeta ruhig. Das

360

Publikum reagiert mit Erstaunen, und ich muss das Ge-

sicht in meinem Kleid verbergen, damit man meine Ver-

wirrung nicht sieht. Worauf will er bloß hinaus?

»Aber … wie ist das möglich?«, fragt Caesar.

»Oh, es war keine offizielle Hochzeit. Wir sind nicht

zum Justizgebäude gegangen oder so. Aber wir haben in

Distrikt 12 so ein Hochzeitsritual. Ich weiß nicht, wie es

in den anderen Distrikten ist. Wir machen da etwas ganz

Spezielles«, sagt Peeta und beschreibt kurz die Sache mit

dem Brot.

»Waren eure Familien dabei?«, fragt Caesar.

»Nein, wir haben niemandem davon erzählt. Nicht ein-

mal Haymitch. Und Katniss’ Mutter wäre bestimmt nicht

einverstanden gewesen. Aber wir wussten ja, wenn wir im

Kapitol heiraten, dann findet das Ritual nicht statt. Und

wir wollten beide nicht länger warten. Also haben wir es

eines Tages einfach gemacht«, sagt Peeta. »Und wir fühlen

uns mehr verheiratet, als wir es durch irgendein Stück Pa-

pier oder eine große Feier könnten.«

»Dann war das also vor der Ankündigung des Jubel-

Jubiläums?«, fragt Caesar.

»Ja, natürlich war das vorher. Bestimmt hätten wir es

niemals getan, nachdem wir davon wussten«, sagt Peeta.

Er redet sich in Rage. »Aber wer hätte das kommen sehen?

361

Niemand. Wir haben die Spiele durchgemacht, wir wur-

den Sieger, alle schienen so begeistert zu sein, uns zusam-

men zu sehen, und dann, aus dem Nichts – ich meine, wie

hätten wir das vorhersehen können?«

»Das konntet ihr nicht, Peeta.« Caesar legt ihm ei-

nen Arm um die Schultern. »Wie du sagst, das konnte

niemand. Doch ich muss zugeben, ich bin froh, dass ihr

beide wenigstens ein paar glückliche Monate miteinander

hattet.«

Tosender Applaus. Als wäre ich dadurch ermutigt, hebe

ich den Blick von den Federn und zeige dem Publikum

zum Dank ein tragisches Lächeln. Von dem Rauch in den

Federn tränen mir passenderweise die Augen.

»Ich bin nicht froh«, sagt Peeta. »Mir wäre es lieber, wir

hätten bis zur offiziellen Trauung gewartet.«

Das überrascht sogar Caesar. »Aber selbst eine kurze

Zeit ist doch besser als gar nichts, oder?«

»Vielleicht würde ich auch so denken, Caesar«, sagt

Peeta bitter. »Wenn das Baby nicht wäre.«

Da. Er hat es schon wieder geschafft. Hat eine Bombe

hochgehen lassen, die alle Anstrengungen der Tribute vor

ihm zunichtemacht. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht

hat er dieses Jahr nur eine Bombe gezündet, die die Sieger

selbst gebaut haben. In der Hoffnung, dass jemand sie zur

362

Explosion bringen würde. Zum Beispiel ich in meinem

Brautkleid. Sie wissen ja nicht, wie abhängig ich von Cin-

nas Talenten bin, während Peeta nur seinen Grips benötigt.

Als Echo auf die Bombe fliegen Vorwürfe in alle Rich-

tungen: ungerecht, barbarisch, grausam. Selbst der Kapi-

tolhörigste, Spielehungrigste, Blutrünstigste im Publikum

kann nicht übersehen, wenigstens für einen Augenblick,

wie entsetzlich das alles ist.

Ich bin schwanger.

Die Zuschauer können die Neuigkeit nicht sofort er-

fassen. Sie muss erst geschluckt und verarbeitet und von

anderen Stimmen bestätigt werden, ehe Laute zu hören

sind wie von einer Herde verwundeter Tiere, sie stöhnen,

schreien und rufen um Hilfe. Und ich? Ich weiß, dass

mein Gesicht in Großaufnahme auf dem Bildschirm zu

sehen ist, doch ich unternehme keine Anstrengung, es zu

verbergen. Denn einen Moment lang muss selbst ich das

verarbeiten, was Peeta gerade gesagt hat. Ist es nicht genau

das, was mich am meisten an der Hochzeit, an der Zu-

kunft geängstigt hat – dass ich meine Kinder an die Spiele

verlieren könnte? Und jetzt könnte es Wirklichkeit werden.

Wenn ich nicht mein Leben lang Abwehrmauern errichtet

hätte, bis ich schon bei der bloßen Andeutung von Heirat

oder Familie zurückschrecke.

363

Caesar bekommt die Menge nicht mehr in den Griff,

nicht einmal, als das Signal ertönt. Peeta nickt zum Ab-

schied und geht ohne ein weiteres Wort zurück zu seinem

Platz. Ich sehe, wie Caesars Lippen sich bewegen, doch

im Publikum herrscht der reinste Aufruhr und ich verste-

he kein Wort. Einzig das Getöse der Nationalhymne, so

laut aufgedreht, dass es mir durch Mark und Bein geht,

zeigt uns an, wo wir mit dem Programm angekommen

sind. Ich stehe automatisch auf und spüre, dass Peeta nach

meiner Hand fasst. Als ich sie ergreife, laufen ihm Trä-

nen über das Gesicht. Wie echt sind die Tränen? Sind sie

ein Zeichen dafür, dass er von denselben Ängsten verfolgt

wird wie ich? Wie jeder Sieger? Wie alle Eltern in jedem

Distrikt von Panem?

Ich schaue wieder ins Publikum, doch die Gesichter

von Rues Mutter und Vater schieben sich vor meine Au-

gen. Ihre Trauer. Ihr Verlust. Ich drehe mich spontan zu

Chaff um und reiche ihm die Hand. Meine Finger schlie-

ßen sich um den Stumpf, in dem sein Arm jetzt ausläuft,

und halten ihn fest.

Und dann geschieht es. Von einem Ende der Reihe bis

zum anderen reichen sich die Sieger die Hände. Einige

spontan, wie die Morfixer und Wiress und Beetee. Ande-

re unsicher, aber mitgerissen durch die Aufforderung der

364

anderen, wie Brutus und Enobaria. Als die letzten Töne der

Hymne erklingen, stehen wir al e vierundzwanzig in einer

geschlossenen Reihe – seit den Dunklen Tagen ist das wohl

die erste öffentliche Demonstration von Einheit unter den

Distrikten. Man sieht, wie diese Erkenntnis durchdringt,

als die Bildschirme einer nach dem anderen schwarz wer-

den. Doch zu spät. In der al gemeinen Verwirrung haben

sie uns nicht rechtzeitig abgeschaltet. Al e haben es gesehen.

Auch auf der Bühne bricht Chaos aus, die Scheinwerfer

erlöschen, und wir stolpern zurück zum Trainingscenter.

Ich habe Chaff verloren, aber Peeta führt mich zu einem

Aufzug. Finnick und Johanna wollen mit hinein, doch ein

gestresster Friedenswächter versperrt ihnen den Weg, und

wir sausen allein nach oben.

In dem Moment, als wir den Aufzug verlassen, fasst

Peeta mich bei den Schultern. »Wir haben nicht viel

Zeit, also sag es mir jetzt. Muss ich mich für irgendetwas

entschuldigen?«

»Für gar nichts«, sage ich. Es war ein gewagter Schritt

ohne meine Einwilligung, aber ich bin nur froh, dass ich

nichts davon wusste und keine Zeit hatte, ihm reinzure-

den; froh, dass mein schlechtes Gewissen Gale gegenüber

meine Gefühle für das, was Peeta getan hat, nicht schmä-

lern konnte. Und ich fühle mich gestärkt.

365

Irgendwo in weiter Ferne gibt es einen Distrikt 12, wo

meine Mutter, meine Schwester und meine Freunde mit

den Folgen dieses Abends leben müssen. Nur einen klei-

nen Flug mit dem Hovercraft entfernt liegt eine Arena, wo

auf Peeta und mich und die anderen Tribute unsere Strafe

wartet. Doch selbst wenn wir alle ein schreckliches Ende

finden, ist heute Abend auf der Bühne etwas passiert, das

nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Wir Sie-

ger haben unseren eigenen Aufstand inszeniert und viel-

leicht, ganz vielleicht, wird es dem Kapitol nicht gelingen,

ihn zu unterdrücken.

Wir warten auf die anderen, doch als die Fahrstuhltür

aufgeht, erscheint nur Haymitch. »Das ist Wahnsinn da

draußen. Sie haben al e nach Hause geschickt und die Zu-

sammenfassung der Interviews im Fernsehen ist gestrichen.«

Peeta und ich laufen schnell zum Fenster und versu-

chen, in dem Tumult weit unter uns auf den Straßen et-

was zu erkennen. »Was sagen sie?«, fragt Peeta. »Fordern

sie den Präsidenten auf, die Spiele zu stoppen?«

»Ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie fordern sollen.

Die ganze Situation ist beispiellos. Schon die Vorstellung,

sich den Plänen des Kapitols zu widersetzen, verwirrt die

Leute hier«, sagt Haymitch. »Aber es ist ausgeschlossen,

dass Snow die Spiele absetzt. Das wisst ihr doch, oder?«

366

Ich weiß es. Natürlich kann er jetzt keinen Rückzieher

mehr machen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zurück-

zuschlagen, und zwar mit voller Härte. »Sind die anderen

nach Hause gegangen?«, frage ich.

»Das wurde ihnen befohlen. Ich weiß nicht, ob sie heil

durch die Menschenmenge kommen«, sagt Haymitch.

»Dann werden wir Effie nie wiedersehen«, sagt Peeta.

