9
Dicker Nebel umgibt das Haus, als Nanna aufwacht. Alles ist grau und es ist unmöglich, draußen irgendetwas zu erkennen. Sie ist erleichtert. Dann kann niemand sehen, wo sie sind, jedenfalls nicht heute. Warum hat sie geblinkt? Warum konnte sie es nicht einfach lassen? Sie hat doch gesehen, dass das Blinken aus der Stadt kam.
Fride liegt zusammengerollt auf dem Sofa vor dem Fenster und Papa schläft noch in derselben Haltung wie am Abend unter der karierten Decke. Wäre sein gurgelndes Atmen nicht, sie würde glauben, er wäre tot.
Im Wohnzimmer ist es klamm und kalt. Nanna wickelt sich in die Decke und geht zum Kamin. Da es neblig ist, ist es bestimmt in Ordnung, wenn sie Feuer macht. Sie schichtet ein paar Holzscheite auf und nimmt eine alte Zeitung zum Anfeuern. Auf der Titelseite ist ein Foto von einem Auto und ein paar Menschen, die Fahrrad fahren, abgebildet. Sie sehen aus, als hätten sie Ferien. Nanna zerknüllt die Zeitung und wirft sie in den Kamin. Vorsichtig zündet sie ein Streichholz an. Flammen lodern hoch und verbreiten Wärme und Licht in dem dunklen Zimmer.
Sie bleibt eine Weile vor dem Feuer sitzen, dann geht sie nach unten, um etwas zu essen zu holen. Der Bunker scheint ihr mit einem Mal ganz fremd, als wäre es lange her, dass sie hier gewohnt haben. Alles ist so dunkel, eng und feucht. Die Tür zum Vorratsraum steht offen. Sie nehmen es nicht mehr so genau damit. Die Regale sind leer und Nanna muss suchen, bis sie etwas findet, das sich zum Frühstücken eignet. Makrele in Tomatensoße. Nein. Dosenananas. Ja. Das sollte gehen. Sie nimmt ein paar Dosen und geht nach oben. Fride sitzt neben Papa und versucht, ihn zu wecken. Sie kitzelt ihn unterm Kinn, aber er rührt sich nicht.
»Ich hole ein Glas Wasser«, sagt Nanna und geht in die Küche.
Sie öffnet den Schrank. Die alten weißen und blauen Tassen stehen ordentlich gestapelt in den Fächern. Daneben liegt ein kleiner Stoffbeutel. Nanna nimmt ihn und schnuppert. Mama, denkt sie. Der süßlich-würzige Duft von Tee. So roch es in ihrer Wohnung. Sie steckt den Beutel in die Tasche ihres Pullis, dann dreht sie den Wasserhahn auf und lässt das Wasser lange laufen, bevor sie das Glas füllt und damit zurückgeht.
Zuerst reagiert Papa nicht, als sie ihm ein wenig Wasser in den Mund fließen lässt. Aber dann fängt er an zu husten, erst vorsichtig, dann kräftiger und kräftiger. Er rudert mit den Händen, dann steht er hastig auf und rennt in die Küche. Nanna hört, dass er sich übergibt, aber sie bringt es nicht über sich, zu ihm zu gehen. Fride tapst ihm nach, während Nanna sitzen bleibt.
Nach einer Weile kommen Papa und Fride zurück. Er kneift die Augen zusammen und zittert. Nanna legt mehr Holz in den Kamin. Papa legt sich auf das Sofa und sie setzen sich zu ihm. Sein einer Fuß zittert und zuckt gegen Nannas Oberschenkel. Sie legt eine Hand auf seinen Fußrücken und reibt ihn vorsichtig. Der Kamin wärmt sie.
»Wie geht es dir?«, fragt Nanna.
»Besser«, flüstert Papa.
»Gut. Wirkt die Medizin?«
»Ja. Jetzt wirkt sie.«
»Als mir schlecht war, war es genauso, nur umgekehrt«, sagt Fride. »Du darfst nicht aufstehen«, fährt sie streng fort.
»Nein. Das darf ich nicht«, sagt Papa und lächelt.
