8 Ball Motel,
Yuma
20. Juni 2011, Mitternacht
Kyles Kopf sank erneut auf die Tastatur des Laptops, der auf dem kleinen Tisch unter dem Fernseher stand. Ruckartig richtete er sich wieder auf und fuhr sich mit der Hand über den Mund. Über ihm flackerten die Bilder einer Nachrichtensendung.
Emilio Aguilars kleines rundes Gesicht erschien auf dem Laptop-Bildschirm, und seine sanfte Stimme mit dem leichten mexikanischen Akzent drang aus den Ohrhörern. Kyle lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
Gleich nach Tagesanbruch waren sie zurück in die Fortuna Hills gefahren, wieder in die Nähe der Mine, um den Besitzer der benachbarten Ranch zu interviewen. Kyle hatte erst die Hälfte des Gesprächs mit Aguilar geschnitten, und es dauerte nur noch sieben Stunden, bis der Wecker erneut klingelte und sie sich auf den langen Weg nach Phoenix machen mussten. Aber seit er mit der Arbeit angefangen hatte, nickte er ständig ein, und sein Bewusstsein wurde von einem komaartigen Zustand erfasst. Auf dem Flug von London nach Arizona hatte er auch nicht geschlafen, weil er die ganze Zeit an den Änderungen im Skript für die bevorstehenden Aufnahmen gearbeitet und sie mit dem Zeitplan und den Anmerkungen von Max abgeglichen hatte. Außerdem hatte er ständig Levines Letzte Tage zurate gezogen. Die zwei Tage in der Wüstenhitze hatten seine letzten Energiereserven aufgebraucht, und die beiden Biere, die er vorhin an der Bar getrunken hatte, hatten wie eine Beruhigungsspritze gewirkt. Nach dem Interview auf der Ranch war Dan schon am Tisch in einem Diner eingeschlafen. Sogar durch die Wand des Motelzimmers konnte Kyle ihn auf der anderen Seite schnarchen hören. Er klang wie eine klapprige Maschine, die dringend geölt werden musste.
Kyle hingegen wollte noch nicht schlafen gehen. Nicht nach dem, was Conway ihnen gestern erzählt hatte. Emilio Aguilars Aussage an diesem Morgen hatte das Ganze nur noch verschlimmert. Er hatte überhaupt keine Lust, die Augen zu schließen, nachdem er vergangene Nacht wieder abrupt aus seinen Träumen geschreckt war. Was genau er gesehen hatte, war ihm nicht in Erinnerung geblieben, aber er war dreimal im Dunkeln aufgewacht, mit einem Schrei oder nach Luft schnappend, und war der festen Überzeugung gewesen, dass kleine kalte Hände nach seinen eigenen gefasst hatten. Die Hände hatten versucht, ihn aus dem Bett zu zerren. Nachdem ihm das zum dritten Mal um vier Uhr morgens passiert war, hatte er sich unter die Dusche gestellt.
»Scheiße, es reicht.« Kyle rieb sich mit den Händen das Gesicht, bemüht, die Augen aufzuhalten. Er stand auf und streckte sich. Goss noch mehr Kaffee aus der kleinen Kanne in seinen Becher und fügte einen Schuss Wild Turkey hinzu. Dann setzte er sich wieder vor den Computer und spulte das Interview mit Aguilar zu der Stelle zurück, bei der er eingeschlafen war.
In den Produktionsnotizen von Max war die Criollo Ranch in der Nähe der Kupfermine in Bezug auf das Geschehen in der Nacht des Aufstiegs im Jahr 1975 besonders hervorgehoben worden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Sergeant Conway und sein Kollege Jiminez vor Ort ankamen und die Leichen fanden, war der inzwischen verstorbene Besitzer der Ranch, Ramirez Aguilar, der einzige Zeuge der nächtlichen Ereignisse gewesen – fast ein Augenzeuge sogar.