Im letzten Jahr haben wir sie am Morgen der Spiele nicht

getroffen. »Richte ihr unseren Dank aus.«

»Mehr als das. Mach etwas ganz Besonderes daraus. Es

ist schließlich Effie«, sage ich. »Sag ihr, wie sehr wir ihre

Hilfe zu schätzen wissen, dass sie die beste Betreuerin aller

Zeiten war, und sag ihr … sag ihr ganz liebe Grüße.«

Eine Zeit lang stehen wir nur schweigend da und zögern

das Unvermeidliche hinaus. Dann spricht Haymitch es

aus. »Und jetzt müssen wir uns wohl auch verabschieden.«

»Irgendeinen letzten Ratschlag?«, fragt Peeta.

»Bleibt am Leben«, sagt Haymitch schroff. Das ist

schon fast ein Running Gag zwischen uns. Er nimmt uns

beide kurz in den Arm, und ich weiß, dass es das Äußerste

ist, was er ertragen kann. »Geht ins Bett. Ihr müsst euch

ausruhen.«

Ich weiß, dass ich Haymitch eine ganze Menge sagen

müsste, aber mir fällt nichts ein, was er nicht schon weiß,

367

und außerdem ist meine Kehle so zugeschnürt, dass ich

wahrscheinlich sowieso keinen Ton herausbringen würde.

Also lasse ich schon wieder Peeta für uns beide sprechen.

»Pass auf dich auf, Haymitch«, sagt er.

Wir sind schon im Flur, als Haymitchs Stimme uns

aufhält. »Katniss, wenn du in der Arena bist«, sagt er.

Dann stockt er. Er blickt so finster, dass ich mir sicher bin,

ihn jetzt schon enttäuscht zu haben.

»Was dann?«, frage ich abwehrend.

»Dann vergiss nicht, wer der Feind ist«, sagt Haymitch.

»Das ist alles. Jetzt los. Raus mit euch.«

Wir gehen den Flur entlang. Peeta will in sein Zimmer,

um die Schminke abzuwaschen, und in ein paar Minuten

nachkommen, aber das lasse ich nicht zu. Wenn eine Tür

zwischen uns zugeht, wird sie garantiert verschlossen, und

dann muss ich die Nacht ohne ihn verbringen. Außerdem

gibt es in meinem Zimmer auch eine Dusche. Ich weigere

mich, seine Hand loszulassen.

Schlafen wir? Ich weiß es nicht. Wir verbringen die

Nacht eng umschlungen, in einem Land zwischen Träu-

men und Wachen. Wir reden nicht. Keiner will den ande-

ren stören und wir hoffen, so ein paar kostbare Minuten

der Ruhe zu gewinnen.

Cinna und Portia kommen mit dem Morgengrauen,

368

und ich weiß, dass Peeta gehen muss. Die Tribute müssen

allein in die Arena. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss. »Bis

bald«, sagt er.

»Ja, bis bald«, antworte ich.

Cinna, der mir beim Ankleiden für die Spiele helfen

wird, begleitet mich hinaus aufs Dach. Ich will schon die

Leiter ins Hovercraft hinaufsteigen, als es mir einfällt. »Ich

hab mich nicht von Portia verabschiedet.«

»Ich werde es ihr ausrichten«, sagt Cinna.

Der elektrische Strom hält mich oben auf der Leiter,

bis der Arzt mir den Aufspürer in den linken Unterarm

einpflanzt. Damit können sie mich in der Arena jederzeit

finden. Das Hovercraft hebt ab, und ich schaue aus dem

Fenster, bis es schwarz wird. Cinna drängt mich zu essen

und dann, als er damit keinen Erfolg hat, zu trinken. Ich

schaffe es, kleine Schlucke Wasser zu trinken, ich denke

an die Tage im letzten Jahr, als ich so ausgetrocknet war,

dass ich fast gestorben wäre. Und ich denke daran, dass

ich meine Kraft brauche, um Peeta zu retten.

Als wir im Startraum der Arena ankommen, gehe ich

unter die Dusche. Cinna flicht mir einen Zopf, ich ziehe

einfache Unterwäsche an, und Cinna hilft mir mit dem

Rest. In diesem Jahr gehen die Tribute in einem eng anlie-

genden blauen Overall aus hauchdünnem Stoff, der vorn

369

mit einem Reißverschluss zugezogen wird. Dazu ein fünf-

zehn Zentimeter breiter gepolsterter Gurt aus glänzendem

lila Plastik. Nylonschuhe mit Gummisohlen.

»Was hältst du davon?«, frage ich und halte Cinna den

Stoff hin, damit er ihn fühlen kann.

Mit gerunzelter Stirn reibt er das dünne Material zwi-

schen den Fingern. »Ich weiß nicht. Er wird wenig Schutz

gegen Kälte oder Nässe bieten.«

»Und gegen Sonne?«, frage ich und stelle mir gleißende

Sonne über einer öden Wüste vor.

»Vielleicht. Wenn er behandelt ist«, sagt er. »Ach, das

hier hätte ich fast vergessen.« Er holt meine goldene Spott-

tölpelbrosche aus der Tasche und steckt sie mir an den

Overall.

»Mein Kleid gestern Abend war wundervoll«, sage

ich. Wundervoll und waghalsig. Aber das weiß Cinna

natürlich.

»Ich dachte mir, dass es dir gefallen könnte«, sagt er mit

einem gezwungenen Lächeln.

Genau wie letztes Jahr sitzen wir Hände haltend da, bis

die Stimme mir sagt, ich soll mich startklar machen. Er

begleitet mich zu der runden Metallplatte und zieht den

Reißverschluss oben ganz zu. »Nicht vergessen, Mädchen

in Flammen«, sagt er. »Ich setze immer noch auf dich.« Er

370

küsst mich auf die Stirn und tritt zurück, als sich die Glas-

glocke über mich senkt.

»Danke«, sage ich, obwohl er mich wahrscheinlich nicht

hören kann. Ich hebe das Kinn, trage den Kopf hoch, wie

er mir immer rät, und warte darauf, dass die Metallplatte

abhebt. Aber nichts passiert. Und immer noch nicht.

Ich schaue Cinna an und hebe fragend die Augenbrau-

en. Er schüttelt nur leicht den Kopf, genauso verwirrt wie

ich. Weshalb die Verzögerung?

Plötzlich wird die Tür hinter ihm aufgerissen und drei

Friedenswächter stürmen in den Raum. Zwei drehen Cin-

na die Arme auf den Rücken und legen ihm Handschellen

an, während der dritte ihm mit solcher Gewalt gegen die

Schläfe schlägt, dass er auf die Knie sinkt. Doch sie schla-

gen ihn mit ihren metallbesetzten Handschuhen immer

weiter, bis er überall im Gesicht und am Körper klaffen-

de Wunden hat. Ich schreie wie am Spieß, schlage gegen

das Glas, das nicht nachgibt, und versuche, zu ihm zu ge-

langen. Die Friedenswächter beachten mich gar nicht, sie

ziehen Cinnas schlaffen Körper aus dem Raum. Nur die

Blutspuren auf dem Boden bleiben übrig.

Elend und panisch merke ich, wie die Metallplatte ab-

hebt. Ich bin immer noch an das Glas gelehnt, als mir eine

Brise in die Haare fährt und ich mich zwinge, aufrecht zu

371

stehen. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt entfernt sich

das Glas und ich stehe ungeschützt in der Arena. Irgend-

etwas scheint mit meinen Augen nicht zu stimmen. Der

Boden ist zu hell und leuchtend und hört nicht auf zu

schwanken. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich

auf meine Füße und sehe, dass die Metallplatte von blau-

en Wellen umgeben ist, die über meine Stiefel schwappen.

Langsam hebe ich den Blick und sehe das Wasser, das sich

in alle Richtungen erstreckt.

Ich kann nur einen klaren Gedanken fassen.

Das ist kein Ort für ein Mädchen in Flammen.

372

Teil 3

Der Feind

19 »Meine Damen und Herren, die fünf-

undsiebzigsten Hungerspiele sind

eröffnet!« Die Stimme von Claudius Templesmith, dem

Moderator der Hungerspiele, hämmert mir in den Ohren.

Ich habe weniger als eine Minute Zeit, mich zu orientie-

ren. Dann wird der Gong ertönen und die Tribute kön-

nen sich von ihren Metallplatten entfernen. Doch wohin?

Ich kann nicht klar denken. Die ganze Zeit habe ich

Cinna vor Augen, wie er blutig am Boden liegt. Wo ist er

jetzt? Was tun sie ihm an? Foltern sie ihn? Bringen sie ihn

um? Verwandeln sie ihn in einen Avox? Offenbar sollte der

Anschlag auf ihn mich aus dem Gleichgewicht bringen,

genauso wie Darius’ plötzliches Auftauchen in meinem

Quartier. Und er hat mich wirklich aus dem Gleichge-

wicht gebracht. Am liebsten würde ich auf meiner Metall-

platte zusammenbrechen. Aber nach allem, was ich gerade

mit angesehen habe, ist das kaum möglich. Ich muss stark

sein. Das bin ich Cinna schuldig, der alles riskiert hat, in-

dem er Präsident Snow verhöhnt und mein Brautkleid in

das Gefieder eines Spotttölpels verwandelt hat. Und ich

bin es den Rebellen schuldig, die, durch Cinnas Beispiel

375

ermutigt, in diesem Moment vielleicht kämpfen, um das

Kapitol zu stürzen. Meine Weigerung, die Spiele nach den

Regeln des Kapitols zu spielen, soll mein letzter rebelli-

scher Akt sein. Also beiße ich die Zähne zusammen und

mache gute Miene zum bösen Spiel.

