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Phoenix, Arizona
20. Juni 2011, 19 Uhr

 

Hank Sweeney, Detective der Mordkommission im Ruhestand, legte seine Arme, die aussahen wie dicke, mit weichem Fell überzogene Äste, auf die blank polierte Tischplatte. An seinem Handgelenk, inmitten der vielen weißen Härchen, glitzerte eine goldene Uhr. Seine Hand war mit zahllosen Sommersprossen übersät. Für das Interview hatte er sich extra eine Krawatte umgebunden, an die Dan das Mikrofon geheftet hatte. An der Wand hinter seinem rosig glänzenden, breiten kantigen Schädel und dem fleischigen Nacken hingen vier Beförderungsurkunden, drei Medaillen, zwei Fotos, auf denen er als junger Mann eine Uniform der US Airborne Cavalry trug, und drei weitere Bilder, auf denen er in Polizeiuniform zu sehen war, wie er die Medaillen überreicht bekam. An den umliegenden Wänden hingen zwei antike Winchester-Gewehre, eine löchrige und ausgeblichene Regimentsfahne und gekreuzte Kavallerie-Säbel.

Das klimatisierte, helle Haus, in dem sich sein großzügiges Arbeitszimmer befand, hatte die Ausmaße eines Palastes. Draußen wässerte ein Sprenger einen unglaublich grünen Rasen, der genauso akkurat geschnitten war wie die Haare des ehemaligen Polizisten, als er noch eine Uniform trug. Zahllose Blumen rund um das Haus leuchteten rot, rosa und violett. Zwei Autos, ein Lexus und ein schwarzer Geländewagen parkten in der Einfahrt, die mit blass-rosa Steinplatten ausgelegt war. Kyle hatte den Mietwagen auf der Straße vor dem Anwesen geparkt.

Irgendwo in diesem weitläufigen Haus im Ranch-Stil brabbelte ein Fernsehapparat vor sich hin. Draußen, ein Stück weiter hinten, war das kobaltblaue Leuchten eines Swimmingpools zu sehen. Sweeneys Frau hatte eine imposante Frisur, trug einen pinkfarbenen Hosenanzug und sah aus wie eine Großmutter aus dem Bilderbuch. Sie brachte eine Platte mit Sandwichs, mit denen man eine Armee satt bekommen hätte. Ein Krug mit selbst gemachter Limonade vervollständigte den Snack.

»Wir sind bereit, Sir«, sagte Kyle. Er stand links von Dan vor Sweeneys Schreibtisch. Dan grinste frech hinter der Kamera, als er Kyle das Wort »Sir« sagen hörte.

Hank Sweeney räusperte sich, starrte durchdringend ins Objektiv, und Kyle schätzte sich glücklich, dass er nie vor diesem Mann im Vernehmungszimmer gesessen hatte, als er noch Detective gewesen war.

»Unter meiner Leitung arbeiteten drei hochrangige Kriminalbeamte an der Aufklärung der Morde in der Kupfermine. Obwohl es insgesamt zehn Polizisten waren, die sich in den ersten drei Monaten mit diesem Fall beschäftigten, waren vor allem die Detectives Hernandez, Riley und Salazar direkt nach den Vorfällen und auch später mit den Ermittlungen betraut.

Und wir waren gründlich. Sie sollten gar nicht erst andeuten oder versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass wir nur eine Horde von Schwachköpfen waren, die die ganzen Ermittlungen versaut haben.«

Dan musste ein Lachen unterdrücken, und Kyle warf ihm einen strafenden Blick zu.

»Das haben viele in der Vergangenheit behauptet. Und es wäre absolut unangebracht, das Gleiche noch mal zu wiederholen.« Sweeney hob seinen dicht beharrten Arm, um Kyle, der etwas einwerfen wollte, zum Schweigen zu bringen. »Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich mit dieser Tempel-Geschichte abgeschlossen hätte. Ich habe fast allen Leuten, die mich wegen dieses Falls ausgequetscht haben, so ziemlich das Gleiche erzählt. Aber ich bin Max noch was schuldig. Er ist 1975 hergekommen und hat uns ein ziemlich genaues Bild vom Innenleben dieser Sekte vermittelt. Er hat diesen gottverdammten Quatsch in England angezettelt, und seine Aussagen waren für uns bei den Ermittlungen sehr wertvoll.«

Kyle warf Dan einen erstaunten Blick zu, den dieser erwiderte. Anschließend kämpfte er den Ärger darüber nieder, dass Max ihnen nichts von seiner Verstrickung in die polizeilichen Ermittlungen erzählt hatte. Offenbar war diese Mitarbeit sehr diskret behandelt worden, denn nicht einmal Irvine Levine hatte etwas davon erfahren. Eine derartige Heimlichtuerei war unentschuldbar.