Irvine Levine hatte Ramirez Aguilar 1975 befragt, aber seine Erzählung las sich wie die Wahnvorstellungen eines Irren. Aus diesem Grund war Aguilars Glaubwürdigkeit als Zeuge im Rahmen der seriösen Ermittlungen stark beschädigt worden. Ramirez Aguilar hatte in einem der Dokumentarfilme aus den Siebzigern einen Auftritt gehabt, sich später aber geweigert, mit irgendjemandem noch einmal über diese Sekte zu sprechen.
Die Ranch lag drei Kilometer westlich der Blue Oak Kupfermine. Emilio Aguilar, der Sohn von Ramirez, erwartete sie bereits, um ihnen das Interview zu geben, das Max arrangiert hatte. Er hatte nur deshalb zugestimmt, weil er seinen Vater und dessen bizarre Zeugenaussage über die Vorgänge vor der Mordnacht in der Mine verteidigen wollte. Und wie Conway, das bekam Kyle auch noch mit, hatte er sich geweigert, für sein Interview Geld zu nehmen. Es ging also nicht allen nur ums Geld.
Der Ton war gut, weil Dan alles perfekt eingestellt hatte.
»Mein Vater hat oft mit uns über die Mine gesprochen. Der Tempel der Letzten Tage war wahrscheinlich das einzige Interessante, was all die Jahre, in denen er hier draußen lebte, passiert ist. Und im ersten Jahr hatte er sogar ziemlich gute Beziehungen zu diesen Leuten. Ich selbst kann mich an kaum etwas erinnern. Ich war gerade mal zwei Jahre alt, als sie herzogen und sich in der Mine einrichteten. Also muss ich wohl ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, als die Polizei kam und dort alles auf den Kopf stellte. Aber zu Hause hat mein Vater sehr oft über die Leute vom Tempel gesprochen. Manchmal, sagte er, waren sie sogar zu ihm gekommen, um mit ihm zu reden. Manchmal arbeiteten sie sogar auf seiner Ranch. Säuberten die Ställe. Fütterten die Pferde. Striegelten sie. Solche Sachen halt. Es waren junge Leute. Die waren gern in der Nähe der Pferde und konnten meinen Vater gut leiden. Mein Vater mochte die meisten von ihnen auch. Einige der Mädchen taten ihm leid. Er sagte, das seien doch eigentlich noch Kinder. Er machte sich Sorgen um sie. Immer wieder erklärte er mir und meinem Bruder, wie glücklich wir uns schätzen dürften, dass wir ein richtiges Zuhause hätten und nicht weglaufen mussten und uns so einem Hippie-Kult anschließen.
Und ab und zu kamen Leute vorbei und fragten nach dem Weg. Weil sie von der Mine und der Kommune da unten gehört hatten. Eine Weile kamen regelmäßig Autos und Busse. Damals sagte mein Vater, die seien alle auf der Suche nach etwas. Wollten was Aufregendes erleben. Andere waren ausgerissen, Sie wissen schon, weil sie mit ihren Eltern nicht klarkamen. So was halt.
Er erzählte uns, dass er manchmal Leute vom Tempel in der Wüste auflas. Damals veranstaltete er Reitausflüge für Leute aus der Stadt durch die Foothills und die Laguna Mountains. Das war seine einzige Arbeit, und wir hatten ja genug Pferde für solche Unternehmungen. Und dabei trafen sie dann immer wieder auf diese Leute vom Tempel, die in ihren Kutten herumliefen. Manchmal waren sie auch nackt. Auch die Mädchen. Sie hatten immer Hunde bei sich. Die sahen aus wie Wölfe. Schäferhunde, Huskys, manche waren ihnen zugelaufen.
