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»Warum haben Sie mich in Ihre Zeit geholt?« fragte Parsons.
»Wir haben ein medizinisches Problem«, sagte Loris nach einer Weile. »Wir haben es zu lösen versucht, aber wir haben versagt. Genauer gesagt, wir hatten nur begrenzten Erfolg. Unser medizinisches Wissen hinkt gewaltig hinterher, und in unserer Welt gibt es kein profunderes Wissen, auf das wir zurückgreifen könnten.«
»Wie viele Ihrer Art gibt es?« fragte Parsons.
Loris lächelte. »Nur uns und noch ein paar andere. Dazu ein paar Sympathisanten.«
»In Ihrem Stamm?«
»Ja«, sagte sie.
»Was wird die Regierung vermuten? Man weiß, daß der Gefängnisrakete etwas zugestoßen ist, und wird sich fragen, was mit mir passiert ist.«
»Die Rakete ist verschwunden«, sagte Helmar. »Das kommt sehr häufig vor. Deshalb wird der Gefangene auch ohne Begleitung losgeschickt. Die Reise von Planet zu Planet ist so unzuverlässig wie die Zeitreise. Wie in den frühen Tagen des Reisens zwischen Europa und der Neuen Welt … winzige Schiffe, die ins Nichts aufbrechen.«
Parsons gab zu bedenken: »Aber sie werden annehmen, daß …«
»Annehmen ist nicht dasselbe wie wissen«, sagte Loris. »Welche Informationen gibt es über uns? Nicht einmal diejenige, daß wir überhaupt existieren, geschweige denn, wer wir sind und was wir vorhaben. Im Endeffekt wissen sie nicht mehr, als sie bisher schon gewußt haben.«
»Dann verdächtigt man Sie also jetzt schon«, sagte Parsons.
»Die Regierung vermutet, daß jemand in der Lage war, aus den Zeitreise-Experimenten, die sie aufgegeben hat, Nutzen zu ziehen. Unsere früheren Bemühungen waren erfolglos. Wir haben verräterisches Material weggeworfen, wo sie es finden und untersuchen konnten. Einige Zeitlang hatten sie ihre Hinweise.« Ihre Augen flammten in einem wilden, zwingenden Blick auf. »Aber sie würden nicht wagen, mich zu beschuldigen. Sie können nicht hierher kommen – dies ist heiliges Land. Unser Land. Unser Haus.« Unter den Gewändern hoben und senkten sich ihre Brüste.
»Verschlimmert sich dieses medizinische Problem, während wir hier herumstehen?« wollte Parsons wissen.
»Nein«, sagte Helmar. »Wir haben es geschafft, es zu einem Stillstand zu bringen.« Seine Ruhe ergab einen Kontrast zu Loris’ Leidenschaft. »Denken Sie daran, Doktor, wir haben die Zeit unter Kontrolle gebracht. Wenn wir vorsichtig sind, kann uns niemand schlagen. Wir haben einen einzigartigen Vorteil.«
»Niemals in der Geschichte«, hauchte Loris, »hatte eine Gruppe eine Waffe wie diese, Möglichkeiten, wie wir sie haben.«
Die drei stiegen eine breite Treppe hinauf und betraten das Wolfshaus, und dabei dachte Parsons insgeheim: Aber eine der wesentlichen Entdeckungen in der Wissenschaft ist die Demonstration dessen, daß eine Sache möglich ist. Sobald das vollbracht ist, ist die Hälfte der Arbeit getan. Diese Leute haben der Regierung bewiesen, daß eine Zeitmaschine gebaut werden kann. Die Regierung weiß jetzt, daß sie einen Fehler gemacht hat, als sie die Versuche aufgab. Sie weiß weder, wie die Experimente erfolgreich zu Ende geführt worden sind, noch von wem. Aber sie weiß – oder hat zumindest guten Grund, dies anzunehmen –, daß Zeitreise möglich ist. Und das allein ist schon eine einzigartige Entdeckung. Loris und Helmar schritten mit einer solchen Entschlossenheit voran, daß Parsons nur einen kurzen Blick auf den langen, dunkel getäfelten Flur werfen konnte. Eine Doppeltür glitt zurück, und er wurde in einen luxuriösen Alkoven geführt. Helmar bot ihm an, in einem lederbezogenen Armsessel Platz zu nehmen, stellte mit einer großartigen Geste einen Aschenbecher neben ihn – und legte ein Päckchen Lucky-Strike-Zigaretten dazu.
