ACHT

Cranston und Athelstan drängten sich durch das dichte Treiben der Cheapside und in die schmutzigen Elendsquartiere um das Karmeliterkloster Whitefriars. Bettler heulten nach Barmherzigkeit. Fliegen schwärmten über den zahllosen Kothaufen, die die Gossen verstopften und sich bisweilen hüfthoch vor den verdreckten, faulig stinkenden Behausungen türmten. Zwei Jungen hatten einen kleinen Hund gefangen und versuchten, ihm einen Stock in den After zu spießen; Cranston versetzte ihnen einen raschen Tritt, und sie stoben davon. Höker und Hausierer mit Bauchläden voller Firlefanz oder kleinen Karren mit von Fliegen umschwärmten Eßwaren standen an den Ecken, riefen ihre Waren aus und hielten dabei wachsam Ausschau nach den Bütteln, die in dieser Gegend patrouillierten. Ein paar Marktaufseher hatten zwei Männer gefaßt: Der eine hatte nicht die erforderliche Gebühr und Steuer für den Handel in der Stadt bezahlt, und den anderen versuchten sie zu zwingen, »Käse und Brot« zu sagen, denn sie hatten ihn im Verdacht, ein Flame zu sein, der gar nicht das Recht hatte, Waren in die Stadt zu bringen. »Wenn er es falsch ausspricht«, knurrte Cranston aus dem Mundwinkel, während er vorbeistolzierte, »dann werden sie ihm die Handfläche mit einem glühenden Eisen verbrennen.«   

In den Türen der engen Gäßchen huschten dunkle Gestalten ein und aus. Die Luft war zum Schneiden vom schwarzen Qualm der Leimsieder, die hinter ihren schmutzigen kleinen Häusern in großen Eisenfässern Knochen und Abfälle aus dem Fleischerviertel verkochten. Cranston schien den Weg genau zu kennen. Athelstan hielt seinen Knüppel fest umklammert; er hielt sich ein kleines Stück hinter ihm und achtete darauf, daß ihnen niemand folgte. Kinder kreischten und zankten. Hunde balgten sich über Abfallbergen. Athelstan war sicher, daß er in einem dieser Haufen eine menschliche Hand gesehen hatte, die gespreizten Finger faulig verwest.

»Gott beschütze uns«, murmelt er.

»Wahrlich, die Pforte der Hölle«, versetzte Cranston. »Sprich deine Gebete, Bruder, und halte die Augen offen. Sollte irgend jemand auf dich zutaumeln, Betrunkener, Frau oder Kind, zieh ihm kräftig eins mit deinem Knüppel über.« Sie gingen eine Gasse hinunter. Eine Schar Bettler löste sich aus dem Schatten und versperrte ihnen den Weg. Cranston zog Schwert und Dolch. »Verpißt euch!« schrie er.

Die Gestalten verschwanden wieder im Dunkel. An der Ecke stand eine Frau mit drei Kindern, deren Körper nur halb von schmutzigen Lumpen bedeckt waren und schreckliche Geschwüre und Blutergüsse aufwiesen. Athelstans Hand ging sofort zu seinem Geldbeutel, als die Frau, in deren knochigem Gesicht nur ein gesundes Auge glitzerte, eine klauenartige Hand ausstreckte. Aber Cranston schlug die Hand herunter und schob Athelstan weiter.

»Behalte dein Geld, Bruder! Siehst du nicht, daß sie eine Simulantin ist?«

»Was ist sie?«

»Eine berufsmäßige Bettlerin.«

Athelstan sah sich rasch um. »Aber die Kinder, Sir John! Diese schrecklichen Blutergüsse!«

Der Coroner lachte leise. »Es ist ein Wunder, Bruder, was die Leute mit einer Mischung aus Salz, Pottasche und Schweineblut so alles anstellen können.«

»Aber es sah so echt aus.«

»Bruder, sieh dir ihre Körper an. Rundlich, wohlgenährt - das sind keine hungernden Kinder. Die essen wahrscheinlich besser als ich.«

»Das wäre dann allerdings ein Wunder«, brummte Athelstan und schüttelte den Kopf über die schiere Arglist dieser Bettler, während er Sir John durch die nächste Gasse folgte. »Sind wir bald da?«

Cranston blieb stehen und deutete auf ein schmutziges Schild, das träge an dem Ale-Stab baumelte, der dort unter dem vorspringenden Dach eines hohen, dreistöckigen Gasthauses hervorragte. Mit einem Fußtritt öffnete er die Tür, und sie traten in eine muffige Dunkelheit, in der nur wenige Öllampen flackerten. Die wenigen Fenster waren hoch oben in der Wand und fest verschlossen. Das Gemurmel erstarb. Ein Prickeln der Angst überlief Athelstan, als er die groben Gesichter, niederträchtigen Augen und verkniffenen Züge der Männer sah, die hier hockten; zwei schliefen, die übrigen steckten in kleinen Gruppen die Köpfe zusammen und tranken oder würfelten.