Mein Vater fand diese Tempelleute ziemlich eigenartig. Sie waren immer sehr höflich. Richtig freundlich. Nur manchmal fingen sie an zu predigen und konnten nicht mehr aufhören.«
»Hat er Ihnen gesagt, wovon sie dann sprachen?«
Emilio lachte. »Mein Vater nannte das Hippie-Blödsinn. Sie sagten ihm, sie hätten die Welt bereits verlassen. Und dass die Welt sowieso bald untergehen würde. Solche Sachen. Überall in der Welt ginge es nur ums Ego. Krieg und Armut und Rassismus und Gewalt. Sie behaupteten, die letzten Tage stünden uns bevor. Die Zeichen dafür könnte man überall erkennen. Vietnam. Aufstände. Die Atombombe. Sie behaupteten, sie seien hierhergekommen, um alles, was sie gelernt hatten, zu vergessen. Sie wollten ihre Erziehung, ihre Familie, ihre Persönlichkeit und ihre Verantwortung loswerden. Sich von den Zwängen der Gesellschaft frei machen. Alles vergessen, was ihnen beigebracht worden war. Sie sagten, sie hätten nun eine neue Familie, eine neue Gesellschaft, die sie mit allem versorgte, was sie brauchten, nachdem sie sich von dem befreit hatten, was sie nicht benötigten. Jeder Mensch sei ein Gott. Sogar mein Vater, der überhaupt nicht besonders religiös war. Er lachte über das, was sie ihm erzählten. Sie suchten nach Gott in sich selbst, damit sie selbst göttlich werden konnten. Sie nannten sich untereinander Bruder oder Schwester irgendwas. Sagten, sie alle seien Kinder. Sagten, sie seien Tiere. Behaupteten, sie würden zu Engeln werden. Ziemlich verrückt. Sie nahmen ja auch ständig Drogen. Mein Vater dachte, sie wären immer betrunken. Er merkte es an ihren eigenartigen Augen, wenn sie high waren. Sie hatten diesen intensiven Blick, verstehen Sie. Und redeten verrücktes Zeug. Aber das waren nur die Drogen. Das wissen wir jetzt. Das haben wir von der Polizei und aus den Zeitungen erfahren.
Als ich dann älter wurde und darüber nachdachte, kam mir manches davon ziemlich cool vor. Ich fand die Geschichten von meinem Vater spannend. Trotz allem, was passiert war. Manchmal kampierten die Tempelleute in den Bergen, saßen am Lagerfeuer und sangen und redeten. Viele hübsche Mädchen, sagte mein Vater immer. Oder sie saßen einfach bloß da und glotzten in die Luft, irgendwo auf den Hügeln. Meditierten. Aber das war nur am Anfang so. Vor den Morden wurde alles anders.«
»Wie kam es denn dazu? Hat Ihr Vater etwas Genaueres darüber gesagt, was sich geändert hatte?«
»Das waren verschiedene Sachen. Zum einen kamen die jungen Leute nicht mehr zu uns, um sich mit den Pferden zu beschäftigen und uns bei der Arbeit zu helfen. Und auch wenn er in die Stadt ging, sah er sie dort nicht mehr. Vorher hatten sie immer ihre Zeitschriften und Bücher verkauft. In allen Städten und Dörfern der Umgebung erinnern sich noch sehr viele Menschen an die Tempelleute in ihren komischen Kutten. Die Leute aus der Generation meines Vaters.
Die Menschen haben den Hippies auch zu essen gegeben. Weil die Sachen aus den Mülltonnen hinter den Märkten und Läden holten und in ihren Schulbus und den VW-Transporter packten, um sie mitzunehmen. Manchen taten die jungen Frauen leid. Einige Hippie-Mädchen hatten ja Babys bei sich. Und sie aßen Müll. Obwohl Schwester Katherine so viel Geld hatte, mussten ihre Anhänger Müll essen.