»Aus Ihrem Jahrhundert«, sagte Helmar. »Richtig?«
»Ja«, bestätigte Parsons dankbar.
»Wie wär’s mit einem Bier?« erkundigte sich Helmar. »Wir haben mehrere Sorten aus Ihrer Zeit, alle gekühlt.«
»Das hier genügt«, sagte Parsons, zündete eine der Zigaretten an und inhalierte mit Genuß.
Loris, die sich ihm gegenüber hinsetzte, sagte: »Wir haben auch Zeitschriften geholt. Und Kleidung. Und eine Vielzahl von Gegenständen, von denen wir manche nicht identifizieren können. Der Zufall spielt eine ziemliche Rolle, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Der Zeitbagger schaufelt mehr als drei Tonnen hoch; allerdings haben wir auch oft nichts als Schutt bekommen, besonders in den frühen Stadien.« Sie nahm ebenfalls eine Zigarette.
»Haben Sie sich in unserer Welt orientieren können?« fragte Helmar, setzte sich und legte die Beine übereinander.
»Der Regierungsbeamte, den ich kennengelernt habe …« begann Parsons.
»Stenog«, sagte Loris. Ihr Gesicht zeigte Widerwillen. »Wir kennen ihn. Offiziell ist er für den Quell verantwortlich, aber wir haben Grund zu glauben, daß er mit den Shupos in Verbindung steht. Natürlich bestreitet er dies.«
»Sie machen sich nutzbar, was normalerweise kriminelle Kinder wären«, sagte Helmar. »Sie stellen ihre Energie und Talente in den Dienst der Regierung. Das Verlangen, zu verstümmeln und zu töten und zu kämpfen. Sie richten die Jugend darauf ab, für den Tod nur Verachtung übrig zu haben, was, wie Sie erfahren haben, in unserer Gesellschaft ein sehr hoch geachteter Standpunkt ist.« Seine Augen zeigten einen tiefen Grimm.
»Sie müssen sich klarmachen«, sagte Loris, »daß diese Gesellschaft vor langer Zeit errichtet wurde. Diese Lebensweise hat die Sanktion von vielen Jahren und ist keine kurzzeitige Abnormität in der Geschichte. Menschliche Wesen waren in der Geschichte stets eine billige Ware – wir haben im Verlauf unserer Arbeit mit dem Bagger einen recht guten Überblick bekommen. Wenn man in der Zeit vorwärts und zurück reist, ergeben sich einem unweigerlich verschiedene Standpunkte. Helmar und ich, wir können – zumindest verstandesmäßig – das Konzept der Stämme von der Unausweichlichkeit des Lebens verstehen. Sie ermutigen das Leben nicht auf dieselbe Art und Weise, wie sie den Tod ermutigen. Beispielsweise begrenzen sie die Geburtenrate, um eine statische Bevölkerungszahl zu halten.«
Helmar sagte: »Wenn sie die Geburtenrate nicht beschränkt hätten, gäbe es jetzt eine nennenswerte menschliche Bevölkerung auf dem Mars und der Venus. Aber wie Sie wissen, wird der Mars nur als Gefängnis verwendet. Und die Venus hat als Rohstoffquelle herzuhalten. Ausgebeutet, Jahr für Jahr. Geplündert.«
»So wie die Neue Welt von den Spaniern und Franzosen und Engländern geplündert wurde«, sagte Loris.
Sie zeigte nach oben, und Parsons sah, daß an einer Wand des Raumes große, gerahmte Porträts hingen – alte, ihm wohlbekannte Gesichter. Porträts von Cortez, Pizarro, Drake, Cabrillo, dazu andere, die er nicht zu identifizieren vermochte. Doch alle trugen die Rüschen des sechzehnten Jahrhunderts, alle waren Edelleute und Forscher jenes Zeitalters.
Dies waren die einzigen Bilder im Raum.
»Weshalb gilt Ihr Interesse so sehr den Entdeckern des sechzehnten Jahrhunderts?« fragte er.
