XIII.
Zeitenwende:
Der Aufstieg des Europazentrismus

1. Intellektuelle Schwebelagen und neue Ausgrenzungen

Das 18. Jahrhundert war ein Zeitalter des Gleichgewichts zwischen dem kleinen Europa und dem großen Asien. Nach einer langen Zeit der Defensive gegenüber der türkischen Großmacht ging Europa zum Gegenangriff über, ohne jedoch vor der Eroberung Bengalens in den 1760er Jahren schon irgendwo in der Welt der östlichen Reiche in größerem Umfang kolonial Fuß fassen zu können. Allein die Erschließung Nordasiens, also der transuralischen Weiten des Zarenimperiums, schritt stetig und kaum bemerkt voran. Sofern Staatsgebilde des frühneuzeitlichen Asien zusammenbrachen, war dies so gut wie nie europäischer Intervention geschuldet. Die Briten zum Beispiel hatten keinen Anteil am Zerfall von Aurangzebs Mogulreich; sie verstanden es nur, sich die Folgen dieses Zerfalls nutzbar zu machen. Während der anderthalb Jahrhunderte nach der mandschurischen Eroberung Chinas 1644 waren tribal breakouts kontinentaler Stammesgesellschaften ein mindestens ebenso wichtiger Faktor in der Geschichte Asiens wie das Vordringen der Europäer auf dem Meer.

Während des 17. und 18. Jahrhunderts spannen die Europäer, die nunmehr über die hocheffiziente Institution der bewaffneten Monopolhandelsgesellschaft verfügten, die Küstenregionen Asiens in weltweite Handelsnetze ein. Vom Jemen und dem Persischen Golf bis zum Hafen Nagasaki am Ostchinesischen Meer erstreckten sich die überseeischen Transportlinien. Über das Kap der Guten Hoffnung war die asiatische Handelswelt mit der atlantischen verknüpft, über die spanische Acapulco-Manila-Verbindung mit Amerika. Dennoch kann keine Rede davon sein, daß Europäer den Asienhandel einseitig dominiert und ihm ihre Gesetze aufgezwungen hätten. Die einheimische Schiffahrt blieb als Konkurrent gefürchtet und als Partner unerläßlich; nur langsam gelang es Europäern, auch in diesem sogenannten country trade zwischen den Häfen Asiens eine Rolle zu spielen. Für die Verbreitung europäischer Produkte im Inneren der großen Landmassen war man stets auf einheimische Kaufleute angewiesen. Vor allem gelang Europäern nur in Ausnahmefällen, etwa in einigen Bereichen des Gewürzhandels, der direkte Zugriff auf die Produktion der begehrten Exportwaren. Produzenten in asiatischen Ländern nutzten die Chancen der wachsenden europäischen Nachfrage zu einer gewaltigen Ausdehnung des Handelsvolumens, etwa bei Tee und Baumwollstoffen. Ganze Regionen Chinas und Indiens arbeiteten gegen Ende des 18. Jahrhunderts spezialisiert für den Export nach Europa. Noch war die spätere koloniale Austauschbeziehung zwischen einem Asien, das Rohstoffe anbot, und einem Europa, das gewerblich-industrielle Fertigprodukte lieferte, nicht in Sicht. Die Vorteile, die Asien, vor allem angesichts einer positiven Handelsbilanz des Ostens, aus dem verdichteten Austausch mit Europa ziehen konnte, wogen die rüden Plündereien durch die «Nabobs» der Ostindienkompanien mehr als auf. Um 1820, als in Teilen Westeuropas bereits die Industrialisierung eingesetzt hatte, war das Pro-Kopf-Einkommen in Asien und Ozeanien vermutlich immerhin noch halb so hoch wie das in West- und Südeuropa. [1] Die große Reichtumsschere zwischen Europa und Asien öffnete sich erst in den Jahrzehnten danach.

Dem Gleichgewicht der Machtverhältnisse und der Gegenseitigkeit der Wirtschaftsbeziehungen entsprach keine Symmetrie der Wahrnehmungen. Das neuzeitliche Europa erwies sich als die Lern- und Wissenskultur par excellence. Europäer reisten nach Asien und eroberten den Kontinent mit der Feder, bevor sie ihn mit dem Schwert und dem Kanonenboot unterwarfen. Asien, repräsentiert in einer riesigen Reiseliteratur, in Übersetzungen orientalischer Texte, in Bildern und Kunstobjekten, fand großes Interesse als Anschauungsfeld einer universalen Wissenschaft vom Menschen: einer anglo-schottischen science of man, deren Grund die großen Philosophen der Epoche legten, einer stärker naturwissenschaftlich aufgefaßten französischen science de l’homme und einer «Kulturgeschichte» des Menschengeschlechts, die Deutschlands charakteristischer Beitrag zur Weltkunde der Spätaufklärung war.[2] Das umgekehrte Interesse von Asiaten an Europa war gering. Kurze Phasen der mentalen Öffnung nach Westen wie der Höhepunkt der chinesischen Neugier auf Europa gegen Ende der Herrschaft des Kangxi-Kaisers, also etwa zwischen 1690 und 1720, und kurz darauf die osmanische «Tulpenzeit» (1718–30) blieben ephemer. Nur in Japan, dem nach Korea unzugänglichsten aller asiatischen Länder, betrieb man auf der Grundlage importierter Bücher, überwiegend in holländischer Sprache, so etwas wie systematische Europastudien. Diese lernende Haltung zur Außenwelt war das Erbe einer jahrhundertelangen Absorption der chinesischen Kultur.[3]

Auf dem Gebiet der Ideen äußerte sich das Equilibrium des 18. Jahrhunderts daher nicht in einem Wechselspiel gegenseitiger Perzeptionen, sondern in Ambivalenzen und Urteilsspielräumen des europäischen Bewußtseins selbst. Europa phantasierte den Orient als märchenhafte Gegenwelt und erforschte ihn zugleich mit den Instrumentarien der neuen Erfahrungswissenschaften. Es schuf den Kolonialismus und mit ihm alsbald auch schon die Kolonialismuskritik. Solche Spannungen und Widersprüche kamen besonders deutlich unter Bedingungen eines vorübergehend reduzierten Dogmatismus in der europäischen Weltwahrnehmung zum Vorschein. Einerseits war das Staunen des 17. Jahrhunderts vor Glanz und Reichtum asiatischer Höfe und Städte einer skeptischeren Sicht gewichen. Der Bann der alten Mutterkultur war gebrochen.[4] Andererseits lag die vulgäre Überlegenheitsgewißheit des 19. Jahrhunderts noch in der Ferne. Asiatische Zivilisationen – zuerst vor allem China, später Indien – boten intellektuelle Herausforderungen, die es wert schienen, debattiert zu werden. Experimente mit dem Wechsel der Perspektive, Versuche, den Blickpunkt des nicht-europäischen Anderen spielerisch einzunehmen, Relativierungen der eigenen Wertmaßstäbe waren mehr als nur literarische Tricks. Theorien der Fremdwahrnehmung und des Reisens sowie ausgefeilte Verfahren der Kritik am wichtigsten Medium der interkulturellen Information, dem Reisebericht, beugten naiver Gutgläubigkeit und haltlosem Spekulieren vor. Schlichte Dichotomien vermochten wenig zu überzeugen. Kaum jemand vor etwa 1790 sah einen schroffen Gegensatz zwischen den kulturellen Makrosphären «Orient» und «Okzident», noch weniger eine sich ausschließende Unvereinbarkeit oder gar einen Zusammenprall der Kulturen. Wer dennoch die Kontraste schärfte, wie Montesquieu es mit klarer methodischer Absicht in seiner Lehre vom Despotismus tat, mußte sich deutliche Kritik gefallen lassen.

Die Geschichte Asiens war für die Europäer des 18. Jahrhunderts ein Feld brennenden Interesses. Sie war noch nicht, wie man es im 19. Jahrhundert sehen würde, in der europäischen Weltherrschaft zu sich selbst gekommen. Ein neuer, von der Einzigartigkeit des jüngeren okzidentalen Fortschritts durchdrungener Geschichtsbegriff wurde nicht allein im Kontrast zur europäischen Vergangenheit, sondern auch vor dem Hintergrund der asiatischen Gegenwart entwickelt. Die Herauslösung Europas aus der alten Gleichförmigkeit Eurasiens wurde zu einem zentralen Thema der Geschichtsphilosophie. Daneben klang ein zweites Motiv nach: die endgültige Pazifizierung der asiatischen Reiterkrieger. Diese Zähmung des aggressiv anstürmenden «Elementarhistorischen» war so frischen Datums, daß sie noch Edward Gibbon als eine der großen glücklichen Errungenschaften der Neuzeit erschien. Von der jahrhundertelangen hunnischen, arabischen, mongolischen und türkischen Bedrohung blieb im 18. Jahrhundert immerhin noch die militärische Naturgewalt des «Kriegskometen» Nadir Schah. Die antikolonialen Selbststärkungsversuche eines Haidar Ali in Indien, dem nach der Jahrhundertwende mit ähnlichen Absichten der Pascha Muhammad Ali von Ägypten folgte, gehören bereits einer neuen Epoche an. Sie sind schon Reaktionen auf die wachsende Macht Europas. Asiatische Dynamik tritt in ihnen erstmals nicht als Steppensturm, sondern als institutionelle Modernisierung in Erscheinung. Wie unvollkommen auch immer in der Ausführung: hier liegen die Anfänge der Übernahme westlicher Mittel zur Immunisierung gegen westliche Übermacht. Im 19. Jahrhundert sollte Japan zum Meister einer solchen Strategie werden.