»Die Küche der Hölle!« knurrte Cranston. Er zog Schwert und Dolch, als ein Mann von dem Tisch neben der Tür aufstand. Athelstan sah eine Messerklinge in seiner Hand blitzen.

»Holla, ihr Böckchen!« verkündete Cranston großartig. »Ein paar von euch kennen mich vielleicht nicht; ich bin aber sicher, daß ich früher oder später eure Bekanntschaft machen werde. Ich bin Sir John Cranston, Coroner der Stadt London und Beamter der Königlichen Justiz. Dies ist mein Schreiber und Secretarius, Bruder Athelstan, ehemals aus Blackfriars.« Seine fette Hand schoß vor und deutete auf den rattengesichtigen Mann mit dem Dolch. »Und du, mein Bürschchen, wirst dich hinsetzen und still sein.«

Der Kerl tat langsam, wie ihm befohlen war. »Verdammt, was wollt Ihr, Cranston?« schrie einer. Cranston hielt sein Schwert hoch. »Ich schwöre, ich will euch nichts Böses; allerdings könnte ich mit ein paar Wachtmeistern zurückkommen und nachsehen, was dieser hübsche Laden so enthält.«

Der schmierige Schankwirt wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab und kam mit unterwürfigen Verbeugungen näher.

»Sir John, Ihr seid mir höchst willkommen.« Cranston packte ihn bei der Schulter. »Nein, das bin ich nicht, du fetter Dreckskerl! Ich will mit jemand hier sprechen, nur sprechen, und ich weiß, daß er da ist, also lüg mich nicht an. Der Mann nennt sich Master William Fitzwolfe und war früher Pfarrer von St. Erconwald.« Totenstille war die Antwort.

»Na schön, wenn ihr es so haben wollt…« Cranston wandte sich zur Tür.

Athelstan hörte Geflüster, dann trat ein Mann aus der Dunkelheit.

»Ich bin Fitzwolfe, Sir John. Ich habe nichts verbrochen.« Cranston winkte ihn zu sich. »O doch, das hast du, mein Junge, aber darauf wollen wir jetzt nicht weiter eingehen. Wir brauchen nichts als ein paar Minuten von deiner Zeit.« Der Kerl trat ins Licht, und Athelstan betrachtete ihn angewidert. Auf den ersten Blick sah der Mann respektabel aus. Er hatte dunkles, schulterlanges Haar und war glattrasiert, Hände und Gesicht waren zart und weiß. Aber er trug ein hämisches Grinsen auf den gekräuselten Lippen, und seine Augen waren kalt, tot und berechnend. Er war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet. Athelstan sah den Dolch, der oben in seinem Stiefel steckte, und das große Stichmesser an seinem Gürtel. Es war lange her, daß Athelstan jemandem begegnet war, der ihm dieses Gefühl bedrohlicher Bösartigkeit vermittelt hatte. Fitzwolfe warf ihm einen Blick zu, und seine Lippen teilten sich zu etwas, das er wohl für ein Lächeln hielt.

»Ihr müßt Athelstan sein, der neue Pfarrer von St. Erconwald. Wie geht es meinen geliebten Pfarrkindern? Sechs Jahre sind eine lange Zeit. Versucht Watkin, der Mistsammler, Euch auch vorzuschreiben, was Ihr tun sollt, wie er es bei mir gemacht hat?« Er schob die Daumen hinter seinen Schwertgurt. »Und Cecily, die Kurtisane? Ein hübscher Hintern, aber sie machte solchen Lärm bei der Liebe.« Athelstan trat vor. »Ihr seid ein Dieb, Fitzwolfe.« Der ehemalige Priester spreizte die Hände. »Wo sind Eure Beweise? Ich habe St. Erconwald verlassen. Die Pfarrgemeinde hat die Kirche ausgeplündert.«

Athelstan holte tief Luft, um die Wut zu bändigen, die in ihm brodelte.

