NEUN

Athelstan erwachte früh am nächsten Morgen. Cranston schnarchte noch im Tiefschlaf. Athelstan lag eine Weile ruhig da; er fühlte sich warm und ausgeruht. Als er das erste Läuten hörte, stand er auf, nahm ein Handtuch vom hölzernen Lavarium und ging hinaus, durch den Nebel hinüber zum Badehaus des Klosters. Dort wusch und schrubbte er sich ab; dann warf er seine Kutte über und ging in die Küche des Gästehauses, wo er das Feuer anzündete und ein wenig Wasser zum Rasieren heiß machte. Auf Zehenspitzen kehrte er nach oben zurück, holte frische Wäsche und eine saubere Kutte aus seiner Satteltasche und frühstückte dann die Reste des Abendessens.

Eine Zeitlang kniete er, sprach seine Gebete, und seine Gedanken waren klar und diszipliniert; dann ging er hinüber in die Klosterkirche, um in einer der Seitenkapellen die Messe zu lesen. Als er die Gewänder abgelegt und Norbert gedankt hatte, der als sein Sakristan gedient hatte, ging Athelstan in den Chor hinter dem Hochaltar, wo es immer noch süß nach Kerzenwachs und Weihrauch duftete. Wie erwartet, fand er einen Sarg, der auf den dicken Holzpfeilern auf dem roten Teppich ruhte; in den Deckel waren die Worte Bruder Roger obiit 1379 geschnitzt. Athelstan strich über das glatte Kiefernholz. Später würde eine feierliche Requiemmesse gesungen werden, und Bruder Rogers Leichnam würde neben den anderen Toten der Klostergemeinschaft im großen Gewölbe unter dem Chor zur letzten Ruhe gebettet werden.

Athelstan stand noch da, als andere Mönche hereinkamen, auf dem Betstuhl niederknieten und still ihres Ordensbruders gedachten. Athelstan wartete, bis sie alle dem Ruf zum Stundengebet gefolgt und gegangen waren, ehe er selbst niederkniete, weniger um zu beten, als vielmehr um sich vor der Ordensgemeinschaft zu verbergen, die sich auf ihren Bänken im Chor versammelte und die Psalmen sang. Athelstan schaute sich in der Apsis um, deren hohe Wand die Rückseite des Altars kreisförmig umgab, und betrachtete die Statuen der Apostel in ihren Nischen. Seltsam, überlegte er; Alcuin hatte in diesem Chor gebetet, bevor er verschwunden war, und auch sein eigener Chor in St. Erconwald barg ein Geheimnis. Wieder schaute er die Apostelfiguren an. Konzentriere dich, ermahnte er sich, und vergiß jetzt einmal St. Erconwald! Alcuin hatte hier gebetet, und dann war er verschwunden. Bruder Roger hatte gesagt: »Es hätten zwölf sein müssen.« Was hatte er damit gemeint? Der Ordensbruder betrachtete den großen Holzsarg und schaute dann wieder zur Wand der Apsis. Er hatte eine Idee. »Unsinn!« flüsterte er und hielt die Finger an die Lippen. »Oh, mein Gott, natürlich! Natürlich!« Er verschränkte die Arme, um seine Erregung im Zaum zu halten, und wartete geduldig, bis die Andacht zu Ende war. Als die Mönche hintereinander hinausgingen, um im Refektorium zu frühstücken, eilte Athelstan hinüber zum Gästehaus. »Sir John!« rief er, zur Tür hereinstürzend. »Cranston, Ihr habt jetzt lange genug geschlafen.«

Er hörte ein lautes Krachen. Der Coroner kam die Treppe heruntergepoltert wie ein großes Faß.

»Bei den Zitzen des Satans!« donnerte er. »Darf ein armer Justizbeamter nicht mehr schlafen?« Er rieb sich das schlaftrunkene Gesicht und spähte Athelstan an. »Du hast etwas herausgefunden, nicht wahr, du verfluchter Mönch?«

»Ja, Sir John.«    

Cranston schnürte sich die Beine seiner Reithose zu und kam in die Küche getappt. Athelstan begriff plötzlich, daß er Sir John zum ersten Mal ohne Stiefel sah; in seinem flatternden Hemd, der ausgebeulten Reithose und den bestrumpften Füßen sah der Coroner mehr denn je aus wie einer seiner kleinen Söhne.

