SIEBEN
Athelstan und Cranston gingen zurück ins Klostergebäude. Athelstan suchte den Prior auf und berichtete in knappen Worten, was sie gefunden hatten und zu welchen Schlußfolgerungen sie gekommen waren.
Anselm wurde blaß, und Athelstan sah, daß sein Prior dem Zusammenbruch nahe war.
»Warum nur?« wisperte der Geistliche heiser. »Warum so viele Tote?«
»Sagt mir, Prior«, bat Cranston, »was könnte Bruder Roger im Obstgarten gesucht haben?«
»Er ging oft dorthin. Es war sein Lieblingsplatz. Er sagte, er spreche gern mit den Bäumen.« Anselm bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. »Roger war einfältig. Er arbeitete in der Sakristei. Alcuin war streng, aber sehr gut zu ihm. Roger hatte eigentlich nicht viel zu tun - ein bißchen putzen, fegen und Blumen pflücken für die Kirche. Er war nicht gern in geschlossenen Räumen. Er liebte die frische Luft, und ich ließ ihn gewähren. Wenn die anderen Brüder sich morgens und abends zum Lobgesang in der Kirche versammelten, ging Roger in den Obstgarten. Der arme Kerl sagte, er fühle sich dort Gott näher als irgendwo sonst.« Der Prior schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nun ist die arme Seele bei Gott, und der Mörder stolziert sorglos umher wie ein Gockel. Athelstan, was kannst du tun?«
»Pater Prior, ich tue, was ich kann, aber ich muß Euch um Erlaubnis bitten fortzugehen. Ich muß nach St. Erconwald.« Er sah den Prior flehentlich an. »Ich komme noch heute zurück. Ich muß nur sehen, daß alles in Ordnung ist.«
»Ach ja, die berühmte Reliquie«, antwortete Prior Anselm säuerlich. »Weiß Gott, weshalb du dich darum noch kümmerst, Athelstan. Deine Pfarrkinder hören nicht auf dich.« Er verzog das Gesicht. »Ja, ich habe die Neuigkeit gehört. Der Ruhm deines mysteriösen Märtyrers verbreitet sich in der ganzen Stadt. Wenn du nicht aufpaßt, wird der Bischof persönlich eingreifen, und du weißt, was dann passiert.«
Athelstan schloß die Augen und sprach ein stummes Gebet. O ja, ich weiß, was dann passiert, dachte er. Die Leute des Bischofs werden das Skelett holen und in irgendeine Kirche überführen, oder sie werden es zerbrechen und die Teile als Reliquien verkaufen; derweil wird man die Türen von St. Erconwald für die Dauer einer Untersuchung versiegeln. Und die kann Monate dauern.
»Dieses erste Wunder«, sagte Anselm, »bist du sicher, daß es echt war?«
Athelstan verzog das Gesicht. »Ein Arzt hatte die Haut behandelt, und der Mann, ein Bürger von gutem Ruf, behauptet, sein Arm sei nun geheilt.«
Athelstan war mit seinen Gedanken woanders, als er sich von Prior Anselm verabschiedete und zum Gästehaus hinüberging; Cranston trottete hinter ihm her. Der Dominikaner packte seine Satteltasche; er dachte immer noch an das, was der Prior gesagt hatte. Unterdessen flatterte der Coroner um ihn herum wie ein gemästetes Huhn. »Wieso willst du weg, Bruder? Weshalb dorthin zurück?«
»Weil es hier im Augenblick nichts zu tun gibt, Sir John, und ich dort etwas zu erledigen habe.« Er sah Cranston scharf an. »Ich schlage vor, Sir John, daß auch Ihr nach Hause geht, zu Lady Maude. Sicher wartet sie schon auf Euch.« Cranston stöhnte wie ein auf frischer Tat ertappter unartiger Junge. »Beim Hintern einer Fee!« flüsterte er. »Wenn Domina Maude von meiner Wette erfährt, wird sie mir die Ohren abschneiden.«
Athelstan sah ihm ins Gesicht. »Früher oder später, Sir John, werdet Ihr Euch ihrem Zorn stellen müssen. Dann doch lieber früher. Kommt.«
Sie schickten nach Norbert, damit er das Gästehaus verriegelte. Sie beschlossen, nicht zu Pferde in die Stadt zurückzukehren, sondern mit einem Ruderboot von East Watergate zur London Bridge zu fahren. In der Knight Rider Street und den Gassen, die davon abgingen, herrschte kaum noch Betrieb. Lehrlinge mit schlaftrunkenen Augen machten die Verkaufsstände bereit; die anderen Bewohner schlummerten noch, ehe der neue Arbeitstag begann. In East Watergate indessen waren die Männer des Sheriffs schon mit der Hinrichtung von vier Flußpiraten beschäftigt - grauhaarige, wettergegerbte Männer, die hastig die Leitern zur wartenden Schlinge hinaufgestoßen wurden. Athelstan und Cranston schauten weg, als ein berittener Scherge den Befehl gab, die Leitern umzuwerfen, und die Piraten in der Luft baumelten und tanzten, als die Schlingen sich zuzogen. Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet für ihre Seelen. Die Hinrichtung löste bittere Erinnerungen an das gespenstische Bild aus, das er am Morgen im Obstgarten von Blackfriars gesehen hatte. Er drehte sich zur Reihe der schwarzen Galgen um, deren Arme auf den Fluß hinauswiesen. Er hörte Geschrei, als Verwandte der Flußpiraten herbeigelaufen kamen, sich mit einem Satz an die immer noch zappelnden Leiber hängten und sie grob herabzogen, bis mehrfaches scharfes Knacken anzeigte, daß ihre Hälse gebrochen waren, und die Leichen endlich bewegungslos dahingen. Die Leute des Sheriffs protestierten zwar, aber sie taten nichts, um diesen Gnadenakt zu verhindern. Die Schergen verkündeten, daß Gerechtigkeit geschehen sei, und zogen ab.
