Junge

30

Mit einem Ruck wacht Nanna auf und glaubt erst, sie hätte geträumt, dass es an die Tür klopft. Sie dreht sich um und schaut Fride an. Die liegt mit weit aufgerissenen Augen neben ihr und kneift den Mund zusammen. Wieder klopft es laut an die Tür. Dann ruft jemand.

»Nanna! Fride! Macht auf!«

»Das ist Vogel«, sagt Nanna und spürt, wie die bedrückende Leere in ihr nachlässt.

Sie rennt in den Flur und öffnet die Tür. Und da steht Vogel. Sie fällt ihm um den Hals und hält ihn lange fest.

»Wie gut, dass du gekommen bist«, sagt sie. »Wie hast du uns gefunden?«

»Ich bin euch gefolgt«, sagt Vogel und schaut auf den Boden.

»Wie gut«, sagt Nanna. »Wie gut, dass du das getan hast.«

Vogel lächelt matt.

»Seid ihr auf dem Weg nach Hause?«

»Ja, aber …«, sagt Nanna. »Komm rein.«

»Habt ihr die Medizin gefunden?«, fragt Vogel und tritt in die Diele.

»Nein.«

»War nichts mehr da?«

»Ja.«

»Habt ihr die ganze Wohnung durchsucht?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir.«

»Wieso?«, fragt Nanna.

»Es gibt nirgends mehr Medizin. Sie haben vor langer Zeit alles aufgebraucht. Deshalb bin ich hergekommen, ich muss mit euch reden. Ihr könnt nicht nach Hause fahren.«

»Warum nicht?«, fragt Nanna und merkt, wie sie langsam wütend wird.

»Weil es nichts gibt, wohin ihr zurückkehren könnt.«

»Das kannst du gar nicht wissen.«

»Doch. So ist es. Und das weißt du auch. Ihr habt mir erzählt, dass kein Essen mehr da ist und euer Vater die Krankheit bekommen hat. Wenn es keine Medizin mehr gibt …«, Vogel macht eine Pause. »Jeder, der die Krankheit hat, stirbt, wenn er nicht genug Medizin bekommt.«

»Ist Papa tot?«, fragt Fride aus der Tür zum Kinderzimmer.

»Nein. Und jetzt fahren wir nach Hause. Zeigst du uns den Weg aus der Stadt oder nicht?«, sagt Nanna und schaut Vogel an.

Vogel schüttelt schwach den Kopf.

»Heute nicht. Die Schatten waren letzte Nacht unterwegs. Auf den Brücken. Es ist unmöglich, an ihnen vorbeizukommen.«

»Das glaube ich dir nicht. Gestern war jedenfalls noch nichts zu sehen. Heute Nacht waren die Schatten hier vor dem Haus, aber dann sind sie wieder verschwunden. Du sagst das nur, damit wir nicht gehen«, sagt Nanna.

»Ihr werden nicht durchkommen. Es ist besser und sicherer für euch, wenn ihr in der Stadt bleibt. Da wissen wir, wo die Schatten sind. Ich würde euch wenigstens gerne noch mein Geheimnis zeigen.«

»Ich glaube dir nicht. Es gibt gar kein Geheimnis, das du uns zeigen könntest.«

»Doch, das gibt es. Und es ist so groß, dass es alles verändern wird«, sagt Vogel.

»Ich will es sehen«, sagt Fride.

»Es dauert nicht lange«, sagt Vogel. »Wenn ihr immer noch fahren wollt, nachdem ihr es gesehen habt, dann helfe ich euch.«

Nanna schaut Fride an.

»Nein. Wir fahren jetzt. Wenn du uns den Weg nicht zeigen willst, finden wir ihn eben alleine«, sagt Nanna und fängt an zu packen.

»Das könnt ihr nicht machen. Ihr kommt nicht vorbei«, sagt Vogel.

»Wir fahren trotzdem«, sagt Nanna entschlossen.

Vogel schaut sie an und schüttelt den Kopf.

»Ich zeige euch den Weg, aber wenn ihr die Sperren seht, werdet ihr umdrehen.«

»Danke«, sagt Nanna und geht aus der Tür.

Sie schaut sich noch einmal um, aber dann dreht sie sich schnell wieder zurück. Sie will nicht weinen. Nicht, solange Vogel es sehen kann.

Er bleibt stehen und betrachtet die Bilder, die an der Wand hängen.

»Sind das eure Eltern?«, fragt er.

»Ja«, sagt Nanna.

»Ich war schon mal an einem Ort wie diesem«, sagt Vogel.

Nanna nimmt das Foto von der Wand und packt es in ihren Rucksack. »Jetzt gehen wir«, sagt sie und folgt Fride und Vogel ins Treppenhaus.

Sie schließt die Tür ab und steckt den Schlüssel zusammen mit dem Ehering in ihre Tasche, dann gehen sie die Treppe hinunter.