»Sir, ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Absicht habe Ihre Schilderungen zu verfälschen, es geht mir im Gegenteil darum, Ihre Sichtweise, so wie Sie sie darlegen, einzufangen. Ich habe keine weitergehenden Absichten.«

»Das mag ja sein. Aber wenn solche Interviews dann geschnitten werden und Gott weiß was damit angestellt wird, dann können solche Filmemacher wie Sie sogar den allmächtigen Jesus Christus dumm dastehen lassen. Ich bin also darauf angewiesen, Ihnen zu vertrauen, weil ich Max noch einen Gefallen schuldig bin. Ich möchte, dass Sie in Ihrem Film noch einige spezielle Dinge berücksichtigen.« Sweeney klatschte in die Hände, um sein Anliegen zu bekräftigen. »Der erste Bericht über die Untersuchungen in diesem Mordfall war sechsundsechzig Seiten dick. Bei den Manson-LaBianca-Morden in Los Angeles waren es gerade mal halb so viel gewesen, und die Jungs da unten, die das 1969 bearbeitet haben, waren ziemlich gut. Und wir kamen allesamt aus der Abteilung hier in Phoenix. Alles Veteranen. Wir hatten Erfahrung. Wir wussten, auf was es ankam.«

Sweeney hielt inne und fasste an den Rand seiner Brille. »Riley und ich blieben am 10. Juli die ganze Nacht da. Wir haben Decken über die Leichen gelegt, die wir im Tempel fanden, nachdem der Untersuchungsrichter uns die Genehmigung gegeben hatte. Wir steckten von Anfang an tief drin in den Ermittlungen.

Als die Spezialisten von der Spurensicherung ankamen – das war um drei Uhr morgens, und bis dahin war das alles hier unsere Show gewesen –, fingen sie an, überall in der Mine nach Fingerabdrücken zu suchen. Die grasten alles ab. Wenn man die unkenntlichen und verschmierten Abdrücke unter den vierhundert gefundenen rausnahm, blieben nur vierunddreißig deutliche und brauchbare Spuren übrig. Neunundzwanzig davon gehörten entweder den Toten oder den Überlebenden, die wir in der Mine in der Nacht des 10. Juli 1975 vorfanden.

Wir nahmen dann Fingerabdrücke von allen im Zusammenhang mit den Morden Befragten, sogar aus Kalifornien und New Mexico. Außerdem verglichen wir die sauberen Abdrücke aus der Mine mit denen von fünfzehntausend registrierten Gewalttätern in den Staaten. Alles negativ. Wir führten Befragungen mit Lügendetektor bei den fünfzehn Personen durch, die Ende 1974 aus der Mine abgehauen waren. Wir gingen alle verfügbaren Karteien durch. Wir schauten uns die Vergangenheit der Opfer genau an. Gingen sogar noch den abseitigsten Theorien nach. Alles wurde in dem Bericht festgehalten.«

»Mr. Sweeney, können Sie uns was über die Verdächtigen sagen, die Sie befragt haben?«

»Haben Sie alle Zeit der Welt? Ich nicht. In den frühen Tagen der Sekte kamen und gingen die Leute. Das war zwischen 73 und 74. Damals verbreitete es sich wie ein Lauffeuer in San Francisco, dass es eine neue Sekte namens Tempel der Letzten Tage gab. Wir haben in den ersten drei Monaten der Ermittlungen gut hundert Personen befragt. Darunter waren auch Jugendliche, die von Zuhause weggelaufen waren, Herumtreiber, Obdachlose, die aus dem einen oder anderen Grund eine Weile in der Mine hausten: Schulabbrecher, Aussteiger, die auf Spaß aus waren, Drogensüchtige, Drückeberger oder beides. Hippies, Rocker, Kleinkriminelle, Ex-Häftlinge, was auch immer. Wir haben auch eine Menge Hollywood-Typen interviewt, die bei Schwester Katherine in ihrem kalifornischen Haus herumhingen. Musiker, Schauspieler. Die haben wir aus Los Angeles herkommen lassen.«

»Was für einen Eindruck von der Sekte bekamen Sie? Was ging dort in der Mine im Jahr 1974 vor sich? Was haben die Befragten erzählt, vor allem die, die dann dort weggelaufen sind?«

»Vielen hat nicht gefallen, was sie sahen, als sie erst mal persönlich dort hinkamen. Und alle, die nicht total verrückt waren, haben uns so ziemlich dasselbe erzählt. Dass Schwester Katherine alles bestimmte, aber selbst nie in Erscheinung trat. Die meisten von uns befragten Leute, die in der Mine gewesen waren, hatten sie nie zu Gesicht bekommen, nur ihr Bild an den Wänden in jedem der Häuser gesehen. Sie benutzte alle möglichen Einschüchterungsstrategien, um sich die Leute gefügig zu machen, und beherrschte sie alle mithilfe einer hierarchischen Gruppe, die sie von ihrem Anwesen aus dirigierte. Das war diese Gruppe von Vollidioten, die sich die Sieben nannten. In Frankreich war es genauso gewesen und auch in England, das konnte jeder herausfinden, den es interessierte. Und uns hat es interessiert. Wir waren sehr gründlich.« Sweeney hielt inne und nippte an seiner Limonade.