Die gesellschaftliche Vielfalt Asiens wurde in Europa sorgfältig beobachtet. Sie ließ sich nicht in enge Schemata des «Barbarischen» zwängen und wurde nicht in einen besonderen ethnologischen Diskurs abgedrängt. Einer universal vergleichenden Gesellschaftsbetrachtung war die Scheidung zwischen einer Wissenschaft für das Eigene – der Soziologie – und einer solchen für das Fremde – der Völkerkunde – noch unbekannt. Die Ordnungen und Lebensformen des zivilisierten Asien wurden bei Reisenden wie Kaempfer, den Brüdern Russell, Niebuhr oder Volney zu Gegenständen einer detailgenauen Soziographie und bei Theoretikern wie Montesquieu oder Adam Ferguson zu Anstößen für die Begründung der Soziologie aus dem Geiste kultureller Differenz. Der Blick auf ein Anderes, das nicht unbedingt als ein unkommensurabel Fremdes erschien, schärfte das Verständnis für das Eigene. Europäische Gesellschaftsformen traten um so profilierter hervor, je klarer sie in ihren Besonderheiten von denen Asiens abgehoben werden konnten. Asien war Europa vergleichbar, solange sich Europa noch nicht für unvergleichlich hielt. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen sich, wie Niklas Luhmann formuliert hat, «eine Europazentrierung des Kulturvergleichs und eine Modernitätszentrierung des geschichtlichen Rückblicks» durchzusetzen.[5]

Neugier, Urteilsoffenheit und Respekt vor den Menschen Asiens bewahrten sich zuletzt noch in der Generation, zu der die Historiker Heeren und Hammer-Purgstall und die Geographen Carl Ritter und Alexander von Humboldt gehörten. Heeren und Hammer-Purgstall sind in den voraufgegangenen Kapiteln häufig zu Wort gekommen. Zu Humboldt und Ritter mag ein knapper Hinweis genügen. Alexander von Humboldt kannte Asien nur von seiner späten Rußlandreise; er hat wenig über den Kontinent geschrieben und das Wenige meist über Fragen der physikalischen Geographie. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, was entstanden wäre, hätte er die Gelegenheit gehabt, an ein asiatisches Land mit jener empirisch-kritischen Erkenntnishaltung heranzutreten, die seine Landesbeschreibung Mexikos von 1808 zu einem der Gründungsdokumente der modernen Gesellschaftsanalyse macht.[6] Carl Ritter hat niemals asiatischen Boden betreten, doch er kann in seiner Bedeutung als der letzte große Synthetiker des europäischen Asienwissens der frühen Neuzeit nicht überschätzt werden. Seine gigantische Erdkunde, deren maßgebende zweite Auflage 1832 zu erscheinen begann und mit der der Autor nie über Asien hinausgelangte, ist eine historische Kulturgeographie der Großräume Asiens oder, anders betont, eine Geschichte der asiatischen Zivilisationen im räumlich-ökologischen Zusammenhang.[7] Erst der französische Historiker Fernand Braudel hat um die Mitte unseres Jahrhunderts in seinem epochemachenden Werk über die Mittelmeerwelt im 16. Jahrhundert die Weite von Ritters Vision wiederaufleben lassen. Ritter überwand die additive Datenhuberei der älteren deutschen «Statistik» und Staatenkunde und entwarf in einer Herkulesleistung empirisch rückgebundener Einbildungskraft Beschreibungen asiatischer Kulturlandschaften als historischer «Individualitäten». Ritter war von der Zweckmäßigkeit der göttlichen Schöpfung für die Bedürfnisse der Menschen überzeugt und interessierte sich besonders für die gelungenen oder zuweilen auch fehlgeschlagenen Versuche menschlicher Gemeinschaften, sich an vorgefundene räumlich-klimatische Verhältnisse anzupassen. Da er in aller Regel funktionalistisch argumentiert, also den Bezug kultureller Praktiken und gesellschaftlicher Institutionen zur jeweils besonderen natürlichen Umwelt herausstreicht, findet sich bei ihm kein Ansatzpunkt für ein Denken in den Kategorien von Volkscharakter und Rasseeigenschaften. Im Widerstreit zwischen Bio- und Geodeterminismus bezog Ritter eindeutig Position, auch wenn er Umweltfaktoren keine kausalmechanische Prägekraft zuschrieb, sondern Natur und Landschaft eher als Schauplatz und Bühne menschlicher Überlebenssicherung und Kulturentfaltung betrachtete. Wie bereits vor ihm Herder, dem er viel verdankt, bestreitet Ritter die Möglichkeit eines absoluten Standpunkts, der ihm Urteile über Zivilisationen erlaubt hätte. Zivilisationen unterscheiden sich in seinen Augen nicht durch ihren substantiellen Wert (etwa ihren Grad an «Zivilisiertheit»), sondern vor allem durch den jeweils besonderen Erfolg im Umgang mit beschränkten Ressourcen, gleichsam durch ihr Umweltmanagement.

Bereits seit den 1770er Jahren waren jedoch gegen die Einsprüche Herders die zensierenden Stimmen der «philosophischen» Kritiker Asiens immer lauter geworden. Sie distanzierten sich von der grobschlächtigen Asienphobie, die sich in einigen älteren Reiseberichten fand,[8] und beanspruchten, durch genaues Studium und gelassene Vernunftschlüsse zum Wesen der Dinge vorgedrungen zu sein. Nach dem Exzentriker Cornelis de Pauw war der Naturforscher Pierre Sonnerat der erste seriöse Vertreter einer solchen richtenden Haltung, die später Autoren von durchaus unterschiedlichen philosophischen Überzeugungen gemeinsam war: Reisenden wie dem idéologue Volney und dem Utilitaristen Barrow oder Fernkommentatoren Asiens wie dem schottischen Stadientheoretiker James Mill, dem christlichen Geschichtsphilosophen Friedrich Schlegel und in mancher Hinsicht auch dem hochdifferenzierten Hegel, dessen Urteile von allen Schlacken beliebigen Meinens gereinigt zu sein scheinen. Asiatische Zivilisationen wurden nun vor ein Tribunal gezogen, das sie nach den angeblich allgemeingültigen Maßstäben von Zweckmäßigkeit, Effizienz und Gerechtigkeit, bei anderen auch nach dem Kriterium ihrer Offenheit für das Christentum, aburteilte.

Im zweiten Quartal des 19. Jahrhunderts formierte sich die Erforschung des asiatischen Altertums und Mittelalters in neuen akademischen Spezialdisziplinen, aber nur wenige Außenseiter, etwa der Historiker und langjährige Gouverneur von Bombay, Mountstuart Elphinstone, verteidigten die Dignität des neuzeitlichen Asien.[9] Zur gleichen Zeit verschwand das bis dahin selbstverständliche Interesse an Asien aus Diskursen wie Geschichtsschreibung, politischer Ökonomie, politischer Theorie oder Soziologie. Sie engten ihren Gesichtskreis auf Europa ein und verloren damit auch ihre vergleichende Dimension.[10]

Es wäre zu oberflächlich, die Entwicklung, die zu diesem Endpunkt führte, allein als den Übergang von einem «positiven» zu einem «negativen» Asienbild zu beschreiben. Man faßt sie besser als einen langsam verlaufenden Ausgrenzungsprozeß, als eine Bewegung von einem inklusiven Europazentrismus, der die Überlegenheit Europas als eine Arbeitshypothese betrachtete, die von Fall zu Fall korrigierbar war, zu einem exklusiven Europazentrismus, der sie als Axiom voraussetzte. Ein solch fundamentaler Wechsel der «Selbstbeschreibung» auf der Ebene der Semantik (Luhmann) war seit etwa den 1780er Jahren mit realen Ausgrenzungen verbunden: zum Beispiel der Orientalisierung des Osmanischen Reiches in der diplomatischen Praxis der europäischen Mächte, der Exotisierung und ethnischen Säuberung der Krimtataren und anderer Völker am Rande der muslimischen Welt, dem Ausschluß von Indern aus der Justiz und dem höheren Verwaltungsdienst der East India Company oder der Weigerung europäischer Gesandter, sich weiterhin dem jeweiligen asiatischen Hofzeremoniell zu unterwerfen. Keine einzelne Handlung machte die neue Distanz sinnfälliger als die Kniebeugung Lord Macartneys, keineswegs eines rabiaten Imperialisten und arroganten Europazentrikers, vor dem Kaiser Qianlong am 14. September 1793: Jeder frühere europäische Gesandte hatte vor dem Drachenthron die dreifache Niederwerfung des Kotau vollzogen.[11]

Europa distanzierte sich von Asien, in das es gleichzeitig immer tiefer eingriff. Die Briten hielten sich die warnenden Beispiele von Portugiesen und Holländern vor Augen, deren übergroße Vertraulichkeit mit ihren farbigen Untertanen zum Verlust der weißen Herrenmagie geführt habe. Man wollte wie die Römer herrschen, nicht wie die Griechen, die in ihrer hellenistischen Spätzeit den Verlockungen des Ostens zum Opfer gefallen seien.

Hinter Aufstieg und Triumph eines europäischen Sonderbewußtseins, das die für die Aufklärung selbstverständliche Solidarität der eurasischen Zivilisationen aufkündigte, verbergen sich umfassendere ideengeschichtliche Verschiebungen in den Jahrzehnten um 1800, der europäischen Sattelzeit. Damals hat sich auch die mentale Weltkarte verändert: Ein Europabewußtsein, wie wir es heute kennen, formierte sich um diese Zeit, und es war ebensosehr ein Bewußtsein von Europas Stellung unter den Kontinenten und Zivilisationen wie eines von identitätsverbürgenden Gemeinsamkeiten unter den nachmittelalterlichen Nationen des Okzidents. Abgrenzung und Selbstdefinition gingen Hand in Hand. Europa entwarf sich selbst auf der Projektionsfläche des Nicht-Europäischen. Es entwarf sich vor allem als die Kultur universaler Ordnungsstiftung. Je näher man dem Fremden kam – ob in Indien, Ägypten oder im Kaukasus –, desto größer war die Herausforderung an den europäischen Ordnungssinn. Nicht zufällig folgte der militärischen Invasion die wissenschaftliche Kolonisierung. Von den gewissenhaft-methodischen Protokollen des Einzelreisenden, wie ihn zuletzt Volney verkörpert hatte, ging man vor allem in Indien und Ägypten zur systematischen Datensammlung durch Kolonialstaat oder Okkupationsmacht über.[12] Die Entzauberung der asiatischen Zivilisationen begann damit, daß man ihnen ihre Geheimnisse entreißen wollte.

Die Entzauberung Asiens nahm den Zivilisationen des Ostens ihre rätselhafte Selbstverständlichkeit. Sie wurden zu Gegenständen wissenschaftlicher Neugier, zu Aufgaben für den Scharfsinn gelehrter Spezialisten und die Organisationskunst durchsetzungswilliger Administratoren. Die Entzauberung löste Mehrdeutigkeiten auf. Sie zog eine Linie zwischen den Welten. Sie erschwerte Grenzgängertum und Rollenwechsel. Es wäre nicht leicht gewesen, einen Jesuiten in China um 1720 auf eine eindeutige Identität festzulegen; die Kirche hat es oft erfolglos versucht. Waren die Jesuiten am Hofe zu Peking Europäer, Angehörige bestimmter Nationen oder einer supranationalen Elite, christliche Geistliche, naturwissenschaftliche Experten oder konfuzianische Gelehrte? Missionare des 19. Jahrhunderts kannten dieses Problem kaum: sie fühlten sich als abendländische Heilsanbieter inmitten umnachteten Heidentums. Oder ein anderes Beispiel: Wenn Carsten Niebuhr oder noch Johann Ludwig Burckhardt sich unterwegs arabisch kleideten, taten sie dies, weil sie es zweckmäßig und gegenüber den Gastgebern höflich fanden. Bei Arabienreisenden des 19. Jahrhunderts wie etwa Richard Burton werden daraus Kostüm und Maskerade, dramatisiert durch Geschichten über blutdürstige Fanatiker, die dem heroischen Reisenden nach dem Leben trachten. Der überlegene Herrenmensch mischt sich inkognito unter die Eingeborenen.