Nach zwei Jahren ging es mit der Sekte bergab. Das muss so 1974 gewesen sein. Ab da änderte sich alles. Oder spätestens 1975. Mein Vater konnte nicht sehr gut schreiben, deshalb hat er sich nie Notizen gemacht. Manchmal traf er in den Bergen auf sie, wenn er eine Exkursion leitete, aber die Tempelleute gingen ihm dann aus dem Weg. Sie fingen auch an, Gewehre mit sich herumzutragen. Flinten. Behaupteten, sie würden damit auf die Jagd gehen. Aber diese Waffen machten meinen Vater nervös. Auch seinen Kunden gefiel das nicht. Einige von den Hippies kannte er ja von Anfang an. Er hatte gedacht, es seien seine Freunde, und nun wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Als hätten sie Angst vor ihm. Aber manche von ihnen hatte er zuvor noch nie gesehen. Er wusste auch nie, wie viele Menschen in der alten Mine überhaupt lebten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.
Und dann, eines Tages, kam ein Mädchen zu uns und bat um Hilfe. Sie behauptete, die anderen würden sie in der Mine gefangen halten. Sie hatte ihr Baby dort gelassen und wollte in die Stadt zur Polizei, damit die ihr Kind für sie zurückholen. Sie sagte, man hätte sie auserwählt, dem Tempel ein Kind zu schenken. Aber den Vater des Kindes könnte sie nicht leiden. Und man würde ihr das eigene Kind vorenthalten. Die Frauen dort, so sagte sie, dürften sich nicht aussuchen, mit wem sie ein Kind haben wollten. Man würde sie dazu zwingen. Das heißt, sie wurden vergewaltigt. Das Mädchen erzählte meinem Vater regelrechte Horrorgeschichten von dem, was in der Mine vor sich ging. Viele, die dort lebten, hätten Todesängste. Ein Zaun würde gebaut, um zu verhindern, dass jemand entwischte. Nur einigen wenigen wäre es noch erlaubt, in die Stadt zu gehen und mit dem Schulbus oder dem VW Sachen zu holen. Niemand sonst dürfe die Mine verlassen. Die meisten seien Gefangene. Die Kinder würden krank, aber niemand dürfe einen Arzt holen.
Auf dem Minengelände gab es einen Brunnen, aber keine Elektrizität. Kein Telefon. Es war nur eine Ansammlung von Hütten mitten im Dreck, aber sie nannten es ihr Paradies. Das Mädchen, das fortgelaufen war, sagte, die Sekte wäre unterwandert worden. Dass es Spione gäbe, dass alle ständig unter Beobachtung stünden. Die Brüder und Schwestern, die nicht einverstanden waren mit der Entwicklung, seien verschwunden. Den anderen sagte man, sie seien weggelaufen und hätten der Regierung irgendwelche Lügen erzählt, und nun würde die Polizei und das FBI und die CIA auf Schwester Katherine gehetzt. Sie seien Unruhestifter, die das Paradies zerstören wollten. Die wären alle total paranoid, sagte sie. Das Mädchen wusste nicht, was mit ihren Freunden passiert war, aber sie fürchtete, sie könnten getötet und in der Wüste begraben worden sein. Sie hatte so etwas gehört. Als die angeblichen Unruhestifter verschwunden waren, entschloss sie sich wegzulaufen: Und sie kam auf unsere Ranch, weil dies der Ort war, der der Kupfermine am nächsten lag. Jemand dort hatte ihr erzählt, dass mein Vater ein guter Mensch sei.
Aber ein paar von den Tempelleuten tauchten wenige Stunden, nachdem das Mädchen gekommen war, bei uns auf. Sie waren zu viert und trugen diese roten Kutten. Sie kamen mit dem VW-Bus. Sie fragten meinen Vater, ob er das Mädchen gesehen hätte. Schwester irgendwas. Priscilla, glaube ich. Sie versteckte sich im Haus bei meiner Mutter. Mein Vater sah, dass sie Gewehre im Wagen hatten, und er war ziemlich nervös. Er sagte ihnen, er hätte das Mädchen nicht gesehen, und die Hunde machten seinen Pferden Angst, und deshalb sollten sie gehen. Sie waren sehr höflich, aber mein Vater wusste, dass sie ihm nicht glaubten. Zwei der Männer gingen ums Haus herum, suchten in den Ställen, als würde die Ranch ihnen gehören. Die anderen beiden redeten weiter auf meinen Vater ein, aber er wusste ganz genau, dass die anderen hinter seinem Rücken alles absuchten.
