III.
Perspektivenwechsel:
Spielräume europäischer Selbstrelativierung

1. Kulturtransfer und Kolonialismus

Die globale Integration, die Autoren des späten 18. Jahrhunderts so stark beeindruckte, blieb vorerst noch weitgehend auf das Vernetzen von Küstenregionen beschränkt. Dadurch unter anderem unterscheidet sie sich von dem, was heute unter Globalisierung verstanden wird. Von einer Verwestlichung des Lebenstils in nicht kolonial beherrschten asiatischen Gesellschaften konnte noch keine Rede sein.[1] Europäisches, soweit man es in Asien kennenlernte, lud nicht zur Nachahmung ein. Westlicher Kultureinfluß wurde einstweilen nur durch Missionare verbreitet. Daß er größere Bevölkerungsgruppen dauerhaft prägte, war eine große Ausnahme. Nur die Philippinen waren seit dem 16. Jahrhundert wirksamen katholischen Missionsbemühungen ausgesetzt. In Japan, während der letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts die große Hoffnung des Jesuitenordens, war die katholische Mission Anfang des 17. Jahrhunderts unter der neuen Dynastie der Tokugawa-Shogune zerschlagen, das Christentum insgesamt kriminalisiert worden. In China hatten zwei Jahrhunderte aufwendiger Missionsarbeit bis 1800 weder zur Bekehrung nennenswerter Bevölkerungsteile noch zu Einbrüchen in die konfuzianisch geprägte Elite der Beamten-Gelehrten geführt. Die muslimische Welt blieb, wie eh und je, gegenüber christlichen Missionsbemühungen resistent. Selbst in den kolonialen Herrschaftsbereichen der Briten und Holländer machte das Christentum nur geringe Fortschritte. Die E.I.C. unterband bis 1813 die Missionstätigkeit in ihren Territorien, um die indische Bevölkerung nicht unnötig zu beunruhigen.[2] Und Besucher Batavias registrierten immer wieder mit Erstaunen oder Empörung, daß den farbigen Untertanen der v.O.C. in Batavia und seinem Umland keinerlei christliche Unterweisung zuteil werde.[3]

Während der frühneuzeitlichen Expansion Europas nach Asien blieb also der unmittelbar sichtbare europäische Kultureinfluß, der primär ein Religionseinfluß hätte sein müssen, ziemlich begrenzt. Kulturtransfer fand, noch in kleinem Rahmen, auf anderen Wegen statt: durch die Ausstrahlung kolonialer Städte auf ihr Umland, durch die Übernahme mancher westlicher Technologien (vor allem im militärischen Bereich) und künstlerischer Verfahren, in China durch das praktische (astronomische, kartographische und architektonische) Wirken der Jesuiten, in Japan durch die einzigartig zielstrebige Institutionalisierung einer «Hollandwissenschaft» (rangaku), die zur Schleuse für westliches Wissen aller Art wurde.

Europa erreichte Asien vornehmlich in Gestalt von Waren. Die allerdings drangen rasch in die entlegensten Teile des Kontinents vor. Der reisende englische Kaufmann Jonas Hanway stellte in den 1720er Jahren fest, ein Drittel der Armee des persischen Eroberers Nadir Shah sei in europäische Tuche gekleidet.[4] Im für Ausländer nahezu verschlossenen Burma trug man kurz vor 1800 Mäntel und Westen aus europäischen Wolltuchen; das Militär war überwiegend mit französischen und britischen Gewehren ausgerüstet.[5] Gleichzeitig notierte ein erstaunter Diplomat, Samuel Turner, in dem von Europäern fast nie betretenen Tibet die weite Verbreitung englischer Brokatstoffe.[6] In Bhutan hatte er zuvor den Raja und seinen Hofstaat mit Bordeaux und Erdbeermarmelade erfreut und eine potentiell exportfördernde Nachfrage für westliche Delikatessen ins Leben gerufen.[7] So drang von allen europäischen Einflüssen derjenige der Warenwelt am weitesten vor. Europäische Importe wurden in Gegenden, die nie ein Europäer betrat, durch einheimische Handelsnetze verbreitet. Die Begegnung zwischen Europa und Asien war auch eine der wechselseitigen Aneignung von Waren und Objekten.[8]

Einige Autoren ahnten bereits die durchdringende Wirkung einer Expansion, die weit über das Aktionsfeld europäischer Kaufleute, Soldaten, Missionare und Forschungsreisender hinausreichte. Schon 1769 warnte Louis Castilhon in seinen scharfsinnigen Considérations davor, daß auch in Übersee vom Handel eine «Korruption» der Sitten drohe. Im Zeitalter des aufblühenden Weltverkehrs und Welthandels gebe es schon jetzt kaum noch reine, von Europa unberührte Verhältnisse; authentische Volkscharaktere seien bereits kaum noch erkennbar; wenige gegenwärtige Völker hätten noch die Stabillität und Beständigkeit der Völker des Altertums.[9] Jean-Nicholas Demeunier, der emsige Sammler völkerkundlichen Materials, sah wenige Jahre später die Menschheit immer einförmiger werden und empfahl unter anderem aus diesem Grunde das Studium der Ethnographie alter und neuer Völker.[10]

Zur gleichen Zeit, in der europäische Waren in entlegene Winkel Asiens vordrangen, eroberten asiatische Produkte europäische Märkte; Tee, Kaffee, Seide, feine Baumwollstoffe, Porzellan.[11] Am Beginn des 18. Jahrhunderts war die wirtschaftliche und kulturelle Wirkung des Asienhandels auf Europa deutlich größer als umgekehrt, erst gegen Ende des Jahrhunderts neigte sich die Waage zugunsten Europas.[12]

Kulturtransfer von Europa nach Asien und koloniale Herrschaft von Europäern über Asiaten standen in keiner festen Verbindung miteinander. Der Kulturtransfer war vermutlich dort am größten, wo Europäer die geringsten Chancen zu kolonialer Entfaltung besaßen: in Japan. Bevor in den Jahren um 1800 die Idee eines europäischen Zivilisierungsauftrags gegenüber der orientalischen Welt Einfluß gewann und damit Kolonialherrschaft zum wohltätigen Instrument der Verbreitung überlegener Kulturwerte stilisiert werden konnte, war jeder weitere Schritt der Ausweitung europäischer Herrschaft in Asien von heftiger öffentlicher Kritik begleitet. Kritisiert wurde der Kolonialismus der Vorgänger, also derjenige der Spanier und Portugiesen, der sich vor allem aus protestantischer Perspektive als besonders finster darstellte. Angegriffen wurde selbstverständlich auch der Kolonialismus der zeitgenössischen Konkurrenz, etwa der niederländische aus britischer Sicht. Vor den Richterstuhl zog man aber auch den eigene Kolonialismus. Während sich deutsche Kommentatoren wie Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Georg Forster, Johann Gottlieb Fichte oder Alexander von Humboldt, die nicht unmittelbar in nationale Imperialprojekte eingebunden waren, eine gewisse abgeklärte Distanz leisten konnten, attackierten britische und französische Kritiker die Politik ihrer eigenen Regierungen mit unmittelbarer Vehemenz.

Die Motive konnten dabei ganz unterschiedlich sein. Der Ökonom Adam Smith wies in nüchternen Beweisführungen die Irrationalität mancher Aspekte des Kolonialismus, besonders der Handelsmonopole, nach. [13] Der nach modernem Verständnis «konservative» Parlamentspolitiker Edmund Burke entfachte eine sich jahrelang hinziehende Maßregelungskampagne (impeachment) gegen Warren Hastings, den ersten Generalgouverneur Indiens, dem er die Förderung oder Billigung von Gewaltexzessen und Rechtsbrüchen gegenüber der friedfertigen indischen Aristokratie vorwarf. Burke fürchtete einen Rückschlag einer solchen Verwilderung der politischen Sitten auf das Mutterland.[14] Der Abbé Raynal, ein radikaler Literat des ausgehenden Ancien régime, schrieb in Zusammenarbeit mit Denis Diderot und anderen einen der größten internationalen Beststeller der Epoche: die Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770). Im Gewand einer ungemein detailliert mit Schreckensszenen und Analysen aller Art ausgearbeiteten Anklage gegen die Untaten der europäischen Eroberer und Kolonisten in beiden Hemisphären wurde hier ein geschichtsphilosophischer Entwurf vorgelegt, der erstmals die überragende Bedeutung der überseeischen Expansion für das Selbstverständnis des modernen Europa ins Bewußtsein rief.

