Marylebone,
London
23. Juni 2011, 23.45 Uhr
Max ging nicht ans Telefon. Seit ihrer Landung in London hatte er sich nicht gemeldet. Es war fast schon Mitternacht, und London bestand aus Myriaden von Lichtern, die hinter den schmierigen Scheiben des Taxis aufblitzten, als es durch Marylebone rollte. Das Rütteln des Autos machte Kyle benommen, und er nickte ein. Er riss sich wieder aus dem Schlaf. Versuchte erneut, Max zu erreichen, und zum ersten Mal merkte er, dass er sich Sorgen um seinen Auftraggeber machte. Was war, wenn sie sich Max holten? Wenn Max sich nicht verteidigen konnte, was würde dann aus ihm werden? Gonal hatte kaum Chancen, sich zu retten, und Gabriel schien sich nach dem Ende zu sehnen. Armer Kerl. Diese Tageslichtsimulatoren schienen nicht die endgültige Lösung zu sein. Das war einfach armselig. »Wie kann das sein? Wie ist das nur möglich?«, fragte er sich immer wieder und steckte das Handy in die Tasche.
Im gleichen Moment klingelte es. Er riss den Reißverschluss der Jackentasche auf und zerrte das Telefon heraus. Finger Mouse.
»Um Gottes willen, Kyle, das ist ziemlich schräges Zeug, was ihr da liefert.«
»Du hast es also gekriegt?«
»Dan hat’s vorbeigebracht. Er schien ziemlich deprimiert zu sein. Hast du ihn zu hart rangenommen? Habt ihr euch verkracht?«
»Kann ich dir jetzt nicht erklären, aber falls irgendwas …« Er hielt inne. Auf einmal hatte er eine Idee und war wie elektrisiert. »Hör zu. Ich schicke dir die Rohschnitte von allen Aufnahmen. Du musst mit dem Schnitt schon ohne mich anfangen. Mach dich nicht verrückt. Schneid es einfach zusammen. So, dass es Sinn ergibt. Okay?«
»Wieso hast du’s denn so eilig?«
»Kann ich nicht erklären. Aber ich brauche einen Zusammenschnitt, den ich vorzeigen kann.«
»Wie lang?«
»Spielt keine Rolle.«
»Gut, mach ich. Aber das kostet dich was. Ich muss mir extra Zeit dafür nehmen.«
»Kein Problem. Danke, dass du es machst. Schick mir einfach eine Abrechnung. Nein, lieber nicht. Schick sie direkt an Revelation Productions.«
Das Taxi hielt ruckartig an. Als er die Quittung einsteckte, kam der Portier aus dem Gebäude und zog die Tür auf, damit Kyle aussteigen konnte. »Mr. Freeman?«
Kyle sah ihn irritiert an und nickte.
Der Portier lächelte freundlich. »Mr. Solomon erwartet Sie, Sir.«
Iris führte Kyle durch Max’ Wohnung, die ihm viel heller vorkam, als er es in Erinnerung hatte. »Wo sind die Glücksspielautomaten?« , fragte er scherzhaft, aber Iris antwortete nicht.
Die Tür zu Max’ Büro stand offen, aber das Zimmer war leer. Iris verlangsamte ihre Schritte nicht, als sie daran vorbeikamen. Sie passierten die weitläufige Küche mit ihren blau-weißen Kacheln und den zahllosen Edelstahltöpfen. Er warf einen Blick ins Bad. Darin war es so hell wie bei einem Optiker. Nur noch eine einzige Tür im Flur schien nicht mit breiten Riegeln verschlossen zu sein, an den anderen waren nagelneue Schlösser und Sicherheitsvorrichtungen angebracht. Max’ grell beleuchtete Welt schien kleiner geworden zu sein. Iris führte Kyle ins große Schlafzimmer.