»Aber wo hast du dich angesteckt?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist passiert, als ich die Belüftung reparieren wollte. Im Belüftungsschacht hatte sich etwas verfangen, das komisch gerochen hat. Als ich es wegschieben wollte, habe ich mich geschnitten.«
»Wann wirst du wieder gesund? Wir brauchen Essen. Es ist fast nichts mehr da«, sagt Nanna.
»Ja genau. Genau so ist es«, sagt Papa.
»Was meinst du?«
»Die Medizin, die ich genommen habe, war der Rest von damals, als ihr die Krankheit hattet, unmittelbar nachdem wir hierhergekommen waren. Wäre ich damals krank geworden … Ich weiß nicht, was dann aus uns geworden wäre«, sagt Papa und schüttelt matt den Kopf.
»Aber wenn wir Medizin haben, wieso haben denn die anderen keine bekommen?«
»Es gab nicht genug.«
»Aber wir haben genug?«
»Nein. Es sind nur noch ein paar Tabletten übrig und ich brauche mehr.«
»Und woher sollen wir die bekommen?«
»Das meinte ich eben«, sagt Papa und dieselbe hoffnungslose Traurigkeit legt sich über ihn. »Der einzige Ort, an dem es Medizin gibt, ist die Stadt.«
»Ich kann in die Stadt gehen«, sagt Nanna.
Papa nickt, als hätte er darauf gewartet, dass sie das sagt.
»Ihr müsst zusammen gehen.«
»Aber alleine bin ich schneller. Ich kann Fride nicht mitnehmen. Sie ist viel zu klein.«
»Bin ich nicht«, sagt Fride.
»Ja, aber …«, sagt Nanna.
»Fride muss mitgehen. Es ist sicherer, wenn ihr zu zweit seid.«
»Aber es wäre wirklich besser, wenn ich alleine gehen würde. Was ist, wenn wir nicht rechtzeitig zurückkommen?«
»Du nimmst Fride mit. Ich habe genug Medizin, bis ihr wieder hier seid«, sagt Papa streng.
»Wo finden wir die Tabletten?«
»In unserer Wohnung.«
»Und wie finden wir die Wohnung?«
»Ich zeichne euch eine Karte und erkläre euch den Weg. Es ist nicht schwer zu finden. Aber jetzt muss ich mich ein bisschen ausruhen. Danach packen wir. Meine tüchtigen Mädchen«, sagt er und legt sich wieder hin.
Nanna und Fride sitzen ratlos neben ihm. Niemand sagt etwas. Nanna fragt sich, was ihnen unterwegs begegnen wird und wie es wohl in der Stadt sein mag. Da ist jemand, jemand, der Blinksignale aussendet, andere Menschen, das weiß sie. Aber sie weiß nicht, ob diese Menschen in der Stadt freundlich sind, und jetzt, wo er so krank ist, traut sie sich nicht, ihrem Vater etwas davon zu erzählen. Wenn er davon wüsste, würde er sie niemals gehen lassen. Sie denkt daran, dass Papa alleine nicht zurechtkommen wird. Und Fride. Wie sollen sie das schaffen? Der Weg ist so weit und sie sind doch noch nie irgendwohin gelaufen. Sie sind immer mit dem Auto gefahren, wenn sie auf die Insel wollten, und die Fahrt war ihr jedes Mal so lange vorgekommen. Wo sollen sie unterwegs schlafen? Was ist, wenn sie nicht wieder nach Hause kommen? Oder wenn sie nach Hause kommen und Papa ist tot?
»Müssen wir lange wandern?«, fragt Fride.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Ist es gefährlich?«
»Nein. Da ist ja niemand außer uns«, sagt Nanna und versucht, sich zusammenzureißen. »Wir müssen nur in die Stadt, holen Essen und Medizin und gehen dann direkt zurück zu Papa.«
»Und wie kommen wir an Land?«, fragt Fride.
»Wir rudern«, sagt Nanna und weiß selbst nicht, wie das alles gehen soll. Vielleicht erreichen sie nicht mal das Festland. Solange sie nur nicht aufs offene Meer treiben. Aber sie haben keine Wahl.
