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Er brauchte eine Weile, bis er hinausgefunden hatte. Der Tempel war groß und schlecht erleuchtet und die Architektur verwirrend, insbesondere durch die gewaltigen Brocken, die herabgestürzt waren. Der Art des Lichts, das durch die Löcher im Dach hereinsickerte, glaubte er zu entnehmen, dass es bis zur Morgendämmerung nicht mehr lang sein konnte. Aber hier unten war es nach wie vor so gut wie dunkel. Das Sehen strengte ihn an, der Versuch zu überlegen war noch schlimmer. In seinem Kopf herrschte ein einziges wildes Durcheinander, genau wie der Schutt, durch den er ging …

Habe ich das alles angerichtet?

… Er blieb in Bewegung, hartnäckig seinem Instinkt folgend und vorsichtig, wie er es in Jahren der Schlachten vervollkommnet hatte. Blitzlichtartige Erinnerungen, die er sich größtenteils lieber nicht so genau ansehen wollte, durchzuckten ihn.

Rings umher quietschte der Tempel unheilvoll.

Durch die Geschichte, die Egar ihm erzählt hatte, bekamen die Dinge eine unheimliche Vertrautheit, doch die Erinnerung war wenig nützlich. Aus den Glirsht-Figuren und der Galerie in der Haupthalle hatte er geschlossen, dass er in Afa’marag sein musste, aber er war nach wie vor leicht erschüttert, als er an einer gewaltigen Statue vorüberkam, die das Dach stützte – eine südliche Darstellung Hoirans mit einem Pferdesattel auf der Schulter –, und begriff, dass der Drachentöter genau hier den Dwendas getrotzt hatte.

Er blieb stehen und sah zu dem hoch aufragenden, bärtigen Gesicht unter der Decke auf, zu dem erhobenen rechten Arm, dem jetzt die Hand fehlte. Die Figur hatte nicht ganz die harte Würde des Hoirans mit seinen Stoßzähnen und Fängen, wie ihn der Norden kannte, aber Ähnlichkeiten ließen sich durchaus erkennen.

Die zerschmetterten Überreste der Hand lagen nicht weit entfernt. Ihm fiel ein, was Egar ihm erzählt hatte: dass sie herabgefallen war und dem Kampf ein Ende bereitet hatte. Er betrachtete das Steinwerk genau und entdeckte auf einem gewaltigen Stück des Zeigefingers etwas Dunkles.

Eine kiriathische Fackel.

Sie stand aufrecht, als wäre sie gerade dort abgestellt worden, und das geschwungene Metallgehäuse der Flasche fing das schwache Licht ein und warf es zurück. Es gab sogar eine Lederschlinge, damit man sie am Gürtel befestigen konnte. Wenn das nicht die Fackel war, die er in der Zitadelle an Risgillen verloren hatte, dann war es eine ziemlich perfekte Kopie.

Eine Weile lang starrte er sie an, dann hob er die Augen zu dem riesigen, bärtigen Gesicht, das ihn dort oben überragte. Ein Schauder durchlief ihn. Er verzog das Gesicht und setzte Menkaraks Kopf einen Moment lang ab. Nahm die Fackel und befestigte sie an seinem Gürtel, wo sie zuvor gehangen hatte.

»Mein Drachenmesser hast du nicht auch noch?«, fragte er das leere Düster.

Es erfolgte keine Antwort.

Er wusste auch nicht so recht, ob er eine hätte haben wollen. Weiter durch die dunklen Kammern des Tempels. Schließlich begegnete er zwei panischen Bewaffneten, die sich eine einzige Fackel teilten. Sie blieben kurz vor ihm stehen und sahen ihn groß an.

»Wie komme ich hier raus?«, fragte er sie.

Ihre Blicke schweiften zu dem Kopf hinunter, den er in der linken Hand hielt und der jetzt um die Halswunde und den Mund herum von Staub bedeckt war.

»Nicht ihn ansehen!«, brüllte Ringil. »Sagt mir einfach, wie ich hier rauskomme, verdammt noch mal!«

»Aber, du, das ist Pash…« Der redseligere der beiden schluckte heftig. Zeigte mit der Fackel, die er in der Hand hielt. »Da entlang. Durch den Bogen, dann die Treppe links, dann in den Korridor mit den Basrelief-Mauern. Haupthalle, und raus. Aber, äh, an den Türen steht die gesegnete Wache.«

»Ich rede mit denen.«

Der andere Mann schüttelte benommen den Kopf. »Wir haben gehört, äh, da war … was ist da drin geschehen?«

»Dunkle Energien«, erwiderte Ringil knapp. »Dämonische Kräfte. Die alten Götter sind durchgebrochen, und die Decke ist runtergekommen. Ich an eurer Stelle würde hier nicht mehr allzu lange herumhängen.«

»Aber was ist mit den Sklaven?«, platzte der Mann heraus.

»Die Sklaven, ja.« Ihm fielen weitere Bruchstücke der Geschichte des Drachentöters ein. Er fluchte unterdrückt. »Na ja, ihr geht wohl besