VIERZEHN
Am nächsten Morgen wurde Athelstan roh aus dem Schlaf gerissen; der Coroner hockte vor seinem Stuhl und grinste wie ein Dämon auf einem von Huddles Gemälden. Er wirkte so frisch wie ein Gänseblümchen. »Hoch mit dir, Bruder!«
Cranston richtete sich auf und streckte sich, bis die Knochen in seinem mächtigen, fetten Körper knackten. »Ihr habt gut geschlafen, Sir John?«
»Selbstverständlich, Bruder. Ein hartes Bett ist das beste Bett, wie ich immer zu meinem Herrn, dem Schwarzen Prinzen, sagte, als wir zusammen in Frankreich im Felde lagen.« Athelstan schob die Decke beiseite, mit der Lady Maude ihn am Abend zuvor zugedeckt hatte. Er fror ein bißchen und war verkrampft, und im Mund hatte er den bittersüßen Geschmack des Weines, den er so fröhlich getrunken hatte. »Das Buch!« rief er plötzlich aus. »Wo ist das Buch?« Cranston deutete auf den Tisch. »Keine Angst, Bruder, dem ist nichts passiert.«
Athelstan schaute den Coroner mißtrauisch an. »Sir John, Ihr seid ja schon gewaschen und rasiert.«
Tatsächlich sah Cranston prächtig aus in einem weißen, am Halse offenen Leinenhemd und Wams und Hose aus dunkler Maulbeerseide, die mit einem Silberfaden durchwoben war. Er hatte sogar schon die Stiefel an, und Athelstan sah einen Mantel und den Schwertgurt auf dem Tisch bereitliegen. »Aye, Bruder, ich bin bereit für den Tag. Ein warmes Bad, ein scharfes Rasiermesser, frische Kleider und ein Kuß von Lady Maude - dann würde ich sogar zur Hölle gehen!«
»Ihr habt das Buch gelesen?«
»Natürlich, Bruder, und ich freue mich darauf, diesen bösartigen Drecksack zu verhaften.«
»Sir John, Eure Ausdrucksweise!« Lady Maude kam hereingerauscht, hinter sich die Amme mit den beiden Kerlchen, die wie ihr Vater hellwach waren und nach Erfrischung brüllten.
Cranston verbeugte sich. »Mylady, ich bitte demütigst um Verzeihung.« Er grinste boshaft. »Ich kann Scheißkerle, die fluchen, auch nicht ausstehen.«
Lady Maudes spitze Schreie verstummten abrupt, denn Cranston hatte die Küche durchquert, hob sie hoch wie eine Puppe und küßte sie auf den Mund. »Oh, Sir John!« wisperte sie atemlos.
Athelstan erhob sich, sah sie an und fragte sich, ob Sir John ihr wohl schon mehr als nur einen Kuß gegeben hatte, seit er erfrischt wie ein Adonis aufgewacht war. Cranston griff sich die beiden Kerlchen und schaukelte jeden auf einem Arm, während er sie entzückt anbrüllte. Die Wut der beiden Knaben, die ihrer Amme so jäh entrissen und auf und ab geschüttelt wurden, kannte keine Grenzen. Sie schrien, bis ihnen die Tränen über die roten Gesichter strömten. »Genug ist genug!« Lady Maude riß ihm das eine Baby aus dem Arm, die Amme das andere, und die beiden Frauen flüchteten aus der Küche und schworen, nicht wiederzukommen, solange Sir John nicht gelernt habe, sich zu benehmen.
Cranston schien wie vom Teufel besessen. Er bestand darauf, Athelstan eigenhändig zu rasieren, und brüllte das Hausmädchen an, sie solle heißes Wasser und Tücher bringen. Ein Diener wurde in die nächste Garküche geschickt, um frische Pasteten zu holen, und Cranston goß sich derweil einen Becher Roten ein - Athelstan hatte den Verdacht, daß es nicht der erste an diesem Morgen war. Als der Diener zurückkam, folgte ihm Leif, der Bettler, auf den Fersen; der würzige Duft des Fleisches unter der frischgebackenen Kruste ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. »Hau ab, du fauler Hund!« tobte Cranston. »Danke schön, Sir John.« Leif, der Cranstons Gewohnheiten kannte, setzte sich und wartete geduldig, bis der Coroner ihm zu essen gab. Sir John tat das auch sogleich, nicht ohne ihm einen kernigen Vortrag darüber zu halten, daß er einem armen Pfaffen das Essen aus dem Munde raube. Athelstan war immer noch nicht ganz wach; er trank ein wenig verdünntes Ale und brachte auch ein wenig Pastete herunter, bevor Cranston und Leif den Rest gemeinsam verschlungen hatten.
»Wir sollten jetzt gehen, Sir John.«
»Stimmt, stimmt.« Der Coroner stand auf und griff nach Mantel und Schwert. »Nimmst du das Buch mit, Bruder?« Er blieb stehen und lauschte mit schräggelegtem Kopf. Er hörte das entfernte Brüllen seiner beiden Kerlchen. »Ich sollte Lady Maude auf Wiedersehen sagen. Andererseits«, brummte er, »soll man schlafende Hunde ruhen - oder, in diesem Fall, reizende Kerlchen brüllen lassen. Leif, du fauler Hundesohn, sag Lady Maude, daß wir nach Blackfriars gegangen sind. Es dauert nicht lange. Ach, und übrigens …«
»Ja, Sir John?« Leif hatte immer noch den Mund voll Fleischpastete.