»Mein lieber Kyle«, sagte Max. Er lag auf einem Berg von Kissen in einem Bett, das die Ausmaße von Kyles gesamter Einzimmerwohnung zu haben schien. »Vielen Dank, Iris.« Die Frau verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Kyle starrte Max an, dessen rötliche Gesichtsfarbe sich in einen milchigen Karamellton verwandelt hatte. Sein Gesicht wirkte sehr angespannt, als hätte er eine ganze Reihe schlechter Nachrichten bekommen. Nur sein dünner Hals und die schwächlich wirkenden Arme ragten unter der dicken Bettdecke hervor. Ein roter Seidenpyjama und eine Hausjacke mit Paisleymuster wärmten den ehemaligen Sektengründer zusätzlich.
An der einen Seite des Bettes stand ein Stuhl für den erwarteten Besucher bereit. Für ihn. Kyle schaute den Stuhl an und war aus dem Konzept gebracht. Typisch Max. Seit Kyle das Haus von Martha Lake in Seattle verlassen hatte, war er unglaublich wütend und hatte sich alle möglichen Racheakte überlegt, mit denen er diesen geschwätzigen, berechnenden, alten Mann quälen wollte. Aber jetzt war er hier und völlig entwaffnet angesichts der Hilflosigkeit seines Gegenübers. War das ein Trick?
»Bitte verzeihen Sie mir, Kyle. Ich fürchte, ich bin in keiner guten Verfassung.«
»Wer ist das schon?«
»Stimmt.«
»Erzählen Sie das mal Martha.«
Max’ Augen blitzten erschrocken auf. »Sie haben davon gehört ?«
»Malcolm Gonal hat’s mir gerade erzählt.«
»Was um Himmels willen hat Sie denn dazu gebracht, mit diesem verkommenen Menschen zu sprechen?«
Kyle ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen. »Sie sind wirklich unglaublich, Max. Machen Sie nur weiter mit diesem Blödsinn.«
Aber Max’ Verwirrung schien echt zu sein. »Entschuldigung?«
Kyle ahmte Max’ Tonfall nach: »Was um Himmels willen hat Sie denn dazu gebracht, diesen verkommenen Menschen anzuheuern, einen Film für Sie zu machen? Diesen Film!«
Max hob kraftlos die Hände und duckte sich, als täte Kyles laute Stimme seinen Ohren weh. »Das spielt doch jetzt kaum noch eine Rolle.«
»Für mich schon. Das ist der letzte Abschaum. Was sollte denn das ganze Gefasel, Sie würden meine Arbeit bewundern, als Sie mich angeworben haben, hm? Es war Ihnen alles scheißegal, sonst hätten Sie diesen Dreckskerl nicht als erste Wahl betrachtet.«
»Martha ist gestern verstorben, und Sie können jetzt nur an so etwas denken, Kyle? Sie erstaunen mich wirklich sehr.«
»Nein, nein, nein, fangen Sie bloß nicht wieder damit an. Verdrehen Sie nicht wieder alles. Das habe ich überhaupt nicht gemeint.«
»Was haben Sie denn gemeint? Falls ich Sie verärgert habe, weil ich ihn zuerst gebeten habe, den Film zu drehen, dann möchte ich mich hiermit dafür entschuldigen. Das Projekt wurde sehr eilig auf den Weg gebracht. Es war kaum Zeit für gewissenhafte Vorbereitungen. Und er hat den Ruf, ziemlich beharrlich zu sein.«
»Beharrlich! Es wäre alles reine Fiktion geworden. Sie hätten nicht mal eine Minute davon zeigen können.«
»Das ist mir jetzt auch klar. Es war ein Irrtum.«
»Warum haben Sie mir nicht sagen können, wen Sie vor mir verpflichtet hatten? Hm? Ich kann Ihnen sagen, warum. Weil das eine Totgeburt ist. Der Film sollte nie gezeigt werden. Niemandem außer Ihnen. Das war nie eine normale Produktion. Das ist eine Ermittlung. Gabriel hat das leider zu spät gemerkt, sonst wäre er nicht in diese beschissene Falle getappt. Wir sind alle Köder. Wir sind hier, um Feuer zu legen. Wir sind das Kanonenfutter.«