»Kommt!« befahl Cranston unvermittelt. »Wirt, hast du ein Hinterzimmer? Eine Speisekammer, eine Küche? Ich werde mich dort mit unserem Freund unterhalten.« Der Wirt führte sie in eine schmutzige Kammer mit qualmendem Feuer; schmutzige Speisetabletts und Teller türmten sich auf einem fettbeschmierten Tisch, an dem zwei Küchenjungen versuchten abzuwaschen, indem sie Töpfe und Pfannen in einen Bottich mit schaumbedecktem Wasser tauchten.

Cranston schnippte mit den Fingern. »Alle raus - auch du, Wirt.« Er schob den Wirt und seine Diener zur Tür hinaus, schloß sie und lehnte sich dagegen. Mit einer Kopfbewegung deutete er quer durch die Küche. »Mach die Tür da auf, Athelstan - für den Fall, daß wir schnell verschwinden müssen. Und bleib davor stehen, falls Master Fitzwolfe etwa auf den gleichen Gedanken kommen sollte.«    

Der ehemalige Priester aber ließ sich elegant auf einem Schemel nieder, schlug die Beine zierlich wie eine Frau übereinander und umschlang ein Knie mit beiden Händen. Der Mistkerl macht sich über mich lustig, dachte Athelstan. »Ich bin aus freien Stücken hier, Sir John, und wenn ich gehen möchte, kann ich es tun. Es gibt keinen Haftbefehl gegen mich.« Fitzwolfe kicherte. »Nun, zumindest keinen, der noch gilt. Ich habe St. Erconwald vor sechs Jahren verlassen.« Cranston grinste, zog erneut sein Schwert und schlug Fitzwolfe mit der flachen Klinge auf die Schulter; der Bursche fuhr zusammen und verlor ein wenig von seiner stolzen Haltung.

»Ich werde dich umbringen, Fitzwolfe.«

Der ehemalige Priester wollte aufspringen, aber Cranston drückte ihn mit seinem Schwert herunter.

»Denn, weißt du, ich bin ein Beamter der Justiz und kam her, um dir ein paar Fragen zu stellen. Da zogst du einen Dolch aus dem Stiefel, und ich mußte dich töten. Und wer, sag mir, wird um dich trauern? Andererseits« - Cranston steckte sein Schwert wieder ein — »kannst du mir natürlich ein paar Fragen beantworten. Also, was ist dir lieber?«

»Was für Fragen?«

»Als du Pfarrer von St. Erconwald warst, hast du da den Chor mit Steinplatten auslegen lassen?«

»Ach, kommt schon, Sir John!« höhnte Fitzwolfe. »Ich hatte Besseres zu tun, als mich um diesen gottverlassenen Bau zu kümmern!«

»Das ist also gemacht worden, bevor du kamst?«

»Ja. Eine von Pater Theobalds glänzenden Ideen. Keine besonders gute Arbeit, was?« Fitzwolfe warf Athelstan einen spöttischen Blick zu. »Ich bin dauernd über die verdammten Dinger gestolpert. Wohlgemerkt, nach einem Schlauch Wein war das nicht mehr schwierig.«

Athelstan starrte ihn an. Dieser Mann, dachte er, fürchtete weder Gott noch die Menschen. Und jetzt verstand er sein eigenes Unbehagen. Er war sicher, daß Fitzwolfe ein Zauberer war, einer jener Herren der Kreuzwege und Meister der Galgen, die sich der Schwarzen Magie verschrieben hatten - kein seltener Vorgang bei amtsenthobenen Priestern, die sich die ihnen verliehene spirituelle Macht zunutze machten. Fitzwolfe bemerkte seinen Blick und nickte kaum merklich, als könne er Athelstans Gedanken lesen. Träge erhob er sich.