Und dann kam das Mädchen. Dieses dumme Mädchen trat aus dem Haus, tränenüberströmt, und stieg in den VW. Danach haben sie nie mehr mit meinem Vater gesprochen. Er sagte, das sei ungefähr ein halbes Jahr vor den Morden gewesen.
Später kamen auch noch andere her. Flüchtlinge aus der Mine. Zwei Mädchen mit Babys kamen mitten in der Nacht hier an, und mein Vater hat sie sofort in die Stadt gefahren. Er wollte sie zur Polizei bringen, aber sie sagten, sie würden bestimmt Schwierigkeiten kriegen. Die Sekte sei auf irgendeiner Liste der Regierung. Und wenn sie zur Polizei gingen, würden sie garantiert im Gefängnis landen.«
»Das waren Martha Lake und Bridgette Clover.«
»Das stimmt. Aber er hat ihre echten Namen erst später in den Zeitungen gelesen. Sie hießen damals Schwester soundso und irgendwas.«
»Schwester Hestia und Schwester Everild.«
»Richtig. Ich weiß nicht, wie viele dort entkommen sind, bevor die Morde passierten. Die Sekte hat ja keine Listen geführt. Das brauchten sie gar nicht, erzählten die Mädchen meinem Vater, weil Schwester Katherine ihre Gedanken lesen konnte. Sie wüsste zu jeder Zeit alles über alle. Verrückt. Immer wenn mein Vater irgendwelche Sektenmitglieder sah, die aus dem Tal kamen oder die Mine verlassen hatten oder über Land gingen, auf dem Weg nach Yuma oder Ajo, dann hat er sie mitgenommen und in seinem Auto in die Stadt gebracht. Er sagte, sie hätten nichts bei sich gehabt. Nur ihre Kutten und die Sandalen. Kein Geld. Kein Wasser. Kein Essen. Nichts. Aber die beiden jungen Frauen mit den Babys, das waren die Letzten, die er von dort gesehen hat.
Als die Polizei ihm von den Morden berichtete, so erzählte meine Mutter, hätte mein Vater ganz lange geweint. Er war sehr traurig darüber. Weil sie die Kinder und das Mädchen nie fanden. Diese Priscilla, die sich bei uns verstecken wollte. Und er sagte meiner Mutter, dass er seine Familie auch in Gefahr gebracht habe. Dass die Tempel-Leute uns auch hätten umbringen können.«
»Hat Ihr Vater die Sekte jemals bei der Polizei angezeigt?«
»Sehr oft, ja. Er hat der Polizei von den Waffen und von den Flüchtlingen erzählt. Die Sektenmitglieder haben ja mitten in der Nacht in der Wüste geschossen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hörte er sehr viel Gewehrfeuer. Das war im letzten Jahr. Da hat er dann die Polizei alarmiert. Aber die sagten ihm, er solle damit aufhören. Sie hätten Wichtigeres zu tun, als auf eine Horde verrückter Hippies aufzupassen. Sie taten nichts, bis es schließlich zu spät war. Hier rauszufahren dauert ziemlich lang, und sie sind nur ein einziges Mal in die Mine gekommen, bevor die Morde passierten. Danach erzählten sie meinem Vater, die Hippies seien zwar verrückt, aber völlig harmlos. Ist das zu glauben? Harmlos!«
»Die Nacht, als die Polizei kam und die Morde entdeckte, was hat Ihr Vater darüber erzählt?«
»Er hatte Angst. Er sagte, dass die Dinge in der Mine völlig aus dem Ruder gelaufen wären. Und zwar schon seit längerer Zeit. Zu meiner Mutter sagte er immer: ›Ich wusste, dass das schlimm enden würde.‹ Und er hat recht behalten.«
»Hat er Ihnen gesagt, wie es alles anfing?«
»Oh, er sagte immer, dass alles mit den Hunden anfing, die sie dort in der Mine hielten. Und mit den Pferden hier. Die waren verängstigt wie bei einem schlimmen Gewitter. Wir hatten auch zwei Hunde, und die trauten sich nicht unter dem Küchentisch hervor. Meine Mutter sagte dann, die Hunde würden weinen. Sie winselten und schauten zur Decke.