So sitzen sie eine Weile schweigend da, bis Fride unruhig wird und anfängt, im Zimmer hin und her zu laufen.
»Wollen wir Papa nicht bald wecken?«, fragt sie.
»Noch nicht«, sagt Nanna und schaut zu ihrem Vater, der mit offenem Mund daliegt und leise schnarcht.
Fride geht zu ihm und streichelt ihm über die Wange. Nanna sagt nichts.
»Papa. Du musst aufwachen«, sagt Fride.
Papa macht langsam die Augen auf und lächelt.
»Das hat gutgetan«, sagt er.
»Was sollen wir mitnehmen?«, fragt Nanna.
Papa hustet und richtet sich auf dem Sofa auf.
»Ihr braucht nicht viel. Im Hauswirtschaftsraum liegt ein blauer Rucksack. Nehmt den«, sagt er. »Packt euch etwas zum Anziehen ein, Wollpullover, Taschenlampe, Wasserflasche und etwas zu essen.«
»Wir könnten unser Spielzelt mitnehmen«, sagt Fride.
»Ihr braucht kein Zelt. Ihr könnt in leerstehenden Häusern schlafen, aber seid vorsichtig, wenn ihr reingeht. Wartet lange genug, um sicher zu sein, dass es wirklich leer ist. Jetzt geht nach unten und schaut, was ihr findet«, sagt Papa.
»O.k.«, sagt Nanna und geht in den Bunker.
Sie holt den Rucksack und sucht die Sachen zusammen, die Papa aufgezählt hat. Sie wünschte, das Packen würde länger dauern, aber sie brauchen wirklich nicht viel. Im Vorratslager ist sowieso nicht viel zu holen. Ananas und Leberwurst in Dosen, ein paar Tüten Nüsse und verschiedene Kekse. Mamas Tee steckt sie in die Seitentasche. Fride packt auch. Ein paar Spiele, Buntstifte und Spielkarten. Nanna sagt nichts, aber es hilft ihr, dass Fride so geschäftig herumwuselt. Es scheint fast so, als würde sie sich freuen. Sie packen alles in den Rucksack und gehen nach oben. Papa ist wieder eingeschlafen. Fride streichelt ihm über die Wange und er öffnet die Augen ein wenig.
»Meine Mädchen«, sagt er und drückt sie fest an sich. Nanna und Fride pressen sich an ihn, sie atmen seinen Geruch ein und spüren die Wärme seines Körpers.
»Wenn ihr in die Wohnung kommt, dann seht im Klavier nach. Dort hat Mama die Medizin versteckt. So haben wir es abgesprochen. Der Schlüssel liegt im Blumentopf neben der Tür. Das war unsere feste Stelle. Kannst du dich erinnern, Nanna?«
Nanna nickt.
»Aber wie sollen wir die Wohnung finden?«, fragt Nanna.
»Unsere Wohnung ist nah bei dem großen Park. Ich zeichne euch eine Karte. Fride, bring mir den Block und einen Stift aus dem Bücherregal«, sagt Papa.
Fride holt die Sachen und Papa fängt mit zittriger Hand an zu zeichnen.
»Seht ihr? Hier ist die Insel und das ist der Fjord. Dort auf der anderen Seite ist die Anlegestelle. Da rudert ihr hin, dann folgt ihr dem Weg bis zur Schnellstraße und dort geht ihr nach links. Die Schnellstraße führt direkt in die Stadt. Wenn ihr angekommen seid, folgt ihr der großen Hauptstraße. Haltet nach dem Park Ausschau«, sagt er, dann legt er sich wieder hin. Der Stift fällt auf den Boden. Er macht eine Pause und sagt: »Alles wird gut. Ich warte auf euch. Geht jetzt, ich komme zurecht.«
Fride fängt an zu weinen. Papa schaut Nanna traurig an und nimmt sie beide noch einmal in den Arm.
»Geht jetzt. Und pass gut auf Fride auf«, flüstert er Nanna ins Ohr.