»Was grinst du da, Mönch?«

»Sir John. Setzt Euch.«

»Ich habe Hunger!«

»Sagt Eurem Bauch, er soll warten.«

»Dann wenigstens ein bißchen Met?«

»Nicht auf leeren Magen, Sir John. Was würde Lady Maude dazu sagen?«

»Scheiß drauf!«

»Soll ich ihr das ausrichten?«

Cranston kaute auf seinem Daumennagel. »Ein bißchen Ale mit Wasser; dann höre ich dir zu.«

Athelstan brachte ihm das Gewünschte und erzählte ihm dann, zu welchen Schlüssen er im Chor hinter dem Altar gelangt war. Der Coroner hörte zu und klopfte ihm dann liebevoll auf die Schulter.

»Genau das dachte ich auch«, behauptete er. »Ich hatte mich gefragt, ob ich in dieser Richtung weiterforschen sollte, aber es kam mir so bizarr vor. Na, jetzt aber hopplahopp zum Pater Prior. Wir brauchen seine Erlaubnis.«

»Noch nicht, Sir John. Erst nach der None.« Cranston stand auf. »Wenn das so ist, will ich meine Waschungen vornehmen und frühstücken. Bist du dabei?«

»Nein, Sir John. Ihr könnt der Küche sagen, Ihr wollt für uns beide essen.«

Cranston stieg lärmend die Treppe hinauf, um sich zu waschen und anzukleiden; unterdessen begann Athelstan, das Pergament zu studieren, das Fitzwolfe ihm am Tag zuvor gegeben hatte. Die Eintragungen waren ziemlich traurig und bemitleidenswert und erinnerten ihn an seine eigenen Bemühungen; allerdings hatte Pater Theobald anscheinend wenig Sinn für das Organisatorische gehabt. Er war ein müder, kranker Mann gewesen, dessen Hauptinteresse seinen Begräbnispflichten gegolten hatte, dem Bau des Totenhauses auf dem Kirchhof und den behelfsmäßigen Reparaturen am Kirchendach. Schließlich aber kam Athelstan zu einigen anderen Eintragungen: Offenbar war Pater Theobald im Chor gestürzt, und dann fanden sich Notizen über den Einkauf von Steinplatten bei A.Q.D. Athelstan warf einen Blick auf das Datum: September 1363. Es folgte eine Serie von anderen Zahlungen: »Für das Verlegen von Bodenplatten im Chor, 6 Pfund Sterling an A.Q.D.« Athelstan fuhr mit dem Finger an dieser und anderen Eintragungen entlang. »Ja, ja«, flüsterte er. »Aber wer ist A.Q.D.?« Wieder kam ihm ein Gedanke, und er prüfte die Eintragungen bis Januar 1364. Er suchte nach Zahlungen für Messen, die Pater Theobald für Verstorbene gelesen hatte. Aber unter den Namen fand sich keine junge Frau, die krank geworden, zu Tode gekommen oder auf mysteriöse Weise verschwunden war.

Er schob das Manuskript von sich und nickte geistesabwesend, als Cranston ihm zubrüllte, daß er zum Essen hinübergehe. Er wartete, bis die Tür hinter dem Coroner ins Schloß gefallen war; dann stand er auf, ging nach oben und legte sich hin. Cranston würde eine Weile wegbleiben, und Athelstan wollte die Ereignisse des vergangenen Tages in Ruhe überdenken. Etwas von dem, was er gesehen oder gehört hatte, hatte in seinem Gedächtnis eine Saite zum Klingen gebracht - aber was? Er kehrte zurück zu dem Zeitpunkt, da sie Rogers Leichnam im Obstgarten gefunden hatten, und bedachte dann die Ereignisse des restlichen Tages. Endlich hatte er es gefunden und lächelte überrascht. Natürlich! Er ging wieder nach unten und schaute in Pater Theobalds Journal nach. Dann sprang er auf und klatschte in die Hände wie ein Kind. »Natürlich!« murmelte er. »Natürlich! Nimm das weg, und alles andere stürzt ein!«

Athelstan war so froh, daß er Mühe hatte, seine Erregung zu beherrschen. Er beschloß, einen langen Spaziergang auf dem Klostergelände zu machen, und erschreckte die Laienbrüder, die ihren Alltagspflichten nachgingen, mit seinem flotten Schritt und seinem fröhlichen Gruß. Er ging auch zum Stall hinunter und war erfreut, Philomel zu sehen, der hier die Erträge des Klosters verzehrte. Der Roßknecht, ein grobknochiger Laienbruder, versicherte ihm, daß sein altes Schlachtroß und Cranstons Pferd gut versorgt seien. Als Athelstan zum Gästehaus zurückkam, wartete Sir John schon auf ihn. »Du siehst ja sehr zufrieden aus, Bruder.«