Das mit unseren Tieren fing schon ein paar Monate vor der Mordnacht an. Die Hunde von den Tempelleuten bellten und heulten stundenlang drüben in der Mine. Und unsere Pferde und Hunde drehten total durch. Zwei Meilen weit entfernt. Einmal, erzählte mein Vater, wäre er in seinen Wagen gestiegen und sei dorthin gefahren, um von der Straße aus nachzusehen, was in der Mine vor sich ging. Sie hatten einen hohen Zaun drum herumgebaut, genau wie das flüchtige Mädchen gesagt hatte, mit Stacheldraht oben drauf. Es sah aus wie ein Gefängnis. Und die Hunde dort innerhalb dieses Zauns waren total durchgedreht. Aber mein Vater konnte keine Menschen sehen. Er sah nur die Hunde, die den Himmel anbellten und am Zaun entlangrannten, als würden sie einen Fluchtweg suchen.
Außerdem sagte er, das Eigenartigste wäre der Nebel gewesen. Es hatte geregnet, und das Mondlicht war nur sehr schwach, aber die Mine sei von einem schmutzigen Nebel bedeckt gewesen. Den hatte er schon aus einer Meile Entfernung von der Straße aus gesehen. Irgendwie gelblich und dick, wie weit entfernter Rauch. Und über den Dächern der Hütten hätte die Luft sich bewegt. Als würde sie in der Hitze flimmern oder sich in Wellen bewegen. Aber er konnte nicht sehen, wo der Nebel anfing und wo er endete. In den Gebäuden waren keine Lichter an. Auf dem Gelände brannten keine Feuer. Nichts. Er konnte nur die Umrisse der Hütten sehen und den Zaun und die Hunde, und über allem senkte sich dieser Nebel herab. Er stieg nicht nach oben, wie Rauch von einem Feuer, sondern bewegte sich nach unten, so hat er es beschrieben. Als wäre da ein Riss oder ein Loch im Himmel. Als käme der Nebel aus dem Inneren von etwas, das sich über der Mine geöffnet hatte.
Die Polizei sagte meinem Vater, der Nebel sei bloß Rauch von einer Feuerstelle gewesen, aber da brannte kein Feuer. Mein Vater war ja da und sah es mit eigenen Augen. Die Polizei hat es nicht gesehen, woher wollte sie also wissen, dass der Rauch von einem Feuer kam? Mein Vater ging nicht näher an die Mine heran, wegen dieses Nebels und weil die Luft sich in Wellen bewegte. Er blieb oben auf der Straße.
Das Gleiche passierte in der Nacht der Morde. Das war das vierte Mal, dass meine Eltern miterlebten, wie die Hunde drüben in der Mine durchdrehten. Und unsere Pferde hier wurden auch unruhig. Mein Vater ging auf einen der Hügel hinter unserem Hof und sagte, er könne in der Ferne wieder den Nebel sehen. Mitten in der Wüste in dem Tal, in dem die Mine war. Und als er von dort oben hinüberschaute, hörte er das Gewehrfeuer. Hunde bellten, und Menschen schossen herum. Das war schon unheimlich. Also kam er wieder ins Haus und rief die Polizei in Yuma an. Und er sagte ihnen, dass sie möglichst schnell jemanden herschicken sollten, weil irgendwas Übles auf dem Tempelgelände vor sich ging. Das war ungefähr um dreiundzwanzig Uhr. In der Mine werde geschossen, sagte er ihnen, und dass er den Eindruck habe, das Gelände würde brennen, und dort wären auch Kinder. Er sagte alles, was ihm in den Sinn kam, um die Polizei zum Herkommen zu bewegen. Er wusste ja nicht, was dort vor sich ging, aber er ahnte, dass es richtig schlimm war.