»Noch irgendwelche Fragen?«

»Ja«, sagte Athelstan, verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. »Das Silber aus St. Erconwald ist inzwischen sicher längst eingeschmolzen und verkauft, aber Ihr habt auch das Archivbuch mit den Konten der Kirche mitgenommen. Und das, Fitzwolfe, habt Ihr entweder verbrannt oder Ihr besitzt es noch, vermute ich.«

»Ich habe es zerrissen.«

»Und wo sind die Seiten?«

»Einen Teil des Pergaments habe ich verbraucht.« Fitzwolfe zuckte die Achseln. »Niemand sonst hätte etwas damit anfangen können. Es war angefüllt mit Pater Theobalds sinnlosem Gekritzel. Wieso - wie kommt Ihr darauf, daß ich es noch habe?«

»Weil Ihr es sicher als eine Art Witz betrachtet, ein Buch der Kirche für Eure eigenen schmutzigen Zwecke zu mißbrauchen.«

Fitzwolfe deutete zur Decke. »Ihr könnt Euch ansehen, was noch da ist. Es ist in meiner Dachkammer, hier oben im Haus.«

Cranston verbeugte sich spöttisch. »Worauf warten wir noch?«   

Fitzwolfe schüttelte den Kopf. »Ihr nicht. Ich erlaube nicht, daß ein Justizbeamter seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen.«

»Und ebensowenig«, erwiderte Cranston, »erlaube ich, daß du die Treppe hinaufsteigst, über das Dach verschwindest und dich diesseits von Weihnachten nicht mehr sehen läßt.« Fitzwolfe deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Der Pfaffe kann mitkommen. Ihr bleibt draußen.« Er führte sie zurück in den Schankraum. Cranston und Athelstan ignorierten die leisen Schmähungen und Flüche, als sie ihm durch eine Seitentür in einen feuchten Korridor folgten, in dem es nach Hundepisse stank Allerlei Unrat lag auf dem Boden. Sie stiegen die wacklige, glitschige Treppe hinauf, die zum oberen Teil des Hauses führte. »Eine Herberge«, wisperte Cranston.

Sie kamen an Holztüren und manchem Treppenabsatz vorbei.

»Schlupflöcher«, fuhr der Coroner fort. »Geheime Fluchtgänge, Rattentunnel, durch die das menschliche Ungeziefer hindurchwieseln kann. Wenn es nach mir ginge, würden solche Häuser bis auf die Grundmauern niedergebrannt.«

»Geht es aber nicht«, höhnte Fitzwolfe vor ihnen. »Oder, Sir John?«

Endlich waren sie oben angekommen. Fitzwolfe holte einen Schlüssel hervor, schob ihn in eine schwere, eisenbeschlagene Tür, schloß auf und stieß sie halb auf. »Ihr bleibt hier, Sir John! Pfaffe!« Fitzwolfe grinste verschlagen und winkte Athelstan weiter.

Der Ordensbruder trat ein und rümpfte die Nase ob des süßlichen, ekligen Geruchs. Mühsam blinzelnd, versuchte er, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Fitzwolfe huschte wie ein Schatten in der Kammer umher. Zunder wurde in Brand gesetzt, und wenig später brannten die hohen, weißen Kerzen in Messinghaltern, geschützt von metallenen Schirmen. Athelstan schaute sich um. Ein kalter Schauer lief prickelnd über seinen Nacken, und irgend etwas Unerklärliches raubte ihm die Luft zum Atmen. »Und ob ich auch wandle im Tal der Schatten des Todes«, flüsterte er, »ich fürchte doch nichts Böses.« Die Kammer war sauber, aber Wände, Boden und Decke waren in glänzendem Schwarz angestrichen, das im Kerzenlicht schimmerte. In einer Ecke, unter einem kleinen Fenster, stand ein Bett, daneben ein Tisch, der auch als Altar dienen mochte, und darüber ein umgekehrtes Kreuz, an dem der Gekreuzigte kopflos nach unten hing. Athelstan schauderte es. Waren das Blutflecken auf dem Tisch? Und wonach roch es hier so sonderbar? Nach starken Kräutern oder Teer, gemischt mit etwas anderem? Fitzwolfe stand da und beobachtete ihn wie eine Katze. Athelstan schüttelte sich wild, um einen klaren Kopf zu bekommen. Der Expriester schien sich verändert zu haben; sein Gesicht wirkte länger, seine Haut gelber, und die dunklen Augen glitzerten von unheiliger Bosheit.