Die Entzauberung verengte auch intellektuelle Spielräume. Der Humor eines Niebuhr und die Ironie eines Gibbon (der im Zweifelsfalle die Zivilisierten eine Spur schlechter wegkommen läßt als die Barbaren), weichen Sarkasmus und herablassender Karikatur. Das Apriori europäischer Überlegenheit vergiftet den interkulturellen guten Geschmack. Zwanghafte Herablassung als Dauerhaltung duldet allenfalls ihr krasses Gegenteil: exaltierte Orientschwärmerei. Auch der Orientschwärmer bleibt aber oft europazentrisch oder narzißstisch in seiner Suche nach einer tiefen Authentizität, die er oder sie in der Lebenswirklichkeit der asiatischen Gegenwart verraten glaubt.

Was während der Umbruchphase um 1800 geschah, hat zu anspruchsvollen Interpretationen herausgefordert. Reinhart Koselleck, der den Begriff der Sattelzeit eingeführt hat, betont die Verzeitlichung und Beschleunigung der Wahrnehmung, Michel Foucault die Ablösung des tableauartig klassifizierenden Denkens durch die Entdeckung der wirkenden Tiefe, Niklas Luhmann das Ende der alteuropäischen Semantik, Martin Thom Vorbereitung und Durchbruch eines neuartigen ethnischen Nationalismus.[13] Jede diese Deutungen birgt wichtige Anregungen, die sich auf unser Thema beziehen lassen. Sie summieren sich freilich nicht zu einer stimmigen Gesamtsicht. Auf den folgenden abschließenden Seiten wird keine Generaltheorie des europäischen Bewußtseins um 1800 angeboten. Es soll lediglich versucht werden, das Bild eines diskursiven Übergangs, der zwischen etwa 1780 und 1830 erfolgte, um weitere Facetten beschreibend anzureichern.

2. Von Aladins Schatzhöhle zum Entwicklungsland

An der Beurteilung von Ökonomischem kann man diesen Übergang gut erkennen. Während des 17. Jahrhunderts berichtete man begeistert von der unvorstellbaren Pracht an den Höfen von Istanbul, Isfahan und Agra. Incroyable, sagt Tavernier 1675, sei der Reichtum des Sultans.[14] Nachdem der Glanz dieser Höfe verblaßt und die Furcht vor den moralisch korrumpierenden Einflüssen des orientalischen Luxus gewachsen war, galt der Kaiser von China, bei dem es etwas frugaler zuging und bei dem anscheinend solider gewirtschaftet wurde, als der reichste Monarch der Welt. Reisenden wie Bernier oder Gemelli Careri sowie einigen Missionaren fiel die Armut großer Teile der Bevölkerung in manchen Gegenden Indiens auf.[15] Länder wie China, Japan, Siam und Cochinchina beeindruckten aber bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts durch den Wohlstand der einfachen Bevölkerung.[16] Der antike Topos der überlegenen Fruchtbarkeit Asiens schien sich stets aufs neue zu bestätigen. Ohne Zweifel waren solche Berichte und Urteile nicht aus der Luft gegriffen. Besucher, die nicht gerade aus den reichsten Gegenden Europas wie den Niederlanden, der Île de France oder Südengland kamen, mußten damals vom Lebensstandard in vielen Teilen Asiens ein günstiges Bild gewinnen. Der oberflächliche Eindruck, die tropische oder subtropische Natur bringe ihre Reichtümer ohne großes Zutun der verwöhnten, zu schlaraffischer Faulheit verurteilten Menschen hervor, wurde allmählich durch die Bewunderung für die landwirtschaftlichen, gärtnerischen und wasserbautechnischen Leistungen in asiatischen Ländern überdeckt.[17] Noch 1818 sprach man von den Japanern als den besten Landwirten der Welt.[18]

Nur wenige dieser günstigen Urteile hatten Bestand. 1817 bescheinigte James Mill der indischen Landwirtschaft – genauer: derjenigen der Hindus – Primitivität.[19] Der Abbé Dubois schloß eine sorgfältige Analyse mit dem Ergebnis, Indien sei ein Entwicklungsland – aber immerhin ein zivilisiertes: «[…] unter allen zivilisierten Ländern der Erde ist Indien das ärmste und elendeste.»[20] Dies kann natürlich auch einen tatsächlichen Niedergang reflektieren, der aus einheimischen Quellen zu belegen wäre, doch hatten sich unterdessen ebenfalls die Urteilsmaßstäbe verschoben. In dem Maße, in welchem in Westeuropa konjunkturell und strukturell bedingte Hungerkrisen seltener wurden, fiel ihre Existenz in Asien um so deutlicher auf. Konnten die großen Hungersnöte, die Indien zwischen 1770 und 1800 heimsuchten, noch teils als Problem der indigenen Wirtschaft, teils als eine Folge der Wirtschaftspolitik der E.I.C. diskutiert werden,[21] so war der Hunger in China, der etwa zur gleichen Zeit zunahm, eindeutig ein binnenchinesisches Phänomen, für das sich keine fremde Intervention verantwortlich machen ließ. Die Verteidiger Chinas sahen sich dadurch in eine schwierige Position gebracht, die ihre Gegner weidlich ausnutzten. Ein neues Bild Chinas als eines Landes der Hungernden begann allmählich zu entstehen.[22]

Auch die neue Wissenschaft der Ökonomie trug zur Entzauberung der asiatischen Juwelenwelten bei. Im allgemeinsten Sinne wurden europäische Rationalitätsvorstellungen gegen asiatische Unvernunft ins Feld geführt, so wenn Chardin den Persern vorwarf, zu wenig zu sparen,[23] oder wenn zu Recht bemerkt wurde, der Gabentausch in China verlaufe nicht äquivalent, sondern richte sich im Wert nach dem Rang des Gebenden.[24] Wirtschaftstheoretisch geschärft wurde der Blick dann, wenn man den Kurzschluß von der Fruchtbarkeit der Natur und den sichtbaren Schätzen der Herrscher auf den Reichtum und die ökonomischen Potentiale des Gemeinwesens vermied und hinter die oberflächlichen Erscheinungen zu blicken versuchte. Als erster tat dies der Reisende, Botaniker und Vertreter der Lehre der Physiokraten Pierre Poivre in den 1760er Jahren. Poivre, der Indien, China und mehrere Länder Südostasiens besucht hatte, war unempfänglich für höfische Prachtentfaltung. An vielen Beispielen zeigte er, daß ein günstiges Klima und ein fruchtbarer Boden noch keine Gewähr für eine erfolgreiche Agrikultur bieten. Nur eine Agrarverfassung, die dem rechtlich freien Bauern den weitestgehenden Genuß der Erträge seines Fleißes garantiert, verbunden möglichst noch mit einer anspornenden Wirtschaftspolitik, könne die Glückseligkeit der Menschen herbeiführen.[25] Poivre war folgerichtig ein Gegner von Despotie und monarchischem Obereigentum, von Sklaverei, Zwangsarbeit und Leibeigenschaft, von parasitären Aristokraten und müßiggängerischen Mönchen, von Monopolen und exzessiver Besteuerung. Sein Ideal einer agrarbürgerlichen Erwerbsgesellschaft mit Eigentumsgarantie unter einem milden, patriarchalischen Herrscher sah er in China und teilweise auch in Vietnam verwirklicht, aber nirgendwo sonst in Asien.[26] Vernichtend waren seine Urteile über die Wirtschaftsordnungen im Mogulreich, im despotischen Siam, im anarchischen Kambodscha, im feudalen Malaia und im kolonialen Java.

Poivre betrachtete die Landwirtschaft als die Hauptquelle des Volkswohlstandes. Er begutachtete die jeweiligen örtlichen Verhältnisse mit dem geschulten Auge des Pflanzenkenners und Agronomen. Indem er in seinen Berichten als einer der ersten Reisenden dem städtischen und gewerblich-industriellen Asien, das frühere Beobachter so fasziniert hatte, fast keinerlei Beachtung schenkte, gehörte er zu den Urhebern des Bildes von Asien als einem Kontinent von Agrarländern. Nicht die glanzvollen Städte, sondern die Verhältnisse auf dem Dorfe standen im Mittelpunkt von Poivres physiokratischen Berichten und Betrachtungen.

Spätere Reisende, die durch die Schule Adam Smiths und der Politischen Ökonomie gegangen waren, legten andere Rationalitätskriterien an. Man achtete auf die Effizienz des Mitteleinsatzes (und sah etwa bei den indischen Fürstenstaaten nur Vergeudung), betrachtete staatliche Zwangsarbeit (corvée), wie sie in Siam und Cochinchina weiter praktiziert wurde, als unsinnig unter Kosten-Nutzen-Erwägungen und sah öffentliche Getreidespeicher in China und Cochinchina nun nicht länger als Ausdruck väterlicher Fürsorge und Katastrophenabwehr, sondern als ein Beispiel für marktverzerrendes Horten. Manche asiatischen Länder standen freilich vor den Doktrinen der neuen Lehre gar nicht schlecht dar: So lobte man den Freihandel im Osmanischen Reich oder das vorbildliche Fehlen von Armengesetzen (poor law) in China.[27] Einige der großen Theoretiker – Adam Smith, Thomas Robert Malthus, Jean-Baptiste Say, James Mill und sein Sohn John Stuart – erkannten bereits die gerade entstehenden Probleme der ungleichen wirtschaftlichen Entwicklung im Weltmaßstab. Das große Problem der «Statik» asiatischer Länder, das die Geschichtsphilosophen seit langem beschäftigte, fand seine bis dahin intellektuell anspruchsvollste Behandlung in Adam Smiths Theorie der stationären Wirtschaft, die selbst wiederum Teil einer großen Lehre von den Bedingungen der Bildung von Reichtum war. Jean-Baptiste Say und andere setzten diese Überlegungen fort. Aus dem Staunen vor der märchenhaften Pracht des Großmoguls am Beginn unserer Epoche war an ihrem Ende, um 1830, eine anspruchsvolle Theorie der Unterentwicklung geworden.[28] Nicht der Reichtum Asiens, sondern dessen relative Rückständigkeit war fortan das zentrale erklärungsbedürftige Phänomen.

3. Niedergang, Degeneration, Stagnation

Theorien der weltwirtschaftlichen Entwicklung mit ihrer Differenzierung zwischen dynamischen und stationärrückständigen Ländern waren im frühen 19. Jahrhundert die neueste Ausprägung eines älteren Diskurses über Stagnation und Niedergang. Er kann hier nicht in seinen vielfältigen Verästelungen nachgezeichnet, sondern nur in einigen Aspekten skizziert werden.