Wo bin ich? Ich werde aus meiner Umgebung immer

noch nicht schlau. Wo bin ich?! Ich verlange eine Antwort

von mir und langsam bekommt die Welt Konturen. Blau-

es Wasser. Rosa Himmel. Weiß gleißende Sonne, die vom

Himmel knallt. Ach ja, da ist das Füllhorn aus goldglän-

zendem Metall, etwa vierzig Meter entfernt. Erst sieht es

so aus, als befände es sich auf einer runden Insel. Doch bei

genauerem Hinsehen erkenne ich schmale Streifen Land,

die strahlenförmig von der Füllhorninsel ausgehen wie die

Speichen eines Rades. Es sind schätzungsweise zehn bis

zwölf und sie scheinen alle den gleichen Abstand vonei-

nander zu haben. Zwischen den Speichen ist nur Wasser.

Wasser und je zwei Tribute.

So ist das also. Es gibt zwölf Speichen, dazwischen je-

weils zwei Tribute, die sich auf Metallplatten halten. Der

zweite Tribut in meinem Wasserkeil ist der alte Woof aus

Distrikt 8. Er befindet sich zu meiner Rechten, etwa ge-

nauso weit entfernt wie der Landstreifen zu meiner Lin-

ken. Jenseits des Wassers liegt, wohin man auch blickt, ein

376

schmaler Strand und dahinter dichtes Grün. Ich suche

den Kreis nach Tributen ab, halte nach Peeta Ausschau,

doch das Füllhorn versperrt mir den Blick.

Ich schöpfe eine Handvoll Wasser und rieche daran.

Dann berühre ich mit dem nassen Finger meine Zunge.

Salzwasser, ganz wie ich gedacht habe. Genau wie die

Wellen, die Peeta und ich auf unserem kurzen Abstecher

zum Strand in Distrikt 4 gesehen haben. Aber immerhin

scheint es sauber zu sein.

Es gibt keine Boote, keine Seile, nicht mal ein bisschen

Treibholz, an dem man sich festhalten könnte. Nein, es

gibt nur einen Weg zum Füllhorn. Als der Gong ertönt,

zögere ich nicht und tauche nach links. Es ist weiter, als

ich gewohnt bin, und durch die Wellen zu schwimmen,

ist nicht so einfach wie das Schwimmen in meinem ruhi-

gen See zu Hause, doch mein Körper fühlt sich eigenartig

leicht an, und ich gleite mühelos durchs Wasser. Vielleicht

liegt es an dem Salz. Tropfnass ziehe ich mich an Land

und renne über den Sand bis zum Füllhorn. Ich sehe nie-

manden, der sich von meiner Seite her nähert, allerdings

versperrt mir das goldene Horn zu einem Gutteil die Sicht.

Doch ich lasse mich von dem Gedanken an mögliche

Gegner nicht bremsen. Ich denke jetzt wie ein Karriero

und als Erstes will ich mir eine Waffe schnappen.

377

Im letzten Jahr waren die Vorräte ziemlich weit um

das Füllhorn herum verstreut und die wertvollsten Sachen

befanden sich ganz nah am Horn. Doch in diesem Jahr

scheint die Beute an der gut sechs Meter hohen Öffnung

gestapelt zu sein. Mein Blick fällt sofort auf einen golde-

nen Bogen in Reichweite und ich reiße ihn heraus.

Da ist jemand hinter mir. Eine leichte Bewegung im

Sand oder vielleicht nur eine Veränderung des Luftstroms

hat mich alarmiert. Ich ziehe einen Pfeil aus dem Köcher,

der immer noch in dem Stapel eingeklemmt ist, und wäh-

rend ich mich umdrehe, spanne ich die Sehne.

Da steht ein paar Meter von mir entfernt Finnick in all

seiner Pracht, er hält einen Dreizack bereit. An seiner an-

deren Hand baumelt ein Netz. Er lächelt ein wenig, aber

die Muskeln seines Oberkörpers sind schon gespannt. »Du

kannst ja auch schwimmen«, sagt er. »Wo hast du das in

Distrikt 12 gelernt?«

»Wir haben eine große Badewanne«, gebe ich zurück.

»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Gefällt dir die Arena?«

»Nicht besonders. Aber dir doch sicherlich. Sie haben

sie bestimmt extra für dich erbaut«, sage ich eine Spur bit-

ter. So sieht es jedenfalls aus, mit all dem Wasser, denn

garantiert kann nur eine Handvoll der Sieger schwimmen.

Und im Trainingscenter gab es kein Schwimmbecken,

378

keine Chance, es zu lernen. Entweder kommt man als

Schwimmer hierher oder man sollte es schleunigst lernen.

Selbst wer nur an dem anfänglichen Blutbad teilnehmen

will, muss erst mal zwanzig Meter Wasser durchqueren.

Damit hat Distrikt 4 einen gewaltigen Vorteil.

Einen Augenblick lang sind wir wie erstarrt, schätzen

einander ab, die Waffen des anderen, sein Geschick. Da

grinst Finnick plötzlich los. »Gut, dass wir Verbündete

sind. Oder?«

Ich wittere eine Falle und will den Pfeil schon abschie-

ßen, in der Hoffnung, dass er sein Herz durchbohrt, be-

vor ich von dem Dreizack aufgespießt werde, doch da

bewegt er die Hand, und etwas auf seinem Handgelenk

blitzt in der Sonne auf. Ein Armreif aus massivem Gold

mit Flammenmuster. Derselbe, den ich heute Morgen an

Haymitchs Handgelenk gesehen habe, als ich mit dem

Training anfing. Ganz kurz überlege ich, ob Finnick ihn

gestohlen hat, um mich reinzulegen, aber irgendwie weiß

ich, dass es nicht so ist. Haymitch hat ihm den Armreif

gegeben. Als Zeichen für mich. Oder besser als Befehl. Ich

soll Finnick vertrauen.

Ich höre weitere Schritte näher kommen. Ich muss

mich sofort entscheiden. »Na gut!«, sage ich schroff, denn

auch wenn Haymitch mein Mentor ist und versucht, mir

379

das Leben zu retten, ärgert es mich. Warum hat er mir

nichts von diesem Arrangement erzählt? Wahrscheinlich,

weil Peeta und ich Verbündete ausgeschlossen hatten. Da

hat Haymitch einfach selbst einen ausgesucht.

»Duck dich!«, kommandiert Finnick mich mit durch-

dringender Stimme, die so ganz anders ist als sein ein-

schmeichelndes Gesäusel, dass ich gehorche. Sein Dreizack

saust über meinen Kopf und ich höre einen ekelerregenden

Schlag, als er sein Ziel trifft. Der Mann aus Distrikt 5, der

Trinker, der sich bei der Schwertkampfstation übergeben

hat, sinkt auf die Knie, während Finnick den Dreizack aus

seiner Brust zieht. »1 und 2 darfst du nicht trauen«, sagt

Finnick.

Es bleibt keine Zeit, das infrage zu stellen. Ich ziehe

den Köcher mit den Pfeilen aus dem Stapel heraus. »Jeder

eine Seite?«, sage ich. Er nickt und ich sause um den Sta-

pel herum. Etwa vier Speichen weiter schaffen es Enobaria

und Gloss gerade an Land. Entweder sind sie langsame

Schwimmer, oder sie dachten, im Wasser könnten ande-

re Gefahren lauern, was auch gut möglich ist. Manchmal

sollte man sich gar nicht zu viele Gedanken machen. Aber

jetzt, da sie am Strand sind, werden sie in wenigen Sekun-

den bei uns sein.

»Irgendwas Brauchbares?«, höre ich Finnick rufen.

380

Schnell suche ich den Stapel auf meiner Seite ab und

finde Keulen, Schwerter, Pfeil und Bogen, Dreizacke,

Messer, Speere, Äxte, Metallgegenstände, die ich nicht be-

nennen kann … und sonst nichts.

»Waffen!«, rufe ich. »Nichts als Waffen!«

»Hier auch«, gibt er zur Antwort. »Schnapp dir irgend-

was und dann weg hier!«

Ich schieße einen Pfeil auf Enobaria ab, die gefährlich

nah gekommen ist, doch sie hat damit gerechnet und

taucht wieder ins Wasser, ohne getroffen zu werden. Gloss

ist nicht ganz so schnell, und ich jage ihm einen Pfeil in

die Wade, als er in die Wellen springt. Ich hänge mir noch

einen Bogen und einen zweiten Köcher mit Pfeilen um

und stecke mir zwei lange Messer und eine Ahle, so ein

spitzes Ding, mit dem man Löcher in Ledergürtel macht,

in den Gurt. Dann laufe ich zurück zu Finnick.

»Mach was dagegen, ja?«, sagt er und deutet auf Brutus,

der auf uns zugerannt kommt. Er hat den Gurt abgenom-

men und hält ihn wie einen Schild zwischen den Händen.

Ich ziele und schieße, doch er wehrt den Pfeil mit dem

Gurt ab, bevor er ihm die Leber durchbohren kann. Dort,

wo der Pfeil den Gurt durchsticht, spritzt eine lilafarbe-

ne Flüssigkeit heraus und Brutus ins Gesicht. Als ich die

Sehne erneut spanne, wirft er sich flach auf den Boden,

381

rollt sich ein paar Meter bis zum Wasser und taucht unter.

Ich höre, wie hinter mir etwas Metallisches zu Boden fällt.

»Lass uns abhauen«, sage ich zu Finnick.

Während ich mit Brutus zugange war, haben Enobaria

und Gloss es klammheimlich bis zum Füllhorn geschafft.