Ein Zittern lief über Max’ geschlossene Augenlider, und sein dünner Mund erschlaffte. Aber diese zur Schau gestellte Schwäche konnte Kyle nicht mehr bremsen. Oder war das nur eine Reaktion auf seine schlechten Manieren? »Ich wäre beinahe in diesem Motelzimmer in Amerika draufgegangen. Irgend so ein Ding wollte mich zerfetzen. Was es war, weiß wahrscheinlich niemand außer Ihnen, Max. Sie haben die entsprechenden Informationen bewusst zurückgehalten. Das Ergebnis ist, dass Gabriel ein Bein verloren hat und Gonal und ich beinahe aufgeschlitzt worden wären. Ist Susan auch eines Ihrer Opfer gewesen? Ist sie so gestorben? Haben ›die alten Freunde‹ bei ihr angeklopft?«
»Bitte, nicht so.«
»Ich hätte in Seattle beinahe einen Hirnschlag, gefolgt von einem Herzstillstand erlitten!« Kyle hielt inne. Um Max’ Augen herum schimmerten Tränen. Er wandte sich ab und starrte den Vorhang an, als wäre niemand mehr im Zimmer. Kyle senkte die Stimme. »Max, wer sind die? Was geht hier vor? Sagen Sie es mir, bevor es noch schlimmer wird. Max?«
Nach einer Weile drehte Max ihm wieder das Gesicht zu. Er bebte vor Erregung, konnte aber nur noch flüstern, seine Stimme versagte immer wieder. »Auch wenn es nicht so aussieht, Martha und Bridgette haben es noch gut getroffen. Susan auch.« Max schluckte und hob dann den Kopf, als wollte er sich tapfer verteidigen. »Viele andere … wurden mitgenommen. An einen anderen Ort.«
Max schien seine Trauer oder seinen emotionalen Zusammenbruch nicht zu simulieren. Aber seine augenscheinliche Offenheit rief in Kyle keine Befriedigung hervor. Ein anderer Ort. Diese rätselhafte Bemerkung sorgte dafür, dass ihm im wörtlichen Sinn die Spucke wegblieb. Die Atmosphäre im Zimmer wurde noch angespannter. Er hatte das Gefühl, er klammerte sich an einen Anker, der in rasender Geschwindigkeit auf den Meeresgrund sank. Bruchstücke aus seinen Träumen blitzten auf. Wurden ergänzt von neuen Eindrücken, die auf den Andeutungen von Gonal und Gabriel beruhten, und dem, was Martha Lake ihm gezeigt hatte.
»Was?« Das war das Einzige, was er hervorbrachte, und seine Stimme klang genauso dünn wie die von Max.
Max tupfte sich mit einem Taschentuch, das er unter der Bettdecke hervorgeholt hatte, die Tränen aus dem Gesicht. »Es tut mir sehr leid. Wirklich.« Sein Blick wanderte zu der Karaffe auf dem Nachttisch. »Wären Sie so nett?«
Kyle stand auf, um die Getränke einzugießen. »Keine faulen Ausreden mehr, bitte. Raus mit der Wahrheit, Max. Ich bleibe so lange hier, bis ich alles weiß.«
Max schniefte, setzte sich etwas aufrechter hin und versuchte, sich wieder zu fassen. »Natürlich. Aber es gab gute Gründe dafür, warum ich Ihnen bestimmte Dinge nicht mitteilen konnte. Zum einen hätten Sie mir nicht geglaubt. Die arme Susan hat es auch nie getan. Ich habe ja versucht, es ihr zu erklären.« Er senkte die Stimme. »Und Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, was Susans Ende betrifft.« Max erschauerte. »Ich sah ihre Zimmerdecke. Über ihrem Bett. Um Gottes willen!«
»Schon gut, Max.«
Max wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen, als wollte er auf diese Weise das Bild verbannen. »Der bloße Anblick dieses Eindringlings hat sie schon umgebracht. Ihre bedauernswerte Tochter dachte, es sei ein Wasserfleck von einem Rohrbruch. Können Sie sich vorstellen, was sie von mir gedacht hätte, wenn ich versucht hätte, ihr zu erklären, was ihrer Mutter eine so große Angst einjagte, dass sie daran gestorben ist? Was hätten andere Leute davon gehalten? Sie hätten mich für wahnsinnig erklärt. Dies ist nichts, auf das man irgendeine Autorität ansprechen könnte, nicht mal die Kirche ist dafür zuständig. Sie haben ja genug gesehen, um das zu verstehen.«
»Sie haben uns alle in Gefahr gebracht. Dabei wussten Sie …«
»Kyle! Das stimmt nicht! Für mich hat sich das auch erst nach und nach enthüllt, genau wie für Sie.«
»Das ist doch dummes Geschwätz.«