Daß «Wilde» keine Geschichten erfahren und keine Geschichte besitzen, war ein aus antiken Quellen gespeister Gemeinplatz des 18. Jahrhunderts, den nur wenige in Frage stellten. Die Geschichtslosigkeit der Wilden erkannte man an einem Negativbefund: Sie hinterließen keine Spuren – keine Ruinen, keine Inschriften, keine Bücher. Solche Spurenlosigkeit war in Asien seltener als in anderen Teilen der außereuropäischen Welt. Der Kontinent war mit Relikten und Trümmern früherer Zivilisationen übersät. Sie mußten erklärt werden. Viele dieser Ruinen waren offensichtlich neuzeitlichen Ursprungs und damit Zeugen militärischer Turbulenzen und jener «Revolutionen», die man vor der Französischen Revolution eher mit Asien als mit Europa in Verbindung brachte. Andere schienen von unvordenklichen Zeiten zu zeugen. An Asien verwunderten oder schreckten die Extreme: Auf der einen Seite fiel Europäern immer wieder die Ruinenlosigkeit besonders von China, Japan und Korea auf. Die dort übliche Holzbauweise ließ Tempel und Paläste schnell zum Opfer von Flammen, Termiten oder organischem Verfall werden. Weniges war älter als vier- oder fünfhundert Jahre. Mangels antiker Monumente fanden es ruinengewöhnte Europäer schwer, sich in Landschaften zu orientieren, die offensichtlich – und anders als die unberührten Wälder und Ebenen Nordamerikas – alte, aber unmarkierte Kulturräume waren.[29] Auf der anderen Seite gab es intakte Monumente von naturhafter Kolossalität, titanenerzeugte Anti-Ruinen, deren Ursprung aus Menschenhand kaum vorstellbar war und die Klima, Erdbeben und Geschichte gleichermaßen zu trotzen schienen. Schon Mendoza hatte 1585 die Große Chinesische Mauer als eine Verbindung von Menschenwerk und geologischem Naturprozeß gedeutet.[30] Charakteristisch war die Verwunderung Johann Michael Wanslebens, als er am 3. Oktober 1664 die ägyptischen Pyramiden sah: «Man entsetzt sich fast bey ihrem Anblick und kann es nicht begreifen, wie so ausserordentlich große Steine so hoch haben heraufgebracht werden können.»[31] Anderen und späteren Reisenden war solche Naivität fremd. Volney gab die widersprüchlichen Gefühle zu Protokoll, die ihn beim Anblick der Pyramiden befielen: Erstaunen, Schrecken, Bewunderung, Respekt, ein Sinn für die Winzigkeit des Menschen. Doch bald übermannte ihn der Zorn auf die Maßlosigkeit und Brutalität der Despoten, die ihrem Volk ces barbares ouvrages abgezwungen hatten.[32] Darüber indessen, daß die Pyramiden ebenso wie die Große Mauer keine Ruinen waren, bestand Einigkeit.[33] Nur wenige Europäer sahen jene innerasiatischen Abschnitte der Mauer, die im 18. Jahrhundert bereits verfallen waren, und kaum jemand teilte Edward Gibbons realistische Einsicht, die großen Grenzwälle hätten ohnehin selten etwas gegen die Barbaren genützt.

Die Pyramiden und die Große Chinesische Mauer blieben in der Kenntnis des 18. Jahrhunderts einzigartig als geschichtsenthobene Denkmäler der ewigen Dauer. Charakteristischer war die Ruine als Emblem der Vergänglichkeit. In Asien gab es bereits vor dem Beginn archäologischer Grabungen ganze Ruinenstädte und Ruinenlandschaften zu sehen, wie sie in solcher Ausdehnung in Europa nördlich des Mittelmeeres fehlten. Dazu gehörten Ephesus in Kleinasien, Baalbek und Palmyra in Syrien und vor allem Persepolis im Iran, das spätestens seit den 1670er Jahren immer wieder beschrieben und kommentiert wurde.[34] Bevor man sich mit den Figuren und Inschriften von Persepolis beschäftigte und in ihnen prototypische orientalische Altertümer sah, standen andere Fragen im Vordergrund, etwa diejenige, mit welchem Recht Alexander der Große im Jahre 330 v. Chr. die achämenidische Sommerresidenz niedergebrannt hatte. Während manche dies Alexander als einen Akt des Vandalismus übelnahmen, war immerhin der einflußreiche Kunstrichter Dubos der Ansicht, Alexander habe den Palast mit Recht zerstört, da er ihn als ästhetisch unbefriedigend empfand.[35] Jedenfalls bestand kein Zweifel an der Urheberschaft. Die Ruinen von Persepolis waren das Werk eines hellenischen Eroberers. Gar nichts Rätselhaftes und Pittoreskes, nichts zu tieferen Reflexionen Anregendes hatten indessen die Ruinen von Alexandria an sich: ein gigantisches, wüstes Trümmerfeld, das seit Thévenots Besuch in den 1650er Jahren bekannt wurde.[36] Ein Reisender nahm es 1817 so wahr:

Ehe man in die Stadt kommt, gewährt eine Einfassung, durch welche der Weg geht, einen Anblick von Verheerung, der alles übertrifft, was man andernwärts in diesem Lande der Ruinen sieht. Zerstörte Hütten und umgestürzte Tempel füllen den größten Theil davon. Durch die Zeit verwitterte Trümmer des herrlichsten Alterthums liegen neben den Spuren der neuesten Verheerungen in verworrenen Massen aufgehäuft.[37]

Von der Ruine zum Schutthaufen verläuft ein schwer aufhaltsamer Prozeß, und irgendwann wird ein Grad des Formverlusts erreicht, der der Einbildungskraft keinen Anknüpfungspunkt mehr bietet. Wenn «der Plan des Ganzen» unkenntlich geworden ist, verliert die Ruine ihren ästhetischen Reiz und ihre historische Aussagekraft.[38] Das war in Asien recht oft bei Relikten durchaus jüngerer Herkunft der Fall. Zu Zeugen «neuester Verheerungen» durch Kriege oder Erdbeben wurden europäische Reisende nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in China nach der Mandschu-Eroberung, in Persien nach der afghanischen Invasion sowie in und um Delhi, wo die Spuren der Zerstörung durch Timur 1399 noch nicht ganz beseitigt waren, als Nadir Schah die Stadt 1739 heimsuchte.[39] Auch die neuzeitlichen Europäer hatten in Asien bereits Ruinen hinterlassen, etwa verlassene portugiesische und holländische Forts. Ganze Länder, namentlich Georgien und Armenien, werden als physisch vollkommen ruiniert beschrieben,[40] und ein radikaler Aufklärer bezeichnet die gesamte Alte Welt als ein einziges Trümmerfeld und rät zur Auswanderung nach Amerika, wo allein ein neuer Aufbau möglich sei.[41] Hier wird die weitere Bedeutung der Ruinenmetapher sichtbar, die Raynal die Sitten der zeitgenössischen Inder als Ruinenfeld bezeichnen läßt und deren sich Herder bedient, wenn er sagt, China sei «wie eine (!) Trümmer der Vorzeit in seiner halb-Mongolischen Einrichtung stehen geblieben».[42]

Weil den Betrachtern der selbstverständliche Tradierungszusammenhang fehlte, welcher Monumente des klassischen Alterums und des Mittelalters als im Grunde vertraut erscheinen ließ, gaben asiatische Ruinen selten Anlaß zu ästhetischen Betrachtungen, zu einer ortlosen Vergänglichkeitsmelancholie und zu einer Ruinenromantik. Um so wichtiger waren historisch-geschichtsphilosophische Reflexionen, die sich an die Kontemplation Asiens knüpften. Man kann sie grob in drei thematische Richtungen unterscheiden: den Niedergangsdiskurs, den Dekadenzdiskurs und den Stagnationsdiskurs.

Der Niedergangsdiskurs bewegt sich im Rahmen antiker Vorstellungen vom Aufstieg und Fall der Reiche. Diese Bewegung nachzuvollziehen galt seit jeher als eine der vornehmsten Aufgaben des Geschichtsschreibers; sie wurde durch die Wiederbelebung zyklischer Geschichtsvorstellungen in der Renaissance erneuert und von der Aufklärungshistorie übernommen.[43] Noch Hammer-Purgstall, einer ihrer letzten Vertreter, spricht die alte Sprache klassischer Fatalität, wenn er den Niedergang zum «Loos aller Reiche» erklärt und seine eigene Geschichte des Osmanischen Imperiums dem Modell des Zyklus einschreibt.[44]

Am Beginn der Frühen Neuzeit auf Asien projiziert, hatte dieses Denkmuster eine eher aktuellpolitische als eine geschichtsphilosophische Bedeutung. Die Konfrontation mit den Osmanen machte es schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts unabweisbar, nach Schwachpunkten und ersten Rissen im imposanten Gebäude der türkischen Macht zu suchen. Dies verlieh der Niedergangsdiskussion im Bezug auf das Osmanische Reich von Anfang an einen starken empirischen Akzent. Der Fall des persischen Safawiden- und des indischen Mogulreiches vollzog sich viel schneller und überraschender als die schleichende Auszehrung des osmanischen Imperiums, so daß europäischen Beobachtern nur die Rolle nachträglicher Chronisten blieb. Gerade der mogulische Kollaps nach 1707 weckte viel Interesse, weil jede seiner möglichen Deutungen Implikationen für die Selbstlegitimierung der neuen europäischen Herren und Lehren für die Zukunft mit sich brachte.[45] Wer zum Beispiel in militärischer Überdehnung und im Aufstieg religiöser Intoleranz unter dem frömmelnden Muslim Aurangzeb einen entscheidenden Grund für das Mogul-Debakel sah, wollte den Briten raten, diese Fehler nicht zu wiederholen und die indischen Untertanen von christlicher Missionierung zu verschonen.[46] Der Niedergangsdiskurs behandelte die einzelnen asiatischen Fälle – dazu auch noch aus der Sicht des späten 18. Jahrhunderts die Erosion der Imperien Portugals und Hollands[47] – für sich. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurden die einzelnen Beispiele zu einem Gesamtszenario des Niedergangs Asiens zusammengefaßt: triumphierend bei denjenigen, die das Zeitalter europäischer Weltherrschaft heraufdämmern sahen, elegisch bei anti-kolonialistischen Kritikern, die den Ruin Süd- und Südostasiens durch törichte Selbstzerstörung und fremde Eroberer beklagten.[48]

Der imperiale Niedergangsdiskurs fand seine Grundmuster in der Antike, war aber, wenn er auf Asien bezogen wurde, vornehmlich in der Neuzeit angesiedelt. Gibbon schlug eine Brücke mit seiner großen Deutung des Untergangs von Byzanz, und William Playfair entwickelte sogar eine bemerkenswerte allgemeine Theorie des Verfalls von Imperien, aus der selbst die heutige Diskussion darüber noch manches lernen könnte. [49] Doch war solche Universalität uncharakteristisch. An Indien zum Beispiel interessierte die Vertreter dieses Diskurses nur das Schicksal des frühneuzeitlichen Mogulreiches, nicht das der glanzvollen hinduistischen Kultur des Altertums. Gerade darum ging es hingegen im Degenerationsdiskurs. Er steht an der Grenze zwischen älteren Mythen vom Goldenen Zeitalter und neueren Kulturentstehungstheorien. Der Grundgedanke, vielfach variiert, läßt sich leicht zusammenfassen: Völker, die sich uns heute als Wilde, Barbaren oder entnervte Pseudo-Zivilisierte darstellen, sind in Wahrheit Abkömmlinge uralter Hochkulturen, ihren Ursprüngen längst völlig entfremdet. Was Philosophen phantasiereich ausschmückten, hat Jemina Kindersley in ihrer schlichten Art so formuliert:

So rein das Religionssystem der Hinduhs in seinen ersten Ursprüngen seyn mochte, so gewiß ists, daß sie jetzt keine Ursache haben, darauf zu pochen, denn gegenwärtig besteht das Ganze derselben in wundersamen Ceremonien, wovon das Volk den Sinn nicht versteht; ja, man kann wohl sagen, ohne sich zu irren, viele unter den Braminen selbst nicht.[50]

Der Degenerationsdiskurs findet sich bereits bei englischen Autoren der Renaissance. Sie verstanden Wildheit (savagery), so wie sie den Seefahrern in Amerika begegnete, nicht als rohen Urzustand, aus dem sich die Menschheit allmählich herausentwickelt, sondern als Verfallsprodukt früher Kulturblüte. Die Wilden sind demnach so etwas wie lebende und sich ihrer selbst unbewußte Trümmer ihrer eigenen Vergangenheit.[51] Solche Überlegungen wurden im 18. Jahrhundert vor allem auf Indien übertragen. Hier schien sich ein Beispiel dafür zu bieten, wie das ursprünglich reine Licht der Religion später durch Aberglaube und Ritual erstickt wurde. Man dachte dabei eher an einen langwierigen Prozeß innerer Dekadenz als an einen katastrophalen Barbareneinbruch. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als Europäer noch kein Sanskrit verstanden und man über das indische Altertum so gut wie nichts wußte (weitaus weniger als über das chinesische), hatte Voltaire von der Weisheit des alten Indien geschwärmt und bei einem Indienkenner wie John Zephaniah Holwell Unterstützung gefunden.[52] Als unter Sir William Jones’ Führung in den 1780er Jahren die philologisch fundierte Erforschung des alten Indien begann, erhielt diese Sicht neue Nahrung, auch wenn in den Kreisen der Asiatick Society of Bengal das negative Urteil über die späteren Hindus weniger schroff ausfiel als bei minder gelehrten Verfechtern eines ähnlichen Standpunkts.

Hinter dem Degenerationsdiskurs verbarg sich kein zyklischer, sondern ein linear-diskontinuierlicher Zeitbegriff. Die Figur der Diskontinuität konnte, wenn man es für nötig hielt, bequem ein Desinteresse an der asiatischen Gegenwart begründen, war diese doch, so schien es, nur eine kümmerliche Schwundstufe kultureller Hochblüten. Zugleich konnten Europäer sich aufgerufen fühlen, alleine oder im Zusammenwirken mit Einheimischen die verlorene kulturelle Authentizität wiederzuerwecken und sie für die Gegenwart zu erschließen – ein Programm, das «orientalistisch» klingt, aber im Kontext des frühen 19. Jahrhunderts deshalb nicht unsubversiv war, weil es sich bei der zu rekonstruierenden Hochkultur um eine nichtchristliche handelte.[53]

Die Indiendeutung in den Jahrzehnten um 1800 bewegte sich überwiegend in der Sphäre des Degenerationsdiskurses.[54] Sie verband sich dort mit Spekulationen über den Ursprung von Sprache, Poesie, Kunst und Weisheit, mit dem Ariermythos sowie mit der Urvolkhypothese[55] und gab Anstöße zu neuen Theorien der Prähistorie und Erdgeschichte.

Die «konjekturale», das heißt nur teilweise durch empirische Kenntnisse abgesicherte Vorstellung eines Abstiegs von einer reinen brahmanischen Archaik blieb indes nicht unumstritten. Goethe und Hegel zum Beispiel wollten von den urmythischen Phantasien ihrer romantischen Zeitgenossen nichts wissen. Edmund Burke war der Ansicht, die offensichtliche Dekadenz des heutigen Indien sei nicht durch einen sagenhaften frühen Verlust kultureller Kraft und auch nicht durch muslimische Fremdherrschaft herbeigeführt worden, sondern erst in jüngster Zeit durch die Verbrechen der europäischen Kolonisatoren.[56] Evangelikalen Indienpolitikern mißfiel die schwärmerische Aufwertung des indischen Heidentums. Und James Mill, der als radikaler Aufklärer und Modernisierer kein gutes Haar an der indischen Tradition lassen wollte, sah in der Degenerationsthese nur eine schwächliche Rückzugsposition der Asienfreunde.[57] Die heute zu beobachtende geistige Sklaverei sei der immerwährende Dauerzustand der indischen Zivilisation gewesen. Mill blieb ein unerschütterlicher Anhänger der Idee der asiatischen Stagnation.

Der Stagnationsdiskurs unterschied dadurch fundamental von einem Denken in der Kategorie der Degeneration, daß er einen Fortschritt der Menschheitsentwicklung und deren Kulmination im modernen Westeuropa voraussetzte. Nur im Unterschied zu Dynamik läßt sich Statik überhaupt erkennen. «Stagnation» war ein zivilisationshistorischer Begriff. Er sollte nicht aussagen, daß es einem stagnierenden Volk an einer Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen mangele. Im Gegenteil, ein ständiger Wechsel des Herrschaftspersonals, eine Folge von «Revolutionen»: dies konnte durchaus mit Stagnation einhergehen. Von Stagnation war vielmehr dann die Rede, wenn Sitten und Gebräuche, Wissen und Gemütsbeschaffenheit, Regierungsart und Weisen des Lebensunterhalts über lange Zeiträume hinweg unverändert blieben, wenn das materielle Leben und die geistigen Fähigkeiten eines Volkes oder eines ganzen Kulturkreises gleichsam auf der Stelle traten. Diese Vorstellung war, selbstverständlich immer wieder unterschiedlich nuanciert, Gemeingut der europäischen Weltinterpretation spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Nun hatten Europäer selten hinreichend lange Beobachtungszeiträume vor Augen, um die Immobilität anderer Völker und Zivilisationen wirklich nachweisen zu können. Das Standardargument ergab sich aus dem Vergleich heutiger Reiseerfahrungen mit Texten der Antike: Die Araber der Gegenwart lebten genauso wie die biblischen Erzväter; wenn man im Nahen Osten reise, glaube man «dieselbe Leute» vor sich zu sehen, «von denen Moses und die Propheten geredet haben».[58] In Indien könne man immer noch die Werke des Arrian und des Megasthenes als gültige Beschreibungen der sozialen Verhältnisse verwenden.[59] James Mill (an einer für ihn ungewöhnlich blumigen Stelle) mochte sich sogar die Inder seiner Zeit als lebende Repräsentanten des gesamten orientalischen Altertums vorstellen: «Wenn wir uns heute mit Hindus unterhalten, sprechen wir in einem gewissen Maße mit den Chaldäern und Babyloniern aus der Zeit des Cyrus, mit den Persern und Ägyptern aus der Zeit Alexanders.»[60]

Edward Gibbon, der nicht nur der feinsinnigste unter den «philosophischen» Historikern der Epoche war, sondern außerdem ein sehr genauer Empiriker, hütete sich vor solch gewagten Spekulationen und wählte als sein eigenes Beispiel gesellschaftlicher Versteinerung und kultureller Erstarrung den einzigen leidlich gut dokumentierten Fall: das byzantinische Reich. Andere waren weniger vorsichtig und behaupteten etwa, die Sitten der nomadisierenden Araber seien noch dieselben wie vor dreibis viertausend Jahren[61] oder die Chinesen machten heute noch die gleiche unmelodische und unharmonische Musik wie «in ihrer ersten Kindheit».[62] Niemand wußte dergleichen natürlich genau. Es handelte sich meist um verselbständigte Klischees. Im Falle der Vorstellung, die sehr alte und weit zurückreichend historiographisch dokumentierte chinesische Kultur verharre im Zustande wandelloser Identität mit sich selbst, folgten die Jesuiten, die diese Sicht im Westen verbreiteten, durchaus der chinesischen Selbstinterpretation, genauer: derjenigen des einflußreichen Neokonfuzianismus des 13. Jahrhunderts. Zumindest hier war die Stagnationsthese nicht bloß eine europäische «Erfindung», sondern mindestens ebensosehr die Anverwandlung eines Bildes, das sich «die Anderen» von sich selbst machten. Gelehrte wie Joseph de Guignes, der die ost- und zentralasiatischen Geschichtsquellen besser kannte als jeder andere Europäer, oder Jean-Baptiste d’Anville, der sich als Kartograph über die ständige Veränderung der chinesischen Reichsgrenzen im klaren war, erlaubten sich vorsichtige Korrekturen an einer übertriebenen Statikthese.[63] Andere argumentierten eher theoretisch: Es sei nicht glaubhaft, daß sämtliche, modern gesagt, Teilsysteme einer Zivilisation in gleicher Erstarrung verharrten. Sei es nicht denkbar, daß sich – um an Montesquieus Unterscheidung zu erinnern – les mœurs weiterentwickelten, nicht aber les loix, daß also die alten Gesetze Chinas für die modernen Chinesen nicht mehr taugten?[64]

Die Diagnose statischer Verhältnisse konnte mit unterschiedlichen Wertungen verbunden werden. So war es durchaus möglich, das (angebliche) Fehlen einer Kleidermode im Orient als einen Vorteil zu sehen. Putzsucht und Verschwendung würden dadurch vermieden, einmal erreichte perfekte Lösungen umweltgerechter Schneiderkunst nicht durch mutwillige Veränderungen aufs Spiel gesetzt.[65] Die Sumatraner wunderten sich, bemerkt Marsden, über den schnellen Modewechsel der Europäer und glaubten, deren Sachen würden nichts taugen.[66] Der geschmackliche Konservatismus der Asiaten konnte harmlos als Liebe zum Alten gedeutet, Abwesenheit politischen Wandels als Stabilität und Zeichen hoher Staatskunst begrüßt werden.[67] Solche Urteile wurden seit den 1760er Jahren immer seltener. Johann Joachim Winckelmann stellte 1764 in seiner Geschichte der Kunst der Altertums die fortschreitende Entfaltung der griechischen Kunst der Stagnation und Einförmigkeit besonders der Menschendarstellung bei Ägyptern und Persern gegenüber.[68] Stilwandel wurde zu einem weiteren Anzeichen okzidentaler Überlegenheit. Stil war die veredelte Form der Mode.

Schärfer und schärfer polarisierten sich Gegensätze wie Lebendigkeit und tödliche Erstarrung, Kreativität und geistige Sterilität, improvement und Konservierung schlechter Traditionen. Im Lichte des neuen Entwicklungsdenkens war Stillstand durch nichts zu rechtfertigen, Stabilität zu einer Untugend geworden. Dies zeigte sich besonders deutlich in einer nun auftretenden semantischen Entzweiung. Während die Geschichte Europas in einer Sprache der Tätigkeit und Subjekthaftigkeit beschrieben wurde, wandte man auf die stagnierenden und rückständigen Gesellschaften Asiens mechanistische oder biologischorganische Metaphern an. Pierre Sonnerat bezeichnet 1782 China als eine Repetitionskultur ohne Einbildungskraft und Genie: tout se fait machinalement ou par routine.[69] Wenig später beschwört Herder ein ähnliches Bild leer vor sich hinschnurrender Betriebsamkeit. Er spricht von einem «mechanischen Triebwerk der [konfuzianischen] Sittenlehre»[70] und behauptet von der chinesischen Nation, ihr «innerer Kreislauf» sei «wie das Leben der schlafenden Wintertiere».[71] Die Große Landkarte der Menschheit, auf der sich die einzelnen Völker nur graduell voneinander unterschieden, wird durch eine wiederbelebte Polarität von Orient und Okzident ersetzt. Sie wiederum wird im Lichte des Gegensatzes von Natur und Geschichte interpretiert: Die Geschichte des Orients ist passiv, naturähnlich, pflanzenhaft, ein klappernder Mechanismus der Einförmigkeit, kurz: ziel- und bewußtlos; nur die des Okzidents hat Teil an der höheren Welt des sittlichen Wollens.