»… laß meinen verfluchten Rotwein in Ruhe!«
»Selbstverständlich, Sir John.«
Athelstan folgte Sir John zur Küchentür hinaus, und Leif zwinkerte ihm zu und goß sich einen Becher ein. Der Coroner ließ sich von einem schüchternen Dienstmädchen an der Haustür den wunderbaren Weinschlauch aushändigen und sah sie streng an. »Nichts der Lady Maude verraten!«
»Nein, Sir John.«
»Du mußt wissen, Athelstan«, raunte Cranston, »ich habe nämlich zwei solche Weinschläuche. Den einen lasse ich in der Speisekammer liegen, damit Lady Maude denkt, ich sei auf dem Trockenen, und den anderen nehme ich mit.« Er schüttelte den Kopf. »Lady Maude ist ein Engel, aber sie begreift nicht, wie notwendig eine Erfrischung sein kann.«
Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet. »Herr, errette uns, denn es wird wieder einer von diesen Tagen werden.«
»Was sagst du, Mönch?«
»Gar nichts, Sir John. Ich bete nur um Geduld.« Es war Sonntag, und so lag die Cheapside verlassen da; nur wenige Leute hasteten zur Frühmesse, herbeigerufen von den Glocken, die den ganzen Vormittag über von einem Ende der Stadt zum anderen läuten würden.
»Sollten wir zuerst zur Messe gehen, Sir John? Es ist Sonntag.«
»Du bist doch Priester, Bruder. Du wirst in Blackfriars selbst eine Messe lesen, oder?«
Athelstan bejahte, und sie gingen die Westcheape hinauf und bogen an der Paternoster Row links ab.
»Sag mal, Bruder«, begann Cranston unvermittelt, »wie bist du eigentlich zu dem Schluß gekommen, daß es das Bett war?
Deine Erklärung war zwar logisch, aber wie hast du sie gefunden?«
»Um ganz ehrlich zu sein, Sir John, Benedicta hat mich darauf gebracht. Ich habe zugesehen, wie sie sich das Gesicht puderte und der Staub durch die Luft trieb. An das Bett hatte ich wohl schon gedacht, aber erst als ich ihr zusah, hatte ich den Schlüssel zur Lösung vor mir.« Er schaute die Häuser an, die sich ringsum erhoben. »Aber was mir jetzt Sorge macht, Sir John, ist unser Zusammentreffen in Blackfriars. Unser Mörder könnte gewalttätig werden.«
Cranston schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Vertrau auf den Coroner, mein guter Pfaffe! Setze dein Vertrauen auf den braven Sir John. Und auf Bruder Norbert«, fügte er schelmisch hinzu. »Ihn möchte ich dabei haben, bewaffnet mit dem guten Knüppel, den wir im Gästehaus zurückgelassen haben.«
Athelstan griff nach Sir Johns Arm. »Wartet ein Weilchen, Mylord Coroner. Ihr müßt Euch die ganze Beweisführung gegen den Mörder in Blackfriars anhören und dürft Euch nicht von der Freude hinreißen lassen, einen Mann in die Falle gehen zu lassen, den Ihr haßt.«
Sie waren mitten auf der Straße stehengeblieben; Athelstan redete in ernstem Ton, und Sir John nickte zustimmend. Als er geendet hatte, war Athelstan hellwach. »Habt Ihr mich verstanden, Mylord Coroner?«
»Natürlich, Bruder.«
»Dann wollen wir weitergehen, im Namen Gottes.« In Blackfriars ließ der Pförtner sie ein und schickte nach Bruder Norbert. Athelstan lehnte das Angebot des Laienbruders, sie zum Prior zu führen, ab; er bestand darauf, seine Messe im Gästehaus zu lesen.
»Aber das ist höchst ungewöhnlich«, stammelte der Laienbruder.
»Bruder Norbert«, antwortete Athelstan ruhig, »so Gott will, wird man, wenn ich heute abend gehe, in Blackfriars über anderes zu klatschen haben als darüber, wo ich meine Messe gelesen habe. Und jetzt lauf und besorge mir Kelch, Patene, drei Hostien und ein wenig Wein, und auch die Gewänder für den heutigen Tag. Danach gehen wir zum Pater Prior.«
Der Laienbruder eilte davon. Athelstan und Cranston überquerten das verlassene Klostergelände. Norbert hatte ihnen das Gästehaus bereits aufgeschlossen, und sie gingen gleich hinein. Als der Laienbruder kam, legte Athelstan rasch die Meßgewänder an, verwandelte den Küchentisch in einen behelfsmäßigen Altar und las die Messe, wobei er zu Gott betete, Er möge ihn während der bevorstehenden furchtbaren Konfrontation mit dem Mörder leiten. Er verweilte bei der Wandlung und starrte Hostien und Wein an; dann teilte er die Kommunion an Sir John und den ängstlich blickenden Norbert aus. Als der Schlußsegen gesprochen war, schickte er den Laienbruder zu Pater Anselm, um ihm zu sagen, er wolle ihn und die anderen Mitglieder des Generalkapitels so bald wie möglich im Gemach des Priors sprechen. Während sie auf Bruder Norberts Rückkehr warteten, stöberte Cranston in der Speisekammer nach weiteren Erfrischungen; Athelstan nahm sich das Buch vor, das aus Oxford gekommen war, und las noch einmal die Seiten, die er am Abend zuvor das erste Mal gesehen hatte.