Brutus ist in Schussweite und irgendwo ganz in der Nähe

wird auch Cashmere sein. Diese vier klassischen Karrie-

ros sind garantiert schon längst Verbündete. Wenn ich nur

meine eigene Sicherheit zu bedenken hätte, würde ich es

vielleicht mit ihnen aufnehmen, mit Finnick an meiner

Seite. Doch ich denke an Peeta. Da entdecke ich ihn, er

sitzt immer noch auf seiner Metallplatte. Ich laufe los, und

Finnick folgt mir, ohne Fragen zu stellen, als hätte er ge-

wusst, dass ich genau das tun würde. Als ich so nah wie

möglich bei Peeta bin, ziehe ich die Messer aus meinem

Gurt, ich will zu ihm schwimmen und ihn irgendwie an

Land bringen.

Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich hole

ihn.«

Misstrauen lodert in mir auf. Könnte das nur ein Trick

sein? Erst mein Vertrauen gewinnen und dann zu Peeta

schwimmen und ihn ertränken? »Das mach ich schon«,

beharre ich.

Doch Finnick hat bereits alle Waffen fallen lassen.

382

»Streng dich lieber nicht zu sehr an. Nicht in deinem Zu-

stand«, sagt er und tätschelt mir den Bauch.

Ach ja, ich bin ja schwanger, denke ich. Während ich

überlege, was er wohl denkt und wie ich mich verhalten

soll – vielleicht mich übergeben oder so –, hat Finnick sich

schon ans Ufer gestellt.

»Gib mir Deckung«, sagt er und taucht mit einem ge-

konnten Kopfsprung ins Wasser.

Ich halte den Bogen hoch, um alle Angreifer, die uns

verfolgen könnten, vom Füllhorn fernzuhalten, aber an-

scheinend legt es niemand darauf an. Wie zu erwarten,

haben sich Gloss, Cashmere, Enobaria und Brutus schon

zusammengerottet und überlegen nun, welche Waffen sie

nehmen sollen. Ein schneller Rundumblick verrät mir,

dass die meisten Tribute immer noch auf ihren Platten

festsitzen. Nein, Moment mal, da steht jemand auf der

Speiche links neben mir, gegenüber von Peeta. Es ist Mags.

Doch weder steuert sie das Füllhorn an, noch versucht sie

zu fliehen. Stattdessen hüpft sie ins Wasser und paddelt

auf mich zu, ihre grauen Haare tauchen immer wieder

auf. Sie ist zwar alt, aber nach achtzig Jahren in Distrikt

4 kann sie sich vermutlich noch immer problemlos über

Wasser halten.

Finnick ist jetzt bei Peeta und schleppt ihn ab, einen

383

Arm um seine Brust gelegt, während er mit dem anderen

mit leichten Schlägen durchs Wasser rudert. Peeta lässt

sich willig mitziehen. Ich weiß nicht, wie Finnick ihn

überzeugt hat, sich ihm zu überlassen – vielleicht hat er

ihm den Armreif gezeigt. Vielleicht hat es Peeta auch ge-

nügt, dass ich auf ihn warte. Als sie den Strand erreichen,

helfe ich dabei, Peeta aufs Trockene zu ziehen.

»Da bin ich wieder«, sagt er und gibt mir einen Kuss.

»Wir haben Verbündete.«

»Ja. Ganz in Haymitchs Sinn«, sage ich.

»Hilf mir mal auf die Sprünge, haben wir sonst noch

eine Abmachung mit irgendwem?«, fragt Peeta.

»Nur mit Mags, glaube ich.« Ich mache eine Kopfbewe-

gung zu der alten Frau, die sich stoisch in unsere Richtung

vorwärtskämpft.

»Mags kann ich nicht im Stich lassen«, sagt Finnick.

»Sie ist eine der wenigen, die mich wirklich mögen.«

»Ich hab nichts gegen Mags«, sage ich. »Vor allem jetzt,

wo ich die Arena sehe. Mit Mags’ Angelhaken haben

wir bestimmt die besten Chancen, zu einer Mahlzeit zu

kommen.«

»Katniss wollte sie ja schon vom ersten Tag an als Ver-

bündete«, sagt Peeta.

»Katniss hat ein erstaunlich gutes Urteilsvermögen«,

384

sagt Finnick. Er fasst mit der Hand ins Wasser und hebt

Mags heraus, als wäre sie so leicht wie ein Hündchen.

Sie macht irgendeine Bemerkung, in der ich das Wort

»treiben« herauszuhören meine, dann klopft sie auf ihren

Gurt.

»Guck mal, sie hat recht. Und da hat es noch jemand

rausgekriegt.« Finnick zeigt auf Beetee. Er rudert mit den

Armen wild durch die Wellen, schafft es aber, den Kopf

über Wasser zu halten.

»Was?«, frage ich.

»Die Gurte. Das sind Schwimmhilfen«, sagt Finnick.

»Bewegen muss man sich aus eigener Kraft, aber immer-

hin bewahren die Dinger einen vor dem Ertrinken.«

Fast hätte ich Finnick gebeten, auf Beetee und Wi-

ress zu warten und sie mitzunehmen, aber Beetee ist drei

Speichen weit entfernt und Wiress sehe ich nicht mal. Ich

schätze, Finnick würde sie genauso schnell umbringen wie

den Tribut aus Distrikt 5, deshalb schlage ich lieber vor

weiterzugehen. Ich reiche Peeta einen Bogen, einen Köcher

mit Pfeilen und ein Messer, den Rest behalte ich für mich.

Doch Mags zieht mich am Ärmel und redet auf mich ein,

bis ich ihr die Ahle gebe. Erfreut klemmt sie sich den Griff

zwischen den zahnlosen Kiefer und streckt die Arme nach

Finnick aus. Er wirft sein Netz über die Schulter, hebt

385

Mags hoch, nimmt den Dreizack in die freie Hand, und

dann rennen wir davon, fort vom Füllhorn.

Hinter dem Strand erhebt sich ein Wald mit hohen

Bäumen. Nein, eigentlich kein Wald. Jedenfalls nicht so

einer, wie ich ihn kenne. Ein Dschungel. Das fremde, fast

schon veraltete Wort fällt mir ein. Ich habe es in irgend-

welchen Hungerspielen gehört oder von meinem Vater ge-

lernt. Die meisten Bäume kenne ich nicht, sie haben glatte

Stämme und nur wenige Äste. Die Erde ist ganz schwarz

und schwammig, an vielen Stellen wird sie verdeckt von

einem Rankengewirr mit bunten Blüten. Die Sonne ist

gleißend, die Luft feuchtwarm und schwer; ich habe das

Gefühl, dass man hier niemals richtig trocken wird. Der

dünne blaue Stoff meines Overalls lässt das Meerwasser

schnell verdunsten, aber jetzt klebt er schon vor Schweiß

an mir.

Peeta übernimmt die Führung, er bahnt sich mit dem

langen Messer einen Weg durchs dichte Gestrüpp. Ich las-

se Finnick an zweiter Stelle gehen, denn auch wenn er der

Stärkste ist, mit Mags hat er alle Hände voll zu tun. Au-

ßerdem kann er zwar großartig mit dem Dreizack umge-

hen, aber der ist hier im Dschungel weniger nützlich als

meine Pfeile. Bei der Hitze und den Steigungen dauert es

nicht lange, bis wir außer Atem geraten. Doch Peeta und

386

ich haben hart trainiert, und Finnick hat so eine außerge-

wöhnliche Konstitution, dass er sogar mit Mags über der

Schulter eineinhalb Kilometer zügig marschiert, ehe er um

eine Pause bittet. Und selbst dann scheint er das eher für

Mags zu tun als für sich selbst.

Durch das Laub ist das Rad im Wasser nicht mehr zu

sehen, deshalb klettere ich auf einen Baum mit gummiar-

tigen Ästen, um etwas zu erkennen. Ich bereue es sofort.

Um das Füllhorn herum scheint der Boden zu bluten,

das Wasser ist dunkelrot gefleckt. Leichen liegen auf dem

Boden und treiben im Wasser, doch aus dieser Entfernung

kann ich nicht erkennen, wer tot ist und wer lebt, zumal

alle die gleiche Kleidung tragen. Ich sehe nur, dass einige

der kleinen blauen Gestalten immer noch kämpfen. Nun

ja, was hatte ich erwartet? Dass die geschlossene Kette der

Sieger gestern Abend eine Art allgemeinen Waffenstill-

stand in der Arena bedeuten würde? Nein, das habe ich

nie gedacht. Aber ich hatte wohl gehofft, dass die Leute

ein bisschen … Zurückhaltung zeigen würden? Oder we-

nigstens Widerstreben. Bevor sie sich ins Gemetzel stür-

zen. Dabei kanntet ihr euch al e, denke ich. Man hatte den

Eindruck, ihr wärt Freunde.

Ich habe nur einen richtigen Freund hier drin. Und der

stammt nicht aus Distrikt 4.

387

Ich lasse mir von der schwachen, feuchten Brise die

Wangen kühlen, während ich zu einer Entscheidung ge-

lange. Trotz des Armreifs sollte ich es einfach hinter mich

bringen und Finnick erschießen. Dieses Bündnis hat ein-

fach keine Zukunft. Und er ist zu gefährlich, um ihn lau-

fen zu lassen. Vielleicht ist jetzt, da wir sein zögerliches

Vertrauen haben, meine einzige Chance, ihn zu töten.

Ich könnte ihm leicht einen Pfeil in den Rücken schie-

ßen, während wir gehen. Das ist natürlich verachtenswert,

aber wird es weniger verachtenswert, wenn ich warte? Ihn

besser kennenlerne? Ihm noch mehr zu verdanken habe?

Nein, jetzt ist der richtige Moment. Von meinem Baum

aus schaue ich ein letztes Mal zu den Kämpfenden, auf die

blutige Erde, um mich in meinem Entschluss zu bestärken,

dann lasse ich mich zu Boden gleiten.