Anders als im 19. Jahrhundert wurde in der Epoche der Aufklärung die europäische Welteroberung nicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Ein Werk von der anklägerischen Kraft der Raynal-Diderotschen Histoire philosophique ist in Europa niemals wieder geschrieben worden. Auch wer im 18. Jahrhundert die Legitimität der europäischen Expansion nicht grundsätzlich bestritt und einen «sanften» Kolonialismus zu dulden bereit war, wachte über Verletzungen eines Rechtsempfindens, dessen Gültigkeit für die gesamte Menschheit außer Frage stand. Nichts traf Warren Hastings härter als Burkes Vorwurf, er huldige einer geographical morality: der Vorstellung, man dürfe den Indern bedenkenlos zumuten, was in Europa als Tyrannei und Verbrechen geächtet war.[15] Die aufklärerische Kolonialismuskritik, wie sie Diderot vielleicht am tiefsten formulierte,[16] widerlegt die Behauptung, europäische Intellektuelle seien zu nichts anderem als autistischer Selbstbespiegelung fähig und hätten sich seit dem Beginn des Expansionszeitalters rettungslos in der Komplizenschaft mit der Macht verfangen. Selbstrelativierung in einem allmählich immer asymmetrischer werdenden Kontakt der Zivilisationen mag nicht die vorherrschende Haltung gewesen sein. Aber sie war ein Bestandteil des Repertoires europäischer Hinwendung zum Fremden. Noch 1791 gab William Robertson, der große schottische Historiker, ihr in seinem letzten längeren Werk Ausdruck, der Historical Disquisition Concerning the Knowledge which the Ancients had of India.[17] Robertson hatte in seiner History of America von 1777 den Nutzen und die Kosten der spanischen und portugiesischen Kolonisation sowohl für die iberischen Mächte und Gesellschaften als auch für die Ureinwohner Amerikas gegeneinander abgewogen. Er hatte dabei die europäischen Greuel in der Neuen Welt weniger farbenkräftig ausgemalt, als Raynal und Diderot dies gleichzeitig taten, und den spanischen Staat ebenso wie die katholische Kirche weitgehend von einer unmittelbaren Schuld an den Brutalitäten der Conquista entlastet. Dennoch ließ er keinen Zweifel daran, daß die Begegnung von Gesellschaften auf unterschiedlichen Stufen der sozialen Evolution zu einer Katastrophe geführt hatte. Sie war nicht das Ergebnis individueller Exzesse, sondern eine zwangsläufige Folge enormer sozialer Distanz und der Unfähigkeit der Spanier, diesen Abstand zu erkennen. Die große Chance der Entdeckungen, die zum Fortschritt für alle hätten führen können, wurde verspielt. Robertson verstand, daß sich das zeitgenössische Indien nicht ohne weiteres mit dem Amerika des 16. Jahrhunderts vergleichen ließ, hielt es aber für geboten, der neuen Aggressivität seiner britischen Landsleute in Südasien warnend entgegenzutreten. Er tat dies nicht mit kolonialismuskritischer Tagespolemik, sondern durch eine von großem Respekt getragene Darstellung der kulturellen Leistungen des hinduistischen Indien. Der siebzigjährige Robertson wurde keineswegs zum Indienschwärmer, der bei den Brahmanen am Ufer des Ganges tiefste Weisheiten vermutete; eine solche Haltung fand sich wenige Jahre später vor allem bei einigen deutschen Romantikern, etwa in Friedrich Schlegels Schrift Über die Sprache und Weisheit der Indier von 1808. Ähnlich wie gleichzeitig der um zwei Jahrzehnte jüngere Johann Gottfried Herder, der freilich schon stärker die romantische Indienverklärung vorbereitete,[18] begegnete Robertson der indischen Zivilisation mit interessierter Sympathie und toleranter Hinnahme ihrer Andersartigkeit und ihres Eigensinns. Robertson verleugnete seine christlichen Glaubensgrundsätze nicht und ebensowenig seine Begeisterung für die Errungenschaften des modernen Europa, besonders auf dem Gebiet der Wissenschaft. Doch er machte weder Religion noch Fortschrittsenthusiasmus zu absoluten Wertmaßstäben, an denen andere Kulturen gemessen und für zu leicht befunden wurden.[19] Der späte Robertson, Herder und auch der alte Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden vertreten in den neunziger Jahren eine Haltung, die bald selten werden und mit dem letzten europäischen Aufklärer, Alexander von Humboldt, verschwinden wird: einen selbst- und kolonialismuskritischen Kosmopolitismus, der das Fremde zu ernst nimmt, um es gönnerhaft zu exotisieren.

2. Theorien des Ethnozentrismus

1717 beginnt Charles-Louis de Montesquieu, Baron de la Brède, ein achtundzwanzigjähriger Jurist und Weingutsbesitzer und neuerdings Richter am Gerichtshof, dem Parlement, von Bordeaux, seine Lettres persanes zu schreiben, 1721 erscheint das Buch anonym in Form einer Folge von 161 Briefen, die persische Frankreichreisende an ihre Freunde und Frauen adressieren. Der Verfasser nutzte das Orientinteresse, das während der Herrschaft des Sonnenkönigs Frankreich erfaßt hatte. Der Orient, den das Buch aufscheinen läßt, ist keine reine Ausgeburt der Phantasie. Montesquieu hatte einiges an Reiseliteratur studiert, vor allem den 1686 zuerst erschienenen großen Persienbericht von Jean Chardin und Sir Paul Rycauts Werke über das Osmanische Reich, er kannte d’Herbelots Bibliothèque Orientale und Gallands 1001 Nuits.[20] Manches davon war auch seinen Lesern geläufig. Wenn Montesquieu den Perser Rica sich über die Modesucht der Franzosen mokieren läßt, dann wußten viele Leser, daß die Asienliteratur den Orient als einen statischen Raum ohne Modewandel darstellt; nur so erklärt sich Ricas Erstaunen. Montesquieus Perser handeln und urteilen nicht völlig unberechenbar und willkürlich. Sie benehmen sich in etwa so, wie gebildete Leser des frühen 18. Jahrhunderts es von Orientalen erwarten konnten. Anders als mindere Nachahmer des Genres der «fremden Briefe», bei denen beliebige Ansichten, die vor Zensur oder strengem Geschmacksurteil kaschiert werden sollten, von Figuren in dürftigster nichtwestlicher Verkleidung zum besten gegeben werden, gelingt es Montesquieu, sowohl eine plausible Gegenwelt, die Sphäre des Harems als Ort von Machtkämpfen, anschaulich zu machen als auch die satirischen Vorteile des fingierten Außenseiterblicks zu nutzen.

Es geht Montesquieu nicht vorrangig um den Orient, um Persien. Es geht ihm aber auch darum, denn seine berühmte Theorie der orientalischen Despotie aus seinem Hauptwerk De l’esprit des lois von 1748 findet sich 1721 schon vorgebildet. Ein Orient, der den Zeitgenossen zumindest plausibel vorkommen mußte, wurde zum Hintergrund für ein virtuoses Rollenspiel. Daß darin eine satirische Schilderung von Zuständen im Frankreich der Régence verpackt war, blieb dem Publikum nicht verborgen, ebensowenig die große Ernsthaftigkeit mancher Aussagen – etwa die Kolonialismuskritik im 121. Brief –, aus denen bereits der politische Philosoph Montesquieu spricht. Die literarische Technik der Kontextverfremdung erwies sich als derart attraktiv, daß Dutzende von Folgeschriften sie imitierten. Die Lettres persanes, die allerdings die Technik des exotisch verfremdeten Reiseberichts nicht erfanden, wurden zum Vorbild für ein ganzes Genre.[21] Zumindest Oliver Goldsmiths Citizen of the World, or Letters from a Chinese Philosopher Residing in London to his Friends in the East (1762) und José Cadalsos Cartas Marruecas (geschrieben 1768–74, veröffentlicht 1793), führen es, wenngleich nicht mit der Prismatik und Vielstimmigkeit der Lettres Persanes, in der die Korrespondenz auf nicht weniger als einundzwanzig Briefpartner verteilt ist, auf hohem Niveau fort. Bei keinem anderen Werk dieses Typus tritt allerdings der Orient mit solch großem Gewicht und in so scharfer Zeichnung hervor wie bei Montesquieu.