»Endlich«, seufzte Cranston, »werden wir ein Boot bekommen können.«
Die Schiffer und Bootsleute, die den Verkehr auf dem Fluß beherrschten, hatten sich in kleinen Gruppen zusammengefunden und zugesehen, wie die Männer hingerichtet wurden, die ihr Geschäft attackiert hatten. Jetzt schlenderten sie zu der Treppe an der Kaimauer zurück. Cranston mietete das schnellste, von vier Männern geruderte Boot, und bald waren sie auf der Flußmitte und glitten durch den Nebel zum Ufer von Southwark hinüber. Als sie an einem der großen Mistkähne vorbeikamen, die Berge von Müll, Tierkadavern und menschlichem Abfall in die Mitte des schnell fließenden Flusses kippten, mußten sie anhalten und Mund und Nase bedecken. Andere Silhouetten zogen vorüber: eine Barke mit Soldaten, die einen Gefangenen zum Tower brachten, ein gascognisches Weinschiff, das langsam flußaufwärts in Richtung Rotherhithe fuhr. Bei Dowgate begegnete ihnen ein großes, goldverziertes Ruderboot voll ausgelassener Leute, junge, in Seide gehüllte Höflinge mit ihren lärmenden Huren, die sich in die Stadt zurückrudern ließen, nachdem sie die Nacht hindurch in den Bordellen von Southwark gefeiert hatten.
An einem kleinen Kai am Fuße der Priorei von St. Mary Overy und den zinnenbewehrten Türmen und Mauern des Stadtpalais des Bischofs von Winchester gingen Athelstan und Cranston an Land. Cranston hatte schließlich doch beschlossen, Athelstans Rat zu befolgen und heim zu Lady Maude zu gehen, aber er bestand darauf, daß sein Gefährte ihn begleitete.
»Weißt du, Bruder, wenn du dabei bist, läßt sich der Zorn der Domina vielleicht im Zaume halten.« Athelstan nickte wohlweislich. Das wird ein Anblick werden, dachte er. Lady Maude, klein, zierlich und sanft, stand in dem Ruf, ein wildes Temperament zu haben. Sie wanderten durch ein Labyrinth von stinkenden Gassen, vorbei am Stadthaus des Abtes von Hyde und an einem kleinen Abwasserkanal entlang, wo ein gelber, klapperdürrer Hund geschäftig die Geschwüre am Bein eines Bettlers leckte. Dann erreichten sie den Platz vor der Kirche von St. Erconwald. Athelstan vergewisserte sich, daß sein Haus gut verschlossen war, und sah mit Verzweiflung, daß Ursulas Sau wieder von seinem Kohl gefressen hatte. Er nahm einen zweiten Schlüsselbund aus seiner Truhe und schloß die Kirche auf, denn die Arbeiter waren noch nicht da. Das Kirchenschiff lag immer noch voller Staub, aber die Männer waren fleißig gewesen, denn der Chor erstrahlte im Glanz weißer, ebenmäßig verlegter Steinplatten. Entzückt klatschte Athelstan in die Hände.
»Wunderschön!« rief er. »Der Lettner wird wieder aufgestellt, und dann auch der Altar. Meint Ihr, daß es gut aussehen wird, Sir John?«
Cranston hockte an einer Säule und nickte geistesabwesend. »Ein wahres Juwel«, brummte er. »Aber hast du schon gesehen, was verschwunden ist?« Athelstan kam zu ihm und schaute ins Seitenschiff. »Der Sarg!« schrie er. »Der verfluchte Sarg ist weg!«
»Keine Sorge, Pater.« Crim trat herein, gefolgt von Bonaventura mit hochgerecktem Schwanz. Der Lausbub kam tanzend auf ihn zu, und der Kater miaute erfreut, als er seinen fetten Freund, den Coroner, erblickte. Während Sir John mit dem Fuß aufstampfte und den Kater leise verfluchte, berichtete Crim, daß sein Vater den Sarg mitsamt den heiligen Gebeinen in das kleine Totenhaus auf dem Gemeindefriedhof geschafft hatte.
»Wißt Ihr, Pater, die Wachtmeister, die der Lord Coroner geschickt hat, haben die Leute verscheucht. Und Pike, der Grabenbauer, meinte, wenn schon die Kirche verschlossen sei, so sei doch das Beinhaus offen. Also haben sie den Sarg dahin gebracht.«
Athelstan schluckte seine Flüche herunter, stapfte zur Tür hinaus und über den zugewachsenen Friedhof zum Totenhaus, das an der gegenüberliegenden Mauer stand. Es war ein kleines, viereckiges Gebäude mit Strohdach und einem winzigen, mit einem Laden verschlossenen Fenster. Pike, der Grabenbauer, lag fest schlafend vor der Tür, aber Athelstan sah, daß der Strom der Pilger sich einen Trampelpfad quer über den Friedhof zu dem kleinen Schuppen gebahnt hatte. »Das wird ein Spaß werden«, murmelte er. Als er vor dem schlafenden Pike stand, holte er mit dem sandalenbeschuhten Fuß aus und trat gegen die Sohle von Pikes schwerem Stiefel, so daß der Grabenbauer erschrocken hochfuhr. Athelstan musterte seine glasigen Augen, das unrasierte Gesicht und den leeren Weinschlauch in der Hand. »Oh, Pater, guten Morgen.«
Athelstan hockte sich neben ihn. »Und was machst du hier?« fragte er zuckersüß.