Endlich klopfte es an der Tür, und Norbert kam herein. »Der Pater Prior ist bereit«, gab er bekannt. »Allerdings ist er ein bißchen verärgert, weil Ihr ihm nicht gleich Bescheid gesagt habt, als Ihr gekommen seid. Die übrigen sind auch versammelt.«
»Gut«, seufzte Athelstan. Er steckte das Buch in den Beutel und reichte dem überraschten Laienbruder den Knüppel, der im Gästehaus geblieben war. »Was auch geschieht, Bruder Norbert, du bleibst bei der Sitzung mit Pater Prior und den anderen dabei. Stelle dich neben die Tür. Wenn jemand versucht zu gehen, bevor ich fertig bin« - er schaute den jungen Laienbruder scharf an -, »dann benutzt du diesen Knüttel. Selbst«, fügte er hinzu, »wenn es der Pater Prior ist.« Der Laienbruder starrte ihn mit offenem Mund an. »Bruder Athelstan, habt Ihr den Verstand verloren?«
»Tu, was er sagt«, knirschte Sir John und schwang sich den Mantel um die Schultern. »Und keine Angst, wenn Gewalt ausbricht: Sir John wird dem schnell ein Ende machen.«
»Noch ein letztes«, sagte Athelstan. »Wenn alles erledigt ist, Bruder Norbert - und das wird es früher sein, als du denkst, dann wirst du Stillschweigen schwören müssen. Du darfst niemandem erzählen, was du in jenem Raum zu sehen und zu hören bekommst.«
Sie verließen das Gästehaus und gingen hinüber in den Kreuzgang; hier saßen jetzt überall die Ordensbrüder auf den Bänken und auf der niedrigen Ziegelmauer und genossen den schönen Sommermorgen. Am Sonntag war die Gemeinschaft von ihren Alltagspflichten befreit. Das Gemurmel ihrer Gespräche verstummte, als Cranston mit seinem Gefolge auf dem Weg zum Gemach des Priors an ihnen vorbeirauschte. Athelstan warf einen Blick auf den kleinen Springbrunnen in der Mitte des Kreuzgartens und mußte plötzlich an sein Noviziat denken — wie er dort mit den anderen gesessen und geschwatzt hatte, ohne nur einen Augenblick lang zu ahnen, was die Zukunft für ihn bereithielt. Nun war er wieder hier, ein Mitglied des Dominikaner-Ordens mit allen Gelübden und im Begriff, einen Bruder zur Rede zu stellen und zu demaskieren, der für den Tod von vier Mönchen verantwortlich war, von dem bösartigen Überfall auf ihn selbst gar nicht zu reden. Athelstan blieb stehen und schaute zum Himmel hinauf, der immer heller wurde, je höher die Sonne stieg. Die Wolken, die sich in der Nacht zusammengeballt hatten, verwehten allmählich wie Rauch. Cranston blieb stehen und sah sich um.
»Komm schon, Bruder; worauf wartest du?«
»Auf nichts, Sir John; ich erinnere mich nur an etwas. Ist es nicht merkwürdig, daß uns die Vergangenheit immer lieblicher erscheint als die Gegenwart?«
»Na komm, Bruder«, drängte Cranston sanft, »wir haben in dieser Sache keine Wahl.« Er lächelte schief. »Um der Liebe Gottes willen, Athelstan: Denk an die, die jetzt tot sind, brutal ermordet. Ihr Blut schreit nach Rache, und wir tun Gottes Werk ebenso wie das des Königs.« Athelstan nickte und folgte Sir John ins Gebäude und durch den steingepflasterten Korridor zum Zimmer des Pater Prior. Pater Anselm und die übrigen waren bereits versammelt. »Du hättest uns melden sollen, daß du da bist, Bruder«, erklärte der Prior vielsagend.