Montesquieu wählt den distanzierend-«ethnographischen» Blick, der sich von kulturellen Selbstverständlichkeiten nicht täuschen läßt. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört eine ethnozentrische Haltung zur Umwelt. Alles Fremde, schreibt der Perser Rica aus Paris an seinen Landsmann Rhedi in Venedig, komme den Franzosen lächerlich vor.[22] Im 44. Brief bezieht sich Usbek – und wir glauben, die Stimme Montesquieus zu hören – auf einen Reisebericht, vermutlich Frogers Relation d’un voyage aux côtes d’Afrique von 1698,[23] und schildert nach dieser Quelle die Begegnung französischer Seeleute mit einem König in Guinea, «der unter einem Baum saß und über seine Untertanen Gericht hielt. Auf seinem Thron, das heißt auf einem Holzblock, saß er so stolz, als ob er auf dem Thron des Großmoguls säße. […]. Dieser Fürst, der ebenso eitel wie arm war, fragte die Fremden, ob man in Frankreich von ihm spräche. Er glaubte, sein Name müßte von einem Pol zum anderen erklingen […].»[24]

Gewiß leistet sich Montesquieu einen wohlfeilen Spaß mit den Zeitklischees von «wilder» Herrschaft. Europäische Zustände werden auf den Kopf gestellt: Der afrikanische König sitzt in der Sonne, aber er ist alles andere als ein Sonnenkönig und erst recht als ein Großmogul: für den orientalischen Briefschreiber offenbar – wie sehen die Sorgfalt von Montesquieus Methode – der höchste zivilisatorische Maßstab. Doch nach den Regeln satirischer Inversion, die diejenigen der ethnographischen durchkreuzen können, mögen die beiden Sonnenkönige durchaus die Rollen tauschen. Denn hatte nicht Ludwig XIV. aus Ruhmsucht und Eitelkeit Diplomaten und Missionare bis nach Siam und China entsandt?

Im Ethnozentrismus des schwarzen Königs spiegelt Montesquieu denjenigen seiner weißen Amtskollegen, ein literarisches Verfahren, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch eine binäre Denkweisen in Okzident-Orient-Kategorien ausgeschlossen sein würde. Wir sehen dies zum Beispiel in den 1790er Jahren an der ernsthaften Empörung westlicher Diplomaten über die Weltherrschaftsrhetorik und die symbolischen Überlegenheitsansprüche des in der Tat noch großmächtigen und zu einer gewissen sonnenkönighaften Arroganz befugten Qianlong-Kaisers in Peking.[25] Der Ethnozentrismus, so scheint es, ist nun die Borniertheit ausschließlich der Anderen geworden, während man zur selben Zeit in Frankreich einen krassen Gallozentrismus und in Großbritannien einen zunehmend exklusiven und selbstzufriedenen anglozentrischen Nationalismus keineswegs relativierender Selbstkritik unterzieht.[26] Wer etwa angesichts der Aufregung über den angeblichen Ethnozentrismus der Türken die Gegenfrage stellte, wie denn wohl Türken in Europa behandelt würden,[27] durfte um die Jahrhundertwende kaum mit Verständnis rechnen.

Im 18. Jahrhundert hingegen lag die Möglichkeit einer allgemeingültigen Kritik des Ethnozentrismus – nicht allein bei Montesquieu – noch im Horizont europäischen Denkens. Johann Christian Adelung, der Pionier der Kulturgeschichtsschreibung in Deutschland, hielt 1768 den Ethnozentrismus der Chinesen, Japaner oder Ägypter für erträglich im Vergleich zu dem der alten Griechen, die sich als den Maßstab der Welt empfanden.[28] Antoine Court de Gebelin, Autor eines großen Werks zur universalen Religionsgeschichte, beklagte eine selbstbezogene Einstellung fast aller Völker als «eine der größten Ursachen des Unglücks der Menschheit».[29] Adam Ferguson, lange Jahre Professor für Moralphilosophie an der Universität Edinburgh und neben Adam Smith der wichtigste Gesellschaftstheoretiker der schottischen Aufklärung, kam zu der leidenschaftslosen Einsicht, die Abgrenzung von benachbarten «Barbaren», ja überhaupt die Erschaffung von Gegenwelten sei zur Identitätsbildung von Gesellschaften auf sämtlichen Entwicklungsstufen notwendig. Gesellschaften müßten sich einen «fremden» Widerpart schaffen, um ihre natürliche Zwietracht und Ungeselligkeit durch exklusive Gemeinschaftsbildung, zum Beispiel durch Krieg gegen eine andere Horde oder Nation, überwinden zu können.[30] Dieses soziologische Grundgesetz hinderte Ferguson nicht daran, die neuzeitliche europäische Form des Ethnozentrismus besonders zu mißbilligen. Im Gegensatz zu einem fast überall anzutreffenden gewissermaßen «naiven» Ethnozentrismus habe sich Europa, ähnlich wie China, eine Theorie zivilisatorischer Rangabstufung geschaffen, die in der Praxis schwer zu überwinden sei und als eine Art von sich selbst erfüllender Prophezeiung wirke.[31] «Wir selbst halten uns für Muster an guter Sitte und Zivilisation, und wo nicht unsere eigenen Züge hervortreten, glauben wir, sei auch nichts vorhanden, das überhaupt wissenswert wäre.»[32]

Noch deutlicher widersprach James Dunbar, ein schottischer Zeitgenosse Fergusons, einem Überlegenheitsglauben, der den Anderen letztlich ihre Existenzberechtigung bestreitet. Das heutige Europa, schrieb er in den 1770er Jahren, tut so, als ob es sich auf einer anderen Planetenbahn bewege als der Rest der Menschheit (affects to move in another orbit from the rest of the species).[33] Damit griff er neueste Zweifel an einer gemeinsamen Abstammung des Menschengeschlechts auf, welche die «Einheit des Systems der lebenden Wesen» aufbrächen und durch die Annahme unterschiedlicher Menschenrassen die natürlichen Rechte der angeblich Minderwertigen in Frage stellten. Indem sie die praktischen Auswirkungen des europäischen Überlegenheitsdenkens ausmalt, übertrifft Dunbars prophetische Warnung, lange vor dem großen Durchbruch des Rassedenkens formuliert, an besorgter Voraussicht die Befürchtungen aller Zeitgenossen:

According to this theory, the oppression or extermination of a meaner race will no longer be so shocking to humanity. Their distresses will not call upon us so loudly for relief. And public morality, and the laws of nations, will be confined to a few regions peopled with this more exalted species of mankind.[34]

Dieser Theorie zufolge wird die Unterdrückung oder Vernichtung einer niederen Rasse nicht länger gar so schockierend für die Menschheit sein. Ihre Not wird uns nicht so laut um Hilfe anrufen. Und öffentliche Moral und Völkerrecht werden auf die wenigen Regionen beschränkt sein, in denen das höhere Menschentum lebt.

Schon der Staatsmann, Diplomat und Verfasser philosophischer Essays Sir William Temple hatte 1692 in seiner Betrachtung Of Heroic Virtue die Neigung der Europäer beanstandet, the laws of nature and nations allein als für sie selbst gültig anzusehen.[35] James Dunbar geht einen Schritt weiter und spekuliert über die voraussichtlichen Folgen eines solchen geteilten Universalismus.

