Junge

18

»Schau!«, ruft Fride und richtet sich im Anhänger auf.

Tief unter ihnen sehen sie den Fluss und die Stadt mit ihren geraden Straßen. Zwei Brücken führen über den Fluss und mitten in der Stadt ist ein großer Park mit langen Alleereihen toter Bäume und großen, braunen Rasenflächen. Die Autos in den Straßen stehen still und der Hafen ist leer, abgesehen von ein paar wenigen Schiffen, die halb unter Wasser am Kai liegen. Das große Riesenrad auf dem Rummelplatz unten am Fluss rührt sich nicht.

Nanna schaut zu dem Park. Alles erscheint ihr plötzlich so deutlich, jetzt, wo sie es wiedersieht. Sie erinnert sich daran, dass sie sonntags oft im Park waren. Sie schauten sich die Statuen an und hörten den Straßenmusikanten zu. Kauften Eis und Apfelkuchen.

»Oh, ist die groß. Hier muss es Medizin geben. Ich weiß es«, sagt Fride.

»Ja, das muss es.«

»Ist das ein Rummelplatz?«, fragt Fride und zeigt zum Riesenrad.

»Ja. Ich war dort.«

»Können wir hingehen?«

»Nein. Nicht jetzt. Wir müssen erst in die Wohnung. Wenn wir an der nächsten Brücke sind, müssen wir nur noch immer geradeaus zum Park fahren.«

Nanna schaut nach unten. Auf beiden Seiten der Brücken sind große Straßensperren errichtet. Lastwagen und Zäune.

Ein warmer Wind weht vom Meer herüber und die Sonne steht groß und dunkelgelb am Himmel. Nanna lässt die Bremsen los und sie rollen bergab. Als sie die Häuser am Straßenrand sieht, kommt es ihr vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. Als wären alle Menschen auf einen Schlag verschwunden und hätten alles so zurückgelassen, wie es war. Auf den Wäscheleinen hängen zerlumpte und von der Sonne ausgeblichene Kleider und auf einem großen Spielplatz liegen überall verstreut Spielsachen herum. Es scheint fast so, als könnte die Stadt jeden Moment wieder zum Leben erwachen. Es fehlt nicht mehr als eine kleine Bewegung, dann ist die ganze Stadt wieder wie vorher. Jederzeit könnten die Autos losfahren und Menschen aus den Häusern treten.

Nanna schaudert. Die Stille ist unheimlich. So viel Leben, das hier sein sollte, ist verschwunden. Im Wald, wo es nur sie und Fride gab, war es angenehmer. Hier sind sie so viel kleiner und hier sollten so viele andere sein.

An der Brücke bleiben sie stehen. Ein Lastwagen mit einem großen gelben Kreis versperrt die Fahrbahn. Davor stehen grüne Militärfahrzeuge und Absperrgitter. An einer Seite gibt es einen schmalen Durchgang. Fride klettert aus dem Anhänger und geht zu einem Schaufenster, in dem Musikinstrumente ausgestellt sind.

»Hier ist es komisch«, sagt Fride. »Wie in einem Traum. Alles ist da, aber wir sind die Einzigen, die rumlaufen und sich das anschauen können.«

Nanna geht zu ihr.

»Ja. Hier ist es wirklich sehr komisch. Es ist ganz anders, als ich es in Erinnerung habe. Ich erinnere mich an Gerüche und jede Menge Menschen und Lärm. Stattdessen ist es still und riecht nach Meer und Wald. Das passt irgendwie nicht.«

»So schöne Instrumente«, sagt Fride.

»Ja. Aber du kannst dich auf das Klavier in der Wohnung freuen. Mama hat immer darauf gespielt.«

»Ist das wahr?«

»Ja.«

»Was glaubst du, wo die ganzen Menschen sind?«

»Sie müssen weggegangen sein, so wie wir. Oder sie sind …«

Nanna will das Wort nicht sagen. Nicht hier in der Stadt, wo eigentlich Leben sein sollte. Sie betrachtet das Schaufenster. Die Instrumente sind so hübsch dekoriert. Das Fenster ist dreckig und das Sonnenlicht wirft ein Muster aus kleinen Schatten auf die Instrumente. Drinnen sieht alles aus wie früher.