Auf dem Höhepunkt des Entwicklungsdenkens, bei Condorcet und vor allem bei Hegel, wird diese Gegenüberstellung anspruchsvoll ausgeführt. Bei Hegel verbindet sich eine beispiellose geschichtsphilosophische Apotheose der Überlegenheit des heutigen Europa mit dem Bemühen, den philosophisch abgewerteten Kulturen Asiens durch eine empirisch sorgsam untermauerte, noch über Herder hinausgehende Charakteristik ihrer jeweiligen Individualitäten gerecht zu werden.[72] Diese Koppelung von geschichtsphilosophischer Exklusion und geschichtswissenschaftlicher Inklusion ist folgenlos geblieben. Charakteristisch für das 19. Jahrhundert wird die schematische Verabsolutierung des Stagnationsverdachts bis zu dem Punkt, an dem sich – wie bereits bei Herder angelegt – von der «Geschichtslosigkeit» der asiatischen Völker, ihrem Ausschluß aus der welthistorischen Bewegung reden läßt.[73] Wer sogar die Slawen für geschichtslos hält, sagt, wie eng er den Kreis der welthistorischen Subjekte ziehen will. Die beste rationale Darlegung des mit «Geschichtslosigkeit» allenfalls Gemeinten, nämlich Adam Smiths und Jean-Baptiste Says Theorie der stationären Wirtschaft, dringt kaum über den Zirkel weniger Ökonomen hinaus und berührt Historie und Geschichtsphilosophie nur in Karl Marx’ späteren Erwägungen zu einer «asiatischen Produktionsweise» und in einigen verstreuten Äußerungen John Stuart Mills.

Unter den drei Diskursen, in denen man die Geschichte Asiens zu fassen versuchte, wurde im 19. Jahrhundert der Stagnationsdiskurs der bei weitem einflußreichste. Imperiale Zyklenmodelle schienen sich von selbst erledigt zu haben, nachdem beinahe alle asiatischen Reiche vor dem westlichen Imperialismus kapituliert hatten und viktorianische Kolonialstrategen überzeugt waren, Rezepte zu besitzen, um dem traurigen Schicksal ihrer portugiesischen, spanischen und holländischen Vorgänger zu entgehen. Zumindest das britische Empire sollte die Fatalität von Aufstieg und Fall durchbrechen und für die Ewigkeit gebaut sein. Der kulturelle Degenerationsdiskurs geriet in dem Maße intellektuell ins Abseits, in welchem die neuen orientalistischen Disziplinen und die vorderasiatische Archäologie, die um 1810 mit den ersten Erkundungen von Claudius Rich, dem jungen britischen Residenten in Bagdad, begann,[74] Vorstellungen von einem frühen Goldenen Zeitalter in einem realistischeren Lichte erscheinen ließen. Das Degenerationsdenken überwinterte im mythisierenden Untergrund einer wissenschaftlich unkontrollierten Romantik, bis es um die Jahrhundertmitte durch Lehren über rassische Dekadenz infolge von «Blutmischung» wiederbelebt wurde. Nur der Stagnationsdiskurs schien im Einklang mit Zeitgeist und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu stehen. Daß Asien den Anschluß an das von Erfolg zu Erfolg stürmende moderne Europa verloren hatte, bewies sich immerfort aufs neue.

4. Von der Zivilisationstheorie zur Zivilisierungsmission

Ein bis zur Vulgarität schlichtes Weltbild, das die Menschheit in einen aktiven, geschichtsmächtigen Westen und den passiven, geschichtslosen Rest einteilte, war indes nicht das einzige Erbe der viel differenzierteren Überlegungen großer Denker wie Voltaire, Gibbon, Schlözer, Ferguson oder selbst des doppelgesichtigen Herder, der Eigensinn und Eigenwert aller Kulturen mit beispiellosem Nachdruck betonte und doch zugleich manche der späteren Vereinfachungen vorbereitete. Eine andere ideengeschichtliche Linie, die vom 18. ins 19. Jahrhundert führt, läßt sich am Leitfaden der Vorstellungen von «Zivilisation» aufzeigen.

Die Grundkonzeption der Aufklärung von Geschichte und sozialer Evolution war universal und unitarisch und beruhte auf dem Gedanken, die Menschen aller Völker und Rassen seien bei allen äußerlichen Unterschieden mit den gleichen Anlagen begabt. Es war daher undenkbar, einzelne Völker aus dem Weltprozeß auszugrenzen. «Wilde» und «Barbaren» hatten an ihm ebenso teil wie die «gesitteten» Völker, die man vorwiegend, aber nicht ausschließlich in Europa antraf. Eindeutig diskriminierende Begriffe wie «Primitive» oder «Naturvölker» waren noch nicht gebräuchlich. Die «Roheit» der Wilden mochte abstoßen, doch kaum jemand wollte ihnen das Potential zu künftiger Entwicklung absprechen. Waren nicht die heutigen Europäer Nachkommen der ungehobelten Stämme, die Caesar und Tacitus beschrieben hatten? Friedrich Schiller formulierte dieses Geschichtsbild anschaulich in seiner Jenenser Antrittsrede von 1789:

Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.[75]

Bei Schiller ist die Geschichte eine solche der «Bildung», bei anderen, etwa Turgot und den schottischen Aufklärern, ist sie eine der materiellen Subsistenzweise und des Rechts. Es gab viele andere Konzeptionen. Fast allen waren die Idee der Perfektibilität des Menschen und die Überzeugung gemeinsam, die einzelnen Völker und Völkergruppen würden den menschheitlichen Zivilisierungsprozeß, den man sich oft als einen Durchgang durch eine Folge von Stadien dachte, in unterschiedlichem Tempo durchlaufen. Es gab also immer Vorreiter und Nachzügler. Daß dies so war, erklärte sich in letzter Instanz aus Umweltbedingungen, nicht aber aus anthropologischen oder kulturellen Defiziten. Die Nachzügler konnten, wenn sie genug Weitsicht besaßen, in den Vorreitern einen Schimmer ihrer eigenen möglichen Zukunft erkennen, die Vorreiter wiederum sahen in den rückständigen Völkern ihre eigene jugendfrische Vergangenheit: als Kontrastfolie zur Bestätigung des selbst Erreichten, aber auch als Warnung vor möglicher Regression.

Wenn Zivilisierung prozessual vonstatten ging und nicht plötzlich aufgrund von göttlicher oder prophetischer Intervention, dann stellte sich das Problem der Beschreibung und Benennung gradueller Abstufungen. Die alte Trias Wilde – Barbaren – gesittete Völker erwies sich als zu grobschlächtig. Die schottische Stadienfolge Jäger – Hirten – Ackerbauern – Händler (commercial society) war leichter «operationalisierbar», setzte aber bereits eine materiale Zivilisationstheorie voraus, der nicht jeder zustimmen mochte. Darüber, daß Universalgeschichte nicht als Addition von Nationalgeschichten, sondern als «Kulturgeschichte» oder history of civilization zu schreiben sei, ließ sich seit den 1760er Jahren leicht gesamteuropäisches Einvernehmen erzielen. Selbst einige der bedeutendsten unter den frühen Darstellungen einer nationalen Geschichte – vor allen anderen David Humes History of England (1754–62) und William Robertsons History of Scotland (1759) – waren im Grunde am nationalen Beispiel exemplifizierte Geschichten von Zivilisierungsprozessen.[76] Schon in den 1780er Jahren gab der gelehrte anglo-irische Geistliche George Gregory allerdings zu bedenken, ob nicht eine Zivilisationsgeschichte der Menschheit auf die frühen Phasen bis zur Konsolidierung von Ackerbau und Staat beschränkt werden müsse, weil sich danach als Folge mehr oder weniger zufälliger Einflüsse (casual interventions) Nationalcharaktere immer kräftiger ausprägten.[77] Dieser methodische Zweifel beeinträchtigte die Konjunktur von Geschichten des Menschengeschlechts freilich fürs erste nicht. Ihr Höhepunkt wurde erreicht, als Condorcet 1793 zehn Zeitalter beschrieb, welche die Menschheit bei ihrer geistigen Entwicklung seit der ersten Stammesbildung durchlaufen habe.

Die einzelnen Zivilisationsgeschichten unterschieden sich vor allem darin, ob ihre Autoren mehr an der Entstehung der Zivilisation, also an der großen Domestizierung des Menschengeschlechts (the great taming of the human race),[78] interessiert waren, oder mehr – wie Hume, Robertson und Gibbon – die Entwicklung von Zivilisation in Europa seit der Spätantike im Auge hatten.[79] Darüber, was im einzelnen Zivilisierung ausmache und welche Triebkräfte sie bewirkten, gab es ebenso viele Ansichten wie Teilnehmer an der Debatte. Die zuerst von Fréret und Voltaire angedeutete Möglichkeit, es könne eigenständige nichteuropäische Zivilisierungspfade geben, war Universalhistorikern wie Gibbon und Schlözer stets gegenwärtig. In einem hochbedeutenden Versuch entwarf der Jenenser Orientalist Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, einer der Gewährsleute Goethes bei dessen Studien zur Weltliteratur, eine auf breiter Quellenkenntnis beruhende, aber im Sinne der Aufklärung theoretisch-«philosophische» Zivilisationsgeschichte des Morgenlandes: ein würdiges orientalisches Gegenstück zu William Robertsons berühmter Analyse der europäischen Geschichte sei dem Untergang Westroms.[80] Kosegarten, dessen Morgenland geographisch von den Hebräern und Phöniziern bis nach Indien reicht, verfolgt die Evolution asiatischer Gesellschaften vom Entstehen der ersten Stammesstrukturen über die Tätigkeit früher Gesetzgeber, das Aufkommen von Religion, Kultus und Priesterstand bis zu jener Schwelle der Zivilisationsentwicklung, die er den «gesellschaftlichen und sittlichen Zustand» nennt.[81] Er meidet allzu kühne Deduktionen und bezieht sich vor allem auf die alten «Gesetzbücher» der verschiedenen Völker, wenn er das Gemeinsame der orientalischen Hochkulturen beschreibt: einen leistungsfähigen Ackerbau, eine hochdifferenzierte gewerbliche Arbeitsteilung, die Ausprägung gesellschaftlicher Hierarchien, die Allgegenwärtigkeit, aber relativ geringe Bedeutung von Sklaverei, die Verpflichtung zu Gastfreundschaft und gegenseitiger Hilfeleistung, die Verehrung der Alten und die Hochschätzung der Frauen usw. Innerhalb dieses gesamtorientalischen Entwicklungsweges unterscheidet er dann zwischen Varianten, etwa Gesellschaften, in denen Priester, und solchen, in denen Krieger Vorrang genießen. Die neuzeitliche Geschichte des Morgenlandes habe viele dieser frühen Eigentümlichkeiten bewahrt, ohne daß von einer Stagnation gesprochen werden könne. Immer wieder sei Wandel zu beobachten und keineswegs nur ein solcher im Sinne des Fortschritts. So hätten Frauen unter den alten Arabern eine größere Freiheit genossen als bei den späteren.[82] Kosegarten begnügt sich mit einer Skizze. Breit ausgearbeitet hat er seine in manchem an Heeren erinnernde Gesellschaftsgeschichte des Morgenlandes nicht. Ihre Bedeutung liegt darin, daß er – vielleicht in bewußtem Einspruch gegen das, was Hegel kurz zuvor auf seinem Berliner Katheder vorgetragen hatte – Asien noch einmal in seinem eigentümlichen Zivilisationsgang darstellte, der nicht mit abendländischen Maßstäben zu messen war, aber dennoch einen Teil der gemeinsamen Menschheitsgeschichte ausmachte. In Hegels Todesjahr 1831 veröffentlicht, liest sich das Buch gleichwohl wie ein Dokument des 18. Jahrhunderts.