»Im Sommer des Jahres 1974 wurden es immer weniger in der Mine. Viele Leute fanden es nicht mehr gut, dass sie ihr Geld und ihren Besitz abgeben mussten. Anderen war das Bibelstudium zu heftig. Vielen wurde es unheimlich, als sie mitbekamen, wie einige der Mitglieder immer heftiger auf den Kult abfuhren. So wie die Sieben. Gegen Ende, ein Jahr später, war nur noch ein harter Kern übrig, der ziemlich übel drauf war. Die nannten sich Moloch, Baal, Chemos, Erebus und Belial, um die Namen der Wichtigsten von diesen Schwachköpfen zu nennen. Für alle anderen war das Leben dort so ähnlich wie im Gefängnis. Einige junge Frauen hatten Kinder und wollten sie nicht verlassen. Also blieben sie dort.«

»Was geschah im letzten Monat im Jahr 1975? Welchen Eindruck hatten Sie von der Gruppe kurz vor dieser Nacht des Aufstiegs?«

»Ungefähr zwanzig Personen lebten im letzten Monat noch in der Mine. Sie wollten die Sekte auf ›das nächsthöhere Niveau‹ bringen, wie Bruder Belial es ausdrückte. Schwester Katherine hat im letzten Jahr die Kontrolle mehr und mehr verloren. Jemand erzählte, Schwester Katherine hätte sich am Ende nur noch wie ein kleines Mädchen verhalten. Sie war geistig völlig verwirrt. Ich meine, die hat allen Ernstes diesen Belial aufgefordert, sie zu töten. Die war total paranoid, weil sie eine Polizeirazzia fürchtete und das FBI und die CIA. Sie hatte versucht, diesen Journalisten, Levine, zu verklagen, aber verloren. Und sie verschob ihr Geld ins Ausland: in die Schweiz, nach Costa Rica und Südafrika. Für den Fall, dass sie flüchten musste. Dabei hätte sie sich überhaupt keine Sorgen machen müssen. Sie wurde überhaupt nicht überwacht. Aber sie war unzurechnungsfähig, ihre Psychose weitete sich im letzten Jahr stark aus. Und es braute sich was richtig Übles zusammen, von dem wir überhaupt nichts ahnten.

Seit Anfang 1975 gingen jeden Monat weitere Menschen dort weg. Wenn es ihnen gelang. Das war noch, bevor sie den Zaun bauten. Der Farmer, der in der Nähe der Mine lebte, fuhr die Flüchtlinge nach Yuma, zur Busstation. Die einzigen Sektenmitglieder, die wir befragen konnten, die noch kurz vor den Morden dort waren, flüchteten ungefähr zwei Monate vor dem 10. Juli. Zwei junge Frauen mit ihren Babys.«

»Martha Lake und Bridgette Clover.«

»Genau die. Gefundenes Fressen für die Journalisten. Sie waren die einzigen Zeugen, die wir hätten aufrufen können, wenn es zu einem Prozess gekommen wäre. Sie kamen wieder nach Arizona und waren unglaublich verängstigt. Wir mussten sie unter Polizeischutz stellen. Sie bestätigten uns, dass sich in der Nacht, als die Bluttaten stattfanden, ungefähr zwanzig Personen in der Mine befanden. Wir holten fünfzehn Leute dort raus. Neun Tote und sechs Lebende. Die Überlebenden waren die fünf Kinder und Bruder Belial. Was mit den anderen fünf Sektenmitgliedern passierte, die nach den Aussagen von Lake und Clover noch dort gewesen waren, haben wir nie herausgefunden. Bruder Adonis, Bruder Ariel, Schwester Urania, Schwester Hannah und Schwester Priscilla. Entweder sind sie weggelaufen und verschwunden, oder sie wurden umgebracht und in der Wüste verscharrt, wie Martha Lake es behauptete. Die Zeugenaussagen der hundert anderen Befragten wurden schon bald verworfen oder vergessen.«

»Warum das?«

»Na ja, vor allem, weil es eine Horde durchgeknallter Hippies war, die von Stimmen in ihren Köpfen faselten und allen möglichen Blödsinn von bösen Geistern erzählten. Eben das, was man von Spinnern und Junkies und Vollidioten so erwartet. Manche behaupteten, sie wären besessen. Andere behaupteten, sie könnten fliegen oder so einen Quatsch. Sie hätten von oben aus der Luft auf ihre Körper sehen können und so weiter. Manche erklärten, ihre Seelen hätten eine Reise in die Hölle und zurück gemacht.«

Wenn es eine Wand in seiner Nähe gegeben hätte, Kyle hätte sich dagegen gelehnt.