»Wir machen Fortschritte, Sir John. Wir machen Fortschritte. Ich komme mir vor wie ein König, der eine Festung belagert. Die Mauern beginnen zu bröckeln, und bald werden wir hineinstürmen können.«

»Was ist mit meinem Geheimnis?« murrte Cranston. Athelstans Blick wanderte zu Papier und Federkiel. »Noch nicht, Sir John. Alles zu seiner Zeit.«

Der Ordensbruder setzte sich hin und begann, in geheimnisvollen Abkürzungen seine Gedanken aufzulisten und zu ordnen. Cranston schenkte sich wieder einen Humpen Met ein und leerte das Fäßchen vollends; dann ließ er sich auf einen Schemel fallen und hing seinen düsteren Gedanken nach. Die Konfrontation mit Fitzwolfe und der lange Marsch durch die Stadt hatten ihm geholfen, Lady Maudes Wut zu vergessen, aber jetzt kehrte die Erinnerung an ihre Worte mit voller Wucht zurück. Er wußte, daß die Szene des vergangenen Tages nichts im Vergleich mit dem Zorn war, den Lady Maude über ihn hereinbrechen lassen würde, wenn er diese Angelegenheit nicht erfolgreich regelte. Der Coroner war kurz nach Athelstan aufgewacht und hatte fast den ganzen Morgen, sogar den allerheiligsten und privatesten Akt des Frühstücks, damit zugebracht, sich über das Rätsel der scharlachroten Kammer den Kopf zu zerbrechen. Aber er war kein Stück weitergekommen und überlegte jetzt schon, wie er die Wette erfüllen könnte. Eintausend Kronen kann ich nicht aufbringen, dachte er bedrückt. Athelstan ist so arm wie eine Kirchenmaus. Bei Lady Maudes Verwandtschaft zu betteln wäre eine große Demütigung. Sollte er also John von Gaunts Hilfe annehmen, oder sollte er sich als Lump abstempeln lassen, der seine Schulden nicht bezahlte? Cranston knirschte mit den Zähnen. »Bei den Zitzen der Hölle!« knurrte er und funkelte Athelstan an, der gedankenverloren dasaß. Dann knallte er seinen Humpen auf den Tisch, ging hinaus und lauschte dem Läuten der Klosterglocken. »Ich sollte nicht hier sein«, murmelte er. »Ich sollte zu Hause in meiner Kammer sitzen und mich um meine eigenen Probleme kümmern.«

Plötzlich stand Athelstan neben ihm und hakte sich bei ihm unter.

»Na, na, Sir John. Eins nach dem anderen. Wir haben immer noch eine Woche Zeit, ehe wir wieder in den Savoy-Palast müssen.«

Cranston merkte, wie er sich entspannte. »Wir?« wiederholte er hoffnungsvoll.

»Natürlich, Sir John. Wenn Ihr scheitert, muß ich doch da sein. Aber« - er ließ Cranstons Arm los und drückte dessen rundlichen Ellbogen - »mit Gottes Hilfe wird alles gutgehen. Und jetzt kommt; der Prior erwartet uns.« In Pater Anselms Zimmer fanden sie das Generalkapitel vor, ganz wie am ersten Tag, als Athelstan sie kennengelernt hatte.    

Bruder Peter und Bruder Niall sahen jetzt besorgt und verschlossen aus. Bruder Henry wirkte gefaßt, und der Großinquisitor und Bruder Eugenius saßen da wie Jagdhunde und funkelten Athelstan und Sir John an.

»Wieder ein Toter«, begann Eugenius. »Und was für Fortschritte habt Ihr gemacht, Athelstan?«

Prior Anselm klopfte auf den Tisch. »Laßt unseren Bruder sprechen, Eugenius, und mäßigt Euch. Beginnen wir mit einem Gebet.« Der Prior bekreuzigte sich und zwang die anderen, es ihm nachzutun, als er ein kurzes Gebet um Rat und Führung an den Heiligen Geist richtete. »So«, fuhr er dann kühl fort. »Athelstan, du hattest um diese Sitzung gebeten.«