3. Interkultureller Leistungsvergleich

Die Kritik am Ethnozentrismus der Europäer konnte zu verschiedenartigen Konsequenzen führen. Eine davon war, die Wertungsgewichte zu verschieben und fremde Zivilisationen als überlegen oder sogar vorbildlich darzustellen. Dies geschah im 18. Jahrhundert immer wieder. Besonders das chinesische Kaiserreich, über welches die Jesuitenmissionare das europäische Publikum ausführlich unterrichteten, schien Lehren für Europa bereitzuhalten. Ob die Behauptungen über China damaliger und heutiger kritischer Nachprüfung standhalten, ist dabei eine nachgeordnete Frage. Das fremde Ideal spielte seine rhetorischen Rollen in den innereuropäischen Kontroversen der Epoche.

Zu denen, die ihr politisches Ideal, gestützt durch die günstigen Berichte der Jesuiten, auf das ferne China projizierten und es dann als kritischen Maßstab, der an die europäische Gegenwart angelegt wurde, von dort zurückimportierten, gehört der vielseitige politische Philosoph und Ökonom Johann Heinrich Gottlob von Justi, ein heute unterschätzter Autor von beträchtlicher Originalität, der, in mancher Hinsicht dem fast gleichaltrigen Adam Ferguson vergleichbar, die Betrachtung von Staat und Gesellschaft von normativ-naturrechtlichen Diskussionen auf den Boden empirisch-historischer Analyse zu holen versuchte und die staatlichen Einrichtungen pragmatisch unter dem Gesichtspunkt von Gerechtigkeit, Freiheit und Zweckmäßigkeit beurteilte.[36] Justi ist einer unter vielen Autoren, die das Andere und das Eigene miteinander konfrontierten. Was sein umfangreiches Buch Vergleichungen der europäischen mit den asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen (1762) besonders auszeichnet, ist, daß es auf einer Kritik europazentrischen Denkens gründet. Justi begriff, daß eine bloße orientalische Utopie wenig Überzeugungskraft beanspruchen durfte, solange nicht das Denken der Europäer darauf eingestellt war, andere als die eigenen gesellschaftlichen und politischen Einrichtung ernst zu nehmen. Vor jedem Vergleich mußte daher die Begründung von Vergleichbarkeit stehen. Justi konnte längst nicht mehr auf den Topos asiatischer Überlegenheit vertrauen. Denn schon 1750 war es zum Beisspiel möglich, daß der englische Publizist und Historiker John Campbell aus der neuesten glücklichen Entwicklung Europas den Schluß zog, Europa sei dem Rest der Welt so weit überlegen, daß Vergleiche sinnlos seien:

That Europe is, beyond all Comparison, the most happy and valuable Quarter of the Globe, is a Thing so much taken for granted, that perhaps few would think a Man much in the wrong who should conceive himself under no Obligation to prove it […].[37]

Daß Europa jenseits allen Vergleichs der glücklichste und wertvollste Teil der Erde ist, wird für so selbstverständlich gehalten, daß wenige es mißbilligen würden, wenn man auf einen Beweis dafür verzichtete.

Justi widerspricht ohne Umschweife:

Unsere Vernunft, unsere Erkenntniß, unsere Einsichten dünken uns so erhaben zu seyn, daß wir auf alle andere Völker des Erdbodens als auf um uns herumkriechende elende Würmgen herabsehen; und in der That betragen wir uns auch nicht anders gegen sie. Wir führen uns als Herren des ganzen Erdbodens auf; wir bemächtigen uns ohne Bedenken der Länder aller Völker in den drey übrigen Welttheilen; wir schreiben ihnen in ihren Landen Gesetze vor, begegnen ihnen als unseren Sklaven; und wenn sie sich im geringsten zu widersetzen unterstehen, so rotten wir sie ganz und gar aus […].[38]

In den Kapiteln seines Buches zeigt Justi dann systematisch, wie sich Alternativen zur politischen Ordnung und besonders zur politischen Praxis in Europa denken lassen. Er empfiehlt selbstverständlich nicht die unmittelbare Übertragung etwa des chinesischen Systems der staatlichen Beamtenprüfungen auf Europa, und er übersieht die unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen keineswegs. Wenn er das Lobenswerte an den Einrichtungen anderer Völker zeigt, versucht er zuallererst, seine Leser in der Fähigkeit des Perspektivenwechsels zu schulen. Seine Erörterung der Justiz ist dafür ein gutes und für seine Verfahrensweise besonders charakteristisches Beispiel.[39]

Zunächst stellt Justi aus vernünftiger Einsicht gewonnene allgemeine Grundsätze auf. So dürfe vor allem die Freiheit des Bürgers nicht verletzt werden; die Gesetze sollten «gewiß und unzweifelhaftig sein»; und die Gerechtigkeit müsse «mit der strängsten Unpartheylichkeit, ohne alles Ansehn der Persohn und des Interesse», verwaltet werden.[40] Dann weist er darauf hin, daß in unterschiedlichen politischen Systemen auch die Rechtspflege unterschiedlich beschaffen ist – «und doch gleich gut seyn» kann.[41] Im dritten Schritt folgt die Überprüfung der empirisch vorfindlichen Problemlösungen. Hier findet Justi die Kürze der Prozesse in China eher suspekt als vorbildlich. Was es ihm in diesem Falle angetan hat, ist die Justiz der Hottentotten, also, wenn man so will, diejenige von Montesquieus afrikanischem König. Über die Hottentotten, korrekt: die Khoikhoi, wurde in der Frühen Neuzeit viel berichtet; ein Besuch bei ihnen war ein beliebter Abstecher für Besucher am Kap der Guten Hoffnung.[42] Justi brauchte also nichts zusammenzuphantasieren, sondern konnte sich auf Reiseberichte verlassen.[43] Nach einer Beschreibung der Justiz bei den Hottentotten prüft Justi, inwieweit sie den eingangs aufgestellten allgemeinen Grundsätzen entspricht und kommt zu dem Ergebnis, sie sei von einer Qualität, die «sie über alle Europäische weit hinaus setzet».[44] Wer aber nun glaubt, fährt Justi fort, die afrikanischen Neger als Wilde seien mit uns nicht zu vergleichen, den mag vielleicht der Vergleich mit den Siamesen überzeugen, «die Künste und Commercien treiben und mithin uns mehr ähnlich sind, ob wir sie gleich nichts destoweniger vor Barbaren halten».[45] Eine Prüfung dieses Falles, bei dem Justi sich unter anderem auf den sehr präzisen Siambericht des Simon de La Loubère stützt, führt ihn zu der Überzeugung, daß die siamesische Justiz zwar nicht besser ist als die europäische, aber «doch wenigstens eben so gut».[46]

Was bleibt nach diesen eingehenden Beweisführungen von Europas Sonderbewußtsein? Nur das, was sich als relative Überlegenheit rational demonstrieren läßt. «Denn es ist ohne Zweifel nicht zureichend», sagt Justi, «daß sich ein Volk selbst vor vernünftig und gesittet ausgiebt; es muß Beweise und Zeugnisse davon zu Tage legen.»[47] Das gelingt den Europäern durchaus nicht immer.