Loris sagte: »Sie werden es bald erfahren. Folgenden Punkt möchte ich noch betonen: Trotz des morbiden Charakterzuges dieser Gesellschaft gibt es keinen Grund zu erwarten, daß sie an ihren eigenen Unausgeglichenheiten zerbricht und zugrunde geht. Wir haben die Zukunft gesehen und wissen, daß sie eine Existenz von mehreren Jahrhunderten haben wird. Wir teilen Ihre Abneigung gegen ihre Triebkräfte, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir stehen ihnen gelassener gegenüber. Wie auch Sie das schließlich tun werden.«
Rom, dachte Parsons, ist auch nicht an einem Tage untergegangen.
»Was ist mit meiner Gesellschaft?« fragte er.
»Es kommt darauf an, was Sie als die authentischen Werte Ihrer Gesellschaft identifizieren. Manche existieren natürlich immer noch und werden immer existieren. Die Vorherrschaft der weißen Nationen – Rußland, Europa und der nordamerikanischen Demokratien – hielt nach Ihrer Zeit noch etwa ein Jahrhundert an, dann traten Asien und Afrika als die vorherrschenden Gebiete in Erscheinung, die sogenannten ›farbigen Rassen‹ haben ihr rechtmäßiges Erbe angetreten.«
Helmar warf ein: »In den Kriegen des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts haben sich alle Rassen miteinander vermischt, verstehen Sie. Deshalb war es von diesem Zeitpunkt an bedeutungslos, von ›Weißen‹ oder ›Farbigen‹ zu sprechen.«
»Ich verstehe«, sagte Parsons. »Aber das Aufkommen dieses Seelenquaders und der Stämme …«
»Das«, sagte Loris, »war natürlich nicht mit der Vermischung der verschiedenen Rassen verbunden. Die Einteilung in Stämme ist rein künstlicher Natur, wie Sie vermutlich schon gefolgert haben. Sie entstammt einer Neuerung des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts, einem großen, weltweiten Wettbewerb, etwa in der Art der Olympischen Spiele – wobei sich die Sieger jedoch für Jobs in überstaatlichen Institutionen qualifizierten. In dieser Zeit gab es noch einzelne Nationen, und die Teilnehmer kamen anfangs als Repräsentanten ihrer Völker.«
»Die kommunistischen Jugendfestspiele«, sagte Helmar, »waren eine der historischen Quellen dieser Sitte. Und natürlich die mittelalterlichen Turniere.«
Loris sagte: »Aber der hauptsächliche Ursprung des Seelenquaders und der geplanten Manipulation von Zygoten liegt in keiner Ihnen bewußten Quelle.« Sie blickte Parsons aus schmalen Augen heraus an und sagte: »Sie müssen wissen, daß den Farbigen der Welt jahrhundertelang eingeredet wurde, sie seien minderwertig, sie könnten ihr Schicksal nicht in die eigenen Hände nehmen. In uns allen gibt es das bleibende Gefühl, beweisen zu müssen, daß wir besser sind, daß wir in der Lage sind, eine Gesellschaft und eine Bevölkerung zu schaffen, die weit fortschrittlicher ist als alles, was in der Vergangenheit existiert hat.«
Helmar sagte: »Wir haben uns durchgesetzt, doch wir haben eine verkalkte Gesellschaft ins Leben gerufen, die ihre Zeit damit verbringt, über den Tod zu meditieren; sie hat keine Pläne, keine Perspektiven, kein Verlangen nach Wachstum. Unser nörgelndes Minderwertigkeitsgefühl hat uns verraten, hat uns unsere Energien damit verschwenden lassen, unseren Stolz wiederzuerlangen, zu beweisen, daß unsere alten Feinde im Unrecht sind. Wie in der ägyptischen Gesellschaft sind Tod und Leben so eng miteinander verflochten, daß die Welt ein Friedhof geworden ist und die Menschen zu nichts weiter als Aufsehern degradiert wurden, die zwischen den Knochen der Toten leben. In ihren Vorstellungen sehen sie sich selbst buchstäblich als die Vor-Toten. Deshalb ist ihr großes Erbe verschwendet worden. Stellen Sie sich vor, was sie – wir – hätten werden können.« Er brach ab, sein Gesicht war eine Studie widerstreitender Gefühlsregungen.
