Junge

11

Langsam gehen sie auf das Haus zu. Wenn jemand kommt, müssen sie rennen. Rennen, so schnell sie können, zurück in die Dunkelheit und Stille des Waldes. Aber nichts rührt sich und sie schleichen vorsichtig weiter. Über der Tür ist ein Fenster, das aussieht wie ein Fächer. Nanna sieht, wie aufgeregt Fride ist. Überhaupt scheint ihre Schwester keine Angst zu haben: Sie steht trippelnd vor der Tür und versucht, durch das verhängte Fenster neben der Treppe zu schauen. Nanna drückt prüfend auf die Klinke, die nach unten gleitet. Sie öffnet die Tür und gemeinsam betreten sie das Haus.

Im stockfinsteren Flur schlägt ihnen feuchter Schimmelgeruch entgegen.

»Warte hier«, flüstert Nanna.

Sie lauscht und atmet ruhig.

»Ich glaube, es steht leer.«

»Mir gefällt es hier«, sagt Fride. »Ich hoffe, wir finden was zu essen. Ich habe Hunger.«

»Ich auch«, sagt Nanna.

Sie holt ihre Taschenlampen aus dem Rucksack, schaltet das rote Nachtlicht an und dann fangen sie an, das Haus zu erforschen. Alles wirkt unberührt. Im Esszimmer liegt eine Häkeldecke auf dem Tisch, in der Mitte steht eine große Suppenschüssel. Die Küche ist aufgeräumt und die Schranktüren sind geschlossen. Die Kissen auf dem Sofa im Wohnzimmer sind hübsch geordnet und die Fernbedienung liegt oben auf dem Fernseher.

»Was ist das?«, fragt Fride.

»Das ist ein Fernseher«, antwortet Nanna.

»Der sieht anders aus als auf den Bildern.«

»Das stimmt, er ist moderner als die Fernseher in den Büchern, die wir haben. Er sieht so ähnlich aus wie der, den wir in der Wohnung hatten.«

»Können wir ihn ausprobieren?«

»Hier gibt es keinen Strom.«

»Oh«, sagt Fride. »Wie dumm.«

An der Wand zur Küche hängen Fotos von kleinen Kindern und Teenagern, ein Brautpaar ist zu sehen und alte, strenge Gesichter in schwarz-weiß.

»Glaubst du, das sind die Leute, die früher hier gewohnt haben?«, fragt Fride.

»Ja, bestimmt.«

»Das ist komisch«, sagt Fride. »Dass die hier gewohnt haben, und jetzt sind wir in dem Haus.«

»Ja«, sagt Nanna und schaut die Bilder an. »Das ist komisch.«

Auf einem der Fotos sitzen zwei kleine Kinder in einem aufblasbaren gelben Planschbecken, daneben steht ein Mann und füllt das Becken mit einem Gartenschlauch. Alle lachen. Sie sehen so fröhlich aus.

»Lass uns nachsehen, ob wir was zu essen finden«, sagt Nanna und geht in die Küche.

Sie durchsucht gründlich alle Schränke, aber in den meisten stapeln sich nur Teller und Gläser. Erst als sie den Schrank über dem Herd öffnet, strömt ihr ein süßlicher Geruch entgegen.

»Schau mal Fride. Rosinen. Ich glaube, Nüsse sind auch da. Und hier. Kekse.«

Nanna dreht sich um und merkt, dass Fride verschwunden ist. Sie schaut durch eine offene Tür in ein blaues Bad. Sie zieht den dunklen Duschvorhang beiseite, bevor sie ins Wohnzimmer leuchtet und dann in den Flur. Da hört sie Frides leisen Gesang aus dem oberen Stock. Nanna geht die Treppe hoch. Alle Türen sind zu, aber unter einer von ihnen sieht sie den roten Lichtschein von Frides Taschenlampe und guckt in das Zimmer. Fride sitzt auf dem Boden und spielt mit ein paar Tierfiguren aus Plastik. Sie spricht mit künstlicher Stimme. Mal streng und erwachsen, mal kichert sie kindisch.

»Was hast du da gefunden?«

»Tiere«, antwortet Fride.

»Wie schön«, sagt Nanna und schaut sich um. Sie sind in einem Kinderzimmer mit Pferdepostern und Spielzeugkisten. Auf beiden Seiten des Zimmers steht je ein Bett und über dem einen hängt ein Mobile mit Zirkustieren.

»Ja, nicht wahr. Das ist ein schönes Zimmer«, sagt Fride.

»Wunderschön.«

»Was glaubst du, wer hier gewohnt hat?«

»Zwei Mädchen.«

»Denkst du, es stört sie, wenn wir mit ihren Sachen spielen?«

»Nein, das denke ich nicht.«

»Ist das ein bisschen wie das Zimmer, das wir beide hatten?«

»Ja, ein bisschen«, sagt Nanna.

»Ich will heute Nacht hier schlafen.«

»Wir können zusammen hier schlafen. Ich gehe runter, hole uns etwas zu essen und verschließe die Tür. Du kannst so lange hierbleiben.«

Nanna kommt zurück und legt die Sachen, die sie unten im Schrank gefunden hat, auf den Boden. Sie essen und Fride fragt nach dem Spielzeug im Zimmer. Nach den Puppen und Lego-Steinen, nach dem Drachen, der an der Decke hängt. Nach den Pferdebildern an der Wand. Ob Nanna schon mal ein Pferd gesehen hat? Und ob es niedlich war. Nanna antwortet, bis sie so müde ist, dass sie fast auf dem Boden einschläft.

»Wir sollten schlafen gehen«, sagt sie und steht auf.

»Ich muss mal«, sagt Fride.

»Jetzt?«

»Ja.«

»Dann müssen wir runtergehen. Das Bad ist neben der Küche. Ich war vorhin schon da.«

Sie schleichen sich die Treppe hinunter. Gerade so, als würde das ganze Haus schlafen, als wollten sie niemanden aufwecken. Bläuliches Mondlicht fällt durch die Fenster und wirft Schatten an die Wände. Nanna geht rasch mit Fride ins Bad.

»Kann ich hier Pipi machen?«, fragt Fride.

»Ja, kannst du.«

Nanna sieht sich im Spiegelschrank über dem Waschbecken. Einen ganz ähnlichen hatten sie zu Hause auch. Sie mochte den intensiven, fremden Geruch und liebte es, darin zu stöbern und sich Wattebäuschchen zu nehmen. Ganz unten lag immer ein Kästchen mit glänzenden Tablettenpackungen. Nanna reißt die Schranktür auf.

»Was machst du da?«, fragt Fride.

»Vielleicht gibt es hier Medizin«, sagt Nanna.

Es ist derselbe scharfe Geruch. Der Schrank ist voll mit Zahncremetuben, Rasierklingen und Watte. Ganz oben liegen ein paar Tablettenschachteln. Nanna nimmt jede in die Hand, aber auf keiner steht derselbe Name wie auf der Medizin für Papa.

»Hast du was gefunden?«, fragt Fride.

»Nein«, sagt Nanna und spürt wieder, wie müde sie ist. »Komm jetzt.«

Sie gehen langsam nach oben. Fride kriecht ins Bett und Nanna schließt die Tür ab. Sie legt sich neben ihre Schwester und macht die Augen zu.