Wenn nun die Europäische Verwaltung der Gerechtigkeit, wo nicht schlechter, doch gewiß nicht besser ist als bey den Hottentotten und Siamesern, mein Gott, worauf gründet sich der eitle Hochmuth, daß wir uns vor die vernünftigsten und gesittetsten Völker des Erdcreyßes halten? Diese Frage will ich hier ein vor allemal aufwerfen, ob sie zwar fast bey allen Vergleichungen nöthig wäre. Wenn diese Völker Barbaren sind, so sind wir es gewiß nicht weniger.[48]

Justis literarisches Verfahren läßt sich mit dem der Montesquieuschen Lettres persanes in mancher Hinsicht vergleichen. Montesquieu erlaubt sich trotz solcher Passagen, in denen er seinen persischen Korrespondenten die Gedanken eines französischen Philosophen in die Feder fließen läßt, keinen Standpunkt absoluter Urteilssicherheit. Wenn Rica und Usbek über Europa urteilen, dann spricht die Stimme der Vernunft aus fremden Beobachtern, die aber vielleicht nicht immer ganz begreifen, was sie sehen. Europa erscheint im ethnographisch distanzierenden Blick, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, daß eine solche Außensicht stets vor der Innensicht privilegiert sein müsse. Montesquieu treibt also ein Spiel, ein vorsichtiges, nicht in völligen Relativismus ausartendes Spiel, mit der Vielzahl möglicher Perspektiven in der Betrachtung und Beurteilung der Welt. Nichts anderes tut Johann Heinrich Gottlob von Justi. Die Prinzipien des politisch Richtigen lassen sich aus dem Naturrecht und der Kenntnis der menschlichen Natur vernünftig deduzieren. Aber sie manifestieren sich niemals völlig rein in der Wirklichkeit, sondern nur in von Menschen geschaffenen Institutionen, die kulturell spezifisch sind. Keine Kultur auf der Erde, auch nicht die moderne europäische, hat einen kürzeren Draht zur Vernunft als eine andere. In jeder, unabhängig von ihrem Grad materieller Verfeinerung, sind vernunftgemäße Gesellschafts- und Staatseinrichtungen grundsätzlich möglich. Dies hat den großen Vorteil, daß Kulturen voneinander lernen können. Zu keinem anderen Zweck, als dieses Lernen für Europa denkbar und produktiv zu machen, hat Justi sein Buch geschrieben. Auch bei ihm kreist der Perspektivenwechsel um die feste Achse des Vernünftigen. Doch Vernunft ist nicht nur anthropologisch, sondern auch ethnologisch universal. Sie ist nicht nur allen Menschen individuell angeboren, sondern verteilt sich auch auf Völker und Gesellschaften in allen Kontinenten. Wie Adam Ferguson und Montesquieu vertritt Justi noch nicht die These vom exklusiven Vernunftmonopol des modernen Europa. Deshalb kennt er auch keine Zuschreibung des Gegenteils, der Unvernunft, zum fremdkulturellen Anderen. Eine «wilde Völkerkunde» ist bei diesen Aufklärern reinsten Wassers überflüssig, weil die Kunde der Völker zur Zivilisierung beitragen soll. Der Beitrag von Aufklärung beim Studium von Edmund Burkes Great Map of Mankind liegt eben nicht in der mentalen Distanzierung und Exotisierung anderer Völker, sondern in der vernünftigen Konvergenz ihrer Erfahrungen.

4. Diskursive Gerechtigkeit

Justi war durchaus nicht der einzige europäische Schriftsteller, der auf die Relativität interkultureller Wahrnehmungen hinwies. Der Geograph Bernhard Varenius fand 1649, daß den Japanern die Europäer kaum weniger lächerlich vorkämen als umgekehrt.[49] Der Philosoph David Hume beschäftigte sich mit einem ästhetischen Ethnozentrismus, der alles Ungeläufige als barbarisch ablehnt; hilfreiche Selbstzweifel, so Hume, sollten sich aber dann einstellen, wenn amidst such a contest of sentiment alle Seiten mit gleichem Recht auf ihren Vorlieben beharrten.[50] Jean-François Marmontel, der spätere Sekretär der Academie Française, wies in der Encyclopédie darauf hin, daß Auffassungen vom Komischen kulturell unterschiedlich seien.[51] Jean-Nicholas Demeunier schlug das relativierende Gedankenexperiment vor, europäische Bräuche mit Hilfe der Einbildungskraft nach Afrika zu versetzen: Manches europäische Verhalten würde erstaunen und befremden, wenn wir es bei Afrikanern anträfen. [52] Demeunier, der fleißige Sammler ethnographischer Auskünfte, beschränkte denn auch seine Materialsuche nicht auf Außereuropa. Seine Ethnographie – ebenso wie die Adam Fergusons – war keine Kunde vom Fremden, sondern ein Wissen von der Variationsbreite menschlicher Vergesellschaftungsformen. Hier schloß Charles-Athanase Walckenaer an, damals ein ehrgeiziger junger Mann, später einer der Mandarine des gelehrten Frankreich, als er 1798 gesellschaftliche Entwicklungsformen mit Weisen der Wahrnehmung zu korrelieren versuchte. Seßhafte Ackerbauvölker betrachteten Hirtenvölker unweigerlich als Barbaren, während sie den fortgeschritteneren Handels- und Gewerbevölkern Weichlichkeit und Korruption durch Luxus vorwürfen.[53] Der Gedanke ist unvollkommen ausgeführt, aber nicht uninteressant. Er verweist auf die Möglichkeit einer Wissenssoziologie der Fremdwahrnehmung.

Es war zweierlei, den Perspektivenwechsel programmatisch einzufordern und ihn in beschreibenden Texten tatsächlich zur Geltung zu bringen. Verfasser von fiktiver Literatur hatten es einfacher, und sie machten es sich oft in der Tat leicht, wenn sie ihre Europa bereisenden Türken oder Chinesen nur karnevalesk kostümierten, ohne ihnen, wie Montesquieu, die Authentizität ihrer eigenen kulturellen Herkunft zu gönnen. Daher sagt ein großer Teil der Literatur vom Typ der Lettres persanes nichts über das Orientbild ihrer Urheber aus: Mancher fingierte «Türke» benimmt sich wie der durchschnittliche europäische Libertin.

Wer in Geschichtswerken oder Reiseberichten den Anspruch erhob, Wirklichkeit abzubilden, mußte sich um andere Darstellungsmöglichkeiten bemühen. Historiker zum Beispiel konnten einheimische Dokumente und historiographische Texte einbeziehen. Joseph von Hammer-Purgstall war nicht der erste europäische Geschichtsschreiber, der dies tat, aber ihm gelang öfter als anderen ein kunstvolles Perspektivenspiel, so etwa, wenn er die unterschiedliche Sicht byzantinischer und osmanischer Historiker auf dieselben Ereignisse nicht in einer homogenen Erzählung wegglättet, sondern sie in ihrer jeweiligen Relativität nebeneinander stehenläßt.[54] Etwas später in seiner großen Geschichte des Osmanischen Reiches (1827–35) zeigt er, wie vollkommen unterschiedlich Europäer und Osmanen das pharaonische Ägypten wahrnahmen.[55] Hammer hat auch die – teilweise unvermeidlichen – Grenzen einer europäischen oder imperialen Geschichtsschreibung und Ethnographie über Völker jenseits der Grenzen der eigenen Kultursphäre eindrücklich markiert:

Xenophon und Cäsar, Thucydides und Tacitus haben zwar die Geschichte ihrer Zeit, wovon ihr Leben selbst ein grosser Bestandteil, der Nachwelt überliefert, aber zur richtigen Würdigung ihrer Wahrheit fehlen uns die Erzählungen persischer Reichshistoriographen, die Ueberlieferungen brittischer Barden und gallischer Druiden.[56]

Historiker und die Verfasser von Reiseliteratur konnten auch versuchen, eine Wertbalance und Urteilssymmetrie herzustellen, indem sie die angeblich negativen Eigenschaften der «Anderen» durch Vergleichbares auf der europäischen Seite aufwogen. Alexander Hamilton, ein schottischer Seekapitän, der zwischen 1688 und 1723 Handelsfahrten im Raum zwischen Ostfafrika und China unternahm und dem wir lebenssatte Schilderungen der besuchten Länder verdanken, gestattete sich die Frage, was überhaupt märchenhaft am Orient sei, wenn doch in Rom der schreibende Arm eines Heiligen zur Schau stehe.[57] Ungefähr zur gleichen Zeit wurde daran erinnert, daß die berüchtigten muslimischen Korsaren im Mittelmeer kaum grausamer seien als die christlichen, darunter die besonders brutalen Malteserritter.[58] Justi erinnert 1762 diejenigen unter seinen Lesern, die vielleicht die Araber für Barbaren halten mochten, daran, daß jüngst in Portugal zweiundfünfzig Menschen als Opfer eines «rasenden Religionseifers» bei einem Autodafé lebendig verbrannt worden seien.[59] Das Ausbalancieren von Urteilen ist ein beliebtes Stilmittel bei Edward Gibbon, der zum Beispiel genüßlich schildert, wie Kreuzfahrer und ihre muslimischen Gegner sich gegenseitig als Barbaren bezeichnen. Gibbon macht sich ein Vergnügen daraus, selbst immer wieder von Western barbarians zu sprechen,[60] und er schildert den frühen Islam unter anderem deshalb in ungewöhnlich freundlichen Farben, um ihn polemisch gegen das frühmittelalterliche Christentum setzen zu können. Joseph von Hammer-Purgstall, unablässig um Gerechtigkeit für Asien bemüht, verschweigt nicht die «Sündfluth von Gräueln», die 1218 bei der Eroberung Bucharas durch Dschingis Khans Mongolen begangen wurden, doch statt die Schrecken des mörderischen Asien auszumalen, setzt er abwägend hinzu: «Alle Gräuel, welche die byzantinischen Geschichtsschreiber von der Eroberung Constantinopel’s durch die Franken [1204] melden, erneuten sich bei der Einnahme Buchara’s.»[61]