Mein Vater ging dann wieder auf den Hügel und wartete, bis er den Streifenwagen sah, der zur Mine fuhr. Er sagte, der gelbe Nebel hätte sich verflüchtigt, als die Polizei kam. Sie trafen ungefähr eine Stunde nach seinem Anruf ein. Zu diesem Zeitpunkt wurde dort nicht mehr geschossen. Aber … aber er konnte immer noch die Hunde hören. Sie winselten. So als wären sie richtig verängstigt. Und mein Vater sagte, die Hunde seien oben im Himmel gewesen und würden sich von der Mine fortbewegen. Das hat er gesagt.
Als die Zeitungsleute kamen und mit meinem Vater sprachen, schrieben sie dann alle, er hätte ein Ufo gesehen. Das hat er nie gesagt. Aber so kam die Ufo-Geschichte in Umlauf. Und die Polizei hat meinen Vater dann schlechtgemacht. Sie warfen ihm vor, er würde ihre Arbeit erschweren, indem er der Presse solche Geschichten erzähle. Das Gleiche passierte dann im Zusammenhang mit dem Buch Die Letzten Tage und dem Film, der darüber gedreht wurde. Alle behaupteten, mein Vater hätte ein Ufo gesehen. Deshalb hat er dann nie mehr mit jemandem über diese Sekte gesprochen, nur noch mit seiner Familie, bis zu seinem Tod. Wenn er heute noch lebte, würde er bestimmt nicht mit Ihnen über seine Erlebnisse in dieser Nacht sprechen. Ganz bestimmt nicht. Mein Vater war sehr verletzt, weil alle Lügen verbreiteten und ihn lächerlich machten. Deshalb rede ich überhaupt mit Ihnen. Weil ich will, dass das richtiggestellt wird. Wegen meines Vaters. Er war ein guter Mensch.«
Kyle wankte zum Bett. Legte sich halb hin, die Füße noch auf dem Boden. Rieb sich die Augen. Er musste dringend schlafen. Die Zimmerlampen waren an. Die Badezimmerlichter auch. Der Scheinwerfer von Max leuchtete grell wie ein Nuklearreaktor neben dem Bett. Der Fernsehschirm flimmerte. Er hatte alle Lichtquellen eingeschaltet, wie ein ängstliches Kind, und kam sich lächerlich dabei vor – bis er sich wieder an Details aus seinen Träumen erinnerte.
Egal wie erschöpft er war, er wollte auf keinen Fall schlafen. Vielleicht ein ganz kurzes Nickerchen? Dann wäre er morgen für den nächsten Aufnahmetermin wieder fit, er konnte ja die Lichter anlassen … Dan ist im Zimmer nebenan … das waren doch nur … Träume … kein Grund zur Sorge …
Halb verfallene Hütten in der staubigen Wüste. Die Mine. In einiger Entfernung erstreckte sich ein Zaun aus Holz und Stacheldraht über die ausgebleichte Ebene, über der ein eigenartiger Nebel waberte. Von irgendwoher aus dem staubigen Dunst drangen Vogelschreie zu ihm, einsam und verloren hing das Kreischen in der Luft.
Er drehte sich um und rannte auf die Hunde zu, die ihn anbellten. Er fand sie nicht, konnte nun aber die gedämpften Rufe von Kindern hören, die den Schreien der Vögel antworteten. Irritiert stolperte er in ihre Richtung, auf eine große Holzscheune zu, wo die Kinder in kleinen Bettchen lagen. Er kam nie bei ihnen an. Konnte sich auf seinen tauben Füßen nicht zwischen diesen rostigen, halb vermoderten Gebäuden hindurch bewegen. Die Mine und die Farm, eine einzige Ödnis.