»Die Buchseiten!« fauchte Athelstan. »Ihr habt mir die Buchseiten versprochen.«

Fitzwolfe zuckte die Achseln und ging zum Fußende des Bettes, wo er eine Truhe aufschloß und darin wühlte. Athelstan schaute nach links. Da lag ein in Leder gebundenes Buch, das mit einer Kette an einem Pult befestigt war. Nach einem kurzen Blick schaute er angeekelt weg, denn es war ein Zauberbuch mit Bannsprüchen und schwarzer Magie. An der Wand hinter dem Lesepult hingen Bilder, wie er sie von den Seiten eines Stundenbuches oder der Heiligenlegenden kannte, zart konturiert und farbenprächtig ausgemalt. Das eine zeigte eine Gruppe von Menschen, die einem Prediger zuhörte; aber die Gestalt, die da die Gewänder eines Priesters trug, hatte einen sabbernden Ziegenkopf, und ein mächtiger erigierter Penis ragte aus den Falten seines Gewandes. Auf einem anderen Bild fraß ein Schwein mit Bischofsstab und Mitra kleine Menschenleiber, und auf dem dritten war ein Kirchenschiff zu sehen. Die Säulen erinnerten Athelstan an St. Erconwald, aber der Maler hatte sich sorgfältig der Perspektive bedient, so daß der Betrachter in eine tiefe Grube zu schauen schien. Am anderen Ende, wo der Lettner hätte stehen müssen, leuchtete ein in Silber gemaltes Gesicht mit den rotglühenden Augen und goldenen Lippen eines Dämons. Athelstan wandte den Blick ab. Er hatte das Gefühl, die Luft in der Kammer sei dick, bedrückend, erstickend. Wenn er in die Ecken schaute, war er sicher, daß dort einige Schatten dunkler waren als andere, als lauere dort irgend jemand oder etwas.

»Los, Fitzwolfe!« bellte Athelstan. »Die Seiten!«

»Hier, Bruder.« Fitzwolfe kam langsam zurück; er hielt einen Stoß zerfledderter gelber Blätter in der Hand, lose zusammengehalten von einem roh vernähten Faden. »Was ist los, Athelstan? Gefällt Euch meine Kammer nicht? Mein Unheiligtum der Unheiligtümer?«

Fitzwolfe reichte ihm das Pergament, und eine eiskalte Hand streifte die des Ordensbruders. »Ihr seid doch Priester, Athelstan. Was fürchtet Ihr denn hier?«

Athelstan schrak zusammen, als in einer Ecke ein schlurfendes Geräusch zu hören war. »Was war das?«

»Schaut doch nach, Athelstan«, sagte Fitzwolfe leise. »Schaut selbst nach. Schaut in die Ecke - und was seht Ihr da?« Der Ordensbruder tat, wie geheißen und er machte sich auf etwas wahrhaft Bedrohliches, wirklich Entsetzliches gefaßt. War es eine Gestalt? dachte er. Ein Schatten? Er sah eine elfenbeinhelle, runde Schulter, eine makellos geformte Brust, Haar wie aus gesponnenem Gold, dann hörte er ein leises Lachen. Er packte das Pergament.

»Das gehört mir!« stammelte er. »Es gehört mir.« Fast rannte er zur Tür und riß heftig an der Klinke, aber sie war verschlossen. Hinter sich hörte er, wie Fitzwolfe und noch etwas anderes schlurfend näherkamen. Er tastete nach dem Schloß, fand den Schlüssel, schloß die Tür auf und sprang hinaus in den Korridor. Im selben Augenblick flog die Tür mit einem Knall wieder hinter ihm zu. Er war sicher, daß er nicht nur Fitzwolfe hatte kichern hören, sondern noch etwas anderes.

»Was ist denn, Athelstan?« Cranston packte seinen Gefährten und sah erschrocken in das marmorbleiche und schweißnasse Gesicht des Priesters. Er schüttelte ihn. »Bruder, was ist?« Athelstan riß sich aus seinen Gedanken und nahm den Knüppel, den er an die Wand gelehnt hatte. »Kommt, Sir John! Dies ist kein Ort für uns. Überhaupt kein Ort für ein Geschöpf Gottes.«

Cranston machte einen Schritt auf Fitzwolfes Kammertür zu.