5. Chinesische Interviews, tamilische Briefe

Perspektivenwechsel kann auch dort sichtbar werden, wo wirkliche Asiaten in europäischen Texten unmittelbar zu Wort kommen. Das ist in der Frühen Neuzeit außerordentlich selten der Fall. Montesquieu hatte gute Gründe, eine Haltung zu verspotten, die den Berichten der Reisenden über den Orient mehr traute als den Aussagen von dessen Bewohnern. Sein Rica trifft in einer Pariser Gesellschaft einen «sehr selbstsicheren Mann», der über alles und jedes ein Urteil hat, so auch über Persien. Der aus Isfahan stammende Rica sieht sich sogleich aus den Schriften der Iranreisenden Chardin und Tavernier «widerlegt».[62] Asiaten hörte man zu, denn jedem Reisenden und Forscher waren einheimische Informanten unentbehrlich. Doch man vernimmt sie selten in europäischen Texten, und fast nie haben sie das letzte Wort.

Am ehesten wird man dort authentische Stimmen erwarten, wo sich Europäer einer asiatischen Zivilisation mit nahezu demütigem Respekt näherten. Dies gilt für Teile der Chinaberichterstattung der Jesuiten. Das Ergebnis ist mager. Zwar sind zum Beispiel die Berichte der Jesuiten aus China mit Übersetzungen chinesischer Schriften gefüllt, doch stellt sich selten der Eindruck lebendiger Rede ein. Eine Ausnahme ist das bemerkenswerte Interview, das der chinesische Kaiser Qianlong 1773, auf der Höhe von Macht und Ruhm, dem Jesuitenpater Michel Benoît gewährte, während er sich von Frater Guiseppe Panzi porträtieren ließ. Wir haben keine Möglichkeit, die Authentizität des Wortlauts zu überprüfen, doch ist das Gespräch so plausibel, daß es sich auf keinen Fall als bloße Erfindung jesuitischer Propaganda bagatellisieren läßt. Das Besondere der Situation ist der Rollentausch, denn die Fragen stellt der Kaiser, und die Antworten gibt der Missionar.[63]

Qianlong, einer der abgefeimtesten und erfolgreichsten Machtpolitiker der Epoche, vergleichbar seinen Zeitgenossen Friedrich II. und Katharina II., horcht den Missionar in größter Ausführlichkeit über die politische Lage in Europa aus. Unter den Kupferstichen, die ihr aus Europa mitgebracht habt – so fragt etwa der Kaiser – gibt es einige, welche die Siege eurer Souveräne feiern: Gegen welche Feinde haben sie diese Siege errungen?[64] Gibt es nicht einen unter diesen Fürsten, der die Macht hätte, für Frieden zu sorgen? Wie groß ist die Chance für einen der europäischen Staaten, sich zum Herrn über alle anderen aufzuschwingen? Wie kommt es, daß in Europa Souveräne, die durch Heiratsbündnisse miteinander verwandt sind, dennoch Kriege untereinander führen? Welche Beziehungen hat Frankreich derzeit zu Rußland? Gibt es zur Zeit französische Gelehrte am Hof zu St. Petersburg? Und so fort. Später wird der mächtigste Monarch Asiens vertraulicher und fragt den französischen Pater, ob die Jesuiten sich aus Europa Wein nach Peking schicken ließen, ob sie sich in China ihren eigenen Alkohol brauten, ob Branntwein aus Trauben der Gesundheit zuträglicher sei als Reisschnaps usw.[65]

Pater Benoîts Text, ohne Zweifel in der Pariser Jesuitenzentrale energisch redigiert, entwirft das Bild eines hochrationalen Staatsmannes, nicht ohne Humor, der zwar wenig über Europa weiß (doch mindestens so viel wie ein damaliger europäischer Herrscher über China), der aber genau die richtigen Fragen stellt, um alles Nötige zu erfahren. Der Text verzichtet auf jede exotische Verfremdung. Qianlong macht keine einzige Bemerkung, welche die kulturellen Grenzen seines Weltverständnisses erkennen läßt. Der Kaiser ist von unbornierter Urbanität. Es ist nichts «typisch Chinesisches» an dem, was er sagt. Keine anthropologische Barriere trennt den Kaiser von China, mit einem seiner Hofjesuiten plaudernd, vom europäischen Leser der Lettres édifiantes et curieuses, in denen der Text erschien. Der Effekt ist dennoch derjenige der von außen kommenden Verwunderung und Kritik, wie ihn Montesquieu und Justi mit anderen Mitteln erzielen: Denn, so wird und (vielleicht) soll der Leser reagieren, ist die Frage nicht sehr berechtigt, warum in Europa unentwegt Krieg geführt wird, während in China innerer Frieden herrscht? Hatte nicht der große Leibniz genau dasselbe gefragt?

Der einzige andere Asientext des 18. Jahrhunderts, der es in der Direktheit der Ansprache mit dem Qianlong-Interview aufnehmen kann, ist die Malabarische Korrespondenz, die der protestantische Missionar Bartholomäus Ziegenbalg in Europa bekanntmachte.[66] Ziegenbalg wirkte zwischen 1706 und 1719 in der kleinen dänischen Kolonie Tranquebar an der indischen Südwestküste.[67] Zu seinem Werk zählen auch neunundneunzig Briefe von Südindern. Sie wurden zwischen 1712 und 1714 als Antworten auf schriftliche Fragen des Missionars verfaßt, von Ziegenbalgs Mitarbeiter Johann Ernst Gründler aus dem Tamilischen übertragen und kommentiert und – nach einer nicht mehr rekonstruierbaren Bearbeitung in der Missionszentrale des Halleschen Pietismus – 1714 und 1717 in zwei Lieferungen im Rahmen der «Halleschen Berichte» veröffentlicht. Der Verfasser der meisten Briefe scheint Aleppa gewesen zu sein, Oberdolmetscher der Dänischen Handelskompagnie und Tamillehrer Bartholomäus Ziegenbalgs. Alle Versuche, Aleppa zum Christentum zu bekehren, schlugen fehl. Aus seinen Briefen klingt daher durch alle Filterung hindurch die Stimme des hinduistischen «Heidentums» zu uns hinüber.