Pike rieb sich die Augen und wich wachsam zurück. »Die Reliquie bewachen, Pater.«
»Und wer hat gesagt, du sollst den Sarg aus der Kirche holen?«
»Watkin. Es war seine Idee.«
»Jawohl, Pater!« rief eine Stimme hinter einem gemeißelten Grabstein. »Es war Watkin.«
Cecily, die Kurtisane, erhob sich wie eine Erscheinung; ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht vom Schlaf zerknittert, und sie hatte einen dicken Mantel um ihr fleckiges, scharlachrotes Kleid gewickelt.
Athelstan sah erst sie, dann Pike an und bemühte sich, die Wut im Zaum zu halten, die in ihm hochkroch.
»Ihr wart die ganze Nacht hier? Zusammen? Dies ist ein Friedhof! Ein Gottesacker!« Er richtete sich auf. »Kennst du die Bibel nicht, Pike? Dies ist das Haus Gottes, und keine Abdeckerei!«
Athelstan ging zur Tür des Beinhauses. »Ich schließe auf, Pater.«
»Hau ab!« schrie Athelstan und trat wütend unter den Türriegel.
»Oh, Pater, nicht!« heulte Cecily.
Athelstan trat noch einmal zu, und die Tür flog auf, just als Cranston auf der Flucht vor dem aufmerksamen Bonaventura über den Friedhof gelaufen kam und wissen wollte, was los sei.
Athelstan schaute sich im Totenhaus um. Der Sarg stand auf einem Tisch inmitten verblichener Blumen. Jemand hatte ein rohes Holzkreuz an die Wand gehängt, und Athelstans Wut wurde nur noch größer, als er sah, daß der Sarg entweiht worden war.
»Sie fangen an, Holzsplitter zu verkaufen!« zischte er. Er stürmte hinaus und hätte Cranston fast über den Haufen gerannt. Cecily flüchtete wie ein bunter Schmetterling auf das Friedhofstor zu, aber Pike wollte noch nicht weichen. Athelstan packte den Kerl bei seinem Wams und zog ihn an sich. »Hör zu, Pike, ich bin sehr böse über das, was ihr getan habt. Dein Vater liegt hier begraben, sein Vater und dessen Vater vor ihm, und viele andere Vorfahren unserer Pfarrei. Gute Männer, fromme Frauen, arm, aber fleißig.« Mit einer energischen Kopfbewegung deutete er hinter sich auf das Totenhaus. »Mit eigenen Händen haben sie diesen Sarg gezimmert, das Holz gekauft, einen Tischler bezahlt. Und du, Watkin, und all die anderen, ihr mißbraucht ihn zu einem lächerlichen Mummenschanz.«
Pike erschrak angesichts der ungewohnten Wut des Priesters und glotzte ihn mit offenem Maul an. Athelstan ließ ihn los.
»Paß auf, Pike: In ein paar Tagen komme ich wieder. Ich will, daß der Sarg dann wieder in der Kirche steht, das Totenhaus verschlossen ist und diese Albernheit ein Ende hat.« Er sah sich auf dem überwucherten Friedhof um. »Und Watkin kannst du ausrichten: Ich wünsche diesen Friedhof aufgeräumt zu sehen, das Gras gemäht, die Gräber gepflegt - oder ich werde ihm persönlich etwas antun, woran er sich für den Rest seines gottgegebenen Lebens erinnern wird. Hast du das verstanden?«
Pike nickte ängstlich und stapfte zur Pforte hinaus. Cranston schlug Athelstan auf die Schulter. »Gut gemacht, Bruder! Du hättest dem Mistkerl noch in den Hintern treten sollen.«
Athelstan setzte sich müde zwischen die umgestürzten Grabsteine. »Sie meinen es ja gut, Sir John. Es sind arme, einfache Leute, die hier eine Möglichkeit sehen, rasch viel Geld zu verdienen. Ich hätte nicht die Geduld verlieren dürfen.« Ein Rülpser war Cranstons Antwort.
»Crim!« rief Athelstan. »Ich weiß, daß du dich da versteckst.« Der Bengel stand da wie ein Jagdhund mit zitternden Flanken und blickte Athelstan unverwandt an. »Keine Angst.« Athelstan lächelte. »Du bist ein guter Junge, Crim. Rasch, bevor zuviel Verkehr auf der Straße ist: Lauf zu Lady Benedicta und sage ihr, sie soll sich mit Sir John und mir in der Schenke ›Zum Geschecktem treffen.« Der Junge verschwand mit weiten Sätzen wie ein Greyhound im hohen Gras. Cranston faßte Athelstan beim Arm und zog ihn sanft hoch, dann legte er dem Bruder wie ein Bär den Arm um die Schultern. Athelstan roch den Weindunst in seinem Atem und wußte gleich, daß Sir John irgendwo unter seinem voluminösen Mantel den wunderbaren Weinschlauch verwahrte.