Doch als ich unten ankomme, merke ich, dass Finnick

mit meinen Gedanken Schritt gehalten hat. Als wüsste er,

was ich gesehen habe und wie es auf mich gewirkt haben

muss. Er hat seinen Dreizack in einer lässigen Verteidi-

gungshaltung erhoben.

»Was ist da unten los, Katniss? Halten sie sich alle an

den Händen? Haben sie die Waffen ins Meer geworfen,

um dem Kapitol die Stirn zu bieten?«, fragt Finnick.

»Nein«, sage ich.

388

»Nein«, wiederholt er. »Denn was gestern passiert ist,

war gestern. Keiner in dieser Arena ist zufällig Sieger ge-

worden.« Er wirft einen Seitenblick zu Peeta. »Außer viel-

leicht Peeta.«

Dann weiß Finnick also, was Haymitch und ich wissen.

Über Peeta. Dass er wirklich und wahrhaftig besser ist als

wir anderen. Finnick hat diesen Tribut aus Distrikt 5 um-

gelegt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wie lange

habe ich gebraucht, um mich zum Töten zu entschließen?

Ich habe auf Enobaria und Gloss und Brutus gezielt. Peeta

hätte wenigstens erst mal versucht zu verhandeln. Hätte

versucht, ein breiteres Bündnis herzustellen. Aber mit wel-

chem Ziel? Finnick hat recht. Und ich habe recht. Diejeni-

gen, die jetzt und hier in der Arena sind, wurden nicht für

ihre Barmherzigkeit zu Siegern gekrönt.

Ich halte seinem Blick stand, schätze ab, wer von uns

beiden schneller ist. Die Zeit, die ich brauche, um ihm

einen Pfeil durchs Hirn zu jagen, gegen die Zeit, die sein

Dreizack bis zu mir braucht. Ich sehe, wie er darauf war-

tet, dass ich den ersten Schritt mache. Er wägt ab, ob er

sich lieber schützen oder direkt zum Angriff übergehen

soll. Ich spüre, dass wir beide so weit sind, als Peeta sich

zwischen uns stellt.

»Wie viele sind tot?«, fragt er.

389

Aus dem Weg, du Idiot, denke ich. Aber er weicht nicht

von der Stelle.

»Schwer zu sagen«, antworte ich. »Mindestens sechs,

glaube ich. Und sie kämpfen immer noch.«

»Kommt, wir gehen weiter. Wir brauchen Wasser«, sagt

er.

Bis jetzt gibt es keinen Hinweis auf einen Bach oder

Tümpel und das Salzwasser kann man nicht trinken. Wie-

der denke ich an die letzten Spiele, als ich fast verdurstet

wäre.

»Wir sollten zusehen, dass wir schnell welches finden«,

sagt Finnick. »Heute Nacht müssen wir uns verstecken, da

machen die anderen Jagd auf uns.«

Wir. Uns. Jagd. Na gut, vielleicht wäre es etwas voreilig,

Finnick jetzt umzubringen. Bisher war er hilfsbereit. Hay-

mitch hat ihn abgesegnet. Und wer weiß, was die Nacht

bereithält?

Schlimmstenfalls kann ich ihn immer noch abmurk-

sen, während er schläft. Also lasse ich die Gelegenheit ver-

streichen. Wie Finnick.

Die Tatsache, dass wir kein Wasser haben, verstärkt

meinen Durst. Ich halte gut Ausschau, während wir weiter

bergauf gehen, doch ohne Erfolg. Nach einem weiteren Ki-

lometer sehe ich das Ende des Waldes und schließe daraus,

390

dass wir gleich auf dem Gipfel des Hügels angelangt sind.

»Vielleicht haben wir auf der anderen Seite mehr Glück.

Vielleicht finden wir da eine Quelle oder so.«

Aber es gibt keine andere Seite. Das weiß ich als Erste,

obwohl ich am weitesten vom Gipfel entfernt bin. Mein

Blick fällt auf ein merkwürdiges geriffeltes Viereck, das

wie eine verzogene Fensterscheibe in der Luft hängt. Erst

denke ich, es ist der Glanz der Sonne oder die Hitze, die

über dem Boden flimmert. Doch es bleibt immer an der-

selben Stelle, wandert nicht mit, als ich weitergehe. Ur-

plötzlich stelle ich die Verbindung zwischen dem Viereck

und Wiress und Beetee im Trainingscenter her, und ich

begreife, was da vor uns liegt. Ich habe den Warnruf auf

den Lippen, aber er kommt zu spät: Peeta schwingt schon

das Messer, um einige Ranken wegzuschlagen.

Ein lautes Zischeln ertönt. Einen Moment lang sind

die Bäume verschwunden und auf einem kleinen Fleck

sehe ich die nackte Erde. Dann wird Peeta von dem Kraft-

feld zurückgeschleudert und reißt Finnick und Mags mit

zu Boden.

Ich renne zu ihm, reglos liegt er in einem Geflecht aus

Ranken. »Peeta?« Es riecht schwach nach versengten Haa-

ren. Wieder rufe ich seinen Namen, rüttele an ihm, doch

er reagiert nicht. Ich streiche über seine Lippen, und dort

391

ist kein warmer Atem, obwohl er eben noch gekeucht hat.

Ich lege das Ohr an seine Brust, dorthin, wo ich immer

den Kopf ausruhe, wo ich den starken, gleichmäßigen

Schlag seines Herzens höre. Aber es ist ganz still.

392

20 »Peeta!«, schreie ich. Ich rüttele fester,

gebe ihm sogar eine Ohrfeige, aber

es hat keinen Sinn. Sein Herz hat versagt. Meine Schläge

gehen ins Leere. »Peeta!«

Finnick lehnt Mags an einen Baum und schiebt mich

beiseite. »Lass mich mal.« Er berührt Punkte an Peetas

Hals, fährt über seine Rippen und die Wirbelsäule. Dann

hält er Peeta die Nase zu.

»Nein!«, schreie ich und stürze mich auf Finnick. Be-

stimmt will er sich vergewissern, dass Peeta tot ist, dass

keine Hoffnung besteht, er könne je wieder zum Leben

erwachen. Finnick hebt die Hand und schlägt mir so fest

vor die Brust, dass ich gegen den nächsten Baumstamm

fliege. Einen Augenblick lang bin ich benommen von dem

Schmerz und versuche nur, wieder zu Atem zu kommen.

Finnick hält Peeta wieder die Nase zu. Im Sitzen ziehe ich

einen Pfeil heraus, lege an und will ihn schon abschießen,

als Finnick sich herunterbeugt und Peeta küsst. Und das

ist selbst für Finnicks Verhältnisse so absurd, dass ich in-

nehalte. Aber nein, er küsst ihn nicht. Er hält Peeta die

Nase zu, den Mund jedoch geöffnet, und jetzt bläst er

393

ihm Luft in die Lunge. Ich kann es sehen, ich sehe regel-

recht, wie Peetas Brust sich hebt und senkt. Dann öffnet

Finnick den Reißverschluss von Peetas Overall und presst

die Handballen auf Peetas Herz. Jetzt, da ich den Schock

überwunden habe, begreife ich, was er macht.

Ich habe meine Mutter schon mal bei so was beobach-

tet, allerdings nur ganz selten. Wenn in Distrikt 12 jeman-

dem das Herz versagt, schafft die Familie es meist nicht,

ihn rechtzeitig zu meiner Mutter zu bringen. Ihre Pati-

enten haben gewöhnlich Verbrennungen erlitten, sie sind

verwundet oder krank. Oder ausgehungert natürlich.

Aber Finnick kommt aus einer anderen Welt. Er weiß,

was er tut, das hat er auf jeden Fall schon öfter gemacht.

Er geht methodisch vor, in einem festgelegten Rhythmus.

Ich lasse den Pfeil zu Boden sinken, lehne mich zurück

und warte verzweifelt auf ein Zeichen des Erfolgs. Quälen-

de Minuten verstreichen und meine Hoffnung schrumpft.

Als ich zu dem Schluss komme, dass es zu spät ist, dass

Peeta tot ist, weitergezogen, für immer unerreichbar, hus-

tet er leicht, und Finnick lehnt sich zurück.

Ich werfe meine Waffen weg und stürze zu ihm. »Pee-

ta?«, flüstere ich. Ich streiche ihm die feuchten blonden

Haarsträhnen aus der Stirn, spüre, wie der Puls an seinem

Hals gegen meine Finger pocht.

394

Seine Lider gehen flatternd auf und er schaut mir in

die Augen. »Pass auf«, sagt er schwach. »Da vorn ist ein

Kraftfeld.«

Ich lache, aber Tränen laufen mir über die Wangen.

»Muss stärker sein als das im Trainingscenter«, sagt er.

»Aber mir geht’s gut. Bin nur ein bisschen fertig.«

»Du warst tot! Dein Herz stand still!«, platze ich heraus,

ehe ich darüber nachdenken kann, ob das klug ist. Ich

schlage mir die Hand vor den Mund, denn jetzt kommen

diese schrecklichen erstickten Laute heraus, wie immer,

wenn ich schluchze.

»Na, jetzt scheint’s ja wieder zu schlagen«, sagt er. »Es

ist alles gut, Katniss.« Ich nicke, doch die Geräusche hö-

ren nicht auf. »Katniss?« Jetzt macht Peeta sich Sorgen um

mich, was das Ganze noch verrückter macht.

»Alles okay. Sind nur ihre Hormone«, sagt Finnick.

»Wegen des Babys.« Ich schaue auf. Finnick kniet da und

lehnt sich zurück, immer noch ein wenig keuchend vom

Anstieg und der Hitze und der Anstrengung, Peeta wieder

zum Leben zu erwecken.