»Und wir hatten ja den Mörder und die Tatwaffen. Außerdem ein Geständnis von Belial, das halbwegs was taugte, und den Rest haben wir uns von den Ballistik-Experten und den Forensikern zurechtbasteln lassen. Wir hatten ziemlich schnell ein recht genaues Bild von dem, was in dieser Nacht vorgefallen war. Genauer gesagt, nach einer Woche. Unsere Hauptverdächtigen waren die Sieben. Vier von ihnen wurden im Tempel tot aufgefunden. Das waren die, die sich Moloch, Baal, Chemos und Erebus nannten. Und dann war da noch Belial. Zwei andere waren in der Mordnacht in San Francisco und hatten eindeutige Alibis. Das waren zwei Frauen: Schwester Gehenna und Schwester Bellona. Sie behaupteten, sie wären in geschäftlichen Dingen für Schwester Katherine dort gewesen.«

Kyle dachte scharf nach und überlegte sich die Frage, die ihm auf der Zunge lag, genau. Es war die Frage, die Max in seinen Notizen als sehr wichtig eingestuft hatte: »Es gab immer wieder Spekulationen darüber, dass Belial, Moloch und Baal die Morde nicht allein ausgeführt hätten. Vor allem bei den Leichen, die am Zaun lagen.«

»Sicher. Aber die anderen beiden Schützen waren ja tot. Belial hat sie getötet. Also konnten wir sie nicht befragen. Wir nahmen Fingerabdrücke von den anderen beiden Jagdgewehren, die dazu benutzt worden waren, um die Flüchtenden am Zaun zurückzuhalten oder zu erschießen. Diese Abdrücke passten zu denen von Bruder Moloch und Bruder Baal, die zu den Toten im Tempelgebäude gehörten. Das steht alles auch schon im ersten Untersuchungsbericht. Beweise gegen andere Verdächtige hatten wir in diesem Zusammenhang nicht. Nun ja, lassen Sie es mich mal so ausdrücken, der erste Ermittlungsbericht war sechsundsechzig Seiten lang. Der erste Ergänzungsbericht zur Frage möglicher Mittäter war eine Seite lang, und auf der Seite war ziemlich viel Weiß zu sehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Aber hatten Sie je den Eindruck, dass noch andere an den Morden in dieser Nacht des Aufstiegs beteiligt waren?«

»Wir fanden keinerlei brauchbare Spuren bezüglich der ›Beißer ‹, wie wir sie nannten. Und wir fanden auch nie die Waffe, die, wie wir vermuteten, Belial, Moloch und Baal benutzten, nachdem sie auf die Flüchtenden geschossen hatten, als sie versuchten, über den Zaun zu entkommen.«

»Die Leichen. Welche Spuren gab es, die auf die Todesursachen der vier Personen am Zaun hinwiesen?«

»Als die Autopsie in Phoenix durchgeführt wurde, befanden sich vier stellvertretende Untersuchungsrichter vor Ort. Zwei Gerichtsmediziner aus anderen Bundesstaaten wurden hinzugezogen. Die nahmen sich drei Tage, um die Leichen zu untersuchen, sie waren sehr gründlich. Die Röntgenbilder von den Toten brachten noch mehr Verletzungen und gebrochene Knochen bei zwei Personen zum Vorschein, was mit dem Bild des Tathergangs zusammenpasste, nämlich dass Belial, Moloch und Baal auf sie schossen, als sie zu entkommen versuchten. Die ballistischen Untersuchungen wiesen eindeutig auf die drei Gewehre hin, die in dieser Nacht benutzt worden waren. Die Beweise waren wasserdicht.