»Für einen Pfaffen bist du ein wackerer Kerl, Athelstan. Du hast Feuer im Arsch, Stahl im Herzen und eine Zunge wie ein Rasiermesser.« Er grinste boshaft und umarmte Athelstan wie eine Schraubzwinge. »Wenn du kein Mönch wärst, dann wärst du ein guter Lehrling für das Amt des Coroners.«
»Ihr seid ja guter Dinge, Sir John.«
»Mir ist auch schon wohler«, antwortete Cranston. »Ein Krug Ale und die Anwesenheit der schönen Benedicta. Was kann man sich mehr wünschen?«
»Und Lady Maude?« fragte Athelstan.
Cranston machte ein langes Gesicht. »Bei den Eiern des Satans, Bruder! Jag mir keinen solchen Schrecken ein!« Sie erreichten die Schenke und ließen sich an einem Tisch nieder. Cranston war bei seinem zweiten Humpen Ale und zerriß mit dicken Fingern das weiße, saftige Fleisch einer kleinen Wachtel, als Benedicta hereinkam. Der Coroner brüllte nach einem Becher Kräuterwein, lud sie ein, auf seinem Knie Platz zu nehmen, und brüllte vor Lachen über die widerborstige Antwort der Frau, derweil er Athelstan aus dem Augenwinkel boshaft anzwinkerte. Er wußte, der Priester war ein guter und frommer Mann, aber seine Schwäche für diese Frau faszinierte Cranston. Es war die einzige Gelegenheit, bei der Athelstan je nervös wurde, diese ersten paar Augenblicke einer Begegnung mit Benedicta, und auch jetzt war das so. Der Bruder umsorgte die Frau wie ein liebeskranker Knabe und sorgte dafür, daß sie es auch bequem hatte; Benedicta, eingeschüchtert von soviel Aufmerksamkeit, murmelte, sie fühle sich sehr wohl. Athelstan sah, daß es tatsächlich so war: Sie hatte den angespannten, bangen Blick verloren, ihr schwarzglänzendes Haar unter dem zarten weißen Schleier war duftig, und er bewunderte ihr enganliegendes Kleid aus rosaroter Atlasseide, das am Hals von einer herzförmigen Brosche verschlossen wurde. Benedicta zwinkerte Cranston zu und warf Athelstan einen Blick zu.
»Ihr wart an der Kirche, Pater?«
»Ja, und ich habe Pike ordentlich die Meinung gesagt. Cecily hat Reißaus genommen, bevor ich auch ihr ein paar Wahrheiten verpassen konnte. Benedicta, ich hatte dir doch die Verantwortung übertragen.«
Die Frau hob anmutig die Schultern. »Ihr kennt doch Watkin, Pater. Er hat ein Maul wie eine Trompete. Zumindest habe ich sie aus der Kirche heraushalten können. Was hätte ich tun sollen?« fragte sie unschuldig. »Mich zu Cecily auf den Friedhof legen?«
Cranston brüllte vor Lachen, und Athelstan lächelte. »Gibt es schon Antwort auf den Brief?« fragte sie hoffnungsvoll.
Cranston bedeckte ihre zierliche Hand mit seiner mächtigen Pranke. »Keine Angst«, vertraute er ihr sanft rülpsend an, »ich habe den schnellsten Kurier beauftragt. Er soll von Dover geradewegs nach Boulogne reiten und hat den Befehl, auf Antwort zu warten.«
Benedicta faßte einen seiner Finger und drückte ihn fest. »Sir John, Ihr seid ein Gentleman.«
Cranston packte seinen Humpen und schaute tief hinein, um seine Verlegenheit zu verbergen. »Und die Sache in Blackfriars?« fragte sie. »Mord, Mylady«, antwortete Cranston düster. »Blutiger Mord! Lautloser Tod! Aber ich habe ein paar Theorien, wie mein Schreiber Euch nachher berichten wird.« Er warf Benedicta einen mißtrauischen Blick zu; sie saß da und nagte an der Unterlippe, während Athelstan plötzlich großes Interesse an seinem Weinbecher zeigte.
»Ich möchte dich noch sprechen, Benedicta«, sagte Athelstan sanft, »bevor ich nach Blackfriars zurückkehre. Der Sarg soll in die Kirche zurückgebracht werden und dort bleiben. Heute ist Donnerstag. Am nächsten Dienstag werde ich wieder da sein, damit ich noch vor Fronleichnam die Beichte hören kann. Sag Watkin, ich wünsche, daß dann alles in Ordnung ist.«
»Und was noch?«
Athelstan lehnte sich an die Wand. »Ich habe nachgedacht über das, was der Pater Prior sagte, bevor ich Blackfriars verließ. Er sprach von dem ersten Wunder. Weißt du, ich denke, es wird Zeit, daß wir Raymond D'Arques einmal einen Besuch abstatten. Kommt.« Er stand auf, Cranston packte seinen Humpen und leerte ihn bis auf den letzten Tropfen. Athelstan deutete mit dem Kopf zur Tür. »Vielleicht lichtet sich der Nebel in mehr als einem Sinne.« D'Arques' Haus war ein zweistöckiges Gebäude an einer Straßenecke, ein Fachwerkhaus mit rotem Ziegeldach, kleinen Fenstern in beiden Geschossen und einem schmalen Durchgang an der Seite. Athelstan ging den Gang hinunter und spähte über die Pforte am Ende. Er sah in einen großen Hof, der leer war bis auf ein paar Bettler, die dort kauerten. Verwundert kehrte er zur Vorderseite des Hauses zurück und klopfte an die Tür. Cranston und Benedicta standen hinter ihm. D'Arques' freundliche Frau öffnete und begrüßte sie lächelnd.