Es ging in den Briefen vor allen Dingen um religiöse Fragen, sekundär auch um das Zusammenleben in der tamilischen Gesellschaft. Die Missionare suchten Klarheit über die tamilische Götterwelt, über Schöpfungsmythen und Geschichtsvorstellungen, rituelle Praktiken, über das Alltagsleben und über die Ansichten der Einheimischen vom Christentum. In dieser letzten Frage – um nur ein Beispiel aus dem umfangreichen Material zu geben – äußert sich der Korrespondent mit zurückhaltendem Freimut. Im 15. Brief der zweiten Lieferung geht er nach einem Lob der christlichen Lehre kritisch auf die ihm gestellte Frage ein, «was diese Heyden von der Christen Gesetz, Lehren und Wandel halten»:

Was anlanget, was unter den Christen zu verwerffen ist, so sind viel böse Gebräuche bey ihnen eingeführet. Z. E. Sie reinigen die Zähne nicht. Sie waschen sich nicht, wenn sie auf dem Abtritt gewesen. Sie reinigen sich nicht in heiligen Teichen. Die Weiber halten nach ihrer Zeit keine Reinigung. Sie halten sich mit dem Speichel nicht reinlich. Wenn sie Leute von verachtetem Geschlecht anrühren, reinigen sie sich nicht wieder. Sie schweren und fluchen zu allen Dingen. Wenn sie das Sacrament geben, so sagen sie, daß das Brodt der heilige Leib sey, und trincken Christi heiliges Blut, welches ich nicht recht begreifen kan. Und weil unter ihnen in vielen Dingen ein Mangel der Reinlichkeit ist, dabey auch Kuh-Fleisch essen, so wäre zu wünschen, daß diese Dinge nicht unter ihnen wären, es würden alle Malabaren zu ihrer Religion treten.[68]

In einem anderen Brief – Nummer 26 der ersten Lieferung – setzt sich der Korrespondent mit dem Unternehmen der Mission grundsätzlich auseinander. Erst zählt er mit deutlicher Empörung auf, was die dänischhalleschen Missionare an den Tamilen «sündlich und thöricht finden». Dann geht er zum Gegenangriff über:

Nun ist es zwar wahr, daß viele Sachen unter uns zu tadeln seyn; auch gehen allerley Sünden und Ungerechtigkeiten bey uns im Schwange, welches nicht seyn solte, aber gleichwol kan man nicht alles verwerffen. Wären wir Heiden und hätten einen gantz falschen Gottes-Dienst, so würden gantz keine Tugenden und gute Wercke unter uns zu finden seyn. Nun aber sind ja so viel Tugenden unter uns, und werden allenthalben von diesen und ienen gute Wercke ausgeübet: Ja man findet Leute unter uns, die so heilig leben, daß man sie keiner Sünden überzeugen kan. Soll denn nun ein solch Gesetz, das alle Sünden verwirfft und zum Guten führet, ein falsches Gesetz seyn, dadurch man nicht selig werden könne? Eine jedwede Nation hat ihre besondere Tracht, Sitten und Rechte, die der andern Nation ungereimt vorkommen. Also ists auch mit der Religion. Gott ist mannigfältig in seinen Creaturen und mannigfältig in seinen Wercken. Daher will er auch mannigfältig verehret werden. […]

Hiernebst finden wir gleichfals an den Christen, die aus Europa in unser Land kommen, vieles zu tadeln und sollen wir anders die Religion aus den Wercken urtheilen, so können wir gar wenig Gutes von der christlichen Religion gedencken. Denn wir sehen, daß wenig Gerechtigkeit und Keuschheit unter ihnen sey. Sie üben wenig gute Wercke aus, geben wenig Almosen, haben keine Buße unter sich, nehmen gern Geschencke, trincken sich voll in starckem Geträncke, martern die lebendige Creaturen und gebrauchen sie zu ihrer Speise, halten gar wenig auf die leibliche Reinigkeit, verachten alle andere neben sich, sind sehr geitzig, hoffärtig und zornig.[69]

Ziegenbalg und Gründler, ihre Missionsoberen in Halle und ihre politischen Schirmherren in Kopenhagen sahen solche Texte nicht mit distanzierter Wissenschaftlichkeit als ethnographische Dokumente. Sie waren Auskunftsquellen, welche die Missionsarbeit an der Malabarküste erleichtern, und zugleich Werbematerialien, die dem heimischen Publikum, von dem man sich auch finanzielle Unterstützung erhoffte, Chancen und Schwierigkeiten des noch jungen Missionsprojekts – es war 1706 begonnen worden – vor Augen führen sollten. Lauter noch als ihre katholischen Kollegen in China, Indien oder Kanada ließen Ziegenbalg und Gründler, geniale Propagandisten, zu diesem Zweck einheimische Gegen-Stimmen sprechen. Kein Reisebericht hat dies je mit ähnlicher Großzügigkeit getan.

6. Niebuhrs Affe

Die am häufigsten in europäischen Asientexten des 18. Jahrhunderts auftretende Form des Perspektivenwechsels ist der Bericht über europäische Eindrücke vom Bild, das sich Asiaten von Europäern machen. Das Lesepublikum war stets dankbar für Geschichten über tumbe Asiaten, die absurde Vorstellungen von Europa hegten, also für das genaue Gegenteil des intellektuell souveränen Qianlong-Kaisers oder der ernsthaften tamilischen Briefschreiber. Einerlei, ob es nun wahre Begebenheiten waren oder anekdotische Zutaten der Berichterstatter: Wenn ein cochinchinesischer (also südvietnamesischer) Minister einen französischen Diplomaten am 30. September 1749 fragte, ob es in Europa Frauen gebe (und zufrieden war, als die Frage schelmisch verneint wurde),[70] wenn chinesische Mandarine im Herbst 1793 von weither nach Peking reisten, um eine von der britischen Macartney-Mission mitgeführte Henne zu besichtigen, die angeblich jeden Tag fünfzig Pfund Kohle verzehrte,[71] oder wenn im Dezember 1762 der Emir von Loheia am Roten Meer in freudiges Entzücken geriet, als ihm europäische Naturforscher eine Laus unter der Lupe zeigten, und er zugeben mußte, «daß er niemals eine so große arabische Laus gesehen hätte und daß das Thier, welches unter dem Glase wäre, nothwendig eine europäische Laus seyn müßte»[72] – dann ging die Heiterkeit des Lesers auf Kosten der beschränkten Orientalen. Sie schienen außerstande zu sein, sich ein angemessenes Bild von Europa, den Europäern und ihren technischen Tricks zu machen.

Ob lächerlich, feindselig oder beides: ihre Unkenntnis Europas oder ihr verzerrtes – so schien es vielen Europäern – Bild von ihm charakterisierte, wie man glaubte, die Angehörigen asiatischer Zivilisationen. Nicht alle Reisenden jedoch bedienten dieses wohlfeile Klischee. Gerade Carsten Niebuhr, der Erzähler der Lausgeschichte, versuchte immer wieder, den Sinn hinter anderen Sicht- und Verhaltensweisen zu verstehen. Niebuhr war ein Mitglied der dänischen Arabienexpedition, die am 7. Januar 1761 in Kopenhagen aufbrach und über Ägypten, den Sinai und das Rote Meer Mitte Dezember 1762 ihr eigentliches Reiseziel, den Jemen, erreichten. Nachdem alle seine fünf Reisegefährten nacheinander gestorben waren, reiste Niebuhr allein nach Indien weiter. Im November 1767 traf er, über Persien, das Zweistromland und Syrien kommend, wieder in Kopenhagen ein.[73]

In Niebuhrs ausführlichem, von europäischem Selbstlob ungewöhnlich freien Bericht kommen immer wieder Episoden vor, in denen der Europäer nicht nur die fremdkulturelle Umwelt betrachtet, studiert und nach eigenen Maßstäben aburteilt, sondern sich der Tatsache bewußt ist oder bewußt wird, daß er selbst ein Fremdling ist und mit Recht von den Einheimischen als solcher betrachtet wird. Charakteristisch für Niebuhr ist sein Gespür für Situationen, in denen sich solche Wechselspiele der Fremdwahrnehmung entwickeln. Schon in Kairo, wo sich die sechs Reisenden viel mehr als später in Arabien feindselig behandelt fühlen, gelingt Niebuhr eine bemerkenswerte Beobachtung an den Affen ägyptischer Gaukler:

Weil die lange morgenländische Kleidung sich nicht wohl für einen Affen schickt, da er die meiste Zeit auf allen vieren geht, so kleidet man in Egypten die zum Tanz abgerichteten Affen oftmals nach europäischer Art. Dieß giebt dem gemeinen Mohammedaner Anlaß, uns mit den Thieren zu vergleichen, vornemlich wenn er einen wohl geputzten Europäer mit bloßem Kopfe und einem horizontal hängenden Degen sieht, der ihm, so wie dem Affen der Schwanz, hinten zwischen den Kleidern heraussteckt.[74]

Niebuhr sieht die europäische Kostümierung der Affen nicht als Bestätigung für eine ohnehin vermutete Europafeindlichkeit verstockter Orientalen. Er findet eine funktionale, aus praktischen Vernunftgründen jedem einleuchtende Erklärung: die Unzweckmäßigkeit von Pluderhosen für Tanzaffen. Daß die «gemeinen», also ungebildeten und wenig mit Ausländern verkehrenden Ägypter dann daraus eine wenig schmeichelhafte Analogie zu Europäern ziehen, will ihnen Niebuhr nicht verdenken.