»Pater Prior, ich danke Euch wie auch allen anderen Anwesenden, daß Ihr gekommen seid. Zunächst, Bruder Henry: Ich habe deine Abhandlung gelesen. Ich fand sie glänzend und auch einleuchtend, und es fällt schwer, darin Ketzerei zu entdecken. Zweitens: Callixtus ist in der Bibliothek nicht gestürzt. Er wurde gestoßen, und jemand hat ihm mit einem Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen.« Athelstan hob die Hand, um die erregten Fragen zurückzuweisen. »Ich habe den Kerzenleuchter gefunden, und Mylord Coroner hat ihn begutachtet und als Beweismittel akzeptiert. Drittens«, fuhr er fort und ignorierte das herablassende Lächeln der beiden Inquisitoren, »Bruder Roger ist tot, aber er hat keinen Selbstmord begangen. Er wurde stranguliert, und dann ließ man es so aussehen, als habe er sich erhängt. Viertens: Sein Tod und die übrigen Todesfälle stehen in einem Zusammenhang mit den Angelegenheiten dieses Kapitels, auch wenn ich noch nicht weiß, wie und warum. Nun könnte ich jeden hier, auch den Pater Prior, auffordern, Rechenschaft abzulegen über alles, was er an den Tagen gemacht hat, als Bruno, Roger und Callixtus starben; aber Blackfriars ist ein großes Kloster mit weitläufigen Liegenschaften. Man würde eine Ewigkeit brauchen, um die Fakten zu untermauern, falls das überhaupt möglich ist.«

»Du erwähnst Alcuin nicht?« Bruder Niall ergriff das Wort, und sein schroffer Tonfall verriet seinen singenden gälischen Akzent.

»Ja«, fügte Eugenius an. »Woher sollen wir wissen, daß nicht Alcuin der Mörder ist? Vielleicht lauert er immer noch irgendwo in Blackfriars. Du sagst schließlich selbst, Athelstan, daß dies ein weitläufiges Kloster ist; hier gibt es Nischen und Winkel, die selten oder nie jemand betritt.«

»Unsinn!« schnappte Anselm.

»Nein, Pater Prior, Eugenius hat ja recht«, sagte Athelstan. »Bruder Alcuin ist noch hier; ich fürchte allerdings, er ist tot.«

»Wo denn?« riefen alle im Chor.

»Pater Prior, wann wird die Requiemmesse für Roger gesungen?«

»Heute mittag. Wir können nicht bis morgen warten. Die Kirche ist da sehr streng. Sonntags dürfen keine Totenmessen gesungen werden.«

»Dann bestehe ich darauf, Pater Prior, daß die Beerdigung am Montag stattfindet.«

»Wieso?« 

»Weil ich möchte, daß das Grabgewölbe unter dem Chor geöffnet und Brunos Sarg herausgehoben wird. Wenn er geöffnet ist, werden wir Bruder Alcuin finden.«

»Sakrileg!« rief der Großinquisitor. »Grabschändung! Athelstan, du wandelst auf sehr dünnem Eis.«

»Ein Sakrileg, guter Inquisitor, ist eine Frage des Willens - wie jede Sünde. Ich will aber Bruder Bruno nichts Böses antun - Gott schenke ihm die ewige Ruhe.« Athelstan appellierte an den Prior. »Ihr habt mich hergerufen, damit ich die Wahrheit herausfinde und ein schreckliches Geheimnis aufkläre. Bruder Brunos Sarg muß geöffnet werden.«

»Wir erheben Einspruch!« riefen die beiden Inquisitoren. Der Prior klopfte wieder auf den Tisch. »Ich wüßte nicht, was gegen Athelstans Wunsch einzuwenden wäre. Die Sache muß geklärt werden. Wenn du unrecht hast, Bruder, dann ist ja nichts verloren. Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann kommen wir hier vielleicht ein wenig weiter.« Pater Anselm griff nach einer kleinen Glocke und läutete. Ein Diener kam herein, und Anselm flüsterte ihm Anordnungen zu. Der Mann starrte ihn erschrocken und überrascht an.

»Tu, was ich sage«, befahl der Prior. »Sag Bruder Norbert Bescheid, und hol dir noch zwei andere. Laß dir von ihnen Stillschweigen schwören, und dann führt ihr meine Anordnungen aus.«

Als der Diener gegangen war, schaute Anselm in die Runde. »Gibt es noch etwas, Athelstan?«

»Ja, Pater, aber Sir John und ich müssen Euch unter vier Augen sprechen.«

»Warum?« fragte William de Conches. »Als Großinquisitor verlange ich, dabeizusein.«

»Darauf gebe ich einen Schweinearsch, Mann!« sagte Cranston. »Dies ist ein englisches Kloster; auch wenn es dem kanonischen Recht untersteht, gilt hier das Gesetz der Krone. Als oberster Justizbeamter des Königs in dieser Stadt verlange ich, den Pater Prior allein zu sprechen.«

»Einverstanden«, sagte Pater Anselm knapp. »Brüder, wir treffen uns im Chor.«

Athelstan wartete, bis die Tür sich hinter den anderen geschlossen hatte.