»Pater Athelstan!« Sie warf einen raschen Blick auf Cranston und Benedicta.
»Zwei Freunde«, erklärte Athelstan. »Sir John Cranston, der Coroner der Stadt London, und Benedicta, ein Mitglied meines Pfarrgemeinderates.«
Die Frau wandte sich um und trat zurück in den Schatten des Hauses.
»Kommt herein«, sagte sie leise. »Mein Mann ist bei der Arbeit. Ihr wollt ihn wegen des Wunders zu St. Erconwald sprechen?«
»Ja«, antwortete der Ordensbruder. »Die Kunde davon hat sich in ganz Southwark verbreitet und sogar die andere Seite des Flusses erreicht.«
D'Arques saß in der kühlen, mit Stein ausgelegten Küche; die auf dem Tisch verstreuten Münzen, die Pergamentstreifen, Tintenhorn und Federkiel sowie der kleine schwarzperlige Abakus ließen erkennen, daß er gerade mit seiner Buchführung beschäftigt war. Als sie hereinkamen, schob er den Schemel zurück, stand auf und lud sie ein, sich an den Tisch zu setzen.
»Bruder Athelstan, seid mir willkommen.« Alle wurden einander vorgestellt; er gab Cranston die Hand und nickte Benedicta höflich zu. Athelstan nahm Platz und sah sich um. Die Küche war sauber und aufgeräumt. Von einem großen Kessel auf dem kleinen Holzfeuer stieg köstlicher Duft auf. D'Arques sah Athelstans Blick. »Rindfleischeintopf«, sagte er. »Aber es sind ja nicht die Kochkünste meiner Frau, die Euch interessieren.« Er schob den weiten Ärmel seines Mantels zurück und entblößte einen gesunden Arm. »Ihr seht, Pater, die Infektion ist nicht zurückgekehrt.«
Cranston und Benedicta betrachteten die gesunde Haut und suchten nach irgendwelchen Spuren, fanden aber keine. D'Arques' Frau setzte sich ans andere Ende des Tisches und beobachtete sie aufmerksam.
»Master D'Arques.« Athelstan rutschte unbehaglich hin und her; er fühlte sich jetzt wie ein Eindringling in diesem glücklichen Haus. »Habt Ihr schon immer in Southwark gelebt?«
»Ich bin in Southwark geboren und aufgewachsen.«
»Und Ihr wart Tischler?«
»Ich habe verschiedene Berufe ausgeübt, Pater. Warum fragt Ihr?«
»Wart Ihr früher schon einmal verheiratet?«
D'Arques warf den Kopf in den Nacken und lachte. Dann zwinkerte er seiner Frau zu. »Gebranntes Kind scheut das Feuer, Pater! Nein, Mary Twyford« - und er nickte seiner Frau zu - »ist meine erste und einzige Gattin. Meine erste und einzige Liebe«, fügte er leise hinzu. Die Frau senkte verlegen den Blick.
»Twyford?« wiederholte Cranston. »Ihr seid mit dieser Familie verwandt?«
»O ja, Sir John. Mit den berühmten Twyfords, den Kaufmannsfürsten«, sagte sie. »Aus dieser Familie stamme ich. Meinem Vater hat es sehr widerstrebt, daß ich außerhalb des Familienzirkels und der großen Kaufmannsgilden heiraten wollte, die die Twyfords beherrschen.« Athelstan hatte das Gefühl, jetzt so weit gegangen zu sein, wie er nur wagen könne. Er wollte das Gespräch in eine profanere Richtung lenken, als es plötzlich klopfte. »Entschuldigt«, murmelte D'Arques. »Wir haben uns uni andere Dinge zu kümmern.«
Seine Frau erhob sich. Sie holte ein großes Tablett von einem Nebentisch, kniete sich vor den Herd und löffelte den Eintopf in kleine, irdene Schüsseln.
»Wollt Ihr auch etwas essen?« fragte sie über die Schulter. »Oder etwas trinken?«
»Nein, danke«, sagte Athelstan mit raschem Blick auf Cranston. »Ihr habt Kinder, Master D'Arques?« Wieder lachte der Mann. Er stand auf und öffnete die Tür. Athelstan erblickte die Bettler, die er draußen gesehen hatte. Erwartungsvoll spähten sie jetzt in die Küche. »Geht und setzt euch«, sagte D'Arques leise zu ihnen. »Setzt euch an die Wand, und meine Frau bringt euch das Essen hinaus.«
Die Bettler gehorchten still, und Mistress D'Arques schob die Schüsseln so zurecht, daß ein großer Teller mit geschnittenem Brot dazwischenpaßte. Sie lächelte ihren Gästen zu und verschwand dann nach draußen, wo sie von Dankes- und Beifallsrufen begrüßt wurde.
»Ihr speist die Armen?« fragte Benedicta, und ihre Augen glänzten vor Bewunderung.