Außerdem erfuhren wir durch die Autopsie, dass alle Opfer große Mengen von Drogen zu sich genommen hatten. Amphetamine. Die forensischen Chemiker von der Spurensicherung nahmen Blutproben in der Mine, und zwar vier Stunden nachdem die ersten Einsatzkräfte angekommen waren. Sie machten einen Ouchterlony-Test in Phoenix, um herauszufinden, welche menschlichen und welche tierischen Anteile in den Blutflecken enthalten waren, weil ja auch eine ganze Menge Hunde dort gelebt hatten. Die meisten Blutflecke waren schon getrocknet, als die Spurensicherung eintraf, also war es so gut wie unmöglich, genauere Unterscheidungen zu treffen. Aber die Chemiker haben über hundert Proben gesammelt, und sie stammten alle von Menschen. Und was wir hatten und analysieren konnten, passte exakt zu den Blutgruppen der Toten aus der Mine.«

»Und was war mit den Wunden, die von Klauen und Zähnen stammen sollten?«

Sweeney räusperte sich. »Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen.«

»Entschuldigung. Sprechen Sie weiter.«

»Wir fanden drei Zahnsplitter, sehr verschmutzte, die von den Gerichtsmedizinern in zwei der Opfer gefunden wurden, und ein Stück Fingernagel beim dritten Toten. Wir ließen sie untersuchen, und es stellte sich heraus, dass sie von Menschen stammten, nicht von Hunden oder Katzen. Die Presse behauptete, die Hunde in der Mine seien scharfgemacht worden. Und dass die Opfer, die Angst bekamen und auf den Zaun zurannten, zuerst angeschossen wurden, bevor die Hunde dann dazukamen und den Rest erledigten. Ehrlich gesagt, war das ziemlich vage, aber wir waren ganz glücklich darüber, dass die Leute etwas gefunden hatten, woran sie glauben konnten, denn wir konnten ihnen nichts Besseres liefern.«

»Auf einer der ersten Pressekonferenzen hat die Polizei selbst diese Ansicht vertreten.«

»Weil wir uns in der ersten Woche der Untersuchungen ganz sicher waren, dass es so gewesen ist. Es gab ziemlich viel Druck aus der Öffentlichkeit auf uns, dass wir jemanden verhaften sollten. Wir sollten neue Tatverdächtige liefern. Niemand glaubte, dass Belial sie alle allein umgebracht hatte. Oder dass die fünf Personen im Tempel sich einfach hingekniet hatten und sich abschlachten ließen. Überall in Arizona, Los Angeles und New Mexico bekamen die Leute Angst vor einem angeblichen Kult von verrückten Teufelsanbetern, die nach mehr Blut lechzten. Und ein Gerichtsmediziner, der einige weitere Tests durchführte, kam dann in einer Pressekonferenz mit den vagen Spekulationen, die Bissspuren könnten auch von menschlichen Zähnen herrühren, allerdings von abgestorbenen Zähnen, also solchen, die von sterblichen Überresten stammten. Nicht aus einem lebendigen Mund. Das Gleiche gelte für die Fingernagelreste. Es könnte sich um eine Art Waffe gehandelt haben, die aus menschlichen Knochen gefertigt wurde. Das schloss aus, dass andere Personen involviert waren, die dann geflüchtet waren. Denn Tote können nicht laufen.

Die fünf Sektenmitglieder, die in den Aussagen von Lake und Clover genannt wurden und deren Spuren nie gefunden wurden, fielen ebenfalls als Verdächtige weg: Bruder Adonis, Bruder Ariel, Schwester Urania, Schwester Hannah und Schwester Priscilla. Wir konnten nicht mal als sicher annehmen, dass die fünf in dieser Nacht vor Ort waren. Wir nahmen an, dass sie die Mine vor dem 10. Juli verlassen hatten.

Also schickten wir die ›Totenzähne‹ und die Fingernagelreste zur Universität von New Mexico, um unsere Ergebnisse überprüfen zu lassen. Ein Archäologe schätzte ihr Alter auf fünfhundert Jahre. Was ziemlich verrückt klang und zu neuen Spekulationen Anlass gab. Wir gingen nun also davon aus, dass diese Fragmente von einem Ding stammten, das Belial, Moloch und Baal benutzt hatten, um die Opfer damit zu erschlagen. Von etwas, das wir nie fanden. Egal ob Sie mir die Frage damals gestellt hätten oder heute stellen, ich gebe Ihnen genau die gleiche Antwort: Belial, Moloch und Baal erschossen die vier Opfer am Zaun und töteten dann diejenigen, die noch lebten mit einem Gegenstand, der aus Knochen und Zähnen uralter menschlicher Überreste gemacht worden war. Als Teil eines Rituals.«

»Eine Waffe? Um was für eine Waffe kann es sich denn da gehandelt haben?«

»Die Sekte hatte auch noch andere Dinge dort, die eigentlich in ein Museum gehört hätten. Wir fanden am Tatort weitere Bruchstücke, die über fünfhundert Jahre alt waren. Fetzen von Kleidern, die sie 1972 aus Frankreich hergebracht hatten. Die sie als Reliquien oder so was verehrten. Wir fanden auch Teile einer Bischofsmütze. Können Sie sich das vorstellen? Und eine Art Robe oder Kittel. Einen Schuh aus dem Holland zur Zeit der Religionskriege. Das alles lag in dem Raum herum, in dem wir die geköpfte Schwester Katherine fanden. Das ist das Beste, was der Frau je passieren konnte, wenn Sie mich fragen.«