»Nein. Das ist es nicht …«, stoße ich hervor, aber da

werde ich von einem noch hysterischeren Heulkrampf

übermannt, eine weitere Bestätigung für Finnicks Be-

merkung mit dem Baby. Er schaut mir in die Augen und

395

ich starre ihn durch die Tränen hindurch wütend an. Ich

weiß, es ist idiotisch, dass ich mich so über ihn ärgere. Ich

wollte Peeta unbedingt das Leben retten, ich konnte es

nicht, und Finnick konnte es, also müsste ich ihm einfach

nur dankbar sein. Das bin ich ja auch. Aber zugleich bin

ich wütend, denn es bedeutet, dass ich Finnick Odair für

immer und ewig zu Dank verpflichtet sein werde. Wie soll

ich ihn da umbringen, während er schläft?

Ich hätte einen selbstzufriedenen oder sarkastischen

Gesichtsausdruck erwartet, doch er sieht seltsam verwirrt

aus. Er schaut zwischen Peeta und mir hin und her, als

wollte er etwas herausfinden, dann schüttelt er leicht den

Kopf, als könnte er so besser denken. »Wie geht es dir?«,

fragt er Peeta. »Meinst du, du kannst weiter?«

»Nein, er muss sich ausruhen«, sage ich. Meine Nase

läuft wie verrückt, und ich habe nicht mal einen Stofffet-

zen, den ich als Taschentuch benutzen könnte. Mags reißt

eine Handvoll loses Moos von einem Ast ab und gibt es

mir. Ich bin zu durcheinander, um mich darüber zu wun-

dern. Ich putze mir lautstark die Nase und wische mir die

Tränen ab. Das Moos fühlt sich schön an. Es ist saugfähig

und überraschend weich.

Ich bemerke etwas Goldschimmerndes auf Peetas

Brust. Ich strecke die Hand aus und fasse es an: eine

396

Scheibe, die an einer Kette um seinen Hals hängt. Darauf

ist mein Spotttölpel eingraviert. »Ist das dein Talisman?«,

frage ich.

»Ja. Stört es dich, dass ich deinen Spotttölpel übernom-

men habe? Ich wollte, dass wir das gleiche Zeichen haben«,

sagt er.

»Nein, warum sollte mich das stören?«, sage ich. Ich

zwinge mich zu einem Lächeln. Dass Peeta mit einem

Spotttölpel in der Arena auftaucht, ist Fluch und Segen

zugleich. Einerseits gibt es den Rebellen in den Distrikten

bestimmt Auftrieb. Andererseits wird Präsident Snow es

kaum übersehen, und das macht es noch schwieriger, Pee-

ta das Leben zu retten.

»Wollt ihr euch hier häuslich niederlassen, oder was?«,

fragt Finnick.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, ant-

wortet Peeta. »Ohne Wasser und ohne Schutz hierzublei-

ben. Mir geht es wirklich schon wieder ganz gut. Wir

müssen eben langsam gehen.«

»Besser langsam als gar nicht.« Finnick hilft Peeta auf

und ich reiße mich zusammen. Seit ich heute Morgen auf-

gestanden bin, habe ich mit angesehen, wie Cinna zu Brei

geschlagen wurde, ich bin zum zweiten Mal in einer Are-

na gelandet und habe Peeta sterben sehen. Ich bin froh,

397

dass Finnick die Schwangerschaft für mich ins Feld führt,

denn aus Sicht eines Sponsors mache ich meine Sache

nicht besonders gut.

Ich überprüfe meine Waffen, obwohl ich weiß, dass sie

völlig in Ordnung sind, aber so sieht es aus, als hätte ich

alles im Griff. »Ich gehe voran«, verkünde ich.

Peeta will widersprechen, doch Finnick schneidet ihm

das Wort ab. »Nein, lass sie das machen.« Er sieht mich

mit finsterer Miene an. »Du wusstest, dass da ein Kraft-

feld war, stimmt’s? Im allerletzten Moment wolltest du uns

warnen.« Ich nicke. »Woher wusstest du es?«

Ich zögere. Es könnte gefährlich sein, wenn ich verrate,

dass ich den Trick von Beetee und Wiress habe. Ich weiß

nicht, ob die Spielmacher es beim Training mitbekommen

haben. Ich bin im Besitz einer sehr wertvollen Informa-

tion. Und wenn sie das wissen, könnten sie das Kraftfeld

so verändern, dass ich das Flimmern nicht mehr erkenne.

Also lüge ich. »Ich weiß nicht. Es ist fast, als könnte ich es

hören. Horcht mal.« Wir sind alle still. Wir hören Insek-

ten, Vögel, den leichten Wind in den Blättern.

»Ich höre nichts«, sagt Peeta.

»Doch«, sage ich. »Es ist wie in Distrikt 12, wenn der

Zaun angeschaltet ist, nur viel, viel leiser.« Wieder lau-

schen sie konzentriert. Auch ich lausche, obwohl es nichts

398

zu hören gibt. »Da!«, sage ich. »Hört ihr? Genau aus der

Richtung, wo Peeta den Schlag gekriegt hat.«

»Ich höre auch nichts«, sagt Finnick. »Aber wenn du es

hörst, dann geh auf jeden Fall voran.«

Ich beschließe, das Spiel auf Teufel komm raus weiter-

zuspielen. »Komisch«, sage ich. Ich drehe den Kopf hin

und her, als wäre ich ganz verwundert. »Ich höre es nur

mit dem linken Ohr.«

»Mit dem Ohr, das die Ärzte repariert haben?«, fragt

Peeta.

»Ja«, sage ich, dann zucke ich die Achseln. »Vielleicht

haben sie es besser hingekriegt, als sie dachten. Weißt du,

manchmal höre ich links echt komische Sachen. Sachen,

von denen man gar nicht denkt, dass sie Geräusche ma-

chen. Zum Beispiel Insektenflügel. Oder Schnee, der auf

den Boden fällt.« Genial. Jetzt werden sie sich auf die Chi-

rurgen stürzen, die mein taubes Ohr nach den Spielen im

letzten Jahr operiert haben, und die werden erklären müs-

sen, wieso ich auf einmal hören kann wie eine Fledermaus.

»Du«, sagt Mags. Sie schiebt mich vorwärts und ich

übernehme die Führung. Da wir sowieso langsam gehen

müssen, möchte Mags einen Ast als Gehhilfe. Im Hand-

umdrehen hat Finnick ihr einen Spazierstock gebastelt.

Für Peeta macht er auch einen Stock, und das ist gut so,

399

denn Peeta protestiert zwar, aber ich glaube, dass er sich

eigentlich am liebsten hinlegen würde. Finnick bildet das

Schlusslicht, sodass wir wenigstens jemanden haben, der

nach hinten absichert.

Das Kraftfeld zu meiner Linken, weil das ja angeblich

die Seite mit meinem übermenschlichen Ohr ist, bewe-

ge ich mich vorwärts. Doch da das alles frei erfunden ist,

schneide ich sicherheitshalber ein paar harte Nüsse ab, die

wie Trauben an einem Baum hängen, und werfe sie vor

mich, denn ich habe das Gefühl, dass mir die Flecken, an

denen man ein Kraftfeld erkennt, meist entgehen. Immer

wenn eine Nuss auf das Feld trifft, entsteht eine Rauch-

wolke, und dann landet die Nuss, schwarz und mit aufge-

brochener Schale, zu meinen Füßen.

Nach einer Weile höre ich hinter mir ein schmatzendes

Geräusch. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Mags eine

Nuss aus der Schale pellt und in ihren bereits vollen Mund

stopft. »Mags!«, schreie ich. »Spuck sie aus. Die könnten

giftig sein.«

Sie murmelt irgendwas, beachtet mich jedoch nicht

weiter und leckt sich genüsslich die Lippen. Ich schaue

Hilfe suchend zu Finnick, aber der lacht nur. »Das werden

wir schon merken«, sagt er.

Ich gehe weiter und wundere mich über Finnick, der

400

die alte Mags gerettet hat, aber nichts dagegen unter-

nimmt, dass sie unbekannte Nüsse isst. Den Haymitch

abgesegnet hat. Der Peeta wieder zum Leben erweckt hat.

Warum hat er ihn nicht einfach sterben lassen? Man hätte

ihm nichts vorwerfen können. Ich hätte nie gedacht, dass

es in seiner Macht stünde, ihn wiederzubeleben. Warum

wollte er Peeta bloß retten? Und warum war er so wild

entschlossen, sich mit mir zu verbünden? Und mich not-

falls auch zu töten. Wobei er die Entscheidung, ob wir ge-

geneinander kämpfen, mir überlassen hat.

Ich gehe weiter, werfe meine Nüsse, entdecke hier und

da einen Zipfel des Kraftfelds, versuche mich weiter links

zu halten, einen Durchschlupf zu finden, weg vom Füll-

horn und hoffentlich hin zu einer Wasserquelle. Doch

nach etwa einer Stunde merke ich, dass es zwecklos ist.