»St. Swithin ist unsere Pfarrgemeinde, Mistress Benedicta. Jeder von uns hat seine Pflichten. Täglich zur Mittagszeit speisen wir die Armen unseres Pfarrbezirks. Das ist das mindeste, was wir tun können.«
Athelstan nickte. Er stand auf und ging zur Tür. Bei einem raschen Blick in die Runde entdeckte er einen kleinen, wunderschön geschnitzten Schrank. »Habt Ihr den gemacht, Master D'Arques?«
»Natürlich; er trägt ja mein Zeichen.« D'Arques trat zu Athelstan und deutete auf ein kleines Emblem dicht über einem der Scharniere, ein verschnörkeltes Kreuz mit zwei fein geschnitzten Kronen rechts und links. »Pater«, fragte er leise, »warum seid Ihr hier?« Athelstan lächelte. »Wunder sind etwas Seltenes. Ich bin hergekommen, um mich davon zu überzeugen, daß es in Eurem Fall von dauerhafter Wirkung war.« Athelstan winkte seinen Begleitern zu. »Sir John, Benedicta, wir haben jetzt genug von Master D'Arques' Zeit verschwendet. Sir, meine Empfehlungen an Eure Frau Gemahlin.« Der Tischler führte sie hinaus; Cranston wartete wenigstens, bis sie um die Ecke gebogen waren, ehe er seinen Gefühlen Luft machte.
»Athelstan, was in Gottes Namen hatten wir da zu suchen?«
»Nur eine wilde Vermutung, Sir John. D'Arques hat das große Mysterium in St. Erconwald ausgelöst. Ich dachte mit, es könnte immerhin sein - ein unwürdiger Verdacht —, daß Master Watkin ihn dazu angestiftet hatte.«
»Das glaubt Ihr?« fragte Benedicta.
»Bei Watkin und seinem Verbündeten und früheren Feind Pike halte ich alles für möglich«, sagte Athelstan knapp. »Aber kommt - noch einen letzten Besuch.« Sie besuchten den Arzt Culpepper in seinem muffigen, schäbigen Haus in der Pig Pen Lane, aber der alte Doktor war keine große Hilfe.
»Master D'Arques«, bestätigte er, »ist ein würdiges Mitglied der Gemeinde, ein ehrlicher Handwerker, der eine scheußliche Infektion an seinem Arm hatte. Nein«, sagte er, als er sie zur Tür führte, »man wird nicht erleben, daß Master D'Arques und seinesgleichen sich an den zweifelhaften Geschichten beteiligen, die Watkin, der Mistsammler, und Pike, der Grabenbauer, betreiben.«
Langsam gingen die drei zurück nach St. Erconwald. Athelstan verabschiedete sich von Benedicta, faßte den widerstrebenden Sir John am Arm und marschierte schnell auf die London Bridge zu.
»Das Heim ist da, wo das Herz ist«, witzelte er und bemühte sich, seine eigene Enttäuschung über die fruchtlosen Besuche zu verbergen. »Und jetzt wird es Zeit, Lady Maude entgegenzutreten.«
Als sie Sir Johns Haus abseits der Cheapside erreichten, waren die beiden erschöpft. Der Tag war heiß geworden, und in den staubigen Straßen drängten sich die Händler. Im Gedränge der Cheapside hatten sie sich ihren Weg fast mit Gewalt bahnen müssen, so zahlreich waren die Händler, Lehrjungen, wichtigtuerischen Marktbüttel, um Almosen winselnden Bettler und eine Kette von Übeltätern, die zu einem Käfig bei der Großen Wasserleitung geführt wurden. Eine Schauspielertruppe, die am großen Marktkreuz eine behelfsmäßige Bühne errichtet hatte und ein Mirakelspiel über den Sturz der Jezebel aufführte, machte die Sache nicht besser. Leider kamen Cranston und Athelstan erst zum Höhepunkt des Stücks, als die grell geschminkte Hurenkönigin vom Propheten Elias dazu verdammt wurde, lebendig von den Hunden gefressen zu werden. Die Menge war ganz gefesselt von dem Drama; die Leute riefen »Oh!« und »Ah!« und beschlossen, dem Propheten zu »helfen«, indem sie allen Abfall, den sie zu fassen bekamen, auf die Bühne warfen. Cranston mußte einen Taschendieb, den er in der Menge entdeckt hatte, mit einem krachenden Hieb auf das Ohr zu Boden schlagen. »Hau bloß ab, du kleiner Halunke!« donnerte der Coroner. Leider hallte seine Posaunenstimme bis zur Bühne, und der Mann, der den Propheten spielte, glaubte, Sir John spreche mit ihm. Wäre Athelstan nicht eingeschritten, hätte es ein noch größeres Drama gegeben, denn Cranston richtete sich zu voller Höhe auf und fing an, Beschimpfungen gegen die Bühne zu schleudern; er schmähte die Schauspieler als Dämonen aus der Hölle und behauptete, sie hätten gar keine Lizenz für ihren Auftritt. Andere mischten sich ein, und Athelstan war erleichtert, als es ihm gelungen war, Sir John durch die Menge zu bugsieren, vorbei an seiner Lieblingstränke, der Schenke »Zum Heiligen Lamm Gottes«, und zur Haustür des Coroners.
»Sir John«, keuchte Athelstan, »mit Euch durch London zu wandern ist ein Erlebnis, das man nie vergißt — und gewiß nicht wiederholen möchte.« Cranston funkelte wütend in die Menge. »In meiner Abhandlung über die Regierung dieser Stadt«, deklamierte er, »verlange ich, daß Schauspieler nur an dafür vorgesehenen Orten auftreten dürfen und eine Lizenz beantragen müssen. Überdies …«
Athelstan hatte genug gehört. Er drehte sich um und klopfte heftig an die Tür.