»Was gibt es, Bruder?« fragte der Prior.

»Pater Prior, der Name Hildegarde läßt mich nicht los. Wen gibt es in Blackfriars, der mit diesem Namen etwas anfangen könnte?«

»Das ist kein englischer Name«, fügte Cranston hinzu. »Ich sehe oft Listen mit Namen von Geschworenen und Steuerzahlern. Hildegarde ist deutsch.«

Der Prior rieb sich die Augen. »Wer, glaubst du, könnte sie sein, Athelstan?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Äbtissin oder eine der Heiligen.«

»Ich weiß von keiner Verehrung für eine Frau mit diesem Namen. Aber wir haben einen alten Gelehrten hier, Bruder Paul. Erinnerst du dich an ihn, Athelstan? Inzwischen ist er krank, halb erblindet und bettlägerig. Die meiste Zeit liegt er im Spital. Aber kommt mit. Sein Verstand ist noch scharf, und vielleicht setzen wir seine Erinnerung in Gang.« Der Prior führte sie durch den Kreuzgang und eine kleine Seitenpforte in einen Blumengarten, dann in das zweistöckige Spitalhaus. Es roch süß nach zermahlenen Kräutern, Seife und Stärke, aber Athelstan witterte auch den bitteren Duft gewisser Tränke. Der Krankenbruder führte sie die Treppe hinauf in einen langen Raum mit Betten zu beiden Seiten; jedes Bett war hinter einem Vorhang verborgen. Anselm flüsterte dem Krankenbruder ein paar Worte zu, und dieser deutete auf einen Alkoven am anderen Ende, der durch ein weißes, grüngesäumtes Tuch an einer glänzenden Messingstange vom Rest des Raumes abgeteilt war. »Dort findet Ihr Bruder Paul. Er ist guter Dinge. Man hat ihm versprochen, daß er eine Weile im Garten sitzen darf.« Gefolgt von Athelstan und Cranston, ging Anselm über den blankpolierten Fußboden. Der Prior zog das Tuch beiseite. Da lag ein alter Mann, den Kopf auf einem Polsterkissen. Das Haar rings um seine Tonsur war schneeweiß, das Gesicht schmal, und die einst leuchtenden Augen über den hohen Wangenknochen waren jetzt milchig weiß überzogen.

»Wer ist da?« Seine Stimme klang überraschend kraftvoll. »Der Pater Prior. Ich habe zwei Freunde mitgebracht, Sir John Cranston und den jungen Athelstan.« Cranston gab seinem Begleiter einen Rippenstoß. »Der junge Athelstan!« flüsterte er spöttisch.

»Cranston, ich kenne Euch.« Bruder Paul drehte den Kopf. »Ich habe oft in den Gefängnissen gearbeitet, in Newgate, Fleet und Marshalsea, und verurteilten Verbrechern die Beichte abgenommen. Wißt Ihr, daß sie alle immer sagten, Ihr wärt ein Schweinehund?« Die Lippen des alten Ordensbruders teilten sich zu einem zahnlosen Lächeln. »Wohlgemerkt«, ergänzte er, »ein gerechter, ja, sogar ein mitfühlender Schweinehund.«

Cranston drängte an den anderen vorbei und hockte sich neben das Bett.

»Natürlich«, sagte er leise, »ich kenne Euch auch. Der Ordensbruder, der immer darauf bestand, daß Fälle noch einmal aufgerollt wurden. Ihr habt manch einen vor dem Henkersstrick bewahrt.«

Der alte Ordensbruder lachte gackernd, streckte die Hand aus und ließ sie Sir John auf die Schulter fallen. »Schlank und rank wie früher, Sir John.« Pater Paul nahm die Hand wieder weg. »Athelstan, wo bist du, du junger Taugenichts?«

Athelstan umfaßte die fleckige, von Adern überzogene Hand des Alten, und die Tränen traten ihm in die Augen, denn er erinnerte sich an Pater Paul; er war alt gewesen, als Athelstan sein Noviziat begonnen hatte, aber tatkräftig und flink, mit scharfem Verstand und spitzer Zunge. Er hatte die Novizen in Philosophie, Theologie und den Fächern des Quadriviums unterrichtet.