Wir kommen nicht weiter nach links. Der Weg scheint in

einem Bogen um das Kraftfeld herum zu verlaufen. Ich

bleibe stehen und schaue zu der humpelnden Mags, sehe

den Schweiß auf Peetas Gesicht glänzen. »Kommt, wir

machen hier eine Pause«, sage ich. »Ich muss mir das noch

mal von oben angucken.«

Ich suche mir einen Baum aus, der noch höher ge-

wachsen ist als die anderen. Ich klettere die gewunde-

nen Aste hinauf und halte mich so dicht wie möglich am

401

Stamm. Ich weiß ja nicht, wie schnell diese gummiarti-

gen Äste brechen können. Trotzdem klettere ich höher,

als ich sollte; ich muss sehen, was da los ist. Ich klamme-

re mich an einen Ast, der nicht dicker ist als ein Setzling

und in der feuchten Brise hin und her schwankt, und

finde meinen Verdacht bestätigt. Es ist völlig klar, wes-

halb wir nicht weiter nach links kommen und auch nie

kommen werden. Von diesem gewagten Aussichtspunkt

kann ich zum ersten Mal die Form der gesamten Arena

erkennen. Es ist ein vollkommener Kreis. Mit einem voll-

kommenen Rad in der Mitte. Der Himmel über diesem

Kreis ist gleichmäßig rosa gefärbt. Und ich meine, zwei

von diesen welligen Vierecken zu erkennen, die wunden

Punkte, wie Wiress und Beetee sie genannt haben, denn

sie verraten etwas, das verborgen bleiben soll, und sind

deshalb Schwachstellen. Nur um ganz sicherzugehen,

schieße ich einen Pfeil in die Luft über den Bäumen. Ein

Lichtstrahl, ein Aufblitzen des echten blauen Himmels,

dann fällt der Pfeil zurück in den Dschungel. Ich klette-

re vom Baum, um den anderen die schlechte Nachricht

zu überbringen.

»Das Kraftfeld hält uns in einem Kreis gefangen. In ei-

ner Kuppel, genauer gesagt. Ich weiß nicht, wie hoch sie

ist. Es gibt das Füllhorn, das Meer und den Dschungel

402

drum herum. Ganz exakt. Ganz symmetrisch. Und nicht

besonders groß«, sage ich.

»Hast du irgendwo Wasser gesehen?«, fragt Finnick.

»Nur das Salzwasser vom Anfang der Spiele«, sage ich.

»Es muss noch irgendwo anders Wasser geben«, sagt

Peeta mit gerunzelter Stirn. »Sonst sind wir alle in weni-

gen Tagen tot.«

»Tja, das Laub ist dicht. Vielleicht gibt es irgendwo

Tümpel oder Quellen«, sage ich zweifelnd. Mein Ge-

fühl sagt mir, dass das Kapitol diese unpopulären Spiele

vielleicht so schnell wie möglich hinter sich bringen will.

Möglicherweise hat Plutarch Heavensbee schon den Be-

fehl erhalten, uns zu erledigen. »Jedenfalls hat es keinen

Zweck zu gucken, was hinter diesem Hügel ist, denn die

Antwort lautet: Nichts.«

»Zwischen dem Kraftfeld und dem Rad muss es irgend-

wo Trinkwasser geben«, beharrt Peeta. Wir wissen alle,

was das heißt. Wieder nach unten. Zurück zu den Kar-

rieros und dem Blutbad. Und das, wo Mags kaum laufen

kann und Peeta zu schwach zum Kämpfen ist.

Wir beschließen, ein paar Hundert Meter bergab dem

Kreis zu folgen. Vielleicht gibt es auf dieser Höhe Was-

ser. Ich gehe wieder voran, pfeffere hin und wieder eine

Nuss nach links, doch das Kraftfeld ist jetzt weiter weg.

403

Die Sonne brennt auf uns herab, verwandelt die Luft in

Dampf, spielt unseren Augen Streiche. Am Nachmittag ist

klar, dass Peeta und Mags nicht mehr weiterkönnen.

Finnick wählt für die Rast einen Platz etwa zehn Me-

ter unterhalb des Kraftfelds aus, er sagt, wir könnten es

als Waffe einsetzen, indem wir unsere Feinde dorthin len-

ken, wenn sie uns angreifen. Dann pflücken er und Mags

Blätter von dem harten Gras, das in zwei Meter hohen

Büschen wächst, und weben daraus Matten. Da Mags die

Nüsse offenbar gut vertragen hat, sammelt Peeta weitere

und röstet sie, indem er sie gegen das Kraftfeld wirft. Ge-

duldig pellt er die Schale ab und sammelt die Kerne auf ei-

nem Blatt. Ich stehe Wache, unruhig und schwitzend und

mitgenommen von den Eindrücken des Tages.

Durst. Ich hab solchen Durst. Schließlich halte ich es

nicht mehr aus. »Finnick, halt du doch mal Wache und

ich suche noch ein bisschen nach Wasser«, sage ich. Keiner

ist begeistert von meiner Idee, allein loszuziehen, aber die

Gefahr auszutrocknen schwebt über uns.

»Keine Angst, ich gehe nicht weit«, verspreche ich Peeta.

»Ich komme mit«, sagt er.

»Nein, ich will auch auf die Jagd gehen, wenn möglich«,

sage ich. Ich füge nicht hinzu: »Und du kannst nicht mit-

kommen, weil du zu laut bist.« Aber das versteht sich von

404

selbst. Er würde die Beute verscheuchen und mich mit sei-

nem schweren Schritt in Gefahr bringen. »Ich bleib nicht

lange weg.«

Ich schleiche zwischen den Bäumen hindurch und stel-

le erfreut fest, dass man sich auf dem Boden hier sehr gut

geräuschlos bewegen kann. Ich gehe schräg bergab, doch

außer noch mehr üppigem Grün finde ich nichts.

Ein Kanonendonner lässt mich innehalten. Das an-

fängliche Gemetzel am Füllhorn ist offenbar vorbei. Jetzt

können wir die Zahl der Toten erfahren. Ich zähle die

Schüsse, jeder Schuss bedeutet einen toten Sieger. Acht.

Weniger als letztes Jahr. Doch es kommt mir mehr vor,

weil ich die meisten mit Namen kenne.

Ich fühle mich plötzlich schwach und lehne mich an

einen Baum, um zu verschnaufen. Ich spüre, wie die Hitze

meinem Körper wie einem Schwamm das Wasser entzieht.

Schon jetzt fällt es mir schwer zu schlucken, ich beginne

mich matt zu fühlen. Ich streiche mit der Hand über mei-

nen Bauch in der Hoffnung, dass draußen im Kapitol eine

mitfühlende Schwangere mich sponsert und dass Hay-

mitch ein wenig Wasser schicken kann. Vergeblich. Ich

sinke zu Boden.

Während ich so still dasitze, sehe ich die Tiere: merk-

würdige Vögel mit prächtigem Gefieder, Baumleguane

405

mit zuckender blauer Zunge und etwas, das aussieht wie

eine Kreuzung aus Ratte und Opossum und sich an den

Ästen nah am Stamm festhält. Ich erschieße eins, um es

mir genauer anzuschauen. Es ist hässlich, keine Frage, ein

großes Nagetier mit grau geflecktem Fell und zwei fiesen

Nagezähnen, die über den Unterkiefer ragen. Während

ich es ausnehme und häute, fällt mir noch etwas anderes

auf. Die Schnauze ist nass. Als hätte das Tier aus einem

Bach getrunken. Aufgeregt mache ich mich auf die Suche.

Die Wasserquelle des Tiers kann nicht weit entfernt sein.

Nichts. Ich finde nichts. Nicht mal einen Tautropfen.

Weil ich weiß, dass Peeta sich Sorgen um mich macht,

kehre ich schließlich zu unserem Lager zurück, mir ist

noch heißer als vorher und ich bin noch frustrierter.

Die anderen haben inzwischen das Lager wohnlich

gemacht. Aus Grasmatten haben Mags und Finnick eine

Art Hütte gebaut, an einer Seite offen, doch mit drei Wän-

den, einem Fußboden und einem Dach. Mags hat auch

einige Schalen geflochten, die Peeta mit gerösteten Nüs-

sen gefüllt hat. Hoffnungsvoll schauen die drei mich an,

doch ich schüttele den Kopf. »Nichts. Kein Wasser. Aber

es muss welches da sein. Das Tier hier wusste auch, wo«,

sage ich und hebe das gehäutete Nagetier hoch, sodass alle

es sehen können. »Kurz bevor ich es von seinem Baum

406

herunterschoss, muss es getrunken haben, aber ich konnte

die Quelle nicht finden. Ich hab in einem Umkreis von

dreißig Metern jeden Fleck abgegrast.«

»Kann man es essen?«, fragt Peeta.

»Weiß nicht. Aber sein Fleisch sieht so ähnlich aus wie

das eines Eichhörnchens. Es müsste gebraten werden …«

Bei der Vorstellung, hier aus dem Nichts ein Feuer anzu-

zünden, zögere ich. Selbst wenn es mir gelingen sollte, ist

da immer noch der Rauch. In dieser Arena sind wir alle so

nah beieinander, dass ein Feuer nicht unentdeckt bliebe.

Peeta hat eine andere Idee. Er schneidet ein Stück

Fleisch heraus, steckt es auf einen spitzen Stock und

wirft diesen gegen das Kraftfeld. Ein scharfes Zischen ist

zu hören, dann kommt der Stock zurückgeflogen. Der

Fleischwürfel ist außen schwarz, innen jedoch gut durch-

gebraten. Wir klatschen Beifall, aber da fällt uns ein, wo

wir sind, und wir halten schnell inne.

Als wir uns in der Hütte zusammensetzen, versinkt die

weiße Sonne im rosigen Himmel. Ich traue den Nüssen

immer noch nicht so ganz, aber Finnick sagt, dass Mags

sie aus früheren Spielen kennt. Diesmal habe ich beim

Training keine Zeit an der Station mit den essbaren Pflan-

zen verbracht, weil mir das im letzten Jahr so wenig ge-

nützt hat. Jetzt bereue ich es. Bestimmt wären dort einige

407

der unbekannten Pflanzen um mich herum vorgekom-

men. Und ich hätte vielleicht eine Ahnung gehabt, wohin

die Reise geht. Aber Mags scheinen sie gut zu bekommen,

sie futtert diese Nüsse schon seit Stunden. Also nehme

ich eine und knabbere ein wenig daran. Die Nuss hat ei-

nen milden, süßlichen Geschmack, ein bisschen wie eine

Esskastanie. Ich komme zu dem Schluss, dass sie genieß-

bar ist. Das Nagetier schmeckt streng nach Wild, ist aber

überraschend saftig. Für unseren ersten Abend in der Are-

na ist das gar keine üble Mahlzeit. Wenn wir nur etwas

zum Runterspülen hätten.

