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Aus Maximillian Solomons Produktionsnotizen:

Das ursprüngliche Zentrum der »Letzten Zusammenkunft« steht inzwischen zur Vermietung frei und liegt zwischen verpachteten Grundstücken. Ich habe die Erlaubnis eingeholt, im Inneren filmen zu dürfen. Aufnahmen von außen und innen sind meiner Ansicht nach überaus wichtig für unser Projekt. Ein ursprüngliches Mitglied der »Letzten Zusammenkunft« wird sich an der unten angegebenen Adresse mit Ihnen treffen und ist bereit, ein Interview zu geben und alles zu erzählen, was damals im Jahr 1967 bei Gründung der Gruppe geschehen ist. Sie heißt Susan White und ist auch als Schwester Isis bekannt (siehe Biografie-Teil). Die Dreharbeiten dort können am 11. und 12. Juni stattfinden.

 

Clarendon Road, Holland Park, London
11. Juni 2011, mittags

»Das dort drüben mit der roten Tür war unsers. Die Tür war damals nicht rot. Sie wurde später so gestrichen.« Sie fing an zu reden, kaum dass sie einen ihrer kleinen Füße auf das Pflaster gesetzt hatte, und deutete mit einer schmalen Hand auf das dreistöckige, vornehme georgianische Haus. Ihr Taxi, mit dem sie aus Hackney gekommen war, rauschte davon, die schwarze Karosserie glänzte unter dem bewölkten Himmel.

Kyle wandte sich wieder dem wilden weißen Haarschopf zu, der den gebeugten Körper von Susan White krönte. So wie sie aussah, musste sie einem normalen Menschen ziemlich verrückt vorkommen. Wie ein Clown. Dieses Wort kam Kyle sofort in den Sinn. Er hatte das Gefühl, sein freundliches Lächeln könnte sich jeden Moment in lautes Lachen verwandeln. Er vermied es, Dan anzusehen, der zunächst auch überrascht und dann belustigt reagierte. Dan wandte ihm seinen breiten Rücken zu und tat so, als müsste er die Kamera einstellen. Beim geringsten Blickkontakt wären sie garantiert in brüllendes Gelächter ausgebrochen.

Susan White hatte ihren grünen Lidschatten total übertrieben aufgetragen, und da sie so gut wie keine Lippen hatte, wirkte der Lippenstift wie ein aufgemalter grellroter Mund. Unter ihrem wirren grauen Haar war die blasse Kopfhaut deutlich sichtbar. Offenbar hatte sie viel Zeit auf ihr Aussehen verwendet und wirkte in ihrer kuriosen Mischung aus modischem Schick und Flohmarkt-Klamotten ziemlich eigenartig. Nur wer ganz genau hinsah, konnte den Unterschied zwischen den verschiedenen Elementen ihres Outfits erkennen. Das Sonnenlicht, das durch das dichte Laub der Bäume drang, durchlöcherte die Schatten um sie herum mit hellen Flecken und ließ ihr amethystfarbenes Kleid gescheckt wirken. Ein türkisfarbener Schal, den sie um ihre mageren Schultern geschlungen hatte, komplettierte das Erscheinungsbild.

Eine ganze Weile, so lange, dass es schon peinlich wirkte, starrte Susan White mit triefenden Augen die Fassade des gegenüberliegenden Hauses an, als könnte sie sich nicht davon lösen.

Kyle sagte etwas, um zu verhindern, dass er ein dämliches Grinsen aufsetzte. »Hallo, Susan. Oder soll ich Sie lieber Schwester Isis nennen?«

Sie drehte sich abrupt zu ihm um, starrte ihn missbilligend an und schien ihn geradezu anfallen zu wollen. Um ihren faltigen Hals hingen Ketten mit Kristallen, deren Klimpern sich mit dem klappernden Geräusch der Holzarmbänder an ihren Handgelenken vermischte. »Nennen Sie mich niemals so!«

Kyle zuckte zusammen. Die ältere Frau warf demonstrativ einen misstrauischen Blick auf das Haus, als wollte sie damit ihre heftige Reaktion auf die Nennung ihres Sektennamens entschuldigen. »Nicht hier. Bitte. Susan ist absolut in Ordnung.«

»Also dann Susan.« Kyle fasste nach ihrer kalten Hand. Die Haut fühlte sich an wie Papier und war sehr durchsichtig. Ein Netz dunkler Venen unter weichem Fleisch, aber die Haut war glatt wie Lammleder. Er schaute ihr in die strahlend blauen Augen. »Das hier ist Dan. Mein Komplize.« Er nickte Dan zu, der sich umgewandt hatte, als sein Name genannt wurde. Sein Gesicht war rot angelaufen und ihm standen Tränen in den Augen, weil er einen Lachanfall unterdrücken musste.

»Können Sie es spüren?«, fragte sie und schien wieder von der Präsenz des Gebäudes in Anspruch genommen.

So läuft der Hase also. Die übertreibt total. Er hoffte nur, dass ihm die Enttäuschung nicht allzu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Es war ein langweiliger Tag in einer Straße im Westen Londons, die nichts weiter ausstrahlte als Ruhe und Vornehmheit, und das sicher zu jeder Jahreszeit. Jedenfalls passte es überhaupt nicht zu dem, was Susan White da anzudeuten versuchte. Ihr Bemühen, eine Atmosphäre der Verunsicherung heraufzubeschwören und auf angebliche übersinnliche Kräfte hinzuweisen, entmutigte ihn schlagartig. Sein Vertrauen in das Talent Max Solomons, interessante Interviewpartner aufzutun, verschwand ebenfalls. Eine schräge Figur wie Susan White in den Film aufzunehmen, würde jede Glaubwürdigkeit zerstören und alle mystischen Erfahrungen der Sektenmitglieder als lächerlich entlarven. Der bloße Anblick dieser Frau repräsentierte alles, was an den Sechzigerjahren schwachsinnig gewesen war.

Kyle nickte Dan zu, um ihm zu signalisieren, dass sie von den Außenaufnahmen von Straße und Gebäude nun zu den Nahaufnahmen von Schwester Isis übergehen sollten. »Was denn spüren?«, fragte er, und es klang unwirscher, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Ihre silbernen Ohrringe klingelten, als sie gegen ihre übertrieben geschminkten Wangen stießen, während sie den Kopf schüttelte. »Ich … Ich habe das nicht mehr so intensiv wahrgenommen seit 1969. Wirklich eigenartig.« Sie schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite, als lauschte sie einer weit entfernten Musik. Das unstete Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und ließ es noch hagerer erscheinen – falls das überhaupt möglich war. Die Furchen um ihren Mund vertieften sich, als ihr Kinn nach unten sackte. »Das ist das erste Mal, dass ich hierher zurückkomme.«

Kyle schaute genervt nach oben. Dan grinste und beschäftigte sich damit, mit dem Belichtungsmesser näher ans Haus zu gehen. Kyle wollte die Anfangseinstellung mit Susan neben der Eingangstür drehen. »Und Sie leben jetzt in Brighton?«

»Ja.«

»Hatten aber nie das Bedürfnis, hierher zurückzukommen?«

»Das hätte ich nicht ertragen.« Susan White hielt die Augen geschlossen, das Gesicht weiter auf das Haus gerichtet, beugte sich aber leicht schwankend nach vorn, wie eine Frau, die auf Glatteis geraten ist. Hastig, aber vorsichtig legte Kyle das Mikro und den Tonmischer beiseite und trat neben sie. Susan fasste ihn am Unterarm. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

Dan blickte auffordernd herüber, um herauszufinden, was Kyle nun von ihm erwartete. Aber Kyle war sich nicht im Klaren dar über, ob es in Ordnung wäre, wenn er sie in ihrer Verwirrung und Bedrängnis filmte. Sollten sie sich nicht zuerst richtig vorstellen und für eine gewisse Vertrautheit sorgen? Vielleicht auch nicht, selbst wenn er es gern gehabt hätte. Das war eigentlich kein schlechtes Material: Zweiundvierzig Jahre nachdem die »Letzte Zusammenkunft« das Gebäude fluchtartig verlassen hatte, brach ein ehemaliges Sektenmitglied schon beim bloßen Anblick des Ortes zusammen.

Das Licht war gut, aber sie mussten ihr noch ein Mikrofon anstecken und einen Soundcheck machen, falls irgendwas Vernünftiges hierbei herauskommen sollte. Nachdem er Augenkontakt mit Kyle gehabt hatte, stellte Dan die Kamera wieder auf das Stativ.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. Der Puder auf ihrem Gesicht sah aus, als wollte er jeden Moment in dicken Flocken abfallen.

»Haben Sie etwas zu trinken?« Kyle warf Dan einen Blick zu und formte mit den Lippen das Wort »schnell«.

»Bitte.« Susan setzte sich auf die oberste der sieben Stufen, die zu dem steinernen Portal hinaufführten. Sie sah aus, als wäre sie in ihrem Kleid versunken, das nun unheimlicherweise über ihren kleinen Füßen zu schweben schien. Ihr Rücken krümmte sich wie eine Sichel, als litte sie unter einer Missbildung.

Kyle schraubte eine Wasserflasche auf. Sie setzte sie an ihre welken Lippen und trank mit gierigen Schlucken. Dann schnaufte sie laut und gab ihm die Flasche zurück. Der obere Rand war mit rotem Lippenstift verschmiert, und er wusste sofort, dass er nie mehr daraus trinken würde. »Sie sind sehr nett, vielen Dank«, sagte Susan und riss ihn damit aus seinen unangenehmen Gedanken. Schlagartig hatte er Schuldgefühle. Das war doch nur eine alte, verängstigte Frau. »Sie müssen verstehen … Aber wie sollten Sie auch? Wie dumm von mir.«

»Kommen Sie erst mal wieder zu Atem. Beruhigen Sie sich. Und dann …«

Sie fasste wieder nach seiner Hand und schaute zu ihm auf. Ihre Augen leuchteten vor Angst, echter Angst, ihm war klar, dass sie ernsthaft beunruhigt war. »Was hier passiert ist, was hier seinen Anfang nahm, das war schrecklich. Es sind nur noch wenige von uns übrig …« Sie zitterte heftig inmitten ihres eingefallenen Kleids.

»Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie einen Arzt?« Kyle spürte, wie ihm ein Schauer den Rücken herunterlief, als er daran dachte, dass sie womöglich Erste Hilfe leisten mussten. Ihre Andeutungen über das »böse« Haus jedoch ließen ihn total kalt. Er versuchte, sich zu erinnern, wie man jemanden wiederbelebte. Aber er wusste nur noch ganz vage, dass man den Kopf nach hinten kippen und mit der Hand den Mund verschließen musste. Jetzt war er an der Reihe zu zittern.

»Ich dachte, es würde mir nichts anhaben. Ich habe Max gesagt, dass es bestimmt gehen würde. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Er hat mir doch die Fahrkarten für die Eisenbahn geschickt und all das.«

Kyle warf einen Blick zu Dan, der ihn unter seinen unglaublich dicken Augenbrauen ratlos ansah.

»Wenn Sie das hier zu sehr aufregt«, schlug Kyle vor, »können wir uns auch woanders unterhalten.«

Susan schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wieso bin ich denn überhaupt so aufgebracht!« Und ruhiger fügte sie hinzu: »Dazu ist es doch längst zu spät.«

Eine Frau in engen Jeans und mit hohen Absätzen blieb neben Dan stehen. Kyle hörte, wie er sagte: »Es geht schon. Ihr ist nur ein bisschen übel geworden.« Die Frau nickte und verzog ihr hübsches Gesicht zu einem fragenden Lächeln. Dann ging sie weiter, mit klackernden Absätzen, und verlor sich im Sonnenlicht.

»Susan.« Kyle hielt ihre Hand. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich komme mir so dumm vor«, flüsterte sie.

»Aber nein. Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Mühe gemacht haben herzukommen. Sind Sie sicher, dass Sie das durchstehen?«

Sie nickte. »Die Menschen sollen es wissen. Es ist wichtig. Max hat recht.« Sie hob energisch den Kopf und versuchte aufzustehen. Kyle half ihr auf die Beine. »Dort drinnen ist noch so viel von mir. Ich wollte herausfinden, ob ich es zurückbekomme. Deshalb bin ich hier.«

 

»Da sind jetzt Wohnungen drin. Aber wir hatten damals das ganze Haus für uns. Bis unters Dach.« Susan White war erstaunlicherweise wieder zu Kräften gekommen. Als sie durch das Gebäude gingen, flatterte sie durch die Räume im Erdgeschoss wie ein Vogel, der versucht, seinen Verfolgern zu entkommen.