Nach dem vielen Regen ist die Straße noch nass und die Luft frisch und feucht. Nur langsam wärmt die Sonne den Asphalt, vom Boden steigt ein beinahe durchsichtiger Dampf auf. Vogel fährt vor ihnen her. Er hält eine Hand ausgestreckt als Zeichen, dass sie nicht überholen sollen. Ab und zu bleibt er fast stehen, fährt dann aber doch weiter. Er biegt nicht mehr so oft in Seitenstraßen ab, sondern hält sich an die große Allee, auf der sie am ersten Tag gekommen sind.

Nanna schaut in den Himmel. Es kommt ihr vor, als hätte sich ein dünner, schwarzer Schleier über die ganze Stadt gelegt.

»Was ist das?«, fragt sie.

»Das waren die Schatten«, sagt Vogel gereizt. »Das habe ich euch doch gesagt. Wir fahren nur so nah ran, bis ihr es gesehen habt.«

»Brennt es?«, fragt Nanna.

»Ja. Das machen sie immer.«

Die Allee macht einen sanften Bogen und als sie um die Kurve kommen, führt die Straße direkt in eine Wand aus schwarzem Rauch, der in den Himmel quillt.

Vogel hält an.

»Habt ihr genug gesehen?«

Nanna starrt in den dicken, schwarzen Rauch. Die Brücke ist abgesperrt. Mit Autos und Bänken, die dazwischen aufgestapelt wurden.

»Sehen alle Brücken so aus?«

»Ja.«

»Wir müssen umkehren«, sagt Nanna und schaut Fride an.

»Können wir uns nicht vorbeischleichen oder ein Boot nehmen? Nanna kann gut rudern«, sagt Fride.

»Nein, das geht nicht«, sagt Vogel und lächelt Fride an. »Sie würden uns sehen.«

Er wendet sein Rad.

»Kommt, wir müssen hier weg.«

Sie lassen den Rauch hinter sich und Vogel benutzt wieder Seitenstraßen, bis sie schließlich an einer Kreuzung neben einem Geschäft mit Blumenbildern an der Wand anhalten.

»Habt ihr jetzt Lust, mein Geheimnis zu sehen?«, fragt er.

»Ich weiß nicht«, sagt Nanna.

»Es wird euch gefallen«, sagt Vogel.

»Ich habe Lust«, sagt Fride und lächelt.

Sie hat es nicht kapiert, denkt Nanna. Sie hat nicht kapiert, dass Papa vielleicht schon tot ist und es nichts gibt, wohin wir zurückkehren können.

»O.k.«, sagt Nanna und sie fahren weiter.

Sie hofft, dass das, was Vogel ihnen zeigen will, so fantastisch ist, wie er behauptet. Dass es wirklich alles verändern kann.

»Ist es nicht unheimlich, so ganz alleine in der Stadt zu wohnen?«, fragt sie ihn.

»Nein. Das hier ist meine Stadt. Hier bestimme ich. Ich weiß über alles Bescheid, was hier vor sich geht. Nichts bewegt sich, ohne dass ich es erfahre«, sagt Vogel und lässt den Lenker los.

»Aber ist es nicht langweilig, wenn so gar nichts passiert?«

Vogel lächelt.

»Die Stadt ist nie dieselbe. Sie verändert sich ständig. Alles verändert sich. Stell dir vor, du wachst auf und schaust aus dem Fenster und die Stadt ist fast verschwunden. Begraben unter einer Decke aus Schnee. Stell dir das vor!«

»Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie sich Schnee anfühlt. Wir haben ihn nur durch das Periskop gesehen«, sagt Nanna.

»Ich würde gerne mal durch ein Periskop schauen«, sagt Vogel. »Das ist bestimmt spannend.«

Direkt vor ihnen taucht ein großes, weißes Gebäude mit einer Treppe und hohen Säulen auf.

»Das kenne ich«, sagt Nanna. »Ich war mal da und habe mir ausgestopfte Tiere angeschaut. Sind wir auf dem Weg ins Museum?«

»Nein. Nicht ganz.«

Sie fahren über einen offenen, gepflasterten Platz und weiter durch ein Tor. In der Gartenanlage hinter dem Gebäude erstreckt sich zwischen den Bäumen ein viereckiger Wasserspiegel. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein riesiges Glashaus, das sich mit Kuppeln und kleinen Spitzen in den Himmel wölbt.

»Dahin wollen wir«, sagt Vogel stolz.

Verwundert fährt Nanna auf das Glashaus zu. Von innen sind die großen Fenster beschlagen, sodass es unmöglich ist, reinzuschauen. Am Weg stehen noch mehrere kleinere Glashäuser. Sie halten vor dem Haupteingang. Die Türen sind mit Brettern vernagelt und mit einem gelben Kreis gekennzeichnet.

»Wir gehen auf der Rückseite rein. Durch den Maschinenraum«, sagt Vogel.

Fride und Nanna folgen ihm hinter ein graues Nebengebäude zu einer Metalltür. Vogel klettert in ein Loch im Boden und kurz darauf klickt es und er streckt seinen Kopf durch die Tür.