Als er ein lautes, grässliches Quieken wie von einem Schwein vernahm, warf er sich zu Boden und duckte sich. Das wilde Getrampel dieses Viehs auf dem Holzboden des kleinen Steinhauses mit den vier rötlich glimmenden Fenstern dröhnte ihm entgegen. Das Haus wackelte angesichts der Wut dieses Monstrums.
Er weinte und bettelte darum, nicht in das kleine Haus schauen zu müssen, aber da merkte er, dass er schon durch ein Kastenfenster hineinspähte. Dort drinnen entdeckte er die Schwarz-Weiß-Fotos von Martha Lake und Bridgette Clover zwischen anderen Bildern von jungen Gesichtern mit Bärten und langen Haaren und sommersprossigen Gesichtern, die er nie vorher gesehen hatte. Die Fotos lagen auf einem breiten Bett mit einem samtenen Baldachin, der die Farbe von überreifen Trauben hatte. Auf dem Bett war eine Gestalt zu erkennen. Ihr kleiner, haarloser Kopf war ihm abgewandt. An der hinteren dunklen Wand sah er andere Menschen, die mit den Gesichtern zur Wand, die Köpfe gesenkt, auf dem Boden knieten. Sie suchten Schutz vor dem dichten, endlosen Regen, der vom Wind über die ausgetrocknete Landschaft getrieben wurde, ein Regen, der sich wirbelnd mit der Asche und dem Rauch vermischte, die von einem fernen, tiefrot leuchtenden Feuer herrührten. Rauchwolken wogten durch den schmierig wirkenden Himmel, und er wagte nicht aufzublicken.
Er ging los, um das Tor zu suchen, um von hier zu entkommen. »Ich mache nur einen Film«, sagte er verzweifelt lächelnd und musste sich gleichzeitig bemühen, nicht in Tränen auszubrechen, wie es zu dem nackten Kind mit den schmutzigen Füßen, das er war, gepasst hätte. Aber die Gestalt in der schwarzen Robe, die schweigend vor dem geschlossenen Tor stand, bewegte sich nicht. Das Gesicht im Innern der Kapuze konnte er nicht erkennen. Sie hielt zwei Hunde an der Leine, tatsächlich aber waren es zwei Männer auf allen vieren, deren Gesichter so knallrot angemalt waren wie ihre Fingernägel. Die Hunde-Männer bellten und versuchten, an ihm hochzuspringen.
Der Regen war jetzt ganz warm und leuchtete rot, wenn er auf die Haut traf. Vor dem Tor lagen zahllose Vögel vor seinen Füßen, ihre schwarzen Federn zerrauft vom rußigen Wind. Ihre Köpfe waren nur knochige Schädel, die Schnäbel standen weit offen. Die Frau mit der Kapuze grunzte wie ein Schwein.
Etwas versuchte, das Tor zu durchbrechen. Er konnte das Kratzen hören, das Schaben der Klauen auf dem rauen Holz. Etwas wollte hier zu ihm herein. Also schrie er laut auf …
… erwachte und starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Zimmerdecke. Auf die Leuchte mit dem runden Schirm aus Milchglas. Er setzte sich auf. Sah die Informationen für den Brandfall, die an der Tür hingen, den flackernden Fernsehschirm, den Schreibtisch und seinen Laptop, den Rucksack, den DAT-Rekorder. Motel-Zimmer. Kyle lag auf dem Bett. Er drehte sich zur Seite und sah auf seine Armbanduhr: Es war vier Uhr morgens.
Er streifte sein schweißgetränktes T-Shirt ab und warf es auf den Boden. Zog seine Socken und seine Jeans aus. Stolperte unter die Dusche. Auf solchen Schlaf konnte er verzichten. Noch zwei Drehtage, und dann war die Sache erledigt. Vorbei.
Er schaute sich die Wände im Badezimmer genau an: Alles war sauber. Er drehte die Dusche an und ließ das heiße Wasser auf sich prasseln. Währenddessen entschied er, seine Träume von nun an lieber für sich zu behalten. Dan hatte schon genug am Hals.