Alle drei Luxuswohnungen, in die man das Gebäude aufgeteilt hatte, standen nach einer kürzlich erfolgten Renovierung leer. Grelles Sonnenlicht drang durch die großen Fensterflügel und wärmte die drei kahlen Zimmer und die Küche im Erdgeschoss, vergoldete die Parkettfußböden und versilberte die nackten Wände. Der Geruch frischer Farbe ging von den Wänden, den Fußleisten und den vertäfelten hohen Decken aus. Alle Räume waren weitläufig und makellos glatt, bis auf die dekorativen Versenkungen für die Lampen, von denen einige nackte Birnen an Kabeln herunterhingen.

»Hier drin habe ich unsere Zeitschrift gedruckt. Sie hieß Gospel. Wir haben sie in ganz London verkauft! Hier war das Büro, wo wir die Spenden hinbrachten. Jeden Tag um sechs Uhr!«

Nachdem sie erst mal ihre anfängliche Aufregung überwunden hatte, musste Kyle immer wieder neben sie treten, damit sie sich zügelte und ihre Erzählung auf die verschiedenen Räume aufteilte. Sie gingen ein Zimmer nach dem anderen ab, und in jedem erklärte Susan, wie es dort früher ausgesehen hatte. Er würde dann später Originalmaterial aus der Londoner Zeit der Sekte dazwischenschneiden. Sie würden die Belichtung bestimmen und den Ton aussteuern und jeden Teil des Gebäudes aus verschiedenen Winkeln mit zwei Kameras filmen. Bei all seinen Filmen hatte er stets während der Aufnahmen schon begonnen, den Schnitt zu planen.

Der Nachteil war, dass es nicht viele Varianten für die Hintergründe während Susans Monolog gab. Es wäre besser gewesen, die Zimmer hätten eine Einrichtung gehabt, aber so blieb ihnen nichts weiter übrig, als mit dem Licht herumzuspielen. Es gab einen vorderen Raum, von dem aus man einen guten Blick auf die Straße mit den vornehmen Fassaden werfen konnte, ein hinteres Zimmer, von dem aus man den üppigen grünen Garten einsah, ein kleineres Schlafzimmer und dann noch die düsteren Steinstufen vor der Eingangstür. Die beiden oberen Stockwerke waren genauso angeordnet wie das Erdgeschoss, außerdem gab es noch einen Keller, wie Max in seinen Notizen vermerkt hatte. Die gesamte obere Etage war Schwester Katherines Wohnung gewesen. Dort würden sie am Schluss Aufnahmen machen.

Im hinteren Zimmer war das Sonnenlicht nicht so stark. Kyle fragte Dan nach den Lampen. »Ich werde ein weiches Licht auf die Wände werfen. Mit einem Reflektor arbeiten. Vielleicht noch eine Leuchte für den Hintergrund. Ein Streiflicht. Um ein bisschen Atmosphäre zu erzeugen.«

Aus Erfahrung wussten sie, dass man das Licht immer anpassen musste, egal an welchem Ort oder zu welcher Tageszeit man drehte. Er wusste genau, was die meisten seiner Kollegen hier tun würden: Sie würden ein Licht auf Susans bleiches Gesicht richten, damit es sich von den weißen Wänden abhob.

»Das Führungslicht kann von der Seite auf ihr Gesicht fallen. Das bringt mehr Tiefe rein und macht ihren Charakter plastischer.« Dan grinste.

»Gute Idee. Wir könnten sogar ein paar Softtubes benutzen.« Und flüsternd fügte er hinzu: »Dann können wir ein bisschen Roger-Corman-Stil mit reinbringen.«

Dan ging los, um die Sachen zu holen, und Kyle schaute durch den Sucher der zweiten Kamera, einer Panasonic HVX 200, bis Dan ihn aus dem hinteren Bereich des Gebäudes zu sich rief.

 

Susan stand in der Mitte des Zimmers direkt gegenüber der Küche auf dem nackten Fußboden. Ihre Hände mit den lackierten Fingernägeln gegen die Wangen gepresst, starrte sie zur Decke.

Jetzt geht’s los. Doch ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck machten ihm rasch klar, dass sie keine Show abzog.

»Hier drin. Hier begann die Entsagung.«

Dan trat neben sie, um das Licht zu prüfen.

»Vielleicht sollten wir dann hier drin anfangen, Susan?«, bot Kyle an. »Mit der Entsagung?« Er kniete sich hin, legte die Kabel auseinander und packte die Tonausrüstung aus.

Susan holte ein Papiertuch aus ihrer Handtasche, schniefte und tupfte sich auf beiden Seiten die Nase ab. »Hier drin habe ich so viel von mir preisgegeben. So viel. Und ich habe mich immer gefragt, ob es wirklich richtig war.«

»Um was ging es denn bei dieser Entsagung?«

Susan hob die Hände über den Kopf, als hätte sie Kyles Frage gar nicht vernommen. Er fragte sich immer noch, ob sie sich wegen der Kamera so aufführte, oder ob sie womöglich schon so durchgeknallt war, dass ihr gar nicht mehr auffiel, was für einen schrägen Eindruck sie auf dem Bildschirm machen würde. »Sie hat bei allem den Vorsitz geführt. Bei jeder Sitzung. Hat zugehört. Hat immer zugehört. Hat uns beurteilt. Hat unser Wissen gesammelt. Alles, was sie gebrauchen konnte. Später. Hat es gegen uns verwendet. Ich habe ihr das nie vergeben. Ich wusste, dass es ein schlimmes Ende mit ihr nehmen würde.«

Kyle schaute auf. »Warum sagen Sie das?«

Susan lachte vor sich hin, als wären er und Dan gar nicht da. Schniefte und tupfte sich mit dem Papiertuch die Augenwinkel ab. »Wir haben ihr alles gegeben. Alles aufgegeben, damit wir ein Teil davon werden können. Unsere Familien, unsere Arbeit. Wissen Sie, manche haben sogar ihre Ehemänner verlassen. Und ihre Kinder. Ihre armen kleinen Kinder.«

»Was hat denn in diesem Zimmer stattgefunden?«

»Sitzungen. Manchmal gingen sie die ganze Nacht. Begannen am Abend und hörten erst morgens auf, wenn man völlig erschöpft war. Endlos, es war endlos. Sie hat unsere Schande gesehen. Wir kamen hierher, um uns von den Verfehlungen der Vergangenheit zu reinigen, unseren Lastern … der Verantwortung, den Enttäuschungen  … alle unsere Bindungen zu kappen, außer an sie. Alles. Sogar Erinnerungen. Sie wollte alles haben. Alles. Von uns. Alles, was uns zu Menschen machte. Was uns einzigartig machte. Alles, was eine Trennung zwischen uns und ihr bewirken konnte.

Sie müssen dazu wissen, dass wir damals ganz anders waren. Aufgeschlossen. Unendlich gelangweilt. Wir fürchteten uns davor, vom Alltag versklavt zu werden. Wir hatten Angst vor dem Ende der Welt. Wir waren jung. Wir wollten etwas erleben. Das Leben schlechthin! Wir hatten so viel zu sagen. Und auszuprobieren.« Susan wandte sich Kyle zu, sie rang nach Atem und zitterte wegen des Gefühlsausbruchs, der sie erfasst hatte. Er hörte auf, die XLR-Kabel in die zweite Kamera und das DAT-Aufnahmegerät zu stecken. Ihre Augen waren weit aufgerissen und leuchteten. Unter ihrem dicken Make-up schimmerte es rosig. »Wir suchten einen Mentor, einen Lehrer, der uns von unserem Ego befreite.«

»Und das war Schwester Katherine, richtig?«

Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Jemand, der die Faust hier öffnete.« Dan sprang hinter die erste Kamera, die auf das Stativ montiert war. Sie schlug gegen ihre knochige Brust. »Und hier. Würden Sie das nicht auch annehmen? Ich war eine dämliche Tippse. Ich wohnte noch zu Hause. Bei Mama und Papa. Aber ich wollte Musik um mich herum haben, Liebe und Freundschaft. Ich wollte etwas Besonderes tun, jemand Besonderes sein, ich wollte leben. Und all das hier war neu für mich. Hier konnte man reden. Durfte alles sagen. Ich war sehr schüchtern, aber sie hat mich davon befreit. Sie konnte so lieb sein. Sie war unsere beste Freundin und unsere Mutter und unser Beichtvater, so war es zu Anfang. O ja, ich habe hier viel geweint. Geweint, als es alles aus mir hervorbrach. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut sich das anfühlte. Für jeden Einzelnen von uns. Hier sein zu dürfen, mit allen gemeinsam an allem teilzunehmen. Wir waren jung und dumm und ständig verliebt. Wir lebten ein Leben ohne Geheimnisse, aber wir suchten nach den großen Geheimnissen des Lebens. Wir glaubten, wir wären völlig frei.« Susan hielt inne, atmete lang und tief aus und sagte dann: »Und bevor wir wussten, wie uns geschah, hatte sie uns allesamt.«

 

»Sie sind zwei Jahre lang bei der Letzten Zusammenkunft geblieben. Warum haben Sie so lange gebraucht, um von dort fortzugehen?«

Kyle trug Kopfhörer, hatte den Mischer über eine Schulter gehängt und hielt die Tonangel mit beiden Händen. Er stand hinter der zweiten Kamera, während Dan mit der ersten eine Nahaufnahme von Susan machte. Sie hatte zwei Sennheiser-Mikrofone angesteckt bekommen. Alle drei Mikros waren mit dem DAT-Rekorder neben Kyles rechtem Fuß verbunden. Sie waren bereits beim zweiten Take, weil Susans Schal die Tonaufnahme beim ersten Mal ruiniert hatte. Sie hatten es eilig gehabt und bei der Tonprobe nicht auf den Schal geachtet. Dan hatte beide Kameras so aufgestellt, dass sie Susan aus verschiedenen Perspektiven filmen konnten. Sie wussten aus Erfahrung, dass es wichtig war, Finger Mouse mit so viel Material wie nur möglich zu beliefern, wenn das Interview etwas länger wurde. Was bereits der Fall war, denn es schien, als wäre bei Susan White innerlich etwas aufgebrochen, kaum dass sie das Haus betreten hatte.

»O nein, ich hätte Katherine niemals verlassen können. Nein, nein, nein.« Susan stand neben dem zweiflügeligen Fenster im Zimmer des ersten Stocks und starrte hinunter auf den Garten. »Wir waren ja etwas Besonderes. Wir hatten das System besiegt, wissen Sie. Wir waren sehr zufrieden mit uns, weil es uns gelungen war, ein Teil dieser Sache hier zu sein.«

»Aber Sie haben ihr auch Ihr ganzes Geld gegeben, um dabei sein zu dürfen.«

»Wir brauchten ja nichts! Ich habe meinen ganzen Besitz verkauft. Sogar den Schmuck meiner Großmutter. Habe mein Postsparkonto leer geräumt. Und ihr alles gegeben. Ihr und der Letzten Zusammenkunft. Das war ja das Gleiche. Katherine war die Zusammenkunft. Ein paar arme Mädchen haben ihre gesamte Erbschaft eingebracht, wissen Sie. Schwester Urania und Schwester Hannah zum Beispiel. Seine weltliche Existenz hinter sich zu lassen, war eine Grundvoraussetzung für den Eintritt. Man konnte nicht in einer anderen Familie Mitglied sein.«

»Das war sicherlich sehr beeindruckend.«

»Es war eine Bewegung. Es ging um die Zukunft! Um eine Revolution, dachten wir. Wir sollten herumwandernde Missionare werden. Uns nur auf unsere Sinne verlassen. Wir sollten uns ›reinigen‹, indem wir ›dem Wohlstand entsagen‹, so hat sie uns immer erklärt. Ganz neu beginnen. Wiedergeboren werden.« Susan hielt inne und schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube, das Einzige, das uns weitergeholfen hat, war die Freundlichkeit und Wohltätigkeit von Fremden.«

»Wozu diente dieses Stockwerk damals?«

Susan sah sich um. »Hier haben wir geschlafen. Außerdem in den beiden hinteren Räumen. Die Küche war ein Ruhezimmer, wo wir uns auf die Sitzungen vorbereiteten oder wo wir herumsaßen und darüber nachdachten, was wir in der vergangenen Nacht bei der Sitzung gelernt hatten. Wir saßen da und dachten darüber nach, wie gierig, selbstsüchtig, eifersüchtig und kindisch wir waren.