»Warum?« erwiderte Athelstan knapp und mit Schärfe. »Damit der Mörder hier einen weiteren Anschlag auf mein Leben unternehmen kann?«
Der Prior machte runde Augen vor Staunen und Ärger. »Bruder Athelstan, eine solche Anschuldigung verlangt Beweise.«
»Die haben wir«, erklärte Cranston. Er schaute in die Runde derer, die er seine geheimniskrämerischen Brüder nannte: Niall und Peter, hin und her gerissen zwischen Streitsucht und Neugier, und die Inquisitoren mit ihren ernsten Gesichtern. Er sah, daß William de Conches bereits Platz genommen hatte und nervös auf der Tischplatte trommelte. Eugenius funkelte Athelstan an, und Bruder Henry stand mit verschränkten Armen da und starrte auf den Tisch. »Beweise habt Ihr, sagt Ihr?« stichelte Eugenius. »Was denn für Beweise, Sir John? Dieses Generalkapitel ist zunichte gemacht, weil wir herumsitzen und darauf warten, daß Ihr diese Angelegenheit aufklärt. Pater Prior, wir warten jetzt nicht länger. Soll Cranston sagen, was er zu sagen hat, und dann sind wir fort.«
Der Coroner richtete sich zu voller Größe auf. »Hinsetzen!« donnerte er. »Glaubt mir, Bruder, wir werden Euch nicht lange aufhalten.«
Die Dominikaner schauten den Pater Prior an, um zu hören, was er dazu meinte. Er nickte nur. »Ja, ja«, murmelte er. »Tut, was Sir John sagt. Wir wollen uns setzen.« Sie nahmen an dem langen, polierten Tisch Platz, Pater Prior an einem Ende, Cranston und Athelstan am anderen. Einwände wurden erhoben gegen Bruder Norberts Anwesenheit und gegen den Knüttel, den er bei sich trug, aber auch hier setzte Cranston sich brüllend durch. Der Prior zuckte die Achseln, klopfte Schweigen gebietend auf den Tisch und funkelte Athelstan an.
»Bruder«, begann er, »in einer halben Stunde versammeln wir uns zur Feier des heiligen Hochamts. Der Großinquisitor und Bruder Eugenius haben entschieden, daß Bruder Henry von Winchesters Schriften keinerlei Ketzerei enthalten, und die Brüder Niall und Peter erklären, sie können aufgrund der Heiligen Schrift und der Überlieferung die Wahrheit dessen, was er schreibt, nicht bestreiten.« Der Prior rieb sich das müde, zerfurchte Gesicht. »Wenn du also nicht klar und umfassend erklären kannst, wie die schrecklichen Todesfälle zustande gekommen sind, dann werde ich die Sitzung des Generalkapitels für beendet erklären, wir werden die Messe feiern, und jeder wird seiner Wege gehen. Hast du verstanden?«
»Ja, Pater Prior.« Athelstan nahm den Lederbeutel, zog das Buch heraus und schob es über den Tisch zum Prior hinüber. »Lest! Schlagt an der Stelle auf, die das purpurne Seidenband markiert.«
»Warum soll ich das lesen?«
Alle waren verstummt und schauten Athelstan an. »Ihr sollt es lesen, Pater Prior«, verkündete Cranston und erhob sich; »weil es beweist, daß unser junger Theologe hier, Bruder Henry von Winchester, ein Lügner, Dieb und Mörder ist.«
Der beschuldigte Dominikaner lehnte sich an den Tisch. Erbost schaute er Cranston an, dann das Buch, und seine Hand schoß vor; er hätte das Buch an sich gerissen, wenn Bruder Norbert sich nicht vorgebeugt und ihn hart aufs Handgelenk geschlagen hätte.
Cranston grinste den jungen Laienbruder an. »Gut gemacht, Norbert, mein Sohn. Wenn du je aus Blackfriars weggehst, kann ich dir einen guten Posten bei meiner Garde zusichern.«
Athelstan blieb stumm sitzen und ließ den Coroner fortfahren, denn ihm tat es im Herzen weh, daß er hier im großen Kloster von Blackfriars einen Dominikanerbruder des Mordes an vier Mitbrüdern anklagen sollte. Henry von Winchester war bleich geworden; seine dunklen Augen blickten starr wie die eines gefangenen Tieres.
»Du bist ein Lügner«, bezichtigte ihn Cranston, »weil du Behauptungen aufstellst, die falsch sind. Du bist ein Dieb, weil du das Werk der Hildegarde von Bingen gestohlen hast, einer deutschen Äbtissin, die vor hundertzwanzig Jahren lebte und eine glänzende Abhandlung über die Frage geschrieben hat, weshalb Gott Fleisch geworden sei. Eine originelle, einleuchtende Abhandlung, die damals zurückgewiesen wurde.« Cranston blickte grinsend in die Runde der Dominikaner. »Weil es sich nicht gehörte, daß Frauen Spekulationen über die göttliche Wissenschaft der Theologie anstellten, wurden ihre Schriften vergraben, ja sogar vernichtet. Aber du, Bruder Henry, hast eine Abschrift gefunden. Du hast sie Wort für Wort abgeschrieben und als eigene Arbeit ausgegeben. Du glaubtest, man würde dich nicht entlarven. Es gibt nur noch wenige Abschriften von Hildegardes Werken. So bist du nach Blackfriars gekommen, um die Angelegenheit mit den Brüdern Niall und Peter zu erörtern, während unsere Freunde von der Inquisition zuhörten.«
Cranston stand auf. »Du hast nur einen Fehler begangen. Bruder Callixtus war kein Theologe, aber er hatte, wie mein guter Freund Athelstan mir erzählt hat, ein wunderbares Gedächtnis. Nun gab es hier in der Bibliothek von Blackfriars ein Exemplar von Hildegardes Werken. Deine Abhandlung erweckte eine Erinnerung bei Callixtus, und er erzählte seinem guten Freund Alcuin davon.« Cranston hielt inne, denn Henry von Winchester beugte sich vor und deutete mit dem Finger auf ihn.