»Nein, Sir John! Das meine ich ernst. Geht nicht hinein!« Er polterte die Stiege hinunter, Cranston folgte ihm schwerfällig. Ohne auf den Coroner zu warten, lief Athelstan hinaus in die Gasse. Ächzend und keuchend holte ihn Cranston ein und stellte zahllose Fragen, ohne daß Athelstan reagierte. Der Priester eilte davon, so schnell er konnte; er war entschlossen, möglichst rasch möglichst viel Abstand zwischen sich und die Schenke zu bringen, und er konzentrierte seine ganze Energie und Intelligenz darauf, den Weg wiederzufinden, den Sir John genommen hatte. Endlich hatten sie Whitefriars hinter sich gelassen und waren in eine kleine Straße gelangt, die zur Fleet hinaufführte. Athelstan blieb stehen und lehnte sich an eine Mauer. Er war erschöpft und müde und fühlte sich gebeutelt an Körper, Geist und Seele. Der Coroner musterte ihn.    

»Für dich gibt's nur eins, mein Junge«, sagte er dann. »Sir John Cranstons übliches Heilmittel für die Beschwerden des Geistes und des Körpers.«

Und er schob den Ordensbruder in die dunkle, gastliche Wärme einer Schenke an der Ecke. Mit seiner kraftvollen Stimme und seiner Autorität als Justizbeamter des Königs hatte er bald für sie beide ein Plätzchen bei den übereinandergestapelten Weinfässern gefunden, und unverzüglich wurden zwei große Becher Rotwein und eine Schüssel mit würzigem Entenfleisch gebracht. Cranston meinte, das Fleisch könnten sie sich teilen, aber Athelstan schüttelte nur den Kopf; gierig trank er von seinem Wein und genoß die süße Wärme. Bald hatte er den Becher leergetrunken, und Cranston bestellte einen neuen. Behutsam nahm er ihm die Pergamentblätter ab, die Athelstan noch immer fest umklammert hielt. Der Coroner betrachtete sie aufmerksam und brüllte dann nach einer Kerze, damit er sie eingehender studieren konnte.

»Beim Hinterteil einer Fee, Athelstan, was ist denn so furchterregend daran? Schmierige gelbe Seiten aus einer Kirchenakte.«

»Das war es nicht, Sir John.« Athelstan lehnte sich blinzelnd zurück; er hatte seinen Wein zu schnell getrunken, und jetzt war ihm ein bißchen schwindlig. »Hat Fitzwolfe dich bedroht?«

»In gewisser Weise ja.«

Und Athelstan schilderte kurz, was er in der Kammer gesehen und gefühlt hatte. Als er fertig war, tat Cranston einen mächtigen Rülpser und schmatzte.

»Komische Leute, diese Priester«, stellte der Coroner fest und warf Athelstan einen Seitenblick zu. »Sie erfahren Geheimnisse. Sie verdrehen das Gute, um selbst Macht zu erlangen. Nicht alle, aber einige. Manche werden habgierig und häufen Reichtümer auf, manchen gefällt es, zwischen die Bettlaken anderer Männer zu schlüpfen. Und eine kleine Zahl von ihnen strebt nach etwas Größerem: nach magischer Macht.«

»Sir John«, unterbrach Athelstan, »ich weiß, was ich in dieser Kammer gesehen und gefühlt habe.«

»Vielleicht. Aber ich bin schon den besten Zauberern begegnet, Athelstan. Ich weiß, was sie zuwege bringen können, mit Kräutern und Kerzen aus seltsamen Substanzen. Wie der Psalmist schon sagt: ›Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«‹ Er tätschelte Athelstan die Hand. »Sicher, Fitzwolfe könnte ein Satansanbeter sein, aber ich habe den Verdacht, er ist bloß ein Gaukler.«

Athelstan seufzte und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen.

»Nichts ist besser als der alte Cranston«, murmelte er, »wenn man mit beiden Beinen wieder fest auf den Boden kommen will.« Er schob den Weinbecher von sich. »Den müßt Ihr austrinken. Wir müssen noch nach Blackfriars, und ich möchte nicht, daß der Großinquisitor mich für einen Trunkenbold hält.«

»Bei den Eiern des Teufels, wen interessiert das? Mich hält er ja schon für einen«, erwiderte Cranston. Athelstan griff nach den Pergamentblättern; er studierte sie und versuchte, die enge, gedrängte Handschrift und die in einem solchen Buch üblichen Abkürzungen zu entziffern. Aufmerksam achtete er auf das Datum, das auf jeder Seite über der linken Spalte stand. Es mochten an die fünfzig, sechzig Seiten sein, mit feinem Hanfgarn zusammengebunden, und sie reichten von 1353 bis 1368, dem Jahr, in dem der alte Priester Theobald gestorben war. »Gern würde ich das jetzt alles studieren«, sagte er leise, schaute aber auf die Stundenkerze, die auf einem Bord über den Weinfässern brannte. »Sir John, wir sollten nach Blackfriars zurückgehen. Ich habe dem Pater Prior gesagt, ich möchte ihn und die anderen noch sprechen, und es ist jetzt schon zu spät. Wir sollten zurückkehren, zumindest um unsere untertänigsten Entschuldigungen vorzubringen.«   