Ungefähr fünfzehn von uns schliefen auf dem Fußboden hier, in Schlafsäcken. Auf dünnen Matten. Überall waren Leute. Einmal waren es über fünfzig Personen, die in diesem Gebäude lebten. Man hatte keine Privatsphäre. Das war verboten. Zwei Jahre meines Lebens habe ich in diesem Zimmer geschlafen.«

»Aber Sie sind geblieben.«

Susan warf den Kopf zurück und lachte laut auf. »Wir waren doch Stars, mein lieber Mann. Berühmt. Die Leute liebten uns. Barfuß im Sommer oder mit Sandalen. Enge Lederstiefel im Winter. Schwarze Umhänge und lange Kleider. Wir sahen aus wie Hexen. Und die Jungs hatten lange Haare und Bärte. Ihre Augen waren durchdringend. Pentagramme aus roter Seide auf unseren Kleidern. Oder der Zirkel des Salomon, das Ankh-Zeichen, der keltische Knoten, der auf unsere Tracht gestickt war. An was wir glaubten, war völlig egal, aber wir hatten eine besondere Ausstrahlung. Wir waren gefährlich, jedenfalls wurden wir in manchen Zeitungsartikeln so dargestellt. Unsere Orgien! Wir würden den Teufel anbeten, hieß es. Schwarze Messen! Nackt!«

»War das alles übertrieben?«

»Lächerlich. Alles davon. Als Eingeweihte mussten wir das ganze erste Jahr im Zölibat leben. Und später, aber erst nach einer Beförderung, durfte man sich einen Freund nehmen. Aber nur einen, den sie für uns ausgesucht hat! Nie einen, den man gewollt hat. Es sei denn, man gehörte zu ihren Lieblingen.«

Susan kniff die Augen zusammen und warf einen wissenden Blick in die Kamera, den Kyle auf dem Laptop, den sie als Monitor benutzten, auffing. »Aber die Männer fühlten sich sehr angezogen von uns Mädchen der Zusammenkunft. Katherine erlaubte uns nur, Make-up aufzutragen und Parfüm zu benutzen, wenn wir losgingen, um Spenden zu sammeln und unsere Zeitschrift zu verkaufen. Sie ermunterte uns zu flirten. So konnten wir mehr einsammeln. Sie brachte uns bei, ihnen in die Augen zu sehen und süß zu lächeln wie unschuldige Novizinnen oder Mädels vom Lande. Ganz arglos. ›Sie sollen von einem anderen Leben träumen, wenn sie euch sehen‹, sagte sie uns. ›Von unserem Leben. Und von euch.‹ Aber wir konnten auch unnahbar sein. Auch das hat sie uns beigebracht. Waren wir also Jungfrauen oder Huren? Die Männer wussten es nie. Waren wir das unschuldige Aushängeschild eines Teufelskults oder einfach nur verführerisch? Ich glaube, Katherine hatte eine eigenartige Beziehung zu Sex. Zu Männern und ihren Sehnsüchten. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn wir das benutzten, um Spenden zu sammeln. Machen Sie sich darüber mal keine Illusionen.«

 

»Hier drin bin ich nie gewesen.« Susan schüttelte ungläubig den Kopf, als sie die Räume durchquerte, die einst das Penthouse von Schwester Katherine beherbergt hatten. Sie war verblüfft, wie viel Licht und Platz es hier im obersten Stockwerk gab. »Niemand bis auf die Sieben durfte hier hinaufkommen. Am Ende der Treppe war eine Tür eingebaut, mit einem schweren Türklopfer aus Messing. Die Tür trennte sie von uns in den unteren Stockwerken.«

Das Obergeschoss des Gebäudes war genau wie die Wohnungen unten umgebaut worden: Parkettboden, weiß gestrichene Wände, frische Farbe. Wie es damals ausgesehen hatte, als die Letzte Zusammenkunft hier gehaust hatte, konnte Kyle sich nur vage vorstellen. Fotografien gab es keine.

»Wer waren denn die Sieben?«

»Einer der Gründe, warum ich gegangen bin. Ihre Auserwählten. Viele Leute wurden im ersten Jahr in den Kreis der Sieben aufgenommen und später wieder degradiert. Aber ihre Lieblinge im letzten Jahr ihrer Londoner Zeit waren Serapis, Belus, Orcus, Ades und Azazal. Außerdem die Schwestern Gehenna und Bellona. Das waren die Aufpasser, die für sie alles unter Kontrolle hielten. Sie taten immer sehr distanziert. Sie lachten nie, drehten sich aber manchmal um und starrten einen intensiv an, ganz direkt. Als würden sie tief in dein Innerstes blicken. Das war total beängstigend, weil man dann dachte, man hätte etwas getan, was Katherine nicht gefiel. Sie erstatteten ihr ja ständig Bericht. Wir lebten die ganze Zeit in der Angst, während einer Sitzung angegriffen zu werden, weil wir uns nicht konsequent verhielten, weil wir uns nicht genug einbrachten.«

Kyle hatte das Gefühl, dass sie hier ziemlich gutes Material drehten. Susan erzählte sehr lebendig und gab nach kurzen Nachfragen jede Menge interessanter Informationen preis, vor allem aber sah die Beleuchtung auf dem Monitor einfach großartig aus. Dan war es gelungen, jedem Raum, in dem sie ihre Aussagen filmten, eine klaustrophobische Atmosphäre zu verleihen. Sein anfängliches Unbehagen wegen Susans eigenartiger Erscheinung und angesichts der leeren Räume war verflogen. Und die zusätzlichen atmosphärischen Geräusche, die sie in jedem Raum aufnahmen, stellten ein unerwartetes Bonusmaterial dar.

Seit den Dreharbeiten zu Hexenzirkel in Schottland, wo er zufällig einige unerklärliche unterirdische Geräusche in einem Tunnel unter dem Bischofspalast aufgenommen hatte, hatte er sich vorgenommen, immer jede Menge Geräusche unter freiem Himmel und in Gebäuden aufzunehmen. Das hatte sich auch bei ihrem letzten Film Blutrausch bewährt. Was er dabei an Material bekam, war oftmals besser als die Musik des Soundtracks. Bei Blutrausch war das Rauschen des schwedischen Urwalds das einzige Geräusch für die gesamte Dokumentation gewesen. Mehr als dieses Rauschen war nicht nötig gewesen, um das Gefühl von Verlorenheit inmitten einer unendlichen, uralten Wildnis hoch im Norden zu vermitteln. Bevor sie die Sequenz drehten, in der Susan ihre Abkehr von der Sekte erklärte, hatte er in seinen Kopfhörern ein Geräusch vernommen, das wie Stimmen einer weit entfernten Menschenmenge geklungen hatte. Noch bevor es ganz verhallt war, entschied er, dass es der Wind gewesen sein musste. Irgendwo in der Ferne. Aber es hatte sich dem Haus genähert und war bis ins obere Stockwerk gedrungen.

Das Mikrofon hatte wahrscheinlich einen Luftzug oder Strömungen aufgenommen, die aus irgendwelchen Schächten kamen, denn die Fenster waren alle geschlossen. Wegen der Verkehrsgeräusche draußen hatten sie darauf geachtet. Das Haus jedoch schien eine eigene, merkwürdige Klangumgebung zu erzeugen und zwar von einer Art, die man kaum in irgendeinem Tonarchiv finden konnte.

»Susan, kannst du uns erzählen, wie Katherine sich im Laufe der Zeit verändert hat?« Susan war jetzt wieder nervös. Oder verunsichert, nachdem sie sich an die Sieben erinnert hatte. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie jetzt zum ersten Mal im oberen Stockwerk stand. »Susan? Susan?«

Sie schaute auf. Er wiederholte die Frage.

»Ja, ja, Katherine. Im zweiten Jahr hat sie nur selten eine Sitzung geleitet. Sie hat sich hier oben abgekapselt.« Susan starrte die Wände an, etwas schien ihr nicht zu behagen. »Das muss im Jahr 1969 gewesen sein. Nach Weihnachten 1968 bekamen wir sie immer seltener zu sehen. Und ab April des folgenden Jahres habe ich sie überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Sie hat sich ganz zurückgezogen?«

»Völlig. Blieb hier oben. Wenn wir tagsüber draußen unterwegs waren, hat sie die Sieben unterrichtet. Sie haben dann in den Nächten ohne sie die Zusammenkünfte geleitet.«

»Und während Sie hier unten mit dreißig Leuten in einem Zimmer schlafen mussten, hatte sie das ganze obere Stockwerk für sich allein?«

Susan blickte genervt zur Decke. »Und für ihre Hunde. Ihre geliebten ›Vargs‹, die wie Könige bewirtet wurden. Das war der Moment, wo wir das hier oben ›das Penthouse‹ nannten, weil uns dieser Zustand missfiel. Sie fing dann auch an, einen purpurroten Umhang zu tragen. Das Purpur des Herrschers mit Hermelinbesatz. Auch die Sieben trugen Rot. Um sich von den anderen zu unterscheiden. Weil sie die Führer waren. Das mochte ich überhaupt nicht. Diese plötzliche Besonderheit von manchen, wo wir doch eine Gemeinschaft bilden sollten.«

»Haben Sie die Gruppe deshalb verlassen, wegen der Hierarchie, die nun aufgebaut wurde?«

»Das war einer der Gründe. Sie hat auch angefangen, Lieblinge unter uns Jüngern herauszupicken. Meist waren es Mädchen. Die besten Bettlerinnen und Speichellecker. Mädchen, die sich ihr hingaben, ohne sie zu verunsichern. Die ganz Schlauen. Diejenigen, die ihr am ähnlichsten waren. Die andere gern beeinflussten. Die sich ihre Liebhaber aussuchen konnten. Und ihre Favoritinnen waren immer sehr hübsch. Sie hat sie als Köder benutzt. Die durften individuelle Meditations- und Therapie-Sitzungen für wohlhabende private Kunden durchführen. Die meisten von uns wurden gezwungen, im Zölibat zu leben, aber gleichzeitig führte sie eine Art Callgirl-Ring. Diese Mädchen taten alles für sie und für die Zusammenkunft. Wussten Sie, dass sie vorher ein Bordell geleitet hatte?«

Kyle nickte, während er auf den Monitor schaute.