Mit der Zeit wurde die verborgene Normativität des Zivilisationsbegriffs immer sichtbarer hervorgekehrt. Der Relativismus eines Sir William Jones, der 1787 meinte, jeder verstehe unter Zivilisation doch nur «die Gewohnheiten und Vorurteile der eigenen Nation»,[83] kam schon vor der Jahrhundertwende aus der Mode. Es ging nicht darum, dichotomisch zwischen Zivilisierten und Nicht-Zivilisierten zu unterscheiden. Dies begann erst am Ende unserer Periode, etwa wenn Friedrich Schlegel 1828 verkündete, der Islam habe überhaupt keine Zivilisation hervorgebracht.[84] Die weithin verbreitete Auffassung von einem einheitlichen Zivilisationsprozeß, in dem die einzelnen Völker unterschiedliche Reifegrade erreicht hatten, aber in der Regel zu weiterer Vervollkommnung fähig waren, schloß strenge Dichotomien einstweilen aus. Das Problem war vielmehr, die Nähe oder Ferne einer bestimmten Menschengruppe zur voll entfalteten Zivilisation, also nach dem Verständnis der meisten dem Westeuropa der Gegenwart, zu bestimmen. Dieser Index konnte ein zeitlicher sein, etwa bei Volney, wenn er präzise angab, der Geist der ägyptischen Mamluken verharre im 12. Jahrhundert, und der Rest des Landes sei sogar im 10. Jahrhundert stehengeblieben.[85] Oder man dachte sich eine Skala der Zivilisiertheit, auf der jedes Volk – so wie heute etwa auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen – eine bestimmte Stelle besetzte. Dazu waren selbstverständlich Kriterien oder, wie es heute heißen würde, Indikatoren von Zivilisiertheit erforderlich. Zivilisation wurde also nicht in schroffer Entgegensetzung als Gegenteil von Barbarei aufgefaßt, sondern als fein abgestufte Kulturleistung.

Bei britischen Autoren gewann eine solche Denkweise eine besondere Bedeutung. Engländer hatten schon im 16. und 17. Jahrhundert ihren Abstand zu den benachbarten und teilweise von ihnen kolonisierten wild Irish zu bestimmen gesucht. Um 1800 wurde es wichtig, sich einen Überblick über die Verhältnisse im asiatischen Expansionsgebiet und jenseits seiner Grenzen zu verschaffen. Nunmehr stellte man sich die Aufgabe, «jeder Gesellschaft den Platz zuzuweisen, den sie in den großen Kette der menschlichen Verhältnisse (the great chain of human things) einnimmt».[86] In dieser Formulierung Hugh Murrays aus dem Jahre 1808 klingt noch die alte kosmologische Vorstellung von einer «großen Kette der Geschöpfe» an. Sie wurde zu eben dieser Zeit entbiologisiert und zu einem Instrument der Gesellschafts- und Kulturanalyse umgeformt. Daß eine Leiter der Zivilisiertheit (a scale of civilization) leicht als a scale of races interpretiert werden konnte, ist offensichtlich. Dies geschah aber erst – nach Anfängen seit dem späten 18. Jahrhundert – in der Zeit nach etwa 1830.

William Marsden, der neben seinen Altersgenossen Volney und Georg Forster den spätaufklärerischen Typus des sowohl wissenschaftlichen als auch «philosophischen» Reisenden am eindrucksvollsten verkörpert, war einer der Urheber dieses neuen, feinstufig hierarchisierenden Zivilisationsverständnisses. Die entscheidende Passage in seiner History of Sumatra 1783, zuletzt wiederveröffentlicht 1811, verdient es, ausführlich zitiert zu werden:

Es ist nicht einfach, den Rangplatz der Bewohner dieser Insel auf der Skala der bürgerlichen Gesellschaft (the scale of civil society) zu bestimmen. Obwohl sie weit von jenem Punkt entfernt sind, zu dem sich die kultivierten Staaten Europas erhoben haben, trennt sie ein nahezu gleich großer Abstand von den wilden Stämmen Afrikas und Amerikas. Wenn wir die Menschheit summarisch in fünf Kategorien einteilen, von denen jede wiederum in zahllose Unterklassen differenziert werden könnte, dann wären die zivilisierteren Sumatraner der dritten und die übrigen der vierten Kategorie zuzurechnen.

In die erste Kategorie würde ich selbstverständlich einige der Republiken des antiken Griechenland zu ihrer Blütezeit einschließen, daneben Rom im augusteischen Zeitalter und der Zeit kurz davor und kurz danach, Frankreich, England und andere hochentwickelte (refined) europäische Nationen während der letzten Jahrhunderte und vielleicht auch China. Die zweite Kategorie müßte die großen asiatischen Reiche auf dem Höhepunkt ihres Wohlstandes umfassen: Persien, das Mogulreich und die Türkei, daneben verschiedene europäische Königtümer. Neben den Sumatranern und ein paar anderen Staaten des östlichen Archipels würde ich zur dritten Klasse die Nationen Nordafrikas und die zivilisierteren unter den Arabern rechnen. Zur vierten Klasse gehören die weniger zivilisierten Sumatraner und die Völker der neuentdeckten Südseeinseln, vielleicht auch die berühmten Reiche von Mexiko und Peru. Die tatarischen Horden und alle diejenigen Völker in den verschiedenen Erdteilen, die persönliches Eigentum und irgendeine Form dauerhafter Unterordnung (established subordination) kennen, stehen um eine Stufe über den Kariben, den Australiern (New Hollanders), den Lappen und den Hottentotten. Diese alle zeigen das Menschengeschlecht in seiner wildesten (the rudest) und würdelosesten Gestalt.[87]

Obwohl sich Marsden später zu seinen Kriterien für Zivilisiertheit äußert, ist seine Einteilung impressionistisch, wenn auch auf weitreichende historische und ethnographische Kenntnisse gegründet. Sie ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil sie eine strenge Ost-West-Dichotomie noch vermeidet. Europa wird bereits deutlich an die Spitze der Hierarchie gerückt, doch muß es sich die beiden oberen Rangklassen mit asiatischen Gesellschaften teilen. China gehört «vielleicht» sogar zur obersten Kategorie. Some European kingdoms – Marsden mag an Spanien, Skandinavien und die osteuropäischen Staaten denken – sind den muslimischen Reichen der Frühen Neuzeit keineswegs überlegen. Die Einteilung verläuft quer über Religionen, Hautfarben und Nationalcharaktere hinweg. Von einer Rassenhierarchie, wie sie gleichzeitig bereits Christoph Meiners mit seiner Unterscheidung von hellen, schönen und herrschenden Völkern einerseits, dunklen, häßlichen und dienenden Völkern andererseits konstruiert,[88] ist der Zivilisationstheoretiker Marsden weit entfernt. Auch unterscheidet Marsden zwischen Blüte- und Verfallsperioden einer Zivilisation: nicht Rom an sich, sondern das augusteische Rom verdient die Bestnote. Nicht ganze Zivilisationen werden miteinander verglichen, sondern historisch präzisierbare kulturelle Lagen.

Als um die Jahrhundertwende der Siegeszug der «Zivilisationsskala» begann, hielt indes kaum jemand an der abgewogenen Mehrdimensionalität von Marsdens Klassifikation fest. Nun waren eindeutige Zensuren gefragt. 1804 war John Barrow nicht damit zufrieden, zu erzählen, was er 1793/94 im Gefolge Lord Macartneys in China gesehen und erlebt hatte. Nein, sein Ziel war es, die Leser zu befähigen, «den Rangplatz Chinas auf der Skala der zivilisierten Nationen» zu ermitteln.[89] Wohlgemerkt: China wurde hier noch unter die zivilisierten Nationen gezählt. Alles kam nun darauf an, wie zivilisiert oder unzivilisiert es war. Die Skala ermöglichte auch, Bewegungen zu verfolgen und Vergleiche anzustellen. Vor einem Jahrhundert, erläutert Barrow, begann Rußland unter Peter dem Großen gerade, sich aus der Barbarei hervorzuarbeiten. In weiteren hundert Jahren «wird es in friedlichen wie in militärischen Künsten eine herausragende Rolle unter den europäischen Nationen spielen».[90] Man halte China dagegen: schon vor zweitausend Jahren hochzivilisiert, aber nun erschöpft und kaum entwicklungsfähig: under its present state of existence not likely to advance in any kind of improvement.[91] Under its present state …: China war, wie man beachten sollte, in Barrows Augen keineswegs schicksalhaft zu Stillstand oder Untergang verdammt. Reformen, vielleicht ein chinesischer Peter der Große, könnten es unter Umständen retten. Barrows Gesichtspunkte wiederholen sich bei zahlreichen anderen Asienautoren. Wenn Malcolm über Persien schreibt, Mill über Indien, Elphinstone über Afghanistan, Raffles über Java, Crawfurd über Siam, Burma und Cochinchina, Volney über Syrien und Ägypten oder auch Tocqueville über Algerien, dann fragen sie nach dem Zivilisierungsgrad der jeweiligen Bevölkerung oder bestimmter ethnischer und sozialer Gruppe. In einigen Fällen hat dies praktische Gründe. Der weise imperiale Gesetzgeber muß die Verhältnisse korrekt einschätzen, auf die er seine Ordnungen zuschneidert.