»Wie du willst«, knurrte Cranston. »Wenn ich mehr Zeit und Geduld hätte, würde ich diese Mistkerle schon auf ihre Plätze verweisen.«
Eine dünne, verkniffen blickende Magd öffnete ihnen die Tür. Sir John drängte sich boshaft grinsend an ihr vorbei. »Sir John!« rief sie erschrocken. »Wir hatten Euch nicht erwartet!«
»Ich komme wie ein Dieb in der Nacht!« dröhnte Cranston. »Und jetzt sag Lady Maude, ihr Herr und Meister ist wieder da.«
»Lady Maude ist auf dem Fleischmarkt im Metzgerviertel, Herr. Sie kommt bald wieder.«
»Und meine beiden kleinen Prinzen?«
»Die sind oben im Söller, Sir John, mit ihrer Amme.« Schwerfällig stapfte Cranston die Treppe hinauf, und Athelstan folgte flink, als Sir John ihm gebieterisch winkte. Im Söller, einem angenehmen, sonnenhellen Raum mit Wandbehängen und Teppichen, saß die Amme auf einer gepolsterten Fensterbank und schaukelte sanft die große Holzwiege neben sich. Als Cranston hereinkam, stand sie auf und machte einen Knicks.
»Laß uns allein«, sagte der Coroner munter. »Lady Maude hat aber gesagt«, widersprach das hübsche Ding flehentlich, »ich soll die Kerlchen nicht allein lassen.« Cranston zog die Brauen zusammen. »Ich bin der Vater dieser Kerlchen!« verkündete er. »Ich kann gut auf sie aufpassen.«
Als die Amme hinausging, warf sie ängstliche Blicke über die Schulter.
»Schau!« flüsterte er. Er beugte sich über die große Wiege und zog die reinwollene Decke zurück, unter der die beiden Kerlchen, wie er sie nannte, fest schliefen. Sir John schob den Kopf noch tiefer unter den linnenen Baldachin und hauchte Weindunst auf seine geliebten Söhne. »Prächtige Jungs!« knurrte er. »Prächtige Jungs!«
Athelstan spähte am struppigen Grauschädel des Coroners vorbei und hatte wieder einmal Mühe, ein ernstes Gesicht zu wahren. Die beiden »prächtigen Jungs«, die »Kerlchen« und »Prinzen« waren in der Tat kräftige Kinder. Mit ihren dicken, kahlen Köpfen, den Grübchen in den Wangen und den roten Gesichtern hatten sie so viel Ähnlichkeit mit Sir John, daß Athelstan, hätte er sie in der Cheapside gefunden, sogleich gewußt hätte, zu welcher Familie sie gehörten. Cranston schob ihn beiseite.
»Prächtige, zufriedene Burschen«, murmelte er. »Sogar wenn sie schlafen, lächeln sie. Sieh nur.« Er beugte sich vor, um den einen - Athelstan vermutete, daß es sich um Francis handelte - am Mundwinkel zu streicheln, war aber zu wacklig auf den Beinen, und die Berührung fiel so unsanft aus, daß der kleine Bursche erwachte. Zwei glänzend blaue Augen schauten zu ihnen auf. »Pst, mein Junge!« flüsterte Cranston. »Wieder einschlafen, los, los!«
Er richtete sich auf, taumelte und gab der Wiege einen kraftvollen Stoß. Nun wachte das andere Kind auch auf, und die beiden Brüder schauten Sir John an. »Siehst du, sie lachen«, sagte Cranston. »Sie sind so froh, ihren Vater zu sehen.«
Fast wie auf ein Zeichen hin zogen die Jungen die Unterlippen herab, rissen die Augen auf und machten ihrer Wut über das jähe, unvermittelte Wecken aus voller Lunge Luft. Der Coroner schob die Wolldecke wieder zurecht und versetzte die Wiege in heftige Schaukelbewegungen. Athelstan konnte nicht anders, er mußte lachen, denn je heftiger der Coroner schaukelte, desto schlimmer wurde der Lärm. Wütend funkelte Cranston ihn an.
»Wirst du wohl verdammt aufhören zu lachen, dummer Mönch? Segne sie lieber, oder singe eine Hymne!«
»Sir John! Was macht Ihr da?«
Cranston wandte sich um wie ein dickbäuchiges Schiff, das sich im Wind dreht. Lady Maude stand in der Tür zum Söller. Sie war kaum mehr als fünf Fuß groß, hatte mausbraunes Haar und war zierlich von Gesicht und Gestalt, aber Athelstan spürte, daß sie wütend war. Und diese Wut war um so furchtbarer, als ein falsches, zuckersüßes Lächeln auf Lady Maudes sonst so heiterem, hübschem Gesicht lag. »Sir John, was tut Ihr da?« fragte sie noch einmal und kam langsam herein. »Ihr kommt in dieses Haus gepoltert wie ein großer Eber, widerruft meine Anordnungen und versetzt die Kinder in Angst und Schrecken! Genügt es nicht, daß Ihr eine Wette eingegangen seid, die« - Lady Maude deutete dramatisch in die Höhe - »das Dach über unseren Köpfen aufs Spiel setzt?«
Sie wandte sich um und rief die Amme. Wenig später ging die Magd, auf jedem Arm ein zappelndes und immer noch wütendes, rotgesichtiges Baby, die Treppe hinunter, und das Geheul der beiden Kleinen verhallte in der Ferne. Cranston verdrehte die Augen zum Himmel und schlich sich zu seinem Lieblingssessel am Kamin. Er sah eine leere Schüssel, die dort in einer Ecke stand.