»Nun ja, damals wussten wir das noch nicht. Das wurde erst später bekannt, nachdem das in Amerika passiert war. Aber sie hat ihren Lieblingen in der Wimpole Street Zimmer eingerichtet. Ein paar hübsche Jungs waren auch dabei. Denen hat sie sehr teure Geschenke gemacht, als Anerkennung für ihre Dienste. Sie hatten ihr eigenes Zimmer im ersten Stock, nach vorne hin. Um uns, die Normalen, anzustacheln und eifersüchtig zu machen, damit wir uns noch mehr anstrengten, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Und wir haben uns beeinflussen lassen. Unsere Gefühle. Wir waren schlecht gelaunt. Sprachen schlecht über einander. Und die Sieben hatten sogar Spitzel unter uns. O ja.«

»Was denken Sie, hat sie da oben so gemacht?«

Susan verzog enttäuscht und zornig das Gesicht. »Uns wurde gesagt, Katherine würde dort oben in aller Zurückgezogenheit meditieren. Aber sie sei trotzdem die ganze Zeit bei uns. Immer gegenwärtig. Angeblich wüsste sie alles über uns, jederzeit. Und genau das dachten und fühlten wir auch. Die Sieben behaupteten, sie würde uns beschützen. Uns beobachten und prüfen, ob wir zum Kreis der Auserwählten gehörten. Zu denen, die aufsteigen würden. Aber natürlich hatten wir schon alles über uns bei den früheren Sitzungen preisgegeben, deshalb kannte sie ohnehin alle unsere Geheimnisse. Sie wusste ganz genau, auf welche Weise sie uns beeinflussen konnte. Sie befahl den Sieben, dass sie dieses Wissen benutzen sollten, um uns der Abtrünnigkeit zu beschuldigen. Während der Sitzungen. Um Einzelne auszugrenzen. Und sie trafen immer genau ins Schwarze. Wir konnten ihre Vorwürfe nie entkräften, und deshalb bekannten wir uns erst recht schuldig und verstrickten uns immer mehr.«

»Warum taten Sie das?«

»Wir waren verzweifelt. Wir wollten unbedingt anerkannt werden. Wir hatten Angst davor, ausgeschlossen zu werden. Fürchteten ihre Missbilligung, wenn wir nicht irgendein Fehlverhalten beichteten. Katherines Rückzug aus unserer Mitte machte alles nur noch geheimnisvoller, verstärkte noch das ganze Mysterium, das sie umgab. Oh, sie war wirklich sehr clever. Und faul. Wenn sie hier oben blieb, bescherte ihr das noch mehr Macht, ohne dass sie einen Finger rühren musste. Alles, was sie tat, war strategisch durchdacht.«

»Was hat sie denn mit den Leuten gemacht, die bei ihr in Ungnade gefallen sind?«

»In meinem zweiten Jahr wurde ich wegen Ungehorsams schrecklich bestraft. Wirklich schrecklich.«

»Möchten Sie uns davon erzählen? Waren das körperliche Züchtigungen?«

»In gewisser Weise schon. Aber zuerst wurde man ausgeschlossen. Was noch viel schlimmer war als das, was später kam. Die anderen machten sich lustig über einen, man forderte sie bei den Sitzungen auf, die schlimmsten Dinge über jemanden zu sagen, die ihnen einfielen. In diesem Raum, in dem wir vorher allem anderen abgeschworen hatten. An diesem Ort der Offenheit, der Speisung, der Gemeinschaft. Es war wie ein Sakrileg. Was es dann auch wurde.«

»Aber es gab auch körperliche Misshandlungen?«

Susan verzog das Gesicht. »Ja, aber nicht so, wie es in den Zeitungen stand. Man musste es sich selbst zufügen. Ich habe nie miterlebt, dass jemand von einem anderen gequält wurde. Ich glaube nicht, dass so etwas jemals vorkam. Aber das, was sie später in Frankreich und in Amerika praktizierten, wurde hier erdacht. Diese körperliche Erniedrigung. Jemanden vor der ganzen Gruppe zu degradieren. Jemanden als schlechtes Beispiel hinzustellen. Ich habe während meiner Zeit nur viermal erlebt, dass es wirklich brutal wurde. Das war, als einige Jünger sich mit Stricken schlagen mussten. Wie nennt man so was? Selbstkasteiung.«

»Und die ganze Zeit über war sie hier oben und gönnte sich allen Luxus?«

Susan nickte. »Allmählich fühlte ich mich wie eine Sklavin. Immer draußen unterwegs sein müssen, um diese jämmerliche Zeitschrift zu verkaufen. Es war ein Trauerspiel. An manchen Tagen wurde man kein einziges Exemplar los, aber wer am meisten verkaufte, wurde belohnt. Ich hielt das einfach nicht mehr aus. Ich war schließlich so weit, dass ich um Geld bettelte. Es war mir total unangenehm, wieder hierher zurückzukommen. Weil sie mich und die anderen, die den Anforderungen nicht gerecht wurden, dann bestraften. Wir mussten die ganze Nacht draußen bleiben und Spenden in der Höhe zusammenbekommen, die am Morgen festgelegt worden war. War das alles, was wir erwarten durften – ein Dasein als völlig verarmte Sklaven zu fristen? Manche von den Mädchen verkauften ihre Gunst für Geld. Auf den Straßen.«

»War das der entscheidende Grund aufzuhören? Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte? Dass Sie so hart arbeiten mussten, ohne je dafür belohnt zu werden, während sie sich bereicherte?«

»Ich, ich muss mich setzen. Haben Sie vielleicht noch einen Schluck Wasser für mich?«

Kyle trat vor die Kamera und half Susan, sich auf den Boden zu setzen, wo sie in sich versunken hocken blieb. Draußen stand die Sonne inzwischen schon tief, und der Himmel war übersät mit orange- und rosafarbenen Wölkchen, die Lücken dazwischen schimmerten rötlich. Er reichte ihr die Flasche, auf der schon ihr Lippenstift klebte, und schaute sich die traurige Gestalt an, die da vor ihm auf dem Boden saß. Sie fühlte sich erneut erniedrigt hier an diesem Ort. Kein Wunder, dass sie es schon draußen kaum geschafft hatte, einen Blick auf dieses Haus zu werfen.

Als sie weitermachten, starrte sie vor sich ins Leere, als hätte sie ganz vergessen, dass zwei Kameras im Zimmer waren. Es war nicht mehr ganz klar, mit wem sie eigentlich sprach. Dreimal musste Dan sie auffordern, in die Kamera zu blicken.

»Ich glaube, ich entschied mich zu gehen, als ich im zweiten Jahr draußen unterwegs war, um den Gospel zu verkaufen. Ich erinnere mich, dass ich an einem Tag erkältet war und Fieber hatte. Es war eine sehr heftige Grippe, und ich stand irgendwo in der Nähe des British Museum herum. Ich wurde ohnmächtig. Dann kam ich wieder zu mir, und mir war total schlecht. Also ging ich zu einer Bank, um mich auszuruhen. An diesem Tag war ich mit Schwester Hera unterwegs, konnte sie aber nirgends finden. Also setzte ich mich allein auf diese Bank, ich war völlig durchnässt. Mir fehlte jedes Selbstvertrauen und jeder Antrieb. Ich war total erledigt. Und während ich da auf dieser Bank im Regen saß und mich bemitleidete, bemerkte ich eine Ausgabe des Evening Standard, die jemand auf der Bank liegen gelassen hatte. Ich faltete sie auseinander und wollte sie als Regenschutz über den Kopf legen, als ich die Überschrift sah. Wissen Sie, es war wie ein Zeichen. Damals war alles irgendwie ein Zeichen. So sahen wir die Welt, das müssen Sie verstehen. Und die Überschrift lautete ungefähr so: ›Londons bekannteste Sektenführerin entlarvt‹. Ich blätterte weiter und schaute mir den Artikel an. Und da war ein Foto von ihr. Von Katherine. Auf den Gesellschaftsseiten. Sie war angezogen wie ein Filmstar und befand sich auf irgendeiner Party. Sie trug teuren Schmuck und hatte eine tolle Frisur. Um sie herum lauter glamouröse Leute. Und ich saß hier durchnässt auf einer Bank im Regen. Ich ging sofort zum nächsten Zeitungsstand und kaufte zwanzig Exemplare. Gab das ganze Geld dafür aus, das ich an diesem Tag verdient hatte. Ich schleppte die Zeitungen hierher und verteilte sie. Um den anderen zu zeigen, für wen wir arbeiteten. Für was wir uns Tag und Nacht bei Wind und Wetter aufrieben. Und ich fragte sie, ob wir etwa dafür alles andere aufgegeben hatten.«

»Und gab es dann eine Revolte?«

Susan schüttelte müde den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht. Es bestätigte nur denen, die sowieso schon die Schnauze voll hatten, was wir von Katherine dachten. Um diese Zeit waren ohnehin schon viele dabei, die Sekte zu verlassen. In ganzen Gruppen. Katherine hatte auch schon Drohbriefe von den Eltern von Schwester Urania bekommen. Das war eine mächtige, wohlhabende Familie. Ihr Erbe wurde jeden Monat von einer Stiftung an Katherine ausgezahlt. Ich hörte auch davon, dass die Anwälte von Schwester Hannah in regem Briefwechsel mit Katherine standen. Alles lief allmählich schief. Ging völlig daneben. Und erregte genau die falsche Art von Aufmerksamkeit. Besonders nach den Vorfällen um Charles Manson in Kalifornien. Aber ich würde trotzdem sagen, dass die Mehrheit der Mitglieder einfach hinnahm, was in der Zeitung stand. Sie waren viel zu sehr von ihr eingenommen. Sie beteten sie an. Daran konnte nichts und niemand etwas ändern. Sogar ich gab der Zusammenkunft eine neue Chance, obwohl meine Intuition mir riet, es nicht zu tun.«

»Was geschah, nachdem Sie die Zeitungen hier verteilt hatten? Wurden Sie bestraft?«

»Nein, stattdessen hat Katherine mir ein Geschenk gemacht. Ohrringe mit Perlen dran. Dabei war uns Schmuck streng verboten. Ich verstand das nicht. Wie sollte ich auch? Aber dann … kam etwas anderes hinzu im kommenden Winter. Wir nannten es den heiligen Schrecken. Und das war dann wirklich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

Kyle war jetzt enorm angespannt. Das war genau das, was Max haben wollte. »Können Sie uns beschreiben, was es war, Susan? Wie sich das äußerte?«

Sie nickte und schien sich erneut sehr unwohl zu fühlen und auch sehr müde. Tatsächlich kam es Kyle vor, als hätte er noch nie einen so kaputten Menschen vor sich gesehen. »Es war nicht nur so, dass die Art und Weise der Sitzungen sich unter dem Einfluss der Sieben änderte. Die ganze Atmosphäre wandelte sich. Alles wurde anders. Die Ideale der Gruppe veränderten sich. Ganz deutlich. So äußerte sich das.«

»Wie denn genau?«

»Es ging nicht mehr um Erkenntnis, so wie in den Tagen der Selbstaufgabe. Wir erforschten nicht mehr uns selbst. Es gab auch keine Gleichheit oder Ehrlichkeit mehr in der Gruppe. Jetzt wurde immer mehr Wert darauf gelegt, auserwählt zu sein. Wir glaubten immer fester daran, etwas Besonderes zu sein. Anders als die anderen. Und nun wurde uns eingeredet, wir seien mehr wert als die Menschen, die nicht zur Zusammenkunft gehörten. Wir wurden dazu gebracht, die anderen zu verachten. Dieser Hochmut wurde regelrecht kultiviert. Wir standen meilenweit über allem, was jenseits der Mauern dieses Hauses existierte. Und irgendwann brachte jemand das Wort ›barbarisch‹ auf, um alle außerhalb unseres kleinen Kreises zu beschreiben.

Ich erinnere mich noch, dass uns gesagt wurde, alle Mittel seien erlaubt, wenn es der Zusammenkunft nutze. Wer im Dienst von Schwester Katherine stand, war frei von jeder Schuld. Wir sollten uns von allen Gewissensbissen und allem Mitleid befreien. Es ging nur noch darum, an uns selbst zu glauben. Wir sollten unsere ganze Kraft in den Dienst der Zusammenkunft stellen. ›Ermächtigung durch Bereicherung‹ war einer unserer neuen Leitsprüche. Wir wurden dazu angehalten, andere Menschen zu manipulieren, und sollten das gegenseitig an uns erproben.

Sex wurde mehr und mehr dazu benutzt, um die Männer unter Kontrolle zu bringen. Wenn die Sieben es anordneten, musste man mit einem Mann schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es ein besonderes Auswahlverfahren gab. Aber genau das war der springende Punkt. Wir sollten mit denen ins Bett gehen, die uns nicht gefielen. Wenn zwei sich ganz normal ineinander verliebten, was andauernd passierte, dann sorgten die Sieben dafür, dass das Paar getrennt wurde, indem sie der Frau befahlen, mit einem anderen Mann zu gehen. Nur zu Katherine durften wir eine emotionale Bindung aufbauen. Es kam mir so vor, als sollte nur das Schlechteste in uns gefördert werden, und ich hatte den Eindruck, dass die Hinterhältigsten von uns unter diesem neuen Regime am besten zurechtkamen.« Susan hielt inne und schaute zu Boden. Falls Kyle sich nicht völlig täuschte, war sie peinlich berührt. Er warf Dan einen Blick zu, der fragend eine Augenbraue hob. Aber Kyle schüttelte den Kopf und bedeutete ihm weiterzudrehen.