»Glauben Sie, was Sie wollen.« Max klang jetzt so müde, wie Kyle sich fühlte. Er griff nach seinem Glas mit Brandy und trank einen Schluck. Dann musste er husten. »Vielleicht habe ich einige Aspekte etwas früher herausgefunden als Sie und sie für mich behalten, weil diese Informationen ganz offensichtlich nicht zu gebrauchen waren. Aber ich hätte auch nie geglaubt, dass wir einmal an diesen Punkt kommen würden. Dass sie … dass sie dies alles bewirken kann.«
»Wer? Was bewirken?«
»Wir werden zerstört, weil wir das schlimmste Verbrechen gegen sie begangen haben. Wir haben sie verlassen. Das ist die Rache. Ihre Vergeltung.«
»Sprechen Sie etwa von Schwester Katherine, Max? Aber die ist tot. Sie ist 1975 gestorben.«
Max schien diese Bemerkung keinen Kommentar wert zu sein. Er sprach weiter, als würde er mit sich selbst reden. »Wenn man ein schlimmes, inhumanes Verbrechen verübt hat, was macht man dann mit den Beweisen? Man zerstört sie. So verhalten sich Tyrannen. Das war schon immer so.«
»Ich verstehe kein Wort mehr, Max.«
Max schaute Kyle an. Es war dieser typische Blick, mit dem ermattete, weise Menschen die Jungen und Unerfahrenen ansehen. »Diese Angelegenheit muss Sie nicht länger beschäftigen.«
»Was meinen Sie denn damit?«
»Hören Sie, was ich dazu zu sagen habe. Bitte. Tun Sie mir diesen einen letzten Gefallen, Kyle. Ich kann nur hoffen, dass Sie und Dan … heil aus allem herauskommen. Ich dachte, ich wäre der Einzige, der mit ihr verbunden ist und den sie auf diese widerliche Art zerstören kann. Weil ich zu ihrer Gruppe gehörte. Aber als ich Sie um Ihre Hilfe bat, lief es darauf hinaus, dass auch Sie zum Gejagten wurden. Das habe ich nicht in Betracht gezogen.«
»Ich dachte, das hätten Sie.«
Max blickte seine Hände an, die nervös über das Betttuch glitten. »Vielleicht … vielleicht war mein Drang, die Wahrheit zu ergründen und mich vor diesem Fluch zu schützen, größer als meine Rücksichtnahme auf andere. Das gebe ich gern zu, wenn Sie sich dann besser fühlen.«
Kyle hätte am liebsten einen Stuhl genommen und Max damit den Schädel eingeschlagen, so sehr ging ihm dessen Selbstmitleid auf die Nerven. Er holte tief Luft und trank den Brandy in einem Zug aus. Dann musste er aufstoßen und hätte ihn beinahe wieder ausgespuckt. »Jetzt kommen wir endlich auf den Punkt, Max. Jetzt erzählen Sie mir beinahe die Wahrheit. Können Sie damit bitte noch ein Weilchen fortfahren, damit ich herausfinde, was zum Teufel hier eigentlich vorgeht und was mit mir passieren wird, wenn ich in meine armselige Wohnung zurückkehre und heute Nacht ins Koma falle? Das Koma der totalen Erschöpfung, weil Ihr Film mich völlig aufgerieben hat. Dieser Zustand wird mich dann daran hindern, mich gegen dieses Ding zu verteidigen, das die Fähigkeit hat, durch Wände zu gehen! Wir reden hier davon, dass mein Leben in Gefahr ist, verdammt noch mal!«
Max schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug, zuckten sie nervös. »Ich werde Ihnen morgen Ihr gesamtes Honorar überweisen. Geben Sie Dan seinen Anteil, und kümmern Sie sich um ihn. Sehen Sie es als eine Entschädigung dafür an, in was Sie hineingezogen wurden. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass das Material, falls Sie in der Lage sein sollten, es zu schneiden, noch immer Eigentum von Revelation Productions ist. Sie sind also nicht berechtigt, es irgendjemandem zu zeigen. Egal wem. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich es für den Vertrieb freigebe.«
»Sie sind doch überhaupt nicht in der Position, Forderungen zu stellen.« Die Aussicht auf den totalen finanziellen Ruin hatte seine letzten beiden Jahre geprägt. Und es kam ihm nur allzu passend vor, dass das nun plötzlich am Ende seines Lebens anders werden sollte. Die Ironie des Ganzen verschlechterte seine Laune noch mehr, falls das überhaupt noch möglich war.