»Keine theologische Abhandlung ist jemals völlig neu.« Rasch schaute er in die Runde und erwartete Bestätigung. »Ich habe nie behauptet, die meine sei es. Woher sollte ich wissen, daß Callixtus jemanden namens Hildegarde kannte?«
»Das kann ich nicht beweisen«, sagte Cranston, »aber Callixtus verspürte - wie jedes menschliche Wesen - leisen Neid. Er muß den Namen Hildegarde seinem guten Freund Alcuin gegenüber erwähnt haben, und ich schätze, einer der beiden hat dich damit geködert.« Cranston zuckte die Achseln. »Dazu wäre ja nicht viel nötig. Sie brauchten den Namen nur in deiner Gegenwart fallenzulassen, als warnenden Hinweis darauf, daß sie die Wahrheit kannten. Daher Callixtus' rätselhafte Bemerkung, das Generalkapitel vergeude seine Zeit. Das tat es allerdings, denn es debattierte über eine Arbeit, die schon vor vielen Jahren geschrieben wurde.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich vermute, Alcuin war der erste, der dich damit reizte, und so wurde er in die Krypta gerufen. Aber im Dunkeln hast du Bruder Bruno mit ihm verwechselt und diesen in den Tod stürzen lassen.« Cranston zuckte die Achseln. »Aber Alcuin mußte dran glauben; also erwartetest du ihn in der Kirche, was ja nicht schwierig war. Callixtus war der nächste, und dann der arme Roger. Inzwischen hattest du, wahrscheinlich indem du Callixtus beobachtetest, das Original des Werkes gefunden und vernichtet. Du hast nur einen Fehler begangen: Die Dominikaner in Oxford besitzen Abschriften von allen Manuskripten hier, und so ließ Athelstan Ersatz kommen.«
»Stimmt das?« unterbrach der Prior, an das Generalkapitel gewandt, um Zeit zu gewinnen, aber die anderen glotzten den Coroner immer noch mit offenem Mund an. Der Prior schlug das Buch auf und strich die Seiten glatt. »Master William de Conches«, sagte er, »und Eugenius, kommt her. Ihr habt Henry von Winchesters Schrift eingehend genug studiert. Laßt mich Euer Urteil hören.« Die Inquisitoren erhoben sich. Der Prior reichte ihnen das Buch; sie zogen sich in eine Ecke des Raumes zurück und steckten die Köpfe zusammen. Die übrigen blieben sitzen; der Beschuldigte starrte erbost ins Leere, und nur hin und wieder schaute er Athelstan aus dunklen Augen vorwurfsvoll an. Endlich klappte William de Conches das Buch zu und legte es vor dem Prior auf den Tisch.
»Bruder Henry von Winchester«, gab er bekannt, »ist vielleicht nicht des Mordes schuldig, aber gewiß ist er ein Dieb und ein Lügner, der ein fremdes Werk gestohlen und als sein eigenes ausgegeben hat.« Der junge Theologe grinste spöttisch.
»Was findest du daran so komisch, Bruder?« schnurrte Cranston.
»Vielleicht habe ich ja ein fremdes Werk genommen und weiterentwickelt.«
»Unsinn!« erklärte Eugenius. »Du hast gestohlen, was dir nicht gehört. Auf der ersten Seite stellt Hildegarde die Hypothese auf, die du vertrittst. Sie benutzt dieselben Zitate aus der Heiligen Schrift. Dieselben Aussagen der Kirchenväter. Du bist ein Dieb!«
Henry von Winchester hob die Hand. »Aber kein Mörder«, erwiderte er langsam. »Ihr habt keinen Beweis dafür, daß ich Bruder Bruno die Treppe hinuntergestoßen habe. Ihr habt keinen Beweis dafür, daß ich Callixtus von der Leiter geworfen habe. Ihr habt keinen Beweis dafür, daß ich diesen Idioten Roger aufgehängt habe, und Ihr habt erst recht keinen Beweis dafür, daß ich Bruder Alcuin mit der Garotte erwürgt habe.«
»Du hattest das Motiv!« entgegnete der Prior scharf und starrte auf das Buch.
»Du bist der Mörder«, erklärte Athelstan mit lauter Stimme und erhob sich von seinem Platz. »Und du hast es soeben gestanden.«
»Wie meinst du das?«
Athelstan lächelte betrübt. »Jeder wußte, daß Bruno die Treppe hinuntergestürzt, daß Callixtus von der Leiter gefallen und daß Roger an einem Baum aufgehängt gefunden worden war — aber wer hat dir erzählt, daß Alcuin mit einer Garotte erwürgt wurde?«
Wütendes Zischen war die Antwort auf Athelstans Worte. »Pater Prior«, fuhr Athelstan fort, »Ihr seid mein Zeuge. Habe ich bekanntgegeben, daß Alcuin garottiert wurde? Oder Ihr, Sir John? Bruder Norbert, du hast dem Coroner geholfen, Alcuins Leichnam in ein Tuch zu hüllen; hast du es gewußt?«
Der Laienbruder schüttelte den Kopf. »Das stimmt!« rief William de Conches plötzlich aus. »Bruder Athelstan, Sir John, Ihr habt doch sogar gesagt, Alcuin sei erstochen worden!«
Bruder Niall und Bruder Peter murmelten bestätigend. Sir Cranston klatschte in die Hände.