»Sie trat nie in Erscheinung. Das ganze letzte Jahr über sprach sie nicht zu uns. Aber je weiter sie sich von uns entfernte, umso schlechter wurde ihr Benehmen.«

Susan hob den Kopf und sah sehr müde aus. »Ja. Indem sie die Sieben als ihr Instrument benutzte, wurde sie immer despotischer. Wir bekamen Medaillons, gefüllt mit ›Mana‹. Das waren Haarlocken von ihr. Die mussten wir immer an einer Kette um den Hals tragen. Wie einen Talisman. Sie erzählten uns, es habe eine besondere Kraft. Geschenke von Katherine wurden wie Heiligtümer behandelt. Sie waren immer sehr teuer und kamen uns unwirklich vor, denn wir hatten ja nichts. Nur unsere Trachten. Wir lebten wie Bettler, und sie kaufte teure Schmuckstücke für ihre Lieblinge. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns damals begriff, dass wir hereingelegt worden waren. Dass wir uns von einer cleveren Bordellmutter versklaven ließen, die bestimmte Gehirnwäsche-Techniken im Frauengefängnis gelernt hatte. Dort hatte sie ja eine Strafe wegen Zuhälterei abgesessen!«

Susan schloss die Augen und stöhnte auf vor Schmerz und Müdigkeit. Kyle ließ sie eine ganze Minute schweigend dort sitzen. Sie war ein Glücksgriff, sie war absolut authentisch.

»Susan, es wird behauptet, sie hätte sich für eine Heilige gehalten. Hat denn jemand von Ihnen wirklich geglaubt, dass sie auf einer höheren Stufe stand?«

»Ich nie. Der Grund, weshalb ich fortging, war ein anderer. Ich weiß nicht mehr genau, wann es anfing, aber es wurden immer mehr seltsame Dinge über sie verbreitet. Ich erinnere mich noch, dass Bruder Ethan sie eine ›lebende Heilige‹ nannte. Anschließend gab es ein heftiges Streitgespräch, weil ich nämlich gelacht hatte. Wissen Sie, die Zusammenkunft war ja nie von etwas Göttlichem inspiriert. Es ging ja vor allem darum, etwas anderes als die organisierten Religionen anzubieten. Und nun auf einmal hatten wir Hohepriester und eine angebliche lebende Heilige, die uns beherrschten. Für viele von uns war das eine herbe Enttäuschung. Aber ich hatte der Zusammenkunft so viel gegeben, dass ich mich immer noch weigerte, die Gruppe einfach so zu verlassen. Vielen anderen ging es genauso.

Während der Sitzungen wurde uns von den Sieben erklärt, Katherine sei inzwischen so weit vorangeschritten in ihrem Wiedergeburtszyklus, dass sie sich in einen echten heiligen Geist zurückverwandle. Ihre lebenslange Suche nach dem Göttlichen in ihr selbst hätte Erfolg gehabt. Also war alles an ihr göttlich und wahrhaftig. Was immer sie von nun an tat, es war stets zu rechtfertigen. Uns wurde gesagt, sie würde sich bereits auf ein Stadium jenseits der Sterblichkeit hin entwickeln, und dass alle, die ihr folgten, auserwählt würden. Wir würden ›gesegnet‹ werden. Weil wir so unschuldig seien. Unter ihrer Führung hätten wir wieder das Stadium unserer ursprünglichen Unschuld erreicht. So wie Engel. Und jeder könnte von uns Auserwählten für unsere Ziele benutzt werden, weil wir ja vollkommen unschuldig seien. Und weil sie die sieben Stufen der Seele, wie sie es nannten, vollendet habe, sei sie in der Lage, das zu erreichen, was sie uns gegenüber als ›vollkommene Göttlichkeit‹ bezeichneten. Die Sieben erklärten uns, Katherine könne nicht mehr bei uns sein, weil sie gerade dabei sei zu inkarnieren. Sie erreiche jetzt eine höhere Seinsstufe.

Und ihre Heiligkeit habe andere Kräfte angelockt. Erscheinungen. Diese wiederum hätten ihr die Gabe der Prophezeiung verliehen. Uns wurde erzählt, sie hätte in direktem Kontakt mit diesen ›Erscheinungen‹ gestanden. Ab diesem Moment änderte sich die Atmosphäre sehr deutlich.«

»Der heilige Schrecken?«

Susan nickte.

»Wie hat es sich verändert? Konnte man das körperlich spüren?«

»Ja. Ja, das konnte man. In den frühen Morgenstunden, wenn die Sitzungen ihren Höhepunkt erreichten. Wenn die Teilnehmer erschöpft waren. Und schwach. Ausgelaugt vom vielen Weinen und Bekennen und vom Widerstand gegen die ständige Bevormundung. Immer zu diesem Zeitpunkt wurde uns erzählt, es wären nun andere ›Wesen‹ oder ›Erscheinungen‹ unter uns.«

Kyle wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, eine weitere von Max’ Fragen zu stellen. »Haben Sie gesehen, dass sich irgendetwas in dieser Art manifestiert hat? Oder war es nur ein Gefühl, dass sich etwas Atmosphärisches geändert hatte?«

»Ich glaube, die Luft war anders. Vielleicht kälter. Dichter. Als wären weitere Personen in den Raum gekommen, hätten sich dazugesellt, aber irgendwo hinter uns. Das ist alles nur Einbildung, werden Sie jetzt sagen. Das sehe ich an Ihrem Gesichtsausdruck. Ich nehme Ihnen das nicht übel. Mir ging’s ja genauso. Wir waren damals alle sehr beeinflussbar. Wir waren erschöpft und hungrig und nervös und verängstigt. Aber ich erinnere mich noch genau, dass es sehr eigenartig roch. Ganz grässlich. So wie ein stehendes Gewässer. Wie feuchte Kleider, die lange nicht gelüftet wurden. Um uns herum. Dort unten bei uns.« Susan deutete zu Boden. »Jedes Mal, wenn wir eine Sitzung hatten. Und auch in den Zimmern, in denen wir schliefen. Ich würde sogar sagen, dass es dort noch schlimmer war.

Uns wurde gesagt, diese ›Erscheinungen‹ seien gekommen, um den Auserwählten unter uns ihre Wünsche mitzuteilen. Und dass wir unsere Träume und Visionen analysieren sollten, um sie dann bei den Sitzungen zu erzählen.«

»Was für Visionen sind das denn gewesen?«

»Manche behaupteten, sie hätten plötzlich in das Innere eines anderen sehen können. Oder sie könnten sich selbst mit den Augen eines anderen sehen oder hätten sich mit einem Mal in einem anderen Raum befunden. Andere sagten, sie hätten Stimmen gehört, in sich drinnen oder auch hinter sich. Manche erzählten sogar, sie seien gereist.«

»Gereist?«

»Aus ihren Körpern heraus, während sie schliefen. Und sie taten alle so, als seien es heilige Erfahrungen gewesen. Aber ich konnte nicht glauben, dass da irgendwas Heiliges dabei war. Im Gegenteil. Mir kam das alles eher wie eine Heimsuchung vor.«

»Hatten Sie auch solche Erlebnisse?«

»Nein. Ich hörte nie irgendwelche Stimmen und bin auch nicht außerhalb meines Selbst gereist oder sah etwas durch die Augen eines anderen. Gar nichts in dieser Art. Ich habe an all das nicht geglaubt. Meiner Meinung nach dachten die anderen sich das nur aus, um den Sieben zu gefallen, oder um den Wahnvorstellungen von Katherine etwas hinzuzufügen, damit es so aussah, als ob sie sich in eine Göttin verwandelte und diese ganzen Geister um sich herum hätte, die sie irgendwohin führten. Viele waren bereit, einfach alles zu glauben oder wenigstens so zu tun, damit sie in ihrer Gunst standen. Darauf lief es dann ja auch hinaus.« Susan machte eine Pause, um sich wieder zu fangen. »Das Einzige, was ich erlebt habe und bis heute nicht erklären kann, war eine gemeinsame Vision.«

»Möchten Sie uns davon erzählen?« Kyle hörte, wie Dan hinter seinem Sucher vor sich hinkicherte, und warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Wir träumten alle vom gleichen Ort. Der Zuflucht. Dem neuen Tempel. Das sei es nämlich, wurde uns erklärt. Katherine hatte auch diesen Ort gesehen. Das berichteten die Sieben.«

»Wie sah dieser Ort aus?«

Susan schloss die Augen. »Es war dunkel. Aber ich erinnere mich an einige Gebäude aus Stein mit Holzdächern. Sie standen im Regen auf einem Feld mit hochgewachsenem Gras. Der Himmel darüber war eigenartig. Er war wellig. Auf eine unnormale Art. Als würde dort eine große Hitze herrschen, die von oben nach unten drängte. Oder als wäre der Himmel nicht wie üblich geformt. Aber das Merkwürdige war, dass alle Teilnehmer an dieser Sitzung das Gleiche sahen. Wir konnten es einander aber nicht irgendwie suggeriert haben. Manche riefen aus, dass sie Häuser sehen würden. Ein anderer sagte, er könne sie auch sehen und zählte sie. Und dann schrien andere dazwischen und beschrieben Einzelheiten und Formen, die wir alle vor unserem geistigen Auge sehen konnten. Jemand sagte, dass es ein verlassener Ort sei. Das stimmte. Man merkte es sofort. Eins der Gebäude war länglich und weiß mit vier hohen Türen. Ein anderes war ganz aus dunklem Holz wie eine Scheune. Beim dritten Haus fehlten die Dachziegel.

Ich sagte nichts dazu, aber ich konnte jede Einzelheit vor mir sehen. Alles, was die Anwesenden einander lautstark beschrieben, sah ich vor meinem geistigen Auge, bevor jemand ein Wort gesagt hatte.«

»Wie hat man das anschließend interpretiert?«

»Dass wir an Katherines Vorahnung teilgenommen hatten. Dass die Apokalypse bevorstand. Und dass der Ort, den wir in unserer Vision gesehen hatten, unsere Zuflucht war. Man sagte uns, alles würde genau darauf hinauslaufen. Die langen Sitzungen, die Selbstfindungsprozesse, das Ausmerzen unserer Egos. Die Glaubensprüfungen, unsere Hingabe an Katherine, all das würde nun Früchte tragen. Diejenigen, die jetzt noch in der Zusammenkunft übrig geblieben waren, seien die Auserwählten. Wir hätten eine Verbindung zu den ›Erscheinungen‹ aufgebaut. Und nun würde der Aufstieg beginnen.«

»Aber Sie waren nicht davon überzeugt?«

»Nein. Nicht im Geringsten. Aber diese Vision konnte ich mir dennoch nicht erklären. Vielleicht wurde sie uns ja schon viel früher eingeimpft. Ich weiß es nicht. Aber gleich nach dieser Nacht wurden Pläne für eine Umsiedlung nach Frankreich geschmiedet.«

»Und Sie entschieden sich dann, nicht mit nach Frankreich zu gehen?«

Susan schüttelte den Kopf. »Die Zusammenkunft war paranoid und viel zu sehr vergiftet von Missgunst und Eifersucht. Ich wollte da nicht mehr mitmachen. Für mich war das alles sinnlos geworden.«

»Hat irgendjemand sonst die Sekte verlassen, bevor sie nach Frankreich aufbrach?«

»Ein paar. Ungefähr zehn, glaube ich. Aber die Gruppenbildungen und die Rivalitäten ließen eine Weile nach. Die Ankunft der ›Erscheinungen‹ schien alles wieder besser zu machen. Jetzt hatten die Mitglieder das Gefühl, trotz allem Teil einer bedeutenden Sache zu sein. Dass es das alles wert gewesen sei, und dass die Zusammenkunft überleben würde. Außerdem wurde uns ein Foto gezeigt von dem Bauernhof, den Katherine vom Geld der Sekte gekauft hatte. Von unserem Geld. Es war der Ort, den wir in unserer Vision gesehen hatten. Kein Zweifel war möglich. Und das war wirklich wie ein Wunder. Viele von uns vergaben Katherine alles, nachdem sie das gesehen hatten. Aber ich konnte das nicht. Genauso wie Max. Also gingen wir noch am gleichen Tag. Eine Woche vor der ersten Diaspora.«

»Entschuldigen Sie, haben Sie eben Max gesagt? Meinen Sie etwa unseren Max? Maximillian Solomon?«

Susan warf Kyle einen Blick zu und zuckte zusammen. »Bitte, sagen Sie ihm nicht, dass ich Ihnen davon erzählt habe. Aber es stimmt. Er war von Anfang an hier dabei.«

 

»Die war ganz schön durchgeknallt«, sagte Dan. Er kniete vor dem Laptop, wo er sich hingehockt hatte, als Kyle mit Susan nach draußen gegangen war, um ihr ein Taxi zu rufen. Dan war in dem Zimmer zurückgeblieben, das zur Straße zeigte, um die letzte SDHC-8-GB -Speicherkarte zu beschriften. Alle Hüllen mit den Speicherkarten waren genauso beschriftet wie früher die Videokassetten, mit Titel und Datum versehen. Die Informationen wurden außerdem in ein Notizbuch eingetragen, sodass sie genau vor Augen hatten, wie viel Material sich auf welcher Speicherkarte befand. Bei seinem ersten Film hatte er das versäumt und musste eine Menge Zeit darauf verschwenden, die einzelnen Aufnahmen zu katalogisieren. Nie wieder.