»Nein, aber mein Anwalt ist in dieser Position, wenn es nötig ist. Er hat Anweisungen, wie er mit dem Film umgehen soll, wenn ich … wenn über meine Zukunft entschieden wurde. Und das wird bald der Fall sein. Sehr bald.« Max brachte die letzten Worte kaum über die Lippen, und das bisschen Blut, das unter seiner blassen Haut überhaupt noch floss, schien sich noch tiefer in seinen Körper zurückzuziehen. »Wenn Gott will, dann bekommen Sie Ihren Film. Eines Tages. Und diese Geschichte …«
»Meinen Film? Max, ich werde den morgigen Tag womöglich nicht erleben. Es geht hier doch nicht mehr um diesen verdammten Film. Und so wie Ihre Wohnung aussieht, mit all den verrammelten Zimmern, würde ich sagen, dass es auch nicht mehr lange dauern wird, bis ein paar Ihrer alten Freunde bei Ihnen im Bett liegen.«
Max ballte kraftlos die Fäuste. »Bitte … sagen Sie so etwas nicht.«
»Sie sind wie die schlimmste Sorte Politiker. Sie haben mir immer noch nicht alles erzählt. Wir verschwenden hier unsere Zeit, Max!«
»Ich wollte ja jetzt darauf zu sprechen kommen.« Max holte tief Luft. »Morgen fliegen Sie nach Antwerpen. Und Sie …«
»Halt, halt, stopp! Antwerpen? Was hat denn Holland damit zu tun?
»Belgien.«
»Dann halt Scheiß-Belgien. Ich fliege nirgendwo hin. Haben Sie mir eben überhaupt zugehört?«
»In Antwerpen gibt es eine Galerie. Sie befindet sich im Privatbesitz einer Familie …«
»Max!«
»Verflucht noch mal, Kyle! Jetzt seien Sie doch endlich still!«
Kyle schwieg völlig verblüfft.