Pedanten stellten ohne Marsdens zögernde Vorsicht regelrechte Hitparaden der Völker auf. Die Burmesen, sagt Crawfurd 1834, stehen nach ihrem Zivilisationsgrad weit unter den hinduistischen Indern und erst recht unter den Chinesen, aber auf etwa gleicher Ebene mit den Siamesen und den Javanern. Den Bewohnern der östlichen indonesischen Inseln sind sie überlegen, doch hat Crawfurd Bedenken, diese überhaupt für vergleichbar zu halten.[92] Der Reisende Michael Symes, kein Pedant, hatte im Jahre 1800 schon die Problematik eindeutiger Zensuren erkannt: «In manchen ihrer Anlagen zeigen die Burmesen die Wildheit (ferocity) von Barbaren, in anderen die Humanität und das Zartgefühl des kultivierten Lebens (the humanity and tenderness of polished life).»[93] Hier schwingen die Ironien der hohen Aufklärung mit, als es möglich war, die Herzensgüte der Kannibalen zu preisen und asiatische Völker für gleichwertig und zuweilen sogar für überlegen zu halten.[94]

So wurde aus der universalen Zivilisationstheorie und Zivilisationsgeschichte der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert ein Werkzeug zu einer Art von protomodernisierungstheoretischer Hierarchisierung der Gesellschaften der Erde. Die Maßstäblichkeit des viktorianischen England oder eines Frankreich, in dem ein bedeutender Zivilisationshistoriker, François Guizot, eine führende politische Rolle spielte, stand außer Frage. Ein zivilisationstheoretisch aufgerüstetes europäisches Überlegenheitsgefühl führte nun zu neuen Begründungen imperialer Expansion. Aus Sonderbewußtsein wurde Sendungsideologie, aus Zivilisationstheorie die Überzeugung von einer mission civilisatrice: dem Recht, wenn nicht gar der Pflicht des fortgeschrittenen Europa, gegen asiatische Finsternis die universalen Werte des Fortschritts durchzusetzen.[95] Das expansive Sendungsbewußtsein der Französischen Revolution hatte einem solchen Interventionsgebot vorgearbeitet. Seitdem erschien möglich, was das ältere Völkerrecht im allgemeinen ausgeschlossen hatte: die Unterstützung einer Volkserhebung gegen unerträgliche Tyrannei, sogar ein äußeres Eingreifen dann, wenn Despotie oder die bleierne Last einer inhumanen Tradition Protestregungen noch nicht einmal aufkommen ließen.

Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts war koloniale Landnahme je nach den Umständen mit wirtschaftlichen Zielen, Fürstenglorie, präventiver Vorteilssicherung im Wettbewerb der Mächte, mit Notwehr in einem gerechten Krieg, mit dem Recht zur Aneignung «herrenlosen» Landes oder mit einem paulinischen Missionsauftrag begründet worden, aber nicht mit humanitären Motiven. Humanitär war vielmehr die Kolonialismus kritik der Aufklärung geprägt, die in Raynal/Diderot und Burke ihren Höhepunkt ereichte. Condorcet schreibt in ihrem Sinne 1793:

Verfolgt einmal die Geschichte unserer Unternehmungen, unserer Niederlassungen in Afrika und Asien! Und was werdet ihr sehen? Unsere Handelsmonopole, unsere Verrätereien, unsere grausame Mißachtung der Menschen anderer Farbe oder anderen Glaubens, die Frechheit unserer widerrechtlichen Anmaßungen, die maßlose Bekehrungssucht und die Intrigen unserer Priester! Ihr werdet sehen, wie all dies das Gefühl der Achtung und des Wohlwollens zerstört, welches uns die Überlegenheit unserer Aufklärung und die Vorteile unseres Handels zunächst eingebracht hatten. Allein es besteht kein Zweifel, daß der Augenblick nahe ist, da wir uns diesen Völkern nicht länger als Verderber und Tyrannen zeigen, sondern ihnen nützliche Helfer oder edelmütige Befreier sein werden.[96]

Condorcet, einem energischen Kämpfer gegen die Sklaverei, war es ernst mit diesen Anklagen und Erwartungen. Er hoffte auf eine künftige Partnerschaft zwischen Ost und West, Nord und Süd. Unter welchen Umständen und mit welchen Absichten aber sollten die «edelmütigen Befreier» in Aktion treten? Das war der zentrale Punkt.

Ein radikaler Relativismus, der die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Zivilisationen und Religionen sowie die annähernd gleiche Legitimität aller politischen Systeme diesseits tyrannischer Entartung annimmt, schließt die Rechtfertigung von imperialer Machtausübung aus. Dies war die Auffassung von Engelbert Kaempfer, Edmund Burke (jedenfalls in der Indienfrage), Herder und Kant. In schwächerer Form teilten die meisten Autoren der Aufklärung diese Ansicht. Selbst Montesquieu rief nicht zu einem Kreuzzug gegen die orientalische Despotie auf, die für ihn ohnehin zum Teil ein Produkt unveränderlicher klimatischer Umstände war. Im Gegensatz dazu führen Lehren von der natürlichen Überlegenheit der weißen Rasse zu sozialdarwinistischen Begründungen von Aggression und Annexion aus Erobererrecht und den Privilegien des Stärkeren. Diese Doktrin lag dem Hochimperialismus des späten19. Jahrhunderts zugrunde. Von beiden extremen Positionen unterschied sich eine Haltung, die zwischen etwa 1790 und 1830 den Höhepunkt ihrer praktischen Wirksamkeit erreichte. Sie folgte theoretisch aus einem normativen Zivilisationsbegriff.

Die Zivilisationstheorie der Spätaufklärung, die sich mit dem Leitbegriff der scale of civilization kennzeichnen läßt, war dynamisch. Die Werthierarchie der Gesellschaften der Erde war nicht unveränderlich festgelegt. Geographisch-klimatische und anthropologischrassische Bedingungen, die sich handelnder Einwirkung weitgehend entzogen, waren nur zu einem geringeren Teil für Entwicklungsrückstände verantwortlich zu machen. Die Hauptursachen für die mangelnde Nutzung oft großer natürlicher Potentiale waren vom Menschen hervorgerufen und daher korrigierbar: Despotie und religiöser «Aberglaube» hielten Asien in eisernen Banden. Sie verhinderten das Aufblühen von Wissenschaften und Künsten, von Erfindungsgeist und Erwerbstrieb. «Edelmütige Befreier» (Condorcet) aus den freien Ländern des Westens konnten die Entwicklungsbremsen lösen.

Dies war eine innerweltliche und pragmatische Gedankenkette, die religiöser und moralischer Unterstützung eigentlich nicht bedurfte. Wenn ein christliches Sendungsbewußtsein und – wie bei dem einflußreichen Indienpolitiker Charles Grant – das Programm von moral reform heidnischer Sitten hinzutraten, konnte der interventionistische Impetus aber noch verstärkt werden.[97] Ein Eingreifen des zivilisatorisch avancierten Westens war nötig, weil man nicht auf das langsame Reifen der sozialen Evolution vertrauen mochte. Auch waren die Völker Asiens nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden politischer und geistiger Knechtschaft zur Selbstbefreiung von Despotie und Aberglauben nicht imstande. Condorcets «edelmütige Befreier» mußten daher – wie Bonaparte 1798 in Ägypten – aus eigenem Antrieb und meist ungerufen aktiv werden. Sie nahmen sich das Recht, Despoten und Brecher internationalen Rechts, zum Beispiel das sklavenraubende Piratenregime von Algier, zu stürzen, religiöse «Exzesse» zu beschneiden und modernisierungsfördernde Rechtsinstitutionen einzuführen. Bestehende Kolonialsysteme sollten sich in dieser Weise reformieren und die sittliche Hebung und ökonomische Wohlfahrt ihrer Untertanen anstreben; eben dies sahen die Briten als ihre Aufgabe an, als sie am Kap der Guten Hoffnung, auf Ceylon und für einige Jahre (1811–16) auch auf Java das Erbe des in ihren Augen selbstsüchtigen und verkommenen Kolonialismus der holländischen v.O.C. antraten. In anderen Fälle schien Druck auf starrsinnige einheimische Regierungen statthaft zu sein: Der deutsche Aufklärer Christian Wilhelm Dohm, ein beherzter Kämpfer für die Rechte von Frauen und Juden, hatte schon 1779 die bewaffnete Öffnung des «unnatürlich verschlossenen Reichs» der Tokugawa-Shogune gefordert, damit die Japaner mit «Kultur und Aufklärung» in Berührung kämen und die ganze Welt vom Handel mit ihnen profitieren könne.[98] Gegen schlimme Tyrannen wie Tipu Sultan von Maisur oder die osmanischen Unterdrücker der freiheitsliebenden Hellenen war notfalls eine befreiende militärische Intervention erlaubt. Es wäre verwerflich, wenn die Europäer ihr neues Glück eigensüchtig für sich behielten. Die Zivilisation, verkündete der große Indologe Henry Thomas Colebrooke 1823 anläßlich der Gründung der Royal Asiatic Society, stammt aus Asien. Jetzt hat das moderne Europa die Pflicht und die Möglichkeit, seine Schuld zurückzuerstatten und seinerseits die Zivilisierung Asiens in die Hand zu nehmen![99]

Es wäre töricht, zivilisationstheoretische Entwürfe der Spätaufklärung für die neue Aggressivität verantwortlich zu machen, die Großbritannien, Frankreich und Rußland in den 1790er Jahren in Asien und Nordafrika an den Tag legten. Sie waren ein Faktor unter vielen anderen, die bei einer zureichenden Erklärung dieser Entwicklung zu berücksichtigen wären. Aber man darf die Folgen der Veränderungen von Ideen, Werten und Haltungen auf die reale Welt nicht übersehen. Das neu gestärkte europäische Sonderbewußtsein im Zeitalter Napoleons und der aufblühenden europäischen Nationalismen rief ein paradoxes Ergebnis hervor: Einerseits förderte es eine europazentrische Selbstbezogenheit, die Asien im Bewußtsein der gebildeten Öffentlichkeit marginalisierte und den kollektiven Narzißmus der globalen Leitzivilisation in ungekannte Höhen hob. Andererseits öffnete es einen Raum für säkulare Sendungsideologien einer mission civilisatrice, die in einem Umfeld krisenhafter Schwäche der asiatisch-orientalischen Länder von Algerien bis Japan auf Verwirklichung drängten.

Keineswegs ist die Aufklärung am Imperialismus schuld. Niemand hat die beginnende europäische Weltherrschaft treffender kritisiert und drängender angeklagt als Burke, Raynal, Diderot, Kant oder Alexander von Humboldt. Aber es gibt Zusammenhänge. Die Zivilisation, die sich für die leistungsfähigste und humanste auf der Welt hielt, wartete nicht, bis Asien sich für sie interessieren würde. Sie gab Asien ihre Gesetze. Im Zeitalter der Erziehungsmission – von Lord William Bentincks Rettung der indischen Witwen vor dem Flammentod bis zur Einführung guter diplomatischer Manieren in Ostasien[100] – wurde der Ton ernst und streng, schulmeisterlich und unfrivol. Das Spielerisch-Ironische eines Johann Georg Gmelin, Edward Gibbon, William Jones oder Carsten Niebuhr verschwand. Asien mußte regiert und belehrt, wirtschaftlich genutzt und wissenschaftlich erforscht werden. Asien machte Arbeit. Das unbeschwerte Europa der Aufklärung trug fortan die selbstgeschulterte Bürde des weißen Mannes.

Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert
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