»Ihr lieben Brüder«, verkündete er mit selbstzufriedenem Grinsen, »mein Schreiber hat recht. Ihr alle wart schockiert über die Entdeckung der Leiche Alcuins. Es war offensichtlich, daß er tot, und naheliegend, daß er ermordet worden war. In der Tat hat Bruder Athelstan auf meine Anweisung hin erklärt, Alcuin sei mit einem Dolch erstochen worden.« Henry von Winchester beugte sich vor, und seine Blicke schössen zwischen den Versammelten hin und her. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Ihr müßt es uns eben doch erzählt haben, Sir John. Außerdem habe ich ja den Leichnam gesehen.«
»Nein, hast du nicht«, widersprach der Prior leise. »Der Deckel vom Sarg des armen Bruder Bruno wurde abgenommen. Der schreckliche Gestank trieb uns alle zurück auf die andere Seite des Altars. Alcuins Leichnam wurde sofort in ein Tuch gewickelt, eingesargt und ins Totenhaus geschafft. War es nicht so, Bruder Norbert?«
Der junge Laienbruder hatte das Ganze sprachlos und staunend verfolgt; jetzt grunzte er nur zur Antwort. »Jetzt reicht es!« knirschte Cranston. »Bruder Henry von Winchester, ich beschuldige dich des Mordes an vier deiner Brüder!«
»Halt!« William de Conches hob die Hand. »Bruder Henry ist Mitglied des Dominikaner-Ordens. Pater Prior, mir ist klar, daß Sir John ihn durchaus vor Gericht stellen kann, aber wenn ein Beschuldigter in England an das Kirchenrecht appelliert, kann er damit der weltlichen Gerichtsbarkeit entgehen. Bruder Henry sollte mit uns kommen. Das Inquisitionsgericht ist allein Gott verantwortlich.« Cranston sah Athelstan an, dieser nickte und warf Henry von Winchester einen mitleidigen Blick zu. Der entehrte Bruder hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. »Laßt ihn binden«, fügte Eugenius leise hinzu. Pater Prior sah aus, als wolle er protestieren, aber dann machte er nur eine Handbewegung. »Ja, nehmt ihn mit«, sagte er. »Nehmt ihn gleich mit. Verlaßt Blackfriars gleich morgen früh.«
Die beiden Inquisitoren standen auf und schoben Henry von Winchester zur Tür hinaus; Pater Prior schickte Bruder Norbert mit. Peter und Niall folgten ihnen kurze Zeit später, immer noch schockiert von den Enthüllungen; sie nickten Athelstan zu und verabschiedeten sich murmelnd. Der Prior saß da; seine Hände lagen rechts und links neben dem Buch, er hatte den Kopf gesenkt, und die Tränen rannen ihm übers Gesicht. Nun, da das Drama vorüber war, hustete Cranston verlegen; er trat ans Fenster und schaute hinaus, als interessiere er sich sehr für das Treiben im Kloster. Es klopfte, und William de Conches kam noch einmal herein. Er blieb stehen und schaute Athelstan an. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Was?« fragte Athelstan.
Der Großinquisitor zuckte die Achseln. »Wir haben uns geirrt. Du bist ein guter Priester, Athelstan, und ein feiner Dominikaner.« Er lächelte schmal. »Du hättest einen exzellenten Großinquisitor abgegeben.« Er verbeugte sich, und bevor Athelstan noch antworten konnte, hatte die Tür sich leise hinter ihm geschlossen.
Pater Prior hatte die Fassung wiedergewonnen. »Er hat recht, Athelstan. Man hat dich zur Strafe nach St. Erconwald geschickt. Ich habe dir zur Buße aufgegeben, Sir John zu helfen.« Er schaute Athelstan an. »Ich danke dir für das, was du hier getan hast, und ich entschuldige mich für meine schroffen Worte. Du hattest recht; die Wahrheit ist die Wahrheit, und eine Lüge ist wie eine Geschwulst: Sie wächst und wächst und verdirbt am Ende alles. Wie kamst du darauf, daß Hildegarde der Schlüssel sei?«
»Pater Prior, dies war der seltsamste Fall, den ich je untersucht habe. Ich hatte keinerlei Beweis. Der einzige Hinweis war dieser Name.« Er lächelte. »Sie muß eine große Dame gewesen sein, eine tiefsinnige Denkerin. Ihre Werke sollten viel mehr gelesen und studiert werden. Vielleicht war sie es ja, die uns geleitet hat.«
»Was passiert jetzt mit ihm?« fragte Cranston unvermittelt. Der Prior stand auf und nahm das Buch in beide Hände. »Man wird ihn der päpstlichen Inquisition in Rom oder Avignon übergeben. Glaubt mir, Sir John, wenn die dort mit ihm fertig sind, wird das Grauen eines Todes am Galgen hier in London dagegen wie ein Vergnügen erscheinen.« Der Prior ergriff Athelstans Hand. »Du kannst zurückkommen, wann immer du möchtest. Deine Buße ist wahrlich beendet.« Er wandte sich rasch ab. »Aber ich vergesse mich. Sir John - was ist mit dem Rätsel, das Ihr zu lösen hattet?«
»Erledigt«, antwortete Cranston großspurig. »Wie hat der heilige Paulus gesagt: ›In der Spanne eines Lidschlags‹.«
Der Prior wandte sich an Athelstan. »Dann wirst du den Brief nicht mehr brauchen?«
»Ich habe ihn bereits vernichtet, Pater.«
Der Pater Prior lächelte beiden zu und ging hinaus.