Und wenn er erst mal den Rohschnitt gemacht hatte, würde er das Material vom Laptop löschen, damit dort wieder genügend Speicherplatz für die nächsten Aufnahmen war. Finger Mouse hatte ausreichend Festplatten-Speicherplatz in seiner Wohnung in Südlondon, um das gesamte Rohmaterial einer zweistündigen Dokumentation aufzubewahren. Er würde zwei Sicherungskopien von den Masterschnitten anfertigen. Eine davon würde Kyle bekommen, die andere Dan, und Finger Mouse würde das Original behalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle drei Wohnungen in der gleichen Nacht abbrannten, war ziemlich gering. Sie waren alle drei keine Ordnungsfanatiker, aber was die Aufbewahrung des Filmmaterials betraf, hatten sie immer größten Wert auf Verlässlichkeit gelegt. Das lag ganz einfach daran, dachte Kyle manchmal, dass nichts sonst in ihrem Leben wirklich zählte.

»Das kann man wohl sagen. Aber das wundert mich nicht. Nach allem, was sie durchgemacht hat. Das war ein großartiges Interview.« Er übertrieb nicht. Trotzdem war er gleichermaßen verwirrt wie enttäuscht. Max hatte nichts von seiner Verstrickung in diese Sekte erzählt, und das warf einen Schatten auf das ganze Projekt. Kyles Enttäuschung wurde noch verstärkt durch Susan Whites plötzlichen Drang, das Haus zu verlassen. »Wie spät ist es? Sieben! Ich will doch hier nicht die Nacht verbringen. Ich muss gehen. Ich bin müde.«

Die Erinnerungen an ihr Leben in diesem Haus an der Clarendon Road hatten sie erschöpft. Anzuhören, wie ihre anfängliche Begeisterung in Verzweiflung, Trauer und schließlich völlige Resignation umgeschlagen war, hatte Kyle ebenfalls fertiggemacht. Sie war Teil einer besonderen Sache gewesen, aber der Schaden, den sie davongetragen hatte, war offensichtlich immens.

»Ich dachte schon, wir müssten diese Aufnahme in den Wind schreiben«, sagte Dan. »So wie die hier aufgekreuzt ist als Mischung aus Barbara Cartland und Rummelplatz-Wahrsagerin und dann schon draußen zusammengeklappt ist. Aber sie war trotzdem super. Hat eine Menge Farbe in den Film gebracht. Nicht nur im übertragenen Sinn.«

Kyle setzte sich und lachte vor sich hin. Dann schaute er sich um. Diese schicke Wohnung würde bestimmt bald einem amerikanischen Finanzhai mit turbogebräunter Ehefrau gehören. »Und was hältst du davon?«

Dan schüttelte grinsend den Kopf. »Ziemlich unglaubwürdiges Zeug. Aber wenn das so weitergeht, kriegen wir einen tollen Film zusammen.«

»Glaubst du ihr?«

Dan zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Solche Sachen sind in den Sechzigern massenweise passiert. Selbst ernannte Heilsbringer, Gurus, die ihren Anhängern das Geld aus der Tasche ziehen. Und die ganz großen Nummern gondeln in Limousinen zusammen mit den Beatles herum und tragen eine Rolex am Handgelenk. Die hatte es faustdick hinter den Ohren, diese Schwester Katherine. Ich meine, ihre Jünger liefen da draußen rum wie Wachturm-Verkäufer in Horrorfilm-Kostümen, und sie geht los und kauft sich was Schickes in der Boutique.«

Kyle lächelte. Er streckte sich auf dem Parkettboden aus, um seine Glieder zu entspannen, nachdem er den ganzen Tag die Tonangel mit dem Mikro gehalten hatte. »Und was ist mit diesen Erscheinungen? Max sagte doch, wir sollten uns vor allem darauf konzentrieren.«

»Blödsinn.«

Kyle lachte auf. »Meinst du wirklich?«

»Na klar, auf jeden Fall.«

»Mir hat’s gefallen. Das war schräg. Ganz schön schräg.«

»Trotzdem Blödsinn. Jede Wette, dass die Joints geraucht haben so dick wie kubanische Zigarren. Und wahrscheinlich haben sie Mandrax ohne Ende geschluckt. So war das damals in den Sechzigern.«

Nicht hier. Das kam erst später. Irvine Levine behauptete, die Sektenmitglieder hätten vor ihrer Zeit in Kalifornien keine Drogen genommen, erst in der zweiten Diaspora, als sie ihren Namen in ›Tempel der Letzten Tage‹ änderten. Aber Levine hatte sich in seinem Buch nicht mit dem mystischen Aspekt und den ›Erscheinungen‹ beschäftigt, ihn hatten nur die kriminellen Aktivitäten interessiert, in die Schwester Katherine und ihre Anhänger später verstrickt waren.

Dan schaltete den Laptop aus. »Und was nun, Chef?«

»Kneipe. Essen.«

»Gute Idee.«

»Es gibt ein Pub namens The Prince of Wales zwei Straßen weiter. Hab ich gegoogelt.«

»Ich bin dabei. Kommen wir dann noch mal zurück und bringen hier alles zu Ende?«

Kyle sah Dan fragend an. »Meinst du? Wir haben das Haus doch auch noch morgen zur Verfügung.«

»Wir sollten so viel wie möglich heute erledigen. Ich muss morgen zu dieser Taufe. Das kann den ganzen Tag dauern. Und dann hab ich nächste Woche noch ein paar Tage für Reel Store zu tun, deshalb würde ich morgen Abend ganz gern früh ins Bett gehen. Außerdem muss ich noch alles Mögliche zusammensuchen, bevor wir uns auf den Weg nach Frankreich machen.«

»Die Tickets für die Fähre hab ich schon.«

Dan nickte. »Und Bruder Gabriel steht auch bereit?«

»Ja, allerdings hat der weder E-Mail noch Handy.«

»Echt? Der lässt sich seine Nachrichten wohl von den Erscheinungen durchgeben.«

»Er hat einen Festnetzanschluss, ich hab ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass wir ihn am Donnerstag abholen.«

»Hast du ihm auch gesagt, dass ich im Auto keine Erscheinungen haben möchte?«

Kyle lachte. »Verdammt, das hab ich total vergessen.«

 

Als sie sich auf den Rückweg zu dem Haus an der Clarendon Road machten, war die Sonne schon untergegangen und die Stadt belebte sich, denn es war Samstag. Herausgeputzte Passanten waren auf dem Weg zu Partys und Restaurants in Notting Hill und Holland Park, überall wurde der graue Abend von aufblitzenden kurzen Röcken, weiblichem Gelächter und dem kraftvollen Aufjaulen von Automotoren und dem heiseren Grollen der großen Taxis belebt.

»Ganz schön schick.«

»Kann man wohl sagen.«

»Hier sieht’s jedenfalls nicht nach wirtschaftlichem Niedergang aus.«

»Na komm, die richtig Reichen wagen sich nicht über die Grenze von Shepherds Bush.«

Die Clarendon Road, die am Rand von Notting Hill vorbeiführte, lag bereits im Zwielicht. Je weiter sie sich von dem Pub entfernten, umso mehr verschwanden die typischen Stadtgeräusche in der Ferne: Martinshörner, laute Stimmen und das gelegentliche, unpassende Dröhnen von Bollywood-Soundtracks, wenn die stillen und noblen Fassaden der Clarendon Road die Geräusche aus anderen Ecken der Stadt reflektierten.

Dan rülpste. »Was glaubst du wohl, wie teuer die Häuser hier sind?«

»Ich hab mal eine Anzeige von einem Makler in der U-Bahn gesehen, da wurde eins für fünf Millionen angeboten.«

»Die müssen ja ganz schön viele Gospel-Ausgaben verkauft haben damals, damit sie die Miete bezahlen konnten.«

»Sie hatte es eben gern großzügig.«

Das Haus lag jetzt im Dunkeln. Kyle fand den richtigen Schlüssel nicht gleich. »Das dritte Bier war eindeutig ein Fehler.«

Dan lachte auf. »Wenn du dir meine Aufnahmen ansiehst, wird dir bestimmt schlecht.«

Vor sich hin kichernd taumelten sie ins Haus. Sie waren angetrunken, es war dunkel und sie fanden sich nur schwer zurecht. Da es keine Vorhänge gab, fiel das blasse Licht der Straßenlaternen herein, hatte allerdings keinen großen Effekt.

Kyle suchte in der Eingangshalle nach dem Lichtschalter und drückte drauf. Es blieb dunkel. »Mist.«

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Dan.

Kyle schüttelte den Kopf und lief mit lauten Schritten die Eingangshalle entlang. Er betätigte den Schalter in einem der vorderen Zimmer. Kein Licht. »Die Sicherungen sind wahrscheinlich raus. Wie viele Akkus hast du noch?«

»Drei sind übrig. Das reicht, jedenfalls wenn du es ein bisschen künstlerischer haben willst. Mit vielen Schatten. Oder …«

Kyle kam zurück in die Halle, wo die breiten Umrisse von Dans Körper den größten Teil des Lichts abblockten, das durch das Fenster über der Eingangstür hereinfiel. »Oder?«

»Nachtaufnahmen. Mit langsamer Verschlusszeit. Dann kriegen wir so was hin wie bei Blair Witch Project

Kyle lehnte sich gegen die Wand und legte die Hände auf einen Heizkörper, als wollte er sich wärmen. »Keine schlechte Idee. Die Aufnahmen von Susan haben wir bei Tageslicht gemacht. Mein Kommentar könnte dann über die dunklen Innenaufnahmen laufen. Ich hatte sowieso vor, ein paar Nachtaufnahmen einzubauen, sonst wird’s ein bisschen eintönig.«

»Super. Wo fangen wir an?«

»Im Keller. Wir können das Zeug da unten als Requisite benutzen. Du weißt schon, es soll alles ganz leer wirken, aber überall lauert die Vergangenheit. Ein bisschen gruselig darf’s auch sein, das kriegen wir mit den Lampen hin, und dann machen wir ein paar Nachtaufnahmen. Eine Kamera kommt aufs Stativ. Und dann noch ein bisschen Steadicam.«

»Klingt gut. Dann hilf mir mal mit dem Krempel.«

Sie stiegen nach oben ins Penthouse, um die Ausrüstung zu holen. Als sie tiefer ins Gebäude vordrangen, wurde das Licht der Straßenlaternen immer schwächer, bis es so dunkel war, dass sie sich vorwärtstasten mussten, um in den Raum zu gelangen, wo sie ihre Sachen abgelegt hatten. Dan legte neue Akkus in die beiden Kameras und überprüfte den Scheinwerfer auf der ersten Kamera. Als das Licht aufstrahlte, war Kyle peinlicherweise sehr erleichtert. Ein kleiner runder Schein ging von der Lampe oberhalb des Objektivs aus, und um den mondartigen Kreis aus hellem Licht formte sich ein weiterer Kreis, der etwas blasser war. Wenn das Licht auf irgendwelche Gegenstände fiel, schimmerten sie auf: Türklinken aus Messing, die glänzende frische Farbe der Türrahmen. Jenseits des Lichtkreises lag alles in vagem Zwielicht, die Wände und der Fußboden, oder in vollkommener Dunkelheit.

Auf der Treppe zum Erdgeschoss blieb Dan plötzlich stehen. Kyle taumelte gegen seinen Rücken, und Dan rutschte zwei Stufen die Treppe hinab. »Blödmann!«

»Warum bleibst du denn stehen?«

»Pst.« Dan drehte den Kopf und schaute hinunter zum Ende der Treppe. »Hast du nicht die Haustür zugemacht, nachdem wir reinkamen?«

»Doch. Ich hab sie abgeschlossen.«

»Hör mal.« Dan hob eine Hand.

Kyle spitzte die Ohren. Die leeren Räume des großen finsteren Gebäudes schienen ganz leise vor sich hin zu summen. »Was denn?«, fragte er.