Max riss sich zusammen. »Danke. Also, die Galerie. In dieser Galerie befindet sich ein Gemälde, das Triptychon eines flämischen Meisters. Niclaes Verhulst. Ich glaube nicht, dass Sie schon mal von ihm gehört haben. Er war der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Und er war ein Überlebender. Was er durchgemacht hat, kann man nur einigermaßen nachvollziehen und verstehen, wenn man seine Werke studiert. Es ist unmöglich, es auf eine andere Art zu beschreiben.«
»Gemälde …«
Max hob die Stimme. »In diesem außergewöhnlichen Werk sind die Antworten auf Ihre Fragen zu finden. Das Gemälde wurde seit den Zwanzigerjahren nicht mehr reproduziert. Damals wurden einige Fotos davon gemacht und als Miniaturen in einem Buch veröffentlicht, das schon lange vergriffen ist. Es gibt keine anderen Hinweise auf die Existenz dieses Triptychons. Das Gemälde wurde völlig vergessen. Die wenigen, die von seiner Existenz wissen, sind davon überzeugt, dass es im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Der Besitz dieses Kunstwerks hat oftmals … zu unglücklichen Vorfällen geführt. Aber ich kann Ihnen eine private Besichtigung ermöglichen.« Kyle versuchte, ihn zu unterbrechen, aber Max hob eine Hand und fuhr noch lauter fort. »Die Familie, in deren Besitz es sich befindet, ist ziemlich exzentrisch, genauso wie ihre Sammlung, aber im Laufe meiner Recherchen über den Tempel der Letzten Tage sind wir Freunde geworden. Und ich konnte feststellen, dass diese Familie durchaus bereit ist zu glauben, was wir alle erlitten haben. Tatsächlich ist es einer der Hauptgründe, weshalb sie das Gemälde der Öffentlichkeit vorenthält.« Max sah jetzt nicht mehr zu Kyle, sondern schien in unangenehmen Erinnerungen zu versinken. »Denn die gleichen Fehler wurden schon einmal begangen. In anderen Jahrhunderten. Und das mehr als nur einmal seit der Vollendung des Werkes.«
Kyle schüttelte den Kopf. »Max, ich habe keine Zeit, mich in Belgien herumzutreiben und nach einem Gemälde zu suchen. Hören Sie, Max … wir sind ernsthaft in Gefahr … in Lebensgefahr. Jetzt. Heute Nacht.«
»Wenn das so ist, dann ist unsere Zusammenarbeit beendet, und Sie können jetzt gehen.«
Kyle ließ sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Das war nicht gut. Hierherzukommen und zu erwarten, dass Max ihm die Wahrheit sagte, hatte überhaupt nichts gebracht, sondern nur zu neuen Lügen geführt. Zu weiteren Rätseln. Und nun sollte er noch eine Reise antreten. Wie lange noch? Bis er tot aufgefunden wurde, Mund und Augen weit aufgerissen vor Entsetzen? Oder überhaupt nicht gefunden. Er erschauerte. »Und wenn ich mich jetzt aus allem zurückziehe, bin ich dann gerettet? Und Dan? Geht es ihm dann wieder gut?«
Max schaute ihn ratlos an und hob die Hände in einer Geste, die zu bedeuten schien: Ich kann doch nichts daran ändern. »Ich hoffe es … aber ich weiß es nicht.«
Kyle grinste böse. »Erpressung also.«
»Ich würde es eher als einen Vorschlag bezeichnen.«
Kyle stand hastig auf. Max zuckte zusammen. Kyles ganzer Körper zuckte vor Wut. Am liebsten wäre er vor lauter Ärger und Verzweiflung in Tränen ausgebrochen. »Sie haben mich in diese Geschichte reingezogen. Und Sie glauben allen Ernstes, dass ich noch weiter für Sie arbeite? Sie sind genauso. Wie sie. Wie Katherine. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.«
Max verzog das Gesicht. »Sagen Sie das nie wieder! Nie!«
»Wo ist denn der Unterschied? Sie benutzen Menschen. Als wären wir zu nichts anderem gut. Sie interessieren sich nur für sich selbst.«
Max kniff die Augen zusammen. Sein Lächeln war nur noch eine Grimasse. »Mein lieber Kyle. Sie haben hier die Gelegenheit bekommen, Wunder zu erleben. Und Sie können darüber eine wirklich erstaunliche Dokumentation drehen. Ich habe Ihnen eine Arbeit verschafft, die Ihrem Leben einen Sinn gibt. Alle großen Unternehmungen bergen Risiken, oder? Sie haben doch gesehen, was da noch immer in der Clarendon Road haust. Sie hätten dieses Filmprojekt abbrechen können, bevor Sie sich auf den Weg in die Normandie gemacht haben. Die meisten hätten das getan, niemand hätte Sie deswegen getadelt. Aber Sie haben das nicht gemacht. Sie sind sogar nach Amerika geflogen, nach allem, was Sie in der Fermette von diesem Miststück gesehen haben. Ich bin wirklich sehr beeindruckt von Ihnen, Kyle. Und ich gehe jede Wette ein, dass Sie Dan ganz schön zureden mussten, um ihn zum Mitkommen zu bewegen.«
»Sie sind ein Arschloch.«
»Und vielleicht sind die Schrecken der Letzten Tage ja immer noch erträglicher als eine weitere Nachtschicht in diesem Lagerhaus.«
»Woher wissen Sie denn davon …«
»Ich habe Ihre Gebete erhört, Kyle. Ihre finanzielle Situation ist erbärmlich, habe ich gehört. Sie werden für den Rest Ihres Lebens Hochzeiten filmen und für ein paar Pfund Kurzfilme machen. Und das Einzige, was ich getan habe, war, Ihnen eine Chance zu geben, das zu ändern. Damit Sie nicht einer von diesen nur auf YouTube publizierten Möchtegern-Künstlern sind. Sie waren total im Arsch, und ich habe Ihnen auf die Beine geholfen, Kyle.«
»Ich gehe jetzt.« Kyle drehte sich um und ging zur Tür.