*
Cranston und Athelstan kehrten mit dem Boot nach Southwark zurück. Stolz wie ein Pfau beharrte der Coroner darauf, Athelstan nach St. Erconwald zu begleiten. Er schwatzte wie eine Elster und erzählte so laut, daß der halbe Fluß zuhören konnte, was er mit den tausend Kronen anzufangen gedachte. Seine Beredsamkeit wurde durch den wunderbaren Weinschlauch immer weiter gefördert. Dennoch behielt er Athelstan fest im Auge; er spürte, wie bedrückt der Ordensbruder über die Ereignisse in Blackfriars war. Athelstan starrte düster über den Fluß, der in sonntäglicher Mittagsstille lag; nur gelegentlich sah man eine Barke oder ein Fährboot auf dem Weg hinunter nach Westminster. Sie landeten bei St. Marys Wharf und wanderten durch die Straßen und Gassen von Southwark, die an diesem warmen Sommernachmittag ebenfalls ungewöhnlich still und ruhig dalagen.
»Faules Pack!« bemerkte Cranston. »Wahrscheinlich schlafen sie alle noch ihren Rausch vom Vormittag aus.«
»Ja, Sir John, es ist furchtbar, was manche Leute sich so in die Kehle schütten.«
Cranston schaute ihn mit schmalen Augen an und schob den wunderbaren Weinschlauch tiefer unter den Mantel. Auch St. Erconwald lag ruhig und friedlich da. Die Kirchentreppe war verlassen, und auf dem Friedhof und in dem kleinen Garten am Pfarrhaus war es still bis auf das Summen der Bienen zwischen den wilden Blumen, die dort wuchsen.
Athelstan vergewisserte sich, daß alles an Ort und Stelle war. Das Pfarrhaus war verschlossen, und Philomel fraß in seinem Stall; also hatte Watkin seine Aufgaben gewissenhaft erfüllt. Ursulas riesige Sau hatte den letzten Rest Kohl gefressen. Athelstan fluchte laut.
»Du hast doch noch deine Zwiebeln«, stellte Cranston fest. Athelstan dachte an Crims Beichte und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Kommt, Sir John, wir schauen mal die Kirche an.« Er schloß die Tür auf und blieb im Vorraum stehen. »Seltsam«, sagte er. »Nicht wahr, Sir John?«
Cranston stand hinter ihm und ließ den wunderbaren Weinschlauch von den Lippen sinken.
»Wovon sprichst du, Bruder? Du bist wirklich in einer sonderbaren Stimmung.«
Athelstan ging durch die dunkle Kirche und hörte, wie der Klang seiner Schritte die heilige Stille zerbersten ließ. Auf halbem Weg blieb er stehen und schaute zu dem Gemeindesarg hinüber, der leer im Querschiff stand.
»So vieles ist hier geschehen«, sagte er leise. »Freude, Schmerz, Zorn … Mord. Ein seltsamer Ort, Sir John.« Cranston nahm noch einen Schluck aus dem Weinschlauch. Er mußte an die Einladung denken, die der Prior ausgesprochen hatte. Oh, lieber Gott, betete er, laß Athelstan nicht weggehen. Er darf mich nicht verlassen. Er schaute auf die breiten Schultern des Ordensbruders und merkte plötzlich, daß er diesen seltsamen Pfaffen liebgewonnen hatte. Athelstan schritt durch den Lettner in den Chor hinauf.
»Ja«, flüsterte er, »alles ist in Ordnung.« Er tappte mit der Sandale auf den Steinboden. »Wunderschön. Endlich fängt es an, wie eine Kirche auszusehen.«
Er setzte sich auf die Altartreppe und wäre beinahe sofort wieder aufgesprungen, als Cranston schrie: »Oh, dieser verdammte Kater ist wieder da!«
Bonaventura war mit krummem Rücken und peitschendem Schwanz aus dem Dunkel hervorgekommen und rieb sich jetzt am Stiefel des Coroners.
Athelstan erhob sich. »Komm her, du Ritter der Gasse«, murmelte er und streichelte den Kater, während ihm die Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf herumgingen. Die Gesichter der Inquisitoren, Pater Prior und seine Tränen, Raymond D'Arques und sein Streben nach Vergebung, Fitzwolfe und sein satanisches Treiben, Benedicta, die flüsternd von ihrer Liebe sprach.