»Was Bruder Belial betrifft: Den haben Sie doch mehrfach verhört .«

»Belial war völlig durchgeknallt. Lassen Sie sich bloß nichts anderes erzählen. Als wir ihn immer wieder wegen der Nacht vom 10. Juli befragten, sagte er jedes Mal dasselbe. Dass die Zähne und der Fingernagel und die Kleiderfetzen den ›alten Freunden‹ gehörten oder auch ›den Blutsfreunden‹. Als wir ihn fragten, wer die denn seien, sagte er: ›Sie sind mit uns.‹ Und dann schaute er auf, als könnte er jemanden unter der Decke des Verhörzimmers sehen. Er forderte uns immer wieder auf: ›Schaltet die Lichter aus, und öffnet eure Augen!‹ Das war der übliche Schwachsinn, für den dieser Typ berühmt war.«

Kyle musste erst mal schlucken, weil ihm sonst die Stimme versagt hätte. »Levine hat einige Auszüge aus den Verhören von Belial in seinem Buch abgedruckt, auch das, was er bei der Vernehmung mit einem Lügendetektor sagte, die nach den Befragungen durch den Untersuchungsrichter stattfand. Sehr viele Leute dachten, er hätte das gefälscht.«

»Hat er nicht.«

»Aber was ist mit dieser Mordwaffe? Die mit den uralten Zähnen. Wer kann die denn vom Tatort entfernt haben, wenn Belial der einzige übrig gebliebene Erwachsene war?«

»Ich hatte immer das Gefühl, dass es die Hunde gewesen sein müssen. Einer der Hunde, die wir nie gefunden haben, muss das Ding mitgeschleppt haben. Irgendwo in die Wüste. Das Blut darauf könnte Aasfresser angelockt haben, Insekten, was auch immer. Wahrscheinlich liegt es immer noch irgendwo da draußen herum. Wurde wahrscheinlich ziemlich schnell unter einer Sandschicht begraben. Also präsentierten wir auf der abschließenden Pressekonferenz Belial als den einzigen noch lebenden Tatverdächtigen, der die fünf Menschen in der Kapelle der Sekte umgebracht hatte. Dafür sollte er vor Gericht gestellt werden. Vor der Exekution, die die Opfer offenbar gewollt hatten, halfen Moloch und Baal ihm dabei, den vier Personen, die am Zaun gefunden wurden, mit Gewehrschüssen tödliche Wunden zuzufügen. Dann wurden die vier von Belial, Moloch und Baal gemeinsam endgültig getötet, wobei sie eine unbekannte Waffe benutzten. Dann exekutierte Belial seine Kameraden, nachdem sie ihn dazu aufgefordert hatten, außerdem noch Schwester Katherine und zwei andere Personen: Bruder Chemos und Bruder Erebus. Belial hat seine Tatbeteiligung nie bestritten. Er behauptete, er sei dafür von Schwester Katherine ausgesucht worden, und es sei eine Ehre gewesen dieses ›Fest für die alten Freunde‹ zu veranstalten.«

Das wiederholte Erwähnen dieser Freunde brachte Kyle derart aus der Fassung, dass die Muskeln in seinem linken Bein unkontrolliert zu zittern begannen. »Aber die Hunde? Und die Kinder? Die Bilder an der Wand? Der Nebel? Wie haben Sie sich das alles erklärt?«

»Das alles waren keine unmittelbaren Beweismittel in Bezug auf die Morde, nur Teil des ganzen, bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, beschissenen Gesamtbilds, das sich uns bot. Die Hunde sind verängstigt geflohen und nicht mehr wiedergekommen. Sie waren sowieso verwildert. Die lauten Gewehrschüsse dürften sie so erschreckt haben, dass sie das Weite gesucht haben. Die Streifenbeamten, die als Erste am Tatort ankamen, und auch der Besitzer der Nachbarranch haben übereinstimmend erklärt, dass sie, nachdem die Schüsse gefallen waren, in der Ferne Hundegebell gehört hätten.«

»Und die Bilder, diese Zeichnungen an den Wänden?«

»Die Existenz der eigenartigen Zeichnungen in dieser Kapelle erklärt sich leicht durch die Menge der Drogen, die dort konsumiert wurden.«

»Aber der Rauch … in der Luft … Die atmosphärischen Änderungen.«

»Vielleicht haben sie ja irgendwas in ihrer Feuergrube verbrannt, Schwefel zum Beispiel, der solchen schmutzig gelben Rauch verursacht. Die Morde waren ja Teil eines Rituals. Aber mit dem Rauch haben wir uns nie beschäftigt. Was hätte uns das gebracht? Es war Rauch, der von einem Feuer oder einem Schwelbrand stammte.«