»Wir studieren immer noch die Sterne, was, Bruder?« Athelstan streichelte die Hand des alten Mannes. »Ich werde mich immer daran erinnern, wir Ihr die Psalmen zitiert habt, Pater Paul: ›Wer kann erkennen die Wege des Herrn? Wie der Himmel und seine Lichter hoch über der Erde sind, so sind Seine Wege hoch über uns.«‹ »Du hast falsch zitiert!« blaffte der alte Ordensmann. »Du warst immer ein Träumer. Aber gut - was wollt ihr von mir, einem kranken, alten Mann?«

»Sagt Euch der Name Hildegarde etwas?« Bruder Paul wieherte vor Lachen. »Seid ihr hier, um die Sünden meiner Jugend auszugraben?« schnaubte er. »Meine Augen sind dahin, Bruder Athelstan, aber mein Gedächtnis ist immer noch gut. Hildegarde ist ein Frauenname. Ich entsinne mich deiner, mit deinen dunklen Augen und deinem weichen Herzen. Erinnerst du dich noch, was ich dir über die Liebe gesagt habe? Wie furchtbar es für einen Priester sein kann, wenn er einer Frau begegnet, die er wirklich liebt?« Der alte Bruder wandte sich ab, und seine Knochenfinger tasteten nach seinen Wangen. »Ich kannte einst eine Frau namens Hildegarde. Sie hatte das Gesicht eines Engels, aber ihr Herz war böse wie die Sünde.« Er lachte. »Aber das ist bestimmt nicht die Hildegarde, die ihr sucht. Die ihr meint, ist eine deutsche Frau, eine Äbtissin, die vor hundertzwanzig oder hundertfünfzig Jahren gelebt hat.« Er schwieg und starrte blicklos zur Decke. »Was kannst du uns sonst noch erzählen?« drängte der Prior.

Der Alte schüttelte müde den Kopf. »Ich gar nichts, Pater Prior, aber die Bibliothek kann es sicher. Ja, ja, schaut in der Bibliothek nach.« Seine Hand sank herunter. »Im Laufe der Jahre«, wisperte er, »habe ich den Namen kennengelernt, aber ich kann euch nicht sagen, warum.«

Athelstan nahm seine Hand und drückte sie sanft. »Ich danke Euch, Pater Paul.«    

Der alte Ordensbruder zog Athelstan am Handgelenk zu sich heran. »Möge der Herr dich behüten. Möge Er dir sein Antlitz zeigen und lächeln. Möge Er dich segnen und dich alle Tage deines Lebens bewahren.«

Er ließ los, und leise verließen sie das Spital. Athelstan erkannte schuldbewußt, wieviel er dem Leben in Blackfriars verdankte und wieviel er davon vergessen hatte. Draußen im Blumengarten blieb Cranston bewundernd vor einem Rosenbusch in voller Blüte stehen. Athelstan nahm den Arm seines Oberen und flüsterte eindringlich: »Pater, wir haben jetzt eine Reihe von Verbindungen; Callixtus und Alcuin sind durch den Namen Hildegarde miteinander verknüpft. Callixtus wurde in der Bibliothek getötet, aber nicht durch einen Unfall, sondern durch einen Schlag mit einem Kerzenleuchter. Um es gleich zu sagen: Ich glaube, daß Callixtus nach einem Buch oder einem Traktat im Zusammenhang mit dieser Hildegarde gesucht hat.« Athelstan schwieg einen Augenblick. »Pater, ich glaube, der Name Hildegarde liegt all den Mordtaten, die hier begangen wurden, zugrunde.«

Pater Prior holte tief Luft und schaute in den blauen Himmel hinauf. »Ich sehe diese Verbindungen wohl, Bruder Athelstan, aber was im Namen unseres gütigen Herrn hat Hildegarde mit der Sitzung des Generalkapitels zu tun?« Hilflos hob er die Hände. »Du hast unsere Bibliothek gesehen, Bruder. Regal um Regal voller Bücher, manche drei-, vierhundert Seiten dick. Ein Leben lang könnte man da suchen. Und woher sollen wir wissen, daß der Mörder nicht schon gefunden hat, was Callixtus suchte?«

»Das hat er vielleicht, aber laßt uns zuversichtlich sein. Wenn er es nicht gefunden hat, dann verstellen wir ihm jetzt den Weg. Jede weitere Suche in der Bibliothek würde unsere Aufmerksamkeit erregen.«

Cranston trat zu ihnen, eine frische, taufeuchte Rose in der Hand. »Ich habe gehört, was Ihr gesagt habt, Pater Prior, aber laßt einmal den alten Sir John das Messer der Logik ansetzen. Callixtus stand oben auf der Leiter, nicht wahr?« Rasselnd holte er Luft. »Er suchte also nach einem Buch auf dem obersten Regal. Wir wissen ungefähr, wo die Leiter stand.« Cranston schob den mächtigen Bauch vor. »Ergo«, fuhr er fort, Athelstan imitierend, »liegt die Schlußfolgerung auf der Hand. Callixtus kann durchaus in einem der Bücher etwas über die berühmte Hildegarde entdeckt haben. Nun können wir nicht unsere Zeit in der Bibliothek verbringen, denn dann würde unser Wild uns wittern. Aber dieser prachtvolle Laienbruder, der mich mit Met versorgt… wie heißt er gleich?«

»Norbert.«

»Ja. Den nehmen wir.«

Der Prior war einverstanden, und sie kehrten zum Hauptgebäude des Klosters zurück; Anselm schickte einen Bediensteten zu Norbert und bat ihn, in die Bibliothek zu kommen. Sie fanden das Scriptorium und die Bibliothek fast verlassen; die wenigen Mönche, die hier still ihrer Arbeit nachgingen, verschwanden auf Ersuchen des Priors. Bruder Norbert kam nach kurzer Zeit atemlos zu ihnen. Athelstan faßte den jungen Laienbruder beim Arm und führte ihn zu der Stelle, wo Callixtus gelegen hatte; dann schaute er zu den Regalen hinauf, die vor ihnen aufragten. 

»Norbert, wenn wir unsere Arbeit in der Kirche beendet haben, möchte ich, daß du alle Bücher aus den oberen drei Borden herunterholst.« Er deutete hinauf. »Aber nur die. Sie müssen - einzeln, falls nötig - ins Gästehaus hinübergeschafft werden, ohne daß dich dabei jemand sieht. Hast du verstanden?«  

Der junge Laienbruder nickte, und Athelstan rieb sich die Hände.

»Gut.« Er sah seine Gefährten an. »Ich bin sicher, daß Bruder Norbert den Mund halten kann. Und jetzt kommt; die anderen in der Kirche müssen vor Ungeduld schon fast vergehen.«

Athelstan hatte recht. Die übrigen Angehörigen des Generalkapitels saßen leise murrend auf den Sitzbänken des Chores, und ein schwitzender, rotgesichtiger Laienbruder war hinter dem Altar damit beschäftigt, die Steinplatten über dem Grabgewölbe herauszuhebeln. Norbert half ihm dabei. Der Prior plauderte ein Weilchen, bis ein schweißüberströmter Laienbruder rief: »Pater Prior, wir sind soweit!« Athelstan, Cranston und die anderen gingen um den Hochaltar herum. Rogers Sarg war beiseite geschoben worden, ebenso das Eichenholzgestell, der rote Teppich war aufgerollt, und die Steinplatten lagen aufgestapelt, das Grabgewölbe war offen. Bruder Norbert und seine Gefährten trugen zwei Leitern herbei und kletterten vorsichtig in das Gewölbe. Der Prior reichte ihnen eine brennende Kerze hinunter. Cranston spähte in die Tiefe, und es schauderte ihn. Er erkannte Särge und begriff, daß dieses Gewölbe ein riesiges Mausoleum war. Seile schlängelten sich in die Tiefe. »Wir haben Brunos Sarg gefunden!« Norberts Stimme klang hohl und geisterhaft wie aus einem tiefen Abgrund. Sie hörten ein Gleiten, leises Krachen und unterdrückte Flüche. Norbert und ein Laienbruder kamen zurück; sie warfen die Seile hoch, bevor sie selbst in den Chor hinaufkletterten.

»Bruder Brunos Sarg steht jetzt unmittelbar unter uns«, keuchte Norbert. »Aber wir brauchen Hilfe. Er ist sehr schwer.«

Auf Befehl des Priors packten alle, auch Cranston und Athelstan, die Seile und begannen zu ziehen. Das Ganze erwies sich als mühselig, denn der Kiefernholzsarg war schwer wie Blei.

»Freilich«, ächzte der Prior, »einen Sarg hinunterzulassen ist leicht.« Er lächelte schmal. »Aber wer hätte gedacht, daß wir einmal einen wieder hochziehen müssen?« Alle zogen an den Seilen, aber der Sarg war doch zu schwer, und der Prior räumte widerstrebend ein, daß weitere Hilfe gebraucht wurde. Sie ließen die Seile fallen und machten eine kurze Pause, Norbert wurde fortgeschickt, weitere Hilfe zu holen.