Cranston warf seinen Mantel auf die Treppenstufe und setzte sich neben ihn. Er beobachtete den Ordensbruder aufmerksam, wie er mit halbgeschlossenen Augen dasaß und geistesabwesend den verfluchten Kater streichelte. »Wer hätte das gedacht«, sagte er leise und versuchte, Athelstans Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Was denn, Sir John?«
»Na, Henry von Winchester, ein Theologe. Wer hätte gedacht, daß er ein Wässerchen trüben könnte.«
»Erinnert Ihr Euch an die Versuchung Christi, Sir John? Sogar der Satan kann die Schrift zitieren, und er hat die häßliche Angewohnheit, in der Verkleidung des Lichtengels zu erscheinen.«
»Wirst du fortgehen?« fragte Cranston unvermittelt. »Der Prior hat gesagt, deine Buße ist vorüber.«
Athelstan lächelte nur.
»Na, was nun, du verdammter Mönch?«
»Sir John, mein Entschluß steht bereits fest. Es führen viele Wege zur Heiligkeit.« Er grinste breit. »Und der meine seid Ihr.«
Cranston rülpste, und das Geräusch hallte durch die Kirche wie ein Donnerschlag. Bonaventura regte sich und schaute neugierig zu dem Coroner auf. Cranston erhob sich. »Ich werde jetzt zu diesem diebischen Dreckskerl in der ›Schenke zum Geschecktem gehen. Athelstan, du solltest mitkommen. Wir müssen die Entdeckung der Wahrheit feiern.« Er schaute zu Athelstan hinunter. »Ach, übrigens, Bruder, der Prior hat da etwas von einem Brief gesagt, den er dir gegeben hätte. Du hast geantwortet, du brauchtest ihn nicht mehr, weil ich das Rätsel gelöst hätte.« Athelstan sah ihn an. »Sir John, Ihr dürft nicht zornig sein. Ich habe mich gefragt, was passieren würde, wenn ich mich irren sollte. Meine Eltern hatten einen Bauernhof, und Francis ist tot; der Hof wurde verkauft, und der ganze Erlös ist dem Orden zugeflossen.« Er holte tief Luft. »Ich habe den Pater Prior um ein Darlehen für diesen Besitz gebeten. Er gab mir einen Brief an die Bank des Ordens in der Lombard Street, der mich ermächtigte, eintausend Kronen abzuheben, wenn ich mich geirrt hätte.« Er zuckte die Achseln. »Ich mußte ja sichergehen.«
Cranston stampfte auf und wandte sich heftig zwinkernd ab, damit Athelstan nicht sah, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Endlich drehte er sich wieder um, bückte sich und hob seinen Mantel auf. Dann schaute er Athelstan in die Augen.
»Du bist ein komischer Hund, Mönch.«
»Ich weiß, Sir John. Das liegt an meiner Gesellschaft.« Cranston warf sich den Mantel über die Schulter und stolzierte den Mittelgang hinunter.
»Ich bin dann im ›Gescheckten‹«, rief er über die Schulter. »Laß mich nicht warten! Ich kenne euch geizige Pfaffen! Ihr habt's immer gern, wenn andere euch das Ale spendieren.« Er marschierte hinaus und warf die Tür krachend hinter sich zu.
Athelstan lächelte, gab Bonaventura einen Kuß zwischen die Ohren und schaute sich im Chor um. Plötzlich erblickte er Huddles neues Bild, das mit breiten, kräftigen Holzkohlestrichen an der Wand entworfen war. Er schaute genauer hin. »Was, zum …?« Er setzte Bonaventura auf den Boden, nahm ein Stück Zunder, zündete eine Kerze an und betrachtete das Bild aus der Nähe.
Huddle hatte die Szene skizziert, in der Maria und das Jesuskind ihre Base Elisabeth bei dem kleinen Johannes dem Täufer besuchen. Athelstan betrachtete die Figuren und fing an zu glucksen. Benedicta war die Jungfrau Maria. Er selbst war der heilige Joseph. Watkins Frau war Elisabeth, Pike, der Grabenbauer, stand als Zuschauer dabei, und Tab, der Kesselflicker, war ein Soldat. Herodes der Große war niemand anderes als der pausbäckige, schnurrbärtige Sir John Cranston; sogar der wunderbare Weinschlauch lugte unter seinem Mantel hervor. Philomel war da, Cecily, die Kurtisane, Crim, Ursula, die Schweinehirtin, und sogar ihre Sau. Aber was Athelstans Aufmerksamkeit wirklich fesselte, waren die beiden Säuglinge, Jesus und Johannes der Täufer: Der geniale Huddle hatte sie mit kahlen Köpfen, starren Blicken, dicken Wangen und stämmigen Armen und Beinen gemalt - genau gesagt als Cranstons geliebte Kerlchen. Athelstan schüttelte sich vor Lachen. Er blies die Kerze aus, schloß die Kirche ab und ging zu Sir John in die Schenke.