»Welche Motive gab es? Für diese Selbstmorde. In diesem Ausmaß. Auf diese Weise.«

»Kaum zu glauben, was? Aber was die Motive betrifft, hatten wir mehrere Szenarios, die alle ganz gut auf diesen Fall passten. Das tatsächliche Motiv war eins von denen, die wir in Erwägung gezogen hatten, vielleicht war es auch eine Kombination aus mehreren. Aber wen konnten wir schon danach fragen? Belial war völlig unzurechnungsfähig bis zu seinem Tod, und nur eins von den Kindern, die wir dort rausholten, hat jemals wieder gesprochen, soweit ich weiß. Das Einzige, das nicht stumm war. Das ›saubere Kind‹, wie wir es nannten. Der Junge war noch nicht sehr lange in der Mine. Von Augenzeugen aus dem Umfeld des kalifornischen Anwesens der Sektenführerin wissen wir, dass sie und das ›saubere Kind‹ bis zwei Tage vor der Mordnacht die meiste Zeit zusammen dort wohnten. Sie hat den Jungen quasi adoptiert. Oder, um es korrekter auszudrücken: Ihn seiner rechtmäßigen Mutter, Priscilla, weggenommen. Auch die anderen Kinder, die wir dort fanden, waren von ihren Eltern getrennt worden. Schwester Katherine hatte dieses kranke Bedürfnis Familien, Paare, Freunde und Ähnliches auseinanderzubringen, das war in der Sekte von Anfang an Programm. Max hat uns das erzählt. Niemand in dieser Organisation durfte eine Beziehung zu einem anderen aufbauen, außer zu Schwester Katherine. Nicht mal ein kleines Baby. So brachte sie alle unter ihre Kontrolle. Teile und herrsche. Wenn du mich nicht lieben kannst, sollst du mich fürchten. Bekanntes Schema.

Deshalb gingen wir davon aus, dass Schwester Katherine und ihre fröhliche Truppe sich gegenseitig umgebracht haben. Entweder aufgrund von internen Rivalitäten, Drogenpsychosen oder einem Selbstmordpakt. Wahrscheinlich von allen dreien etwas, wenn Sie mich fragen. Die Zeitungen beschrieben es als ein satanisches Ritual, bei dem es an einem kritischen Punkt zu Menschenopfern kam. Das Gleiche wurde ja von den Manson-Morden behauptet. Das waren noch andere Zeiten damals. Alles hat sich zum Schlechten hin verändert, aber damals war der größte Teil des Landes noch viel unschuldiger als heute. Ein Journalist behauptete, es sei ›ein Konkurrenzkampf unter Führungsfiguren‹ gewesen.«

Sweeney hob ratlos seine unglaublich breiten Schultern.

»Könnte sein. Das Einzige, wofür wir dankbar sein können, ist, dass sie noch genug menschliches Mitgefühl in sich hatten, um die Kinder am Leben zu lassen. Sie sind allesamt in der Psychiatrie gelandet. Die waren völlig durch den Wind. Vier von denen konnten noch nicht mal sprechen.«

»Damit bleibt mir und allen anderen, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, nur noch ein letztes Rätsel.«

»Ich wette, ich weiß, was Sie mich jetzt fragen wollen.«

Kyle gelang ein Lächeln, aber er sagte nichts.

»Fußabdrücke?«

Kyle nickte nur. Wenn er gesprochen hätte, das wusste er, hätte seine Stimme heiser und zittrig geklungen.

Sweeney zwinkerte ihm zu. »Soweit es mich betrifft, ist das einer von nur zwei Aspekten dieses Falls, die wir nicht zufriedenstellend aufklären konnten. Fünfzehn Jahre später habe ich mich mit dem Fall noch mal befasst. Bei der Staatsanwaltschaft in Phoenix gibt es einen ganzen Raum für die Akten des Mordfalls in der Blue-Oak-Kupfermine. Ich brauchte ein Jahr lang, um mich da durchzuarbeiten. Aber ich habe keine Erklärung für die Fußabdrücke. Wir fanden sie an zwei Stellen am Tatort. Jeweils da, wo die Opfer sich befanden. Drei Abdrücke am Zaun, einen im Innern des Tempelgebäudes. Die Abdrücke waren schon zu einem großen Teil zerstört, wegen des Tohuwabohus, das die Polizei nach ihrer Ankunft veranstaltete. Ich schätze, es dürften rund achtzig Paar Füße gewesen sein, die dort zu einem bestimmten Zeitpunkt im Dunkeln durch den Sand und das Blut getrampelt sind. Vielleicht hatte ja jemand etwas an seinen Schuhsohlen, was diese mysteriösen Abdrücke von langen knochigen Gliedmaßen verursachte. Wer weiß?«