»Ich dachte, ich hätte was gehört. Da unten.«

Kyle grinste. »Jetzt fang bloß nicht mit so einem Scheiß an.«

»Nein, ernsthaft. Ich hab Schritte gehört.«

»Vielleicht im Haus nebenan?«

Dan senkte die Hand. »Kann auch sein. Nein, du hast natürlich recht. Ich dachte nur, es könnte uns vielleicht ein Penner gefolgt sein.«

»Geh weiter.«

Als sie wieder im Erdgeschoss waren, schloss Kyle die Kellertür auf. »Du gehst vor«, sagte er zu Dan.

»Wieso?«

»Weil du das verdammte Licht an deiner Kamera hast. Ich will doch nicht kopfüber die Kellertreppe runterfliegen.«

»Ist ja schon gut.«

Kyle folgte Dans breitem Rücken ganz vorsichtig nach unten und wünschte sich dabei, er hätte nicht so viel Franziskaner Weißbier getrunken. Aber als er unten auf dem Treppenabsatz angekommen war, blieb er abrupt stehen. »Dan?«

»Was?«

Kyle hob den Kopf und schnüffelte laut. »Riechst du das?«

»Was?«

»Lass mich mal vorbei.« Kyle ging weiter in den Keller hinein. Dan stöhnte unter dem Gewicht der Kamera und der Ausrüstung, während er ihm folgte.

Dan schnüffelte ebenfalls. Und zuckte mit den Schultern.

Das schwache Licht, das am Tag durch die vergitterten Fenster in den Keller gedrungen war, war nun nicht mehr vorhanden. Aber ein leichter Schimmer vom Licht der Straßenlaternen kam immer noch durch. Darin konnte man die herumstehenden Kartons nur ganz schwach erkennen, ebenso die alten Möbel, die frühere Bewohner des Hauses stehen gelassen hatten. Aber mehr als ihre Umrisse war nicht auszumachen. Der Scheinwerfer auf Dans Kamera verströmte zusätzliches Licht, einen silbrigen Schimmer, der Kyle so weit beruhigte, dass er sich fast wieder ganz normal fühlte.

»Das hab ich vorher nicht bemerkt«, sagte Kyle und drehte sich um die eigene Achse, um den Ursprung des eigenartigen Geruchs zu suchen. Er erinnerte ihn an Abwasser, es roch ziemlich durchdringend nach faulen Eiern oder Schwefel. Und nach Feuchtigkeit. Als wäre irgendwo Wasser eingedrungen und hätte ein Stück Stoff getränkt, einen Teppich vielleicht, der nun angegammelt war. Ihm fiel ein, was Susan White gesagt hatte. Er fühlte sich unwohl und musste sich zusammenreißen, damit dieses Gefühl nicht überhandnahm.

»Ah, jetzt verstehe ich, was los ist«, sagte Dan. »Pass auf, wo du hintrittst.«

Kyle starrte die Kartons an, aber es war viel zu dunkel, um erkennen zu können, ob da irgendwas auslief oder heraustropfte oder auseinanderbröselte. Möglich, dass da irgendein alter Müllsack herumlag, den ein früherer Hausbewohner hier deponiert und vergessen hatte.

»Bingo«, sagte Dan.

Kyle schaute zu der Stelle, auf die Dan den Scheinwerfer der Kamera gerichtet hatte, auf eine Wand hinter einem Durcheinander aus Besen- und Wischmoppstielen, deren Schatten dünn und insektenartig auf den alten bröckelnden Mörtel geworfen wurden. »Was?«

»Die Wand. Da kommt was durch. Siehst du?«

Auf dem zerbröselnden Putz waren die Umrisse einer feuchten Stelle zu erkennen, so hoch und breit wie eine Tür. Der Fleck wurde von dicken braunen Adern durchzogen, die nass glänzten. Als Kyle es sich ansah, schien sich der unangenehme Geruch direkt vor seinem Gesicht noch zu verstärken. »Ich werde Max mal sagen, dass er die Maklerfirma anrufen soll. Da ist ein Rohr undicht. Das war vorhin noch nicht da. Sonst hätte man das heute Nachmittag auch schon riechen können.«

Dan richtete den Lichtkegel woanders hin. »Lass uns mal anfangen.«

»Okay. Aber fang besser hier an. Bei der Treppe. Da ist auch ein Luftziegel. Ich hock mich davor, dann kriege ich wenigstens ein bisschen frische Luft ab. Mach einen Schwenk von hier zum Fenster. Versuch einfach, alles draufzukriegen. Wir können dieses gruselige Fenster ganz gut gebrauchen, um die Anfänge zu erläutern.«

»Geht klar.« Dan ging hinüber und stellte die Kamera auf das Stativ, richtete zwei kleine Lampen ein und schrieb mit Kreide auf die Klappe: Szene 6, London, Keller, Innen, Nacht. Kyle schaute in das Skript, um sich seinen Text zu den Ursprüngen der Sekte noch mal zu vergegenwärtigen.

»Fertig?«

»Los geht’s.« Kyle räusperte sich und sprach im Off in das Mikrofon, das er an der Brust befestigt hatte.

Dan schlug die Klappe und trat dann hinter die Kamera.

»Es dürfte nicht überraschen, dass nach einem Jahr des verordneten Zölibats, als Schwester Katherine 1969 damit begonnen hatte, Mitglieder ihrer Zusammenkunft zu Paaren zusammenzuführen und diesen in gewissem Rahmen sexuelle Beziehungen zu gestatten, diese Vereinigungen Früchte trugen. Obwohl die meisten Kinder, die in dieser Sekte zur Welt kamen, auf dem Bauernhof in der Normandie und später in der Wüste von Arizona gezeugt wurden, wurden mindestens vier Kinder in der Londoner Zentrale geboren, und zwar kurz vor dem Aufbruch der Sekte nach Frankreich. Die Babys wurden hier unten versorgt. Der Kontakt der Mütter zu den Kindern war streng reglementiert. Katherine hatte ihren Anhängern verordnet, dass die Kinder der Sektenmitglieder von der ganzen Gemeinschaft erzogen wurden. Sie sollten gar nicht erst in eine Abhängigkeit von ihren natürlichen Eltern geraten. Sich um die Kinder kümmern zu müssen, wurde als eine Art Strafe angesehen …«

»Scheiße«, sagte Dan und sah zur Decke.

»Ich hab’s auch gehört«, flüsterte Kyle.

Und da war es wieder. Etwas schlug gegen eine Tür, irgendwo über ihnen im Haus. Ferne, unregelmäßige, gedämpfte Geräusche wie von schlurfenden Füßen gesellten sich dazu.

»Da ist eindeutig jemand im Haus«, flüsterte Dan aufgeregt. »Du hast also doch die Tür aufgelassen.«

»Hab ich nicht. Ich hab sie zugemacht. Das weiß ich genau.«

Kyle war sich ziemlich sicher, dass die Geräusche aus der Wohnung im ersten Stock kamen, durch die Tür, die seit ihren Aufnahmen am Nachmittag noch offen stand.

»Verdammter Mist«, flüsterte Dan.

»Wir schauen besser mal nach. Komm schon. Vielleicht ist es ja harmlos.«

Dan erwiderte nichts und machte auch keine Anstalten zu gehen. Also stieg Kyle als Erster die Treppe hinauf. Das Licht der Kamera, das durch seine Beine hindurch auf die Stufen fiel, half ihm, sich zu orientieren. »Lass die Kamera laufen«, flüsterte er. »Man weiß ja nie.«

»Was denkst du denn? Ich bin doch kein Amateur.«

»Hallo!«, rief Kyle von der Halle aus durch das Treppenhaus. Möglichst laut, um sein Selbstvertrauen wieder aufzubauen, aber auch, damit der mögliche Eindringling wirklich auf sie aufmerksam wurde. »Ist da jemand? Das hier ist Privatbesitz!«

»Sag doch, dass die Polizei schon alarmiert ist«, murmelte Dan.

Aber dazu konnte Kyle sich nicht durchringen, es kam ihm lächerlich vor. Er wählte die Notrufnummer auf seinem Handy und ließ den Daumen auf der Ruftaste, für alle Fälle. »Los, komm«, flüsterte er Dan zu.

Sie suchten die Erdgeschoss-Wohnung ab. Nichts. Dann stiegen sie in den ersten Stock hinauf und blickten durch die Türöffnungen in jedes der vier leeren Zimmer. Der Scheinwerfer der Kamera beleuchtete nichts als gähnende Leere. Wieder nichts.

Die einzige Ecke, die sie vom Hauptflur aus nicht einsehen konnten, war das Badezimmer, das direkt vom Schlafzimmer abging. »Vielleicht hat sich ja irgendein Cracksüchtiger da reingeschlichen« , flüsterte Dan mit angespannter Stimme. Sie standen dicht nebeneinander und spähten durch die Tür zum Badezimmer. Schließlich wurde Kyle es leid, so ängstlich und wie gelähmt herumzustehen, durchquerte in einer plötzlichen Aufwallung von Selbstbewusstsein das Schlafzimmer und sah ins Bad.

Porzellan, Holz, Chrom, ansonsten leer.

Sie gingen nach oben und durchkämmten das Penthouse, auch leer. Sie stiegen wieder in den ersten Stock hinunter. Kyle schüttelte den Kopf, als sie alles abgesucht hatten. »Nichts.«

»Ein altes Haus. Vielleicht sind die Fundamente ja schon angeknackst.«

»Wahrscheinlich. Jedenfalls ist niemand hier außer uns.«

Dan warf ihm von der anderen Seite der Kamera her einen Blick zu. Sie merkten, dass sie einander mit völlig verzerrten Gesichtern anstarrten, und brachen in lautes Lachen aus. Und Kyle stellte nach all den Jahren der gemeinsamen Arbeit wieder einmal fest, wie sehr er den Klang von Dans kehligem Gelächter mochte.

»Ich muss mal pinkeln. Ich geh da jetzt rein. Kurze Pause«, sagte Dan. »Aber lass uns das dann rasch hinter uns bringen. Wenn ich dieses verdammte Weizenbier erst mal losgeworden bin«, fügte er beim Urinieren über seine Schulter hinweg hinzu.

Kyle nickte. »In Ordnung. Wir nehmen die Anfangssequenz noch mal neu auf. Dann machen wir Nachtaufnahmen oben im Penthouse von Schwester Katherine. Und ein paar Schüsse beim Raufgehen. Den Ton können wir später drüberlegen und das Ganze mit Susans Interview zusammenschneiden.«

Dan nickte, machte den Reißverschluss zu, nahm die Kamera wieder an sich und ging Richtung Treppe. Dort blieb er kurz stehen und wandte sich zu Kyle um. »Meinst du, jemand ist reingekommen und versteckt sich jetzt?«

»Wo denn? Komm schon, beweg deinen Arsch.«

 

»Ein Jahr lang hat Schwester Katherine den größten Teil ihrer Zeit in diesen vier Zimmern verbracht. Nur gelegentlich schlüpfte sie in schicke Designer-Klamotten, legte jede Menge teuren Schmuck an und begab sich nach draußen, um in der Bond Street auf Shopping-Tour zu gehen oder exklusive Klubs in Mayfair, Knightsbridge oder Chelsea aufzusuchen. Davon sind uns einige  wenige Fotos erhalten geblieben. Im Vergleich zum Rest des Gebäudes, wo ihre Anhänger im Gemeinschaftsschlafzimmer ohne jede Privatsphäre dicht nebeneinander nächtigten und vom Schnarchen der anderen Mitbewohner und womöglich den Schreien der Babys aus dem Keller gestört wurden, waren die Verhältnisse hier oben recht luxuriös. Diese Trennung hatte bedeutsame Auswirkungen auf das Bewusstsein ihrer Anhänger.  Es war der deutlichste Hinweis darauf, dass Schwester Katherine eine besondere Autorität beanspruchte, dass sie darauf pochte, als spirituelle Führerin über ihnen zu stehen. Dieser Anspruch würde sich später an den beiden anderen Orten, wohin sie sich mit ihren Getreuen zurückzog, noch deutlicher äußern. Das Ganze sollte dann enden in einem, wie ein Autor einmal schrieb …«

»Alter! Hier ist definitiv noch jemand im Haus. Scheiße!«

Kyle zuckte heftig zusammen und schnappte nach Luft. Er starrte Dans Kopf an. Seine Schläfen waren überzogen mit einem Gewirr weißer Haare. Er wird alt, dachte er dümmlich.