»Kyle!«
Kyle griff nach dem Türknauf.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Kyle: Ich habe das Geld und genug Filmmaterial. Also muss ich einfach nur losrennen und so lange rennen, bis das alles weit hinter mir liegt. Aber es gibt Orte, an denen Geld keinen Wert hat. Das Königreich der Narren, wie es Verhulst gemalt hat. Also, entweder Sie überlassen alles mir und hoffen darauf, dass es mir gelingt, sie zu besiegen. Oder Sie laufen davon. Aber wenn es mir nicht gelingen sollte, dann werden Sie einfach nur darauf warten, von ihnen eines Nachts im Dunkeln geholt zu werden, genau wie wir.«
Kyle drehte den Knauf.
»Bitte! Ich brauche Sie!«
Kyle hielt inne.
»Schauen Sie sich das Triptychon an. Dann werden Sie es verstehen. Alles verstehen. Das verspreche ich Ihnen.«
Kyle zog die Tür auf und ging hinaus.
»Kyle! Warten Sie! Bitte! Bitte. Die Geschichte. Ich muss Ihnen noch diese Geschichte erzählen. Sie sind doch dafür gemacht. Es liegt Ihnen im Blut.«
Und in diesem Moment merkte er, dass er gar nicht weglaufen wollte. Und er hasste sich dafür. Wie in einem Film, der schnell vorgespult wird, sah er die handelnden Personen vor sich: Susan White, Gabriel, Conway, Sweeney, Emilio, Martha Lake. Material, das er in drei Ländern gedreht hatte. Der grauenhafte Charakter dieses Rätsels, das sich vor seinen Augen darbot und entwirrte, zog ihn in seinen Bann. Er wusste jetzt, dass er sein ganzes Leben lang darüber nachgrübeln würde, was dort in der Wüste von Arizona wirklich passiert war. Er würde nie mehr richtig schlafen können. Und bei jedem Wasserfleck an der Wand würde er zusammenzucken, bei jedem Geräusch in einem Stockwerk über ihm erschrecken. Seine Gedanken und seine Träume, vielleicht sogar sein Körper, würden immer wieder an diese Orte gezogen werden, um nachzuschauen, zu forschen, zu ergründen, was da vor sich ging. Er würde die Wahrheit nicht ertragen. Aber er würde es auch nicht ertragen, im Ungewissen zu bleiben. Wie oft im Leben bot sich einem Filmemacher eine solche Gelegenheit? Dies war seine große Chance, endlich der zu werden, der er tatsächlich war. Jeder, der je an ihm gezweifelt oder seine Arbeit verspottet hatte, würde sehen, worauf es ihm ankam. Dies war sein Lebenswerk. Vielleicht sogar das Ende des Lebens. Er holte tief Luft. »Und falls, ich sage ausdrücklich falls ich dorthin gehe, um mir dieses Bild anzusehen – falls ich überhaupt noch so lange leben werde –, dann begreife ich alles? Dann werde ich alles wissen, was Sie auch wissen?«
»Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn Sie morgen dann zurückkommen – und Sie müssen zurückkommen, Kyle, Sie müssen –, dann werden Sie wissen, was bislang nur ich weiß, nämlich worum es sich bei Schwester Katherines Hinterlassenschaft handelt und wer die Blutsfreunde sind.«