Cranston verdrehte den Hals und spähte aus dem Fenster. »Scheiße!« brummte er. »Die Sonne geht gleich unter. Hör nur, Bruder.«

Athelstan spitzte die Ohren und hörte die große Glocke von St. Mary Le Bow; ihr Schlag war das Zeichen dafür, daß des Tages Arbeit zu Ende war. Er war müde und erschöpft, und der Wein in seinem leeren Magen begann allmählich zu gerinnen. Er wartete, bis Cranston seinen Becher leergetrunken hatte, dann faltete er seine Papiere zusammen, griff nach seinem Knüttel und ging.

Aber Athelstan hätte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen brauchen, daß er zu spät zu seiner Verabredung in Blackfriars kam. Die Nachricht vom Tode Bruder Rogers hatte sich in der geschlossenen Klostergesellschaft verbreitet und dem Prior Ratlosigkeit und endlose Fragen eingebracht. Als Athelstan zu ihm kam, wirkte Pater Anselm sichtlich erschöpft.

»Ja, ja«, sagte er, »wir haben auf dich gewartet, Bruder. Aber ich wußte, daß etwas anderes dich aufgehalten haben mußte. Ist dir noch etwas eingefallen?« fragte er hoffnungsvoll. »Pater Prior, dieses Problem ist so undurchsichtig wie ein trüber Tümpel. Habt Ihr herausgefunden, wann Bruder Roger zuletzt gesehen wurde?«

Anselm setzte sich müde und winkte Athelstan und Cranston, ebenfalls Platz zu nehmen. »Das war gleich nach der Vesper, draußen vor der Kirche.« Er rieb sich die Stirn. »Ihr habt ihn dann als nächstes gesehen, als er im Obstgarten an diesem Baum hing.« Er hob die Hand. »Und, bevor du fragst, niemand will ihn dazwischen gesehen oder gesprochen haben. Es ist, als sei er unsichtbar gewesen.«

»Und ihr habt die Zellen der Brüder Alcuin und Callixtus durchsuchen lassen?«

»Und nichts gefunden«, vollendete der Prior und wühlte auf seinem Pult herum. »Nur zwei Pergamente. Eines in Alcuins Zelle, eines bei Callixtus. Auf beiden stand derselbe Name.«

Der Prior reichte die Blätter herüber. Athelstan betrachtete sie neugierig. In unterschiedlichen Handschriften stand auf beiden mehrmals ein Name: Hildegarde. »Wer ist das?« fragte Athelstan.

Anselm verzog das Gesicht. »Weiß der Himmel! Das war das einzig Ungewöhnliche, was ich finden konnte. Das einzige, was den Tod des einen Bruders mit dem Verschwinden des anderen verbindet.«

Cranston, der halb dösend neben Athelstan saß, schoß hoch. »Immer eine Frau«, stellte er fest und schmatzte. »Wo es Ärger gibt, steckt immer eine Frau dahinter.«

»Sir John, Ihr wollt doch nicht sagen …« Anselm schaute den Coroner erbost an. »Bruder Callixtus und Bruder Alcuin waren gute Männer, getreue Priester und schwer arbeitende Mitglieder unseres Ordens. Niemals gab es auch nur Andeutungen eines Skandals oder die leiseste Andeutung von Tratsch im Zusammenhang mit ihnen! Sie waren alte Mitglieder des Ordens und gebildete Theologen.« Er blickte zu Boden. »Sie hatten einen besseren Tod verdient.« Cranston entschuldigte sich wortgewaltig, sein Secretarius starrte derweil die beiden Pergamente an. »Du siehst müde aus, Athelstan«, bemerkte Anselm, den Cranstons wiederholte Entschuldigungen nach einer Weile verlegen machten. »Laß es gut sein. Bruder Norbert wird euch etwas aus dem Refektorium bringen. Ich schlage vor, ihr geht früh zu Bett und schlaft.«