»Macht nichts.« Der Prior zuckte die Achseln. »Die anderen werden es sowieso bald erfahren.«

Norbert kehrte zurück, und der Prior schärfte den neuen Helfern ein, unbedingt Stillschweigen zu bewahren. Diesmal stiegen andere die Leiter hinunter in das Gewölbe, und endlich hatte man den mächtigen Kiefernholzsarg herausgehoben und im Chor abgestellt. Der Prior dankte allen und entließ die Laienbrüder mit Ausnahme von Norbert. Athelstan taten Arme und Schultern weh; Cranstons Gesicht war rot wie eine Pflaume, und der Schweiß rann ihm am Hals herunter.

»Ich könnte einen Becher Weißen vertilgen!« maulte er. »Bei den Zähnen der Hölle, Athelstan! Bruder Bruno schien mit größerem Widerwillen aus seinem Grab herauszukommen als hineinzugehen.«

»Dafür gibt es einen Grund, Sir John.« Athelstan wartete nicht auf den Prior; er borgte sich Cranstons langen Dolch, ging zu dem Sarg hinüber und begann, den Deckel aufzustemmen. Fauliger Verwesungsgeruch durchwehte den Chor, und die anderen begannen zu murren, als sie sahen, was er da tat. Der Prior öffnete den Mund und wollte Einwände erheben, aber Athelstan arbeitete trotzig weiter, unterstützt von Cranston, der mit dem Mantel Mund und Nase vor dem Fäulnisgestank schützte. Das Mißfallensgemurmel schwoll an, bis Cranston den Mantel herunterzog und die Umstehenden erbost anherrschte: »Wenn ihr den Geruch nicht aushaltet, zündet ein wenig Weihrauch an, verdammt!« Der Prior war einverstanden. Rauchfaß, Holzkohle und Weihrauchkörner wurden herbeigeholt. Die Kohle wurde angezündet und mit den Weihrauchkörnern bestreut. Endlich war der Sargdeckel offen. Athelstan schob ihn zur Seite und wandte sich würgend ab, denn grauenhafter Gestank drang durch den weihrauchvernebelten Chor wie Schlamm durch klares Wasser. »O mein Gott«, murmelte Cranston. Athelstan hielt sich die Nase zu und spähte in den Sarg. »Ich habe schon manchen schrecklichen Anblick gesehen«, erklärte Cranston. »Aber in Gottes Namen …« Bruder Brunos verwesender Leichnam ruhte unter einem dünnen Gazeschleier, und darauf lag, mit dem Gesicht nach unten, der von Gas aufgeblähte, rasch faulende Leib Bruder Alcuins. Trotz Gestank und den sichtbaren Merkmalen der Verwesung, streckte Athelstan die Hand aus und berührte sanft den Hinterkopf des Ermordeten. »Oh, der gütige Jesus, der Sohn Mariens, erbarme sich deiner, und Gott vergebe dir alle deine Sünden.« Athelstan schaute auf den Mann hinunter, den er einmal gekannt, mit dem er gebetet, gegessen und getrunken hatte und der jetzt brutal ermordet vor ihm lag, in einen Sarg gestopft wie ein dreckiger Lappen. Behutsam drehte er den Leichnam halb um und versuchte, nicht in die starren Augen und das blauschwarze Gesicht oder auf die hervorquellende, geschwollene Zunge zu schauen. Er zog die Kutte des toten Bruders am Hals herunter und sah das dünne, purpurviolette Mal der Garotte.

»Um Gottes willen, Pater Prior!« rief Cranston. Anselm stand wie angewurzelt da; er war weiß im Gesicht, und seine Augen waren starr vor Entsetzen. Die anderen konnten nicht hinschauen; sie hatten sich hinter den Altar zurückgezogen, und nur Bruder Norbert war dageblieben. »Du scheinst mir ein robuster Kerl zu sein«, stellte Cranston fest. »Lauf rasch und hole ein Leichentuch und einen Sarg. Na los, Mann!«

Norbert hastete davon, und Cranston straffte sich. Er nahm Athelstan beim Arm. »Komm, Bruder«, sagte er sanft. »Komm weg hier. Der Pater Prior braucht deine Hilfe.« Athelstan riß sich von dem entstellten Leichnam los und ging zu Anselm hinüber.

»Pater Prior«, flüsterte er und nahm Anselms Hand. Sie war eiskalt. »Pater, kommt mit uns.« Er packte den Mann bei der Schulter und schüttelte ihn heftig. »Hier können wir nichts mehr tun.«