Die Häuser sind dunkel, die Fenster und Türen verschlossen. Der Fluss fließt ruhig unter der Brücke. Sonst ist alles still.

»Jetzt gehen wir«, sagt Nanna und nimmt Fride an der Hand.

Sie sind fast am Fahrrad, als Fride stehen bleibt und sagt: »Aber da ist ja der Vogel! Dann habe ich doch nicht geträumt. Schau mal, Nanna!«

Nanna dreht sich langsam um. Auf dem Schornstein eines Hauses steht ein Schatten. Eine schwarze Silhouette gegen die Abendsonne. Der Schatten breitet zwei schwarze Flügel aus und heult ein seltsames Heulen. Dann dreht er sich ein wenig und das Licht verändert sich.

Es ist kein Vogel. Es ist ein Junge. Ein Junge mit zerfetzten Lumpen, die an seinen Armen herunterhängen. Er steht ganz still, die Hände in die Seiten gestützt und starrt sie an. Dann heult er wieder und verschwindet auf der Rückseite des Dachs.

»War das ein Junge?«, fragt Fride.

»Ja«, sagt Nanna.

Jetzt taucht der Junge hinter dem Haus auf und rennt auf sie zu. Mitten auf der Straße bleibt er stehen und schaut sie an. Seine Gesichtszüge sind hart und werden fast ganz von einer Kapuze verdeckt. Sein Blick wandert zwischen Nanna und Fride hin und her. Dann macht er einen Schritt nach vorne. Als wollte er losrennen.

»In den Anhänger, Fride«, ruft Nanna. »Lass uns in Ruhe!«, brüllt sie den Jungen an, so laut sie kann.

Er antwortet nicht, sondern kommt noch einen Schritt näher.

Fride springt in den Anhänger und Nanna lenkt das Fahrrad zu der Öffnung in der Brückensperre. Sie zwingt sich, ruhig an der Absperrung vorbeizufahren, um nicht mit dem Anhänger hängen zu bleiben. Als sie den Lastwagen passiert haben, erhöht sie das Tempo und folgt der großen Allee, die in die Stadt führt. Als Nanna sich das nächste Mal umdreht, ist der Junge verschwunden.

Sie fahren in der Straßenmitte. Ab und zu versperren Autos den Weg. Die Schaufenster und Restaurants sind dunkel. Nanna schaut sich immer wieder um. Es ist niemand zu sehen, aber sie können unmöglich wissen, ob er ihnen gefolgt ist oder nicht. Sie fahren in die Dämmerung und Nanna wartet fast darauf, dass die Straßenbeleuchtung angeht, aber es wird nur immer dunkler und dunkler und schließlich müssen sie anhalten.

Nanna biegt in eine schmalere Seitenstraße ab. Die Stadthäuser ragen mit ihren unzähligen dunklen Fenstern hoch in den Nachthimmel. Sterne funkeln und werfen ein fahles Licht auf die Straße.

»Schau«, flüstert Nanna. »An dem Haus da drüben steht ›Hotel‹.«

Das Hotel liegt am Ende der Straße. Nanna lenkt das Fahrrad durch die Zufahrt neben dem Eingang in einen dunklen Innenhof. Sie verstecken Rad und Anhänger hinter ein paar Mülltonnen und gehen die kleine Treppe zu einer Hintertür hoch. Durch ein Fenster kann Nanna vage Küchenschränke und Herde erkennen. Sie drückt vorsichtig gegen die Tür und schiebt sie auf.

»Hier kommen wir rein«, flüstert sie.

»Wo sollen wir uns verstecken?«, fragt Fride.

»Im Keller vielleicht?«

»Nein. Das will ich nicht.«

»Dann gehen wir ganz nach oben. Da ist es am sichersten, glaube ich. Wir können vom Fenster aus die Straße beobachten.«

Nanna nimmt die Taschenlampe aus dem Rucksack und schaltet sie an. Sie gehen durch die Küche in einen Speisesaal. Die Tische sind aufeinandergestellt und die Stühle stehen aufgestapelt an der Wand. Als sie raus an die Rezeption gehen, macht Nanna die Taschenlampe aus. Aber der kleine Platz und die Straße vor dem Haus sind leer. Hastig schlüpft sie hinter die Theke und holt einen Zimmerschlüssel.

»Wir müssen hoch in den fünften Stock«, flüstert sie und geht zur Treppe.

»Ich glaube nicht, dass hier jemand ist«, sagt Fride.

»Ich auch nicht.«

Alle Türen im Flur sind geschlossen und der dicke Teppich dämpft ihre Schritte. Nanna liest die Zimmernummern.

»Wir müssen da lang«, sagt sie.

»Hier gibt es aber viele Zimmer«, sagt Fride. »Hat da überall jemand gewohnt?«

»Nein. Oder ja. Hier haben die Leute gewohnt, wenn sie Urlaub hatten.«

»Hast du auch hier gewohnt?«

»Nein. Natürlich nicht. Aber ich war schon in anderen Hotels. Deshalb weiß ich, wo die Schlüssel sind. Jetzt sind wir da«, sagt Nanna und schaltet die Taschenlampe wieder aus.

»Wieso machst du das Licht aus?«, flüstert Fride.

»Ich will nicht, dass der Junge weiß, wo wir sind. Für den Fall, dass er uns gefolgt ist.«

Sie schleichen sich in das Zimmer, das schwach vom Mondlicht erhellt wird. Wie dunkle Schatten stehen die Möbel an der Wand. Nanna schließt die Tür ab und flüstert:

»Wir müssen irgendwas vor die Tür schieben. Sei still und geh nicht ans Fenster.«

Vorsichtig schieben sie eine Kommode und ein paar Stühle vor die Tür, dann setzen sie sich auf den Boden.

»Hast du Hunger?«, fragt Nanna.

»Nein«, sagt Fride. »Ich bin müde.«

»Was hast du vorhin gemeint, als du gesagt hast, du hättest doch nicht geträumt? Hast du den Jungen schon mal gesehen?«

»Ja. Er stand oben auf der Brücke, als wir da geschlafen haben.«

»Ich habe ihn auch gesehen. Aber ich dachte, ich hätte mich geirrt, weil ich so müde war. Wieso hast du nichts gesagt?«

»Ich dachte, ich hätte geträumt. Und dann habe ich mich nicht getraut. Hätte ich was gesagt, wären wir weglaufen. Oder du hättest mir nicht geglaubt«, sagt Fride und fängt an zu weinen.

Nanna nimmt sie in den Arm.

»Alles wird gut. Aber wenn du das nächste Mal etwas siehst, dann sagst du es mir. Einverstanden?«

Fride nickt.

»Wer ist dieser Junge? Er ist doch ein Junge?«, fragt Fride.

»Ja. Er ist ein Junge. Aber er sah sehr wild aus.«

»Denkst du, er ist gefährlich?«

»Ich weiß es nicht. Wollen wir uns nicht hinlegen?«

»Denkst du, er ist uns gefolgt?«, fährt Fride fort.

»Nein. Und selbst wenn, hier sind wir sicher. Hier kommt er nicht rein. Jetzt müssen wir schlafen.«

Dann legen sie sich in das große, gemachte Bett.

Fride kuschelt sich ganz dicht an ihre große Schwester. Nanna liegt wach und starrt in den bläulichen Schimmer an der Decke. Die Geräusche der Stadt von früher sind fort. Es ist so still.

»Ich kann nicht schlafen«, sagt Fride und schaut Nanna an.

»Aber das musst du«, sagt Nanna und legt den Arm um ihre Schwester.

»Ich muss immerzu an diesen Jungen denken. Vielleicht sind da draußen ja noch mehr? Papa hat doch immer gesagt, dass böse Menschen kommen können. Deshalb haben wir uns doch so lange versteckt.«

»Denk jetzt nicht mehr daran«, sagt Nanna. »Denk daran, dass wir in der Stadt sind. Denk daran, wie Papa sich freuen wird, wenn wir mit der Medizin nach Hause kommen.«

»Ja«, sagt Fride und drückt sich noch fester an Nanna.

»Soll ich dir eine Geschichte von Plim erzählen?«, fragt Nanna.

»Ja«, flüstert Fride.