Athelstan war einverstanden. »Aber morgen, Pater Prior, nach dem Frühgebet, muß ich Euch und die anderen Mitglieder des Generalkapitels sprechen.« Er klopfte auf die Pergamente in seiner Hand, und eine unbestimmte Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an, eine lose Gedankenkette, der er folgen würde, wenn er frischer wäre. »Erzählt vorläufig niemandem davon, Pater. Schweigt darüber.« Athelstan und Cranston kehrten in das Gästehaus zurück, wo sie sich wuschen und eine Weile in der Küche saßen. Cranston machte sich schmatzend über einen Krug Met her, und sein Gefährte starrte in das flackernde Feuer, das Bruder Norbert für sie angezündet hatte. Der junge Laienbruder brachte ihnen auch das Essen aus dem Refektorium: gutes, in Pfeffertunke gekochtes Kalbfleisch unter einer dünnen, goldgelben Teigkruste und eine Schüssel leicht gedünstetes Gemüse aus dem Klostergarten. Cranston langte genüßlich zu; Athelstan war müde und hatte immer noch Magenbeschwerden nach dem Wein, deshalb aß er weniger. Erst als er fast fertig war, bemerkte er die kleine, mit grüner Seide säuberlich zugebundene Schriftrolle, die auf einem Schemel in der Ecke der Küche lag. Er ging hin und holte sie. »Was ist das?« fragte Cranston zwischen zwei Bissen Kalbfleisch.

»Eine Abschrift von Bruder Henry von Winchesters Abhandlung Cur Deus homo — ›Warum Gott ein Mensch wurden«

»Das zu lesen, überlasse ich dir«, meinte Cranston. »Wenn Gott wollte, daß wir Seine Wege erkunden, dann würde Er nicht den größten Teil Seiner Zeit darauf verwenden, möglichst viel Abstand zwischen sich und uns aufrechtzuerhalten.«

Athelstan lächelte, setzte sich und begann, trotz seiner Müdigkeit, die Abhandlung zu lesen. Er las noch immer, als Cranston, der sein eigenes und den Rest von Athelstans Essen verspeist hatte, in die Speisekammer stapfte, um neue Erfrischungen zu besorgen.

Die Abhandlung war auf sauber zusammengenähten Pergamentbögen geschrieben. Angesichts der akkuraten Handschrift, der frischen Tinte und der klaren Argumentation schüttelte Athelstan staunend den Kopf. Bruder Henrys Abhandlung war ein Juwel theologischer Analyse; mit großer Sorgfalt widerlegte er das akzeptierte Dogma der Kirche. Er vertrat die Überzeugung, die Fleischwerdung Christi rühre aus dem Verlangen Gottes, die göttliche Schönheit mit dem Menschen zu teilen, und folgte nicht der üblichen, ermüdenden Argumentation, derzufolge es um »Erlösung von der Erbsünde« oder »Buße für die Sünden des Menschen« gehe. In Bruder Henrys Abhandlung wurde Gott als liebevoller Vater dargestellt und Christus als körperlicher Ausdruck dieser Liebe; hier war Gott kein zorniger Richter, der Christi Tod murrend als Sühne für die Sünden des Menschen ansah.

Cranston kam zurück, brummelte etwas und tappte die Treppe zur Schlafkammer hinauf. Athelstan las weiter und freute sich an der präzisen Terminologie und der Klarheit des Gedankens. Als er fertig war, klopfte er mit dem Finger auf das Pergament. »Brillant!« sagte er leise. »Die Inquisitoren verschwenden ihre Zeit. Bruder Henry ist ein origineller Denker, aber ein Ketzer ist er nicht.«

Er legte die Schrift aus der Hand und reckte sich; dann folgte er Sir John hinauf ins Schlafgemach. Der Coroner schlief bereits tief. Athelstan kniete vor seinem Bett nieder und versuchte, seine Gedanken von den verschiedenen Szenen, Botschaften, Fragmenten und Ereignissen des Tages zu befreien. Er wollte beten, wußte aber auch, daß dies ein wichtiger Tag gewesen war. Er hatte bedeutsame Dinge gesehen und gehört, aber noch konnte er sie nicht deuten. Er schloß die Augen und merkte, wie er davontrieb. Eine Stunde später wachte er auf und fand sich zusammengesunken vor dem Bett. Müde kletterte er hinein und versank wieder in traumlosem Schlaf.