»War Leif, dieser faule Scheißer, wieder hier?«
»Ja, er hat ein wenig im Garten gearbeitet, weil Ihr, Sir John, ja anderswo beschäftigt wart! In der Gosse, nach Eurer Ausdrucksweise zu urteilen.«
Cranston rutschte noch tiefer in seinen Sessel, und seine Unterlippe senkte sich, so daß Athelstan sich eher an die beiden Säuglinge erinnert fühlte als an den Coroner des Königs für das Nordufer der Themse. Lady Maude kam herbei, baute sich kerzengerade vor ihm auf und verschränkte die Arme.
»Sir John, Ihr habt ein großes Maul und einen großen Bauch - und das einzige, was Euch rettet, ist Euer großes Herz. Manchmal seid Ihr der Schlaueste von allen, und dann wieder« - Lady Maude seufzte - »hat Leif, der Bettler, mehr Verstand. Wie konntet Ihr eine solche Wette eingehen? Eintausend Kronen!«
»Athelstan wird mir helfen«, antwortete Cranston kläglich. Lady Maude warf dem Ordensbruder einen vernichtenden Blick zu, und dieser beschloß, sich zurückzuziehen und das Unwetter drüben auf der Fensterbank abzuwarten. Ratlos saß er da, während Lady Maude ihrem Mann eine Standpauke hielt, einen kurzen, scharfzüngigen Vortrag über die Tugend des gesunden Menschenverstandes und die Vorzüge des Mundhaltens. Cranston, der sich vor niemandem unter der Sonne fürchtete, saß nur da, zog den Kopf ein und hatte die Augen halb geschlossen. Endlich hörte Lady Maude auf; sie holte tief Luft, tätschelte ihrem Mann die Schulter, beugte sich über ihn und küßte ihn sanft auf die Wange. »So, Sir John, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.« Sie verschränkte die Hände und schaute Athelstan an. »Willkommen, Bruder. Täglich danke ich Gott dafür, daß Sir John Euch hat. Ich bin sicher« - Athelstan lächelte matt, als er den stählernen Unterton der Drohung in ihrer Stimme hörte -, »ja, ich bin zuversichtlich, daß Ihr meinem Mann in dieser Notlage helfen werdet. Und jetzt, Sir John, einen Becher Rotwein und einen Teller Süßigkeiten. Und Ihr, Bruder? Gut. Es gibt ja nichts Besseres als Honig, um den Geschmack von Essig zu vertreiben. Stimmt's, Sir John?« Cranston hatte den Kopf gesenkt; er nickte heftig, und als Lady Maude davonschwebte, tat er einen langen Seufzer und sackte in seinem Sessel zusammen wie eine Schweinsblase, in die man hineingestochen hat.
»Glaub mir, Bruder«, wisperte er heiser, »nichts, und ich wiederhole: gar nichts auf der Welt ist furchterregender als Lady Maude in voller Rüstung. Da lege ich mich lieber jederzeit mit einer Meute von Rüpeln an!«
Lady Maude kehrte mit einem Tablett mit Wein und Zuckerwerk zurück und bediente Sir John so demütig und pflichtbewußt wie ein Knappe. Der Coroner sah, woher der Wind jetzt wehte; er richtete sich auf und faßte Zuversicht. In barschem Ton erkundigte er sich, was in seiner Abwesenheit so alles vorgefallen sei, und nickte ungeduldig, während Lady Maude über die Nachbarn schwatzte, die Brotpreise und die Zahl der Geschäftsstreitigkeiten in der Stadt. »Oh, Sir John!« Lady Maude hob plötzlich die Hand zum Mund. »Das hatte ich ganz vergessen. Da sind Briefe für Euch gekommen.« Sie ging zu einer Truhe und nahm zwei dünne Pergamentrollen heraus. Sir John öffnete sie, überflog rasch den Inhalt und schnalzte mit der Zunge. »Wir haben Glück, Bruder«, verkündete er. »Zum ersten: Meine Schreiber haben herausgefunden, daß deine Kirche erst hundertdreißig Jahre alt ist. Vorher stand dort ein Wohnhaus. Zweitens — was noch wichtiger ist —, meine Spitzel haben Master William Fitzwolfe ausfindig gemacht, den ehemaligen Pfarrer der Kirche von St. Erconwald. Man findet ihn im Gasthaus ›Zum samtenen Wappenrock‹ in einer Gasse bei Whitefriars.«
Athelstan sprang auf und griff aufgeregt nach dem Pergament.
»Und warum können Eure Leute ihn nicht einfach verhaften?«
»Im Gesetz«, verkündete Cranston wichtigtuerisch, »gibt es für alle Vergehen eine Verjährungsfrist. Und bedenke, aus deiner Kirche zu flüchten ist ja kein Verbrechen.«
»Ist es doch, wenn man den größten Teil des Kirchenbesitzes mitnimmt.«
»Lieber Bruder, du kennst das Gesetz. Wir können nichts beweisen.«
»Was kann ich also tun?«
Cranston stand auf und löste seinen Gürtel. »Bring mir mein Schwertgehenk, Lady Maude, und einen meiner kräftigen Knüttel für Athelstan. Wir werden Master Fitzwolfe einen Schrecken einjagen.«
Kurze Zeit später rauschte Cranston großartig zur Haustür hinaus, nachdem er seine Frau zärtlich umarmt und ihr zugeraunt hatte, daß alles gut ausgehen werde. Er küßte auch seine beiden »Kerlchen« auf die Stirn, was die zwei mit neuerlichen Wutanfällen erwiderten.
»Ich wünschte, er würde einmal daran denken, daß er einen Bart trägt«, sagte Lady Maude im Flüsterton zu Athelstan. »Und der ist so stachelig wie eine Ligusterhecke.«