Kyle räusperte sich. »Sie sagten, es seien zwei Aspekte gewesen, die Sie nicht klären konnten. Was war der Zweite?«

»Die Blutspritzer am Tatort waren, wenn Sie mich fragen, irritierender als die mysteriösen Fußabdrücke. Es war ziemlich viel Blut vergossen worden, sowohl im Tempel als auch am Zaun. Aber nicht genug. Manchmal dachte ich, die Opfer in der Kapelle waren vielleicht woanders getötet und danach wieder in die Mine zurückgebracht worden, weil am Tatort viel zu wenig Blut war. Alle Opfer haben sehr viel Blut verloren. Fast alles. Das haben die Autopsien ergeben. Meine Kollegen und ich vermuteten, dass es sich noch immer im Körper befand, und nicht herausgepumpt wurde, weil das Herz zu schlagen aufhörte. Oder dass es durch die Holzbohlen im Tempel in den Boden gesickert war. Die Gerichtsmediziner schauten sich die durchtrennten Halsschlagadern an. Untersuchten die Leiche ohne Kopf. Sie vermuteten, dass sie alle am Tatort ausgeblutet waren. Wir haben uns nie darüber unterhalten. Warum sollten wir auch? Diese Untersuchung ging uns nichts mehr an.«

»Wo ist das Blut also geblieben?«

»Einige Blutspritzer wurden an der Tempeldecke gefunden, das war am Ende der ersten Woche der Spurensuche. Vorher war niemand auf die Idee gekommen, dort oben hinzuschauen. Es sah aus wie von einer pulsierenden Ader versprühtes Blut. Aber falls es das war, wie kam es dann da hinauf? In gewisser Weise schien es, als wäre da jemand in der Luft abgeschlachtet worden. Was überhaupt nicht in Frage kommt. Das war absolut unmöglich. Allerdings hat Belial uns nie genau erklärt, wie und wo die Opfer getötet wurden. Aber dieser Irre war von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt. Im Rückblick frage ich mich, ob er nicht sogar etwas davon getrunken hat. Vielleicht sogar eine ganze Menge, nachdem er ihnen die Kehlen durchgeschnitten hat.« Sweeney hielt inne.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Weil sie das schon mal gemacht hatten. Jemand von ihren eigenen Brüdern und Schwestern gefressen. Lake und Clover haben das bestätigt, auch wenn sie nicht daran teilgenommen hatten. Eine Frau namens Schwester Fina starb Ende 1974 eines natürlichen Todes, und die Sieben haben Teile von ihr gegessen. Haben sie gekocht und das Fleisch auf Brot verteilt. Also hatte Belial das schon mal getan. Er war damit vertraut, das zu verspeisen, was er ›das Manna meines Volkes‹ nannte. Als Belial im Gefängnis in Florence getötet wurde, hat ihn auch jemand in den Hals und in die Handgelenke gebissen.«

»Sein Mörder wurde nie gefunden. Levine vermutete, die Wachen hätten es zugelassen, dass andere Insassen ihn umbrachten.«

»Quatsch. Er war da im Hochsicherheitstrakt. Weil er mit der Todesspritze oder in der Gaskammer hingerichtet worden wäre, wenn er jemals vor Gericht gekommen wäre. Er war an den Handgelenken und am Hals total zerbissen, als sie ihn nach den Unruhen während eines Stromausfalls fanden. Es gab jedoch keine Wunden bei ihm, die darauf hindeuteten, dass er sich gewehrt hätte. Wenn Sie mich fragen, hat er den anderen Verrückten im Gefängnis davon erzählt, dass er Blut getrunken hat. Und einer von denen hielt das für eine gute Idee und machte genau das mit ihm, was er mit seinen Hippie-Freunden draußen in der Mine gemacht hatte. Er wurde im Aufenthaltsraum getötet. Und ließ es ganz einfach geschehen.

Vergessen Sie nicht die Beweismittel. Der Fall war schon so gut wie abgeschlossen. Wir hatten die Mordwaffen, jedenfalls bis auf eine, und wir hatten die Mörder: Belial, Moloch und Baal. Das reichte aus für eine Verurteilung. Es gab noch ziemlich viele Ungereimtheiten, und jeder, der an diesem Fall gearbeitet hatte, gelangte zu einem bestimmten Zeitpunkt zu der Ansicht, dass da noch jemand anderes beteiligt gewesen sein musste. Aber dafür gab es keine Beweise. Keine Zeugen, keine Spuren, bis auf ein paar sehr merkwürdige Fußabdrücke, eine verschwundene, aus Knochen gefertigte Waffe, mit der die Hunde weggelaufen waren, und das fehlende Blut.«