Auch manche anderen Reisenden hüteten sich vor dem verbreiteten Vorwurf von Borniertheit und Xenophobie, der den Asiaten – vor allem später im 19. Jahrhundert – so gerne pauschal gemacht wurde, und suchten nach Gründen für ein europafeindliches Verhalten. Wenn sich Europäer über die Betrügereien der Chinesen beklagen, so fragt 1777 ein Bericht der Jesuiten, verschweigen sie dann nicht, wer oft mit dem Betrug angefangen hat?[75] Die Siamesen, stellt ein britischer Diplomat 1826 fest, gewännen ihr Europäerbild aus Erfahrungen mit den eigenen Untertanen portugiesischer Herkunft, die keine sehr rühmliche Positionen in der siamesischen Gesellschaft innehätten; diesem Bild würden die übrigen Europäer assimiliert, zumal das Rowdytum englischer Seeleute regelmäßig die schlimmsten siamesischen Vorurteile bestätige.[76] Selbst der keineswegs türkenfreundliche preußische Offizier Helmuth von Moltke (der spätere Generalfeldmarschall), 1835 als Militärberater ins Osmanische Reich entsandt, mußte zugeben, daß die Türken zu Recht eine schlechte Meinung von den Europäern hätten, da sie überwiegend Halunken kennenlernen würden.[77]

Die Japaner, so beobachtete der schwedische Arzt und Naturforscher Carl Peter Thunberg im Herbst 1775 in Nagasaki, dem einzigen für Ausländer zugänglichen Hafen des Landes, seien entsetzt darüber, «wie unfreundschaftlich und unhöflich die Europäer nicht selten mit einander selbst umgehen und wie barbarisch sie ihre Matrosen mit Fluchen, Prügeln und andern Grausamkeiten behandeln».[78] Die Verachtung, welche die Japaner für Europäer hegten, sei daher weder unverständlich noch unverdient, zumal sich die holländischen Herren bis hinauf zum Chef der Faktorei leidenschaftlich dem Schmuggel ergeben hätten. Kurz vor Thunbergs Ankunft war herausgekommen, daß diese «Opperhoofds» und Kapitäne jahrzehntelang in speziell präparierten Leibröcken Konterbande befördert hatten. Nun verwunderten sich die Japaner sehr darüber, die holländischen Herrschaften auf den Körperumfang normaler Menschen geschrumpft zu sehen.[79] Thunberg, ein namhafter Wissenschaftler und Verfasser des neben Engelbert Kaempfers klassischem Werk maßgebenden Japanberichts des 18. Jahrhunderts, dachte nicht daran, den Japanern Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen. Ihr Standpunkt war ihm vollkommen plausibel.

Bei Carsten Niebuhr, um zu ihm zurückzukehren, finden sich immer wieder Versuche, starre Ost-West-Dichotomien aufzulösen und die Sichtweise der Anderen zu würdigen. So weist Niebuhr etwa in einer historischen Notiz darauf hin, daß während der Bombardierung der Hafenstadt Mocha (Mokka) im Jemen durch französische Kriegsschiffe im Jahre 1738 die einheimische Bevölkerung keineswegs eine pauschal europäerfeindliche Abwehrhaltung bezog, sondern Engländer und Holländer unbehelligt in der Stadt leben ließ: von Feindschaft gegen alle «Franken», wie sie den Muslimen gerne unterstellt wurde, also keine Spur![80] Ein anderes Beispiel für Niebuhrs ent-orientalisierenden common sense: Dr. John Crawfurd, der 1826 eine britische diplomatische Mission nach Burma anführte, traf dort die Ansicht an, der Reichtum der Engländer müsse auf Alchimie zurückgehen – eine Überzeugung, die ihm selbstverständlich lachhaft und absurd vorkam.[81] Crawfurd urteilte in einer Weise, die für seine Zeit charakteristisch war. Dagegen Niebuhr: Er hörte im März 1763 von Jemeniten, daß die örtliche Bevölkerung den dänisch-deutschen Forschungsreisenden die Fähigkeit zuschrieb, Gold zu machen. Sehr verständlich, sagt Niebuhr, denn es mußte den Arabern, die bisher nur europäische Kaufleute kennengelernt hatten, in der Tat recht merkwürdig vorkommen, «daß wir einen so weiten Weg gekommen wären ohne Handlung zu treiben».[82] Die Fremden gaben viel Geld aus, ohne sichtbar neues zu verdienen. Das verlangte nach einer Erklärung, und die Annahme der Goldmacherei war eine keineswegs unsinnige, vielmehr eine im Kenntnishorizont der Jemeniten naheliegende, sogar einigermaßen rationale Hypothese.

Mit seinem unentwegten Bemühen, die Weltinterpretation der Nichteuropäer, denen er begegnete, aus deren eigenem Denken heraus zu verstehen, war Carsten Niebuhr gewiß nicht typisch für die Reisenden seiner Zeit. Aber er war auch kein Einzelgänger. Der deutsche Weltumsegler Georg Forster, die britischen Gesandtschaftsreisenden Michael Symes (1795 nach Burma), Samuel Turner (1783–84 nach Südtibet) und Mountstuart Elphinstone (1808 nach Afghanistan), der Schwede Thunberg (1775–76 nach Japan), auch Alexander von Humboldt in seiner Amerikareise der Jahre 1799–1804: sie und manche andere vertraten wie Niebuhr eine dialogische Haltung zum Anderen, die es nicht als Axiom voraussetzte, der Europäer habe immer recht. Auch zeigten sie Respekt vor den Europakenntnissen anderer Völker. Während sich ein Teil der Reisenden – vielleicht die Mehrheit – über die Ignoranz der nicht nach Übersee reisenden Asiaten in allen Angelegenheiten Europas mokierte, gab es in dieser Gegentradition immerhin jemanden wie Samuel Turner, der über die guten Geographiekenntnisse der Tibeter staunte: Einige Mönche im Tashilumpo-Kloster besaßen eine ungefähre Vorstellung von der relativen Lage der größeren europäischen Länder.[83] Ihre Ideen waren simpel nach den Maßstäben europäischer Wissenschaft, aber achtenswert angesichts höchst beschränkter Informationsmöglichkeiten und des Fehlens einer dringlichen praktischen Notwendigkeit, sich mit der Geographie Europas zu beschäftigen.

Doch nicht jede Anerkennung des native point of view verband sich mit tiefergehender kultureller Sympathie. John Barrow, der 1793 als Zahlmeister der Macartney-Gesandtschaft das chinesische Kaiserreich besuchte, zeigte Verständnis für die Chinesen, die sich über die engen Kleider und die gepuderten Köpfe ihrer Besucher belustigten:

Wir haben gewiß keinen Grund, die Chinesen oder irgendeine andere Nation deshalb zu verachten oder auszulachen, weil sie sich von uns in Kleinigkeiten von Kleidung und Manieren unterscheidet, vor allem, wenn wir sehen, wie nahe wir ihr mit unseren eigenen ähnlichen Tollheiten und Absurditäten kommen.[84]

Aber Vorsicht! Barrow ist nicht als weitherziger Kulturrelativist zu lesen. Man muß ihn richtig betonen: Daß die Chinesen von den Europäern in Kleinigkeiten abweichen, war für ihn gerade deshalb unerheblich und leicht zu verschmerzen, weil er die chinesische Zivilisation im großen und ganzen als unterlegen betrachtete.

Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert
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