Eine Zeitlang sprach keiner von ihnen. Dann sagte Parsons, begierig darauf, das Thema zu wechseln: »Und wie sieht Ihr medizinisches Problem aus?« Er wollte es jetzt so schnell wie möglich wissen, wollte herausfinden, was es war.
»Drehen Sie Ihren Sessel um«, sagte Loris. Sie und Helmar drehten sich um, bis sie die andere Wand des Raumes sehen konnten. Parsons folgte ihrem Beispiel.
Rasch atmend, die Lippen halb geöffnet, die Fäuste an ihren Seiten geballt, starrte Loris auf die Wand.
»Passen Sie auf«, sagte sie. Und sie drückte eine Taste.
Die Wand verblaßte. Sie flackerte und war verschwunden. Parsons stellte fest, daß er in einen anderen Raum schaute. Kommt mir bekannt vor, dachte er. Ein Ort, an dem er gewesen war. Es war – der Quell!
Nicht ganz. Hier war alles winzig. Dieser Raum war eine Replik dessen, was er am Quell gesehen hatte. Die gleichen Ausstattungs-Anordnungen, Stromkabel, Lastenaufzüge. Und am hinteren Ende die glänzende, leere Oberfläche eines Quaders – eines verkleinerten Quaders, der etwa drei Meter hoch und einen Meter tief war.
»Was ist darin?« fragte Parsons.
Loris zögerte.
»Los«, sagte Helmar.
Jetzt berührte sie die Taste erneut. Die zierlose Vorderseite des Quaders verblaßte. Sie schauten in seine Tiefen hinab, in die wirbelnde Flüssigkeit, die ihn ausfüllte.
Ein Mann stand aufrecht darin, im Medium des Quaders im Gleichgewicht gehalten. Er lag regungslos, die Arme an den Seiten, die Augen geschlossen. Mit einem Schock stellte Parsons fest, daß der Mann tot war. Tot – und irgendwie im Innern des Quaders konserviert. Es war groß, kräftig gebaut, mit einem muskulösen, glänzenden, kupferfarbenen Rumpf. Sein nackter Körper wurde von diesem Miniatur-Seelenquader, von dieser kleinen Version des großen, offiziellen Quaders am Quell vor der Verwesung bewahrt.
Statt hundert Milliarden Zygoten und entwickelter Embryos enthielt dieser kleine Quader den konservierten Körper eines einzelnen Menschen, eines voll entwickelten Mannes, der vielleicht dreißig Jahre alt sein mochte.
»Ihr Ehemann?« fragte Parsons Loris, ohne zu überlegen.
»Nein. Wir haben keine Ehemänner.« Loris starrte den Mann mit großer Gemütsbewegung an. Sie schien sich einer anschwellenden Flut von Gefühlen kaum erwehren zu können.
»Sie hatten eine emotionelle Beziehung? Er war Ihr Liebhaber?« beharrte Parsons.
Loris schüttelte sich, lachte dann plötzlich. »Nein, nicht mein Liebhaber.« Ihr ganzer Körper schwankte und zitterte, als sie sich die Stirn rieb und sich für einen Moment abwandte. »Obwohl wir natürlich Liebhaber haben. Eine ganze Menge sogar. Die sexuelle Betätigung geht unabhängig von der Vermehrung weiter.« Sie schien nahezu in Trance zu sein. Ihre Worte kamen langsam, waren tonlos.
Helmar bewegte sich in seinem Sessel und sagte: »Gehen Sie näher heran, Doktor. Sie werden sehen, wie er seinem Tod begegnet ist.«
Parsons stand auf und ging auf die Wand zu. Was zuerst wie ein kleiner Fleck auf der linken Brust des Mannes ausgesehen hatte, stellte sich als etwas ganz anderes heraus. Das hier war zweifellos die Todesursache. Wie fehl am Platz in dieser Welt, dachte Parsons. Verwundert starrte er darauf. Aber es bestand kein Zweifel.
Aus der Brust des Toten ragte der gefiederte, eingekerbte Schaft eines Pfeiles.