Finnick fragt mich über das Nagetier aus, das wir

Baumratte nennen. Auf welcher Höhe es im Baum saß,

wie lange ich es beobachtet habe, ehe ich schoss, und was

es gemacht hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass es

groß was gemacht hätte. Es hat nach Insekten geschnüffelt

oder so.

Mir graut vor der Nacht. Immerhin bieten die dicht ge-

flochtenen Grasmatten etwas Schutz vor dem, was nach

einbrechender Dunkelheit womöglich über den Dschun-

gelboden kriechen wird. Doch kurz nachdem die Sonne

hinter den Horizont geglitten ist, geht ein blasser Mond

auf, sodass wir gerade genug sehen können. Unsere Ge-

spräche verstummen, denn wir wissen, was jetzt kommt.

408

Wir stellen uns am Eingang der Hütte in einer Reihe auf

und Peeta schiebt seine Hand in meine.

Der Himmel wird hell erleuchtet vom Wappen des Ka-

pitols, das aussieht, als würde es im Himmel schweben.

Während ich der Hymne lausche, denke ich: Für Finnick

und Mags wird es schwerer. Aber dann ist es auch für mich

schwer, die Gesichter der acht toten Sieger zu sehen, die in

den Himmel projiziert werden.

Der Mann aus Distrikt 5, den Finnick mit seinem

Dreizack umgebracht hat, erscheint als Erster. Das bedeu-

tet, dass alle Tribute von 1 bis 4 noch am Leben sind –

die vier Karrieros, Beetee und Wiress und natürlich Mags

und Finnick. Auf den Mann aus Distrikt 5 folgen der

männliche Morfixer aus 6, Cecelia und Woof aus 8, die

beiden aus 9, die Frau aus 10 und Seeder aus 11. Danach

erscheint wieder das Wappen des Kapitols mit ein wenig

abschließender Musik und dann wird der Himmel dunkel

bis auf den Mond.

Keiner sagt etwas. Ich kann nicht behaupten, ich hätte

einen der Toten gut gekannt. Aber ich denke an die drei

Kinder, die sich an Cecelia geklammert haben, als sie fort-

gebracht wurde.

Daran, wie freundlich Seeder bei unserer Begegnung

im Trainingscenter zu mir war. Selbst der Gedanke an den

409

Morfixer mit den glasigen Augen, wie er mir gelbe Blumen

auf die Wangen malt, versetzt mir einen Stich. Alle tot.

Alle weg.

Ich weiß nicht, wie lange wir noch so dagestanden hät-

ten, wäre nicht ein silberner Fallschirm durch die Blätter

geglitten und vor uns gelandet. Niemand streckt die Hän-

de danach aus.

»Was glaubt ihr, für wen das ist?«, sage ich schließlich.

»Keine Ahnung«, sagt Finnick. »Was haltet ihr davon,

wenn Peeta ihn bekommt? Weil er heute gestorben ist.«

Peeta knotet die Schnur auf und breitet das kreisrun-

de Stück Seide auf dem Boden aus. Auf dem Fallschirm

liegt ein kleiner Metallgegenstand, den ich nicht einord-

nen kann. »Was ist das?«, frage ich. Keiner weiß es. Wir

lassen ihn von Hand zu Hand gehen und untersuchen

ihn der Reihe nach. Es ist ein Metallrohr, das sich am

einen Ende leicht verjüngt. Am anderen Ende hat es eine

kleine, nach unten gebogene Tülle. Es kommt mir vage

bekannt vor. Ein Teil, das von einem Fahrrad abgefallen

sein könnte, von einer Gardinenstange, es könnte alles

Mögliche sein.

Peeta bläst hinein, um zu prüfen, ob es einen Ton

macht. Macht es nicht. Finnick steckt den kleinen Finger

hinein, um es als Waffe auszuprobieren. Unbrauchbar.

410

»Kannst du damit fischen, Mags?«, frage ich. Mags, die

mit fast allem fischen kann, schüttelt den Kopf und grunzt.

Ich lege das Rohr auf meine Hand und lasse es hin und

her rollen. Da wir Verbündete sind, arbeitet Haymitch be-

stimmt mit den Mentoren von Distrikt 4 zusammen. Er

hat das Geschenk mit ausgesucht. Das bedeutet, dass es

wertvoll ist. Uns sogar das Leben retten kann. Ich erin-

nere mich an letztes Jahr, als ich so nötig Wasser brauchte

und er es mir nicht geschickt hat, weil er wusste, dass ich

es finden konnte, wenn ich mir Mühe gab. In Haymitchs

Geschenken oder in ihrem Ausbleiben verstecken sich

wichtige Botschaften. Ich kann fast hören, wie er mich

anknurrt: Streng dein Gehirn an, fal s du eins hast. Was ist

das?

Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und hal-

te das Geschenk ins Mondlicht. Ich drehe und wende es,

schaue es aus verschiedenen Winkeln an, bedecke einzelne

Teile und gebe sie dann wieder frei. Damit es mir seinen

Zweck verrät. Schließlich stecke ich frustriert ein Ende in

die Erde. »Ich geb’s auf. Vielleicht kriegen Beetee und Wi-

ress es raus, wenn wir uns mit ihnen zusammentun.«

Ich strecke mich, lege die heiße Wange auf die Gras-

matte, starre verärgert auf das Ding. Peeta reibt einen

verspannten Punkt zwischen meinen Schultern und ich

411

werde ein wenig lockerer. Ich frage mich, warum es sich

kein bisschen abgekühlt hat, jetzt, da die Sonne unterge-

gangen ist. Ich frage mich, was sie zu Hause wohl machen.

Prim. Meine Mutter. Gale. Madge. Ich stelle mir vor,

wie sie mir zu Hause zuschauen. Jedenfalls hoffe ich, dass

sie zu Hause sind. Nicht von Thread verhaftet. Oder be-

straft wie Cinna. Wie Darius. Bestraft wegen mir. Alle.

Jetzt sehne ich mich nach ihnen, nach meinem Distrikt,

meinem Wald. Ein anständiger Wald mit kräftigen Hart-

holzbäumen, reichlich Nahrung, mit Wild, vor dem man

sich nicht ekeln muss. Rauschende Bäche. Kühle Brisen.

Nein, kalte Winde, die diese erstickende Hitze wegblasen.

Ich beschwöre einen solchen Wind mit meinen Gedanken,

lasse mir von ihm kalte Wangen machen und taube Fin-

ger, und auf einmal hat das Metallding, das halb in der

schwarzen Erde steckt, einen Namen.

»Ein Zapfen!«, rufe ich und setze mich kerzengerade

auf.

»Was?«, fragt Finnick.

Ich ziehe das Ding aus der Erde und wische es sauber.

Schließe die Hand um das sich verjüngende Ende, ver-

berge es und schaue auf die Tülle. Ja, so ein Ding habe

ich schon mal gesehen. An einem kalten, windigen Tag

vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater im Wald war.

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Es steckte fest in einem Loch, das in den Stamm eines

Ahornbaums gebohrt war. Eine Öffnung für den Saft, der

dann in unseren Eimer floss. Mit Ahornsirup wurde selbst

unser fades Brot zu einer Leckerei. Nach dem Tod meines

Vaters blieben seine Zapfhähne verschwunden, ich wusste

nicht, was mit ihnen passiert war. Wahrscheinlich hatte er

sie irgendwo im Wald versteckt. Wo niemand sie je finden

wird.

»Das ist ein Zapfen. So was wie ein Hahn. Man steckt

ihn in einen Baum und dann kommt Saft raus.« Ich

schaue auf die kräftigen grünen Stämme um mich herum.

»Na ja, es muss die richtige Sorte Baum sein.«

»Saft?«, sagt Finnick. Am Meer wächst auch nicht die

richtige Sorte Bäume.

»Für Sirup«, sagt Peeta. »Aber in diesen Bäumen muss

etwas anderes sein.«

Plötzlich sind wir alle auf den Beinen. Unser Durst.

Der Mangel an Wasserquellen. Die spitzen Vorderzähne

der Baumratte und ihr nasses Maul. In diesen Bäumen

kann es nur eines geben, was begehrenswert ist. Finnick

will den Zapfhahn schon mit einem Stein in die grüne

Rinde eines kräftigen Baums hämmern, doch ich halte

ihn zurück. »Warte. Nachher machst du ihn noch kaputt.

Wir müssen erst ein Loch bohren«, sage ich.

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Wir haben nichts zum Bohren, also bietet Mags ihre

Ahle an, und Peeta schiebt sie direkt in die Rinde, sodass

der Stift fünf Zentimeter tief im Stamm steckt. Abwech-

selnd vergrößern Peeta und Finnick das Loch mit der Ahle

und den Messern, bis der Zapfhahn hineinpasst. Vorsich-

tig schiebe ich ihn in das Loch und dann treten wir alle

erwartungsvoll zurück.

Zunächst passiert gar nichts. Dann rollt ein Wasser-

tropfen an der Tülle herab und landet in Mags’ Hand. Sie

leckt ihn ab und streckt die Hand wieder aus.

Wir bewegen den Zapfhahn hin und her, bis ein

dünner Strahl herausfließt. Abwechselnd halten wir den

Mund unter den Hahn und benetzen unsere ausgedörrte

Zunge. Mags bringt eine Schale herbei, das Gras ist so fest

geflochten, dass sie das Wasser hält. Wir füllen die Schale

und lassen sie herumgehen, nehmen große Schlucke, und

später, als unser Durst gelöscht ist, spritzen wir uns Was-