»Kommt rein.«

Von der Decke führen große Rohre in eine Maschine, die mitten im Raum steht.

»Da geht’s lang«, sagt Vogel und zeigt auf einen dunklen Schacht mit einer schmalen Leiter.

Er nimmt eine Taschenlampe von der Wand und leuchtet nach unten.

»Es ist nicht weit«, sagt er. »Aber man kann nie ganz sicher sein.«

Dann verschwindet er in der Dunkelheit und auch Fride und Nanna klettern in den engen Tunnel hinunter. Aus der Luke, die ins Glashaus führt, fällt mattes Licht und als sie wieder nach oben klettern, strömt ihnen ein schwerer, muffiger Geruch entgegen. Die Luft ist unangenehm feucht. Fast wie im Bunker, nur stickiger. Welke Palmen krümmen sich unter dem schrägen Dach und der Boden ist von braunen, glitschigen Pflanzenresten bedeckt. Der Geruch ist so schlimm, dass es Nanna übel wird. In der Mitte unter der Kuppel ist ein runder Teich mit grünem, schleimigem Wasser.

»Ist das dein Geheimnis?«, fragt sie.

»Ja.«

»Was soll das? Willst du hier wohnen?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Aber was denn dann?«

»Kommt mit«, sagt Vogel.

Er verschwindet zwischen zwei Palmen. Fride schlüpft sofort hinterher.

Nanna bleibt zwischen den groben, zerfaserten Stämmen stehen und starrt sprachlos auf ein paar üppige Pflanzen, die an einem Baum dahinter hochgebunden sind. Ihr Grün wirkt so unnatürlich und das Rot viel zu kräftig. Die Farben passen irgendwie nicht hierher. Die Blätter sehen gesund aus und die Stängel biegen sich unter der Last reifer Tomaten schwer nach unten.

»Sind die nicht schön? Ich habe sie eines Tages entdeckt, als ich mich im Frühjahr aufwärmen wollte. Hier drinnen wird es so schnell warm. Ich war schon oft hier. Aber an diesem Tag fiel mir etwas Grünes auf. Ein winzig kleines Blatt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also habe ich es gegossen, damit es nicht wieder stirbt.«

Fride starrt die roten, glänzenden Tomaten an, die in dicken Rispen an der Pflanze hängen. Sie streckt eine Hand aus und berührt sie.

»Vorsichtig Fride, nicht anfassen«, sagt Nanna.

Fride zieht die Hand zurück.

»Darf ich eine haben?«, fragt sie und schaut Vogel an.

Er nickt.

»Ja, nimm ruhig.«

Fride streckt wieder die Hand aus, pflückt eine kleine Tomate und steckt sie in den Mund. Sie schließt die Augen und kaut.

»Oh, ist das gut«, murmelt sie. »Du musst auch probieren, Nanna.«

Vogel pflückt noch eine Tomate und reicht sie ihr. Sie platzt, als Nanna hineinbeißt und der süße Saft füllt ihren Mund.

»Versteht ihr nicht?«, sagt Vogel. »Die Pflanzen werden wieder wachsen. Aber ich brauche Hilfe. Vielleicht gibt es noch andere Pflanzen, die hier drinnen gedeihen würden.«

Nanna schaut Fride an und lächelt.

»Vogel hat recht«, sagt sie. »Die Natur wird wieder wachsen.«

»Wie schön!«, sagt Fride.

Nanna betrachtet die grünen Stängel zwischen all den welken Pflanzen. So wird es auch draußen wieder aussehen. Kleine Knospen, die zwischen all dem Toten sprießen werden.

»Müssen wir heute wieder fahren?«, fragt Fride.

Nanna zögert.

»Wir bleiben bis morgen«, sagt sie. »Wir müssen nachdenken.«

Vogel zieht eine Tüte aus der Tasche und pflückt die reifen Tomaten.

»Wir sollten zusehen, dass wir zu Hause sind, bevor es dunkel wird«, sagt er nach einer Weile.

Nanna und Fride packen ein paar Tomaten in die Jackentaschen und dann gehen sie. Sie gleiten durch die Straßen. Zum ersten Mal spürt Nanna, wie das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Angst ein wenig nachlässt. Sie sieht ein Gewächshaus voller Pflanzen, Blumen und Obst vor sich. Wie das Leben sich langsam ausbreitet. Gras und Bäume werden grün. Blumen öffnen sich, Insekten fangen an zu summen und die Welt füllt sich wieder mit Leben. Nach und nach zeigen sich die ersten Vögel und im Meer schwimmen wieder Fische. Und schließlich kehren die Menschen zurück. Sie schaut nach hinten zu Fride und denkt, dass sie beide alt werden können. Dass sie in einer Wohnung wohnen, zur Schule gehen und spielen werden.

»Worüber lächelst du?«, fragt Vogel.

Nannas Lächeln wird noch breiter und dann fahren sie zurück zum Baumhaus.