Das Geräusch wiederholte sich. Es klang wie Fußgetrappel und kam aus dem Zimmer oben im Penthouse, das zur Straße hinausging. Ungleichmäßige Schritte, wie von nackten Füßen, die über den Holzfußboden zum zentralen Flur hinwetzten. Aber im ganzen oberen Stockwerk war keine lebende Seele gewesen, als sie oben gewesen waren. Sie hatten sogar zweimal nachgeschaut, damit Dan sich endlich beruhigte.

»Was ist das denn?« Dans Gesicht war angespannt vor Angst. Rasch nahm er seine heiß geliebte Canon X H A vom Stativ.

Kyle zog sich hastig die angehefteten Mikrofone vom Hemd. »Woher zum Teufel soll ich das denn wissen?«

Dan setzte die Kamera vorsichtig auf dem Boden ab und befreite sich von den diversen Geräten. »Das ist nicht witzig. Überhaupt nicht. Ich werde jetzt …« Eine Tür außerhalb des Zimmers wurde mit einer solchen Wucht zugeworfen, dass er abbrach.

Kyle brachte es für ihn zu Ende: »Los, raus hier!«

Dan lief auf die Tür zu. Kyle rannte hinter ihm her. Der Scheinwerfer der Kamera beleuchtete den Raum, in dessen Tür sie innehielten. Sie waren kaum einen ganzen Schritt über die Schwelle getreten. »Wer ist da?«, rief Kyle. Seine Stimme verlor sich in den weiten Räumen des Gebäudes.

Stille. Sie schauten einander an. Dann warfen sie einen Blick nach rechts in den Flur und die Dunkelheit, die sich dort ausgebreitet hatte. Abgesehen von dem Pochen seines Herzens, das ihm in den Ohren dröhnte, konnte Kyle ein leises Pfeifen hören. Eine Flöte? Er war sich nicht sicher. Das kam bestimmt von draußen. Nein, es war das Winseln eines Hundes aus der Nachbarschaft. Denn nun hörte er ein Aufjaulen, als wäre ihm jemand auf die Pfote getreten. In der Ferne. Sehr weit weg. Oder doch über ihnen? Unmöglich. »Hörst du das? Da draußen?«

Dans Augen flackerten wild. »Lass uns verschwinden.« Er drehte sich um, um die Kamera aus dem Zimmer zu holen, hielt dann aber inne. Kyle hob die Hand und signalisierte, dass er Ruhe haben wollte, und zuckte zusammen, als er den eisigen Luftzug spürte, der aus dem hinteren Bereich des Gebäudes durch den Korridor kam. Ein leichter Wind, der einen modrigen Gestank mit sich führte. Im gleichen Moment erinnerte er sich an ein Erlebnis in seiner Kindheit, als er einen toten Vogel aufgelesen hatte, der klebrig von schwarzem Blut gewesen war, staubig und nach Verwesung stinkend. Er hielt sich die Hand vor die Nase: »Uh.«

Dan hustete. »Ich …«

Aber da war es wieder. Schrilles Pfeifen in der Ferne, vermischt mit etwas, das an ein Gurgeln hinter einer Wand erinnerte. Wenig später folgte das Winseln eines Hundes. Sie standen stumm und unbeweglich da, bis das plötzliche Getrampel zahlreicher Füße durch den Flur oben im Penthouse sie aus ihrer Lähmung riss.

Einen Moment lang blockierten sie sich gegenseitig, als sie durch die Türöffnung drängten. Dans Ellbogen stieß gegen Kyles Schulter. Er will mich hinter sich stoßen! Panik flutete durch Kyles Gehirn, gefolgt von einem Durcheinander an leeren Gedanken und dem Bild von Susan Whites faltigem, lippenlosem Mund, der das Wort »Erscheinungen« murmelte.

Er folgte Dan die dunklen Treppenstufen hinab ins Erdgeschoss, die Sohlen seiner Converse-Turnschuhe glitten hastig über die glatten Stufen und schossen nach vorn, der Klang seines keuchenden Atmens wurde übertönt vom lauten Bäng-Bäng-Bäng von Dans Füßen vor ihm.

Kyle konnte nicht mehr schlucken. Er starrte in die Augen seines Freundes, als dieser um den Treppenabsatz bog und weiter nach unten hastete, halb laufend, halb rutschend, und er wünschte, er hätte ihn nicht angeschaut. Dans Augen waren weit aufgerissen, grell leuchtend vor nackter Angst, als das Licht einer Straßenlaterne über sein blasses, unrasiertes Gesicht huschte. Ein hysterisches Gefühl durchzuckte Kyles Körper wie ein elektrischer Schlag, breitete sich bis in seine Arme und Beine aus, war kaum noch auszuhalten und wollte aus ihm herausbrechen, damit er noch schneller vorankam, drängte ihn, über Dan, der vor ihm das Treppenhaus blockierte, hinwegzurennen. Er hatte keine Ahnung, vor wem oder was er davonlief, aber alle seine Instinkte peitschten ihn in die eine Richtung: Raus hier!

Kyle trampelte durch das diffuse Licht, das von der Straße her auf den Parkettboden fiel. Das Licht drang durch die kleinen quadratischen Fenster des Treppenhauses herein, aber es war nur eine Andeutung von Helligkeit. Inmitten dieser kurzen, halbdunklen Flecken setzte er seine Füße ins Nichts und warf sich panisch nach vorn, als hätte er Angst, seine Beine könnten ihren Dienst versagen.

Kyle schaute hinter sich. Sah die Tür, durch die man ins Penthouse gelangte. Sie stand weit offen. Ein tiefschwarzes Loch, irgendwie schmutzig wirkend und aus seiner Perspektive seltsam vibrierend. Darin bewegte sich gar nichts. Aber wenn da etwas zu sehen wäre, das wusste er genau, dann würde er hier auf den Stufen erstarren und wäre unfähig weiterzulaufen.

Aber auf was würde er dann warten?

Er rannte weiter hinter Dan her, der mit großen Sprüngen nach unten hastete, dann über den Treppenabsatz und weiter zur nächsten Treppe. Vor Kyles weit aufgerissenen Augen, die verzweifelt nach Licht suchten, war nur ein völlig verwackeltes Bild der Welt zu sehen. Dabei sehnte er sich nach nichts mehr als Klarheit und einer Wirklichkeit, die erhellt wurde, die er erfassen konnte, die wieder sichtbar war und ihm Sicherheit gab. Dan schnaufte vor ihm, schnappte nach Luft und sorgte für zusätzliche Panik.

Über ihnen, hinter ihnen krachte eine Tür ins Schloss. Vielleicht die, die zum Penthouse führte. Ihr Keuchen, ihre polternden Füße und ihre klopfenden Herzen vermischten sich in seinen Ohren zu einem einzigen grauenhaften Durcheinander, und dazwischen nahm er ein Geräusch wahr, das wie das Schlittern von Krallen über den glatten Parkettboden klang, wie von einem Hund, der verzweifelt versucht, auf die Beine zu kommen. Er hatte jetzt Angst davor, noch einmal zurückzuschauen, Angst davor, dass ihnen etwas folgte.

Ein jäher Luftzug fuhr durch das Treppenhaus herab, während sie wie verängstigte Kinder am Geländer entlang nach unten hasteten. Ihm folgte ein langes Zischen und dann etwas, das Kyle an das Grunzen eines Schweins erinnerte.

»O Scheiße, o Scheiße«, keuchte Dan, als er ausrutschte und mit der Schulter gegen die Wand stieß. Kyle stürmte an der Innenseite an ihm vorbei, nahm die letzten drei Stufen in einem Sprung und kam glücklicherweise nicht aus dem Tritt, bis er an der Haustür angelangt war. Dan war auch schon da und drängte sich von hinten gegen ihn. In seiner Hysterie brachte er nur ein entsetzlich hohes Kreischen heraus: »Aufmachen!«

»Ich versuch’s ja!« Der Schlüsselbund in Kyles Händen zitterte und klimperte. Die Schlüssel schimmerten vor ihm wie ein Haufen silbriger Fische in einem Fischernetz. Er stieß, stach und stocherte ein, zwei, drei falsche Schlüssel ins Schlüsselloch, dann fiel ihm der ganze Bund aus der Hand. Er dachte, er müsste laut aufschreien vor Wut, Angst und Enttäuschung.

Aber da wurde es hinter ihnen im Haus mit einem Mal wieder ruhig.

 

Die Hände auf die Knie gestemmt, schnappten sie nach Luft. Vornübergebeugt standen sie nebeneinander auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus, das still und ruhig in die dunkle Nacht ragte. Die rote Haustür hatten sie auf ihrer Flucht nach draußen hinter sich zugeworfen. Dan schnaufte so heftig, als bekäme er einen Herzinfarkt. Du solltest nicht so viele Kebabs fressen, Dicker, dachte Kyle und kam sich dabei oberflächlich und idiotisch vor, aber das war ganz typisch für jemanden, der nach einer heftigen und erbärmlichen Panikattacke allmählich wieder anfängt, klar zu denken.

Er legte eine Hand auf Dans breiten Rücken und stemmte sich nach oben. Dans T-Shirt war schweißgetränkt. Er roch nach gerösteter Schweineschwarte. Kyle wischte sich die Hände an seinen Jeans ab. »Das ist doch unglaublich.«

Dan brachte kein Wort hervor.

»Mann, echt, Mann.« Er hob die Hände, als wollte er die Nacht anrufen, damit sie ihm erklärte, was da gerade passiert war.

Dan erhob sich träge wie ein alter Mann, der aus dem Rollstuhl steigt. »Hast du überhaupt was gesehen?«

Kyle dachte eine ganze Weile über diese Frage nach, ging alle Einzelheiten dieser irrwitzigen Vision durch, jedenfalls alles, an das er sich erinnern konnte. »Nein. Aber hast du dieses Geräusch gehört?«

»Welches?«

Kyle merkte, wie er nervös vor sich hinkicherte.

»Das war eine richtig verrückte Scheiße da drin, aber echt.« Dans Gesicht war aschfahl, über seiner Oberlippe lag ein Schweißfilm, seine grau melierten Koteletten waren feucht. »Was war das denn?«

Kyle schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich hab Schritte gehört … so ein Getrappel und Getrampel … wie im Zoo.«

Auf Dans verängstigtem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Grinsens. »Wie im Zoo?«

»Vögel. Tiere. Du weißt schon, wie im Zoo halt. Es war weit entfernt. Hast du das mitbekommen?«

Dan schaute ihn ratlos an. Sein schweißnasses Gesicht glänzte. »Ich hab eine Stimme gehört.«

»Nein.«

»So ein Jammern. Als würde jemand versuchen zu singen. Glaub ich. Ohne Worte. Außerdem etwas, das wie ein Hund klang. Und eine Flöte oder so was.«

»Eine Flöte? Meinst du so ein Pfeifen?«

»Ja, so ähnlich. Keine Ahnung.« Er stockte und schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, Scheiße!«

»Was denn? Was?« Kyles Stimme klang eine Oktave zu hoch.

»Die Kameras, Mann. Wir haben die verdammten Kameras da drin gelassen.«

Kyle lachte, eher aus Erleichterung als wegen der Absurdität der Situation. »Falls du glaubst, dass ich ohne geistlichen Beistand noch mal da reingehe, dann hast du dich aber geschnitten.«

»Die Taufe. Ich muss morgen früh um neun Uhr dort sein. Das hab ich Jared versprochen. Mist.«

Sie schwiegen einige Sekunden, die ihnen wie Minuten erschienen, und Kyle starrte zum Haus hinüber. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann’s echt nicht glauben. Ein Teil von mir fragt sich ernsthaft, ob das vielleicht unsere erste, die allererste, verstehst du, die erste Begegnung mit … was auch immer … war, die wir hatten.«

Dan versuchte zu lächeln. »Das kann ja auch eine Ratte gewesen sein, eine Taube, die sich da hineinverirrt hat. Ein Hund. Vielleicht war es auch bloß ein Luftzug. Wir haben was getrunken. Und in solchen alten Häusern gibt’s manchmal komische Geräusche. Es war doch überhaupt nichts zu sehen. Wir haben uns einfach nur ins Bockshorn jagen lassen.«

Kyle wandte sich seinem Freund zu, streckte die Hände aus und drehte die Handflächen nach oben. »Dann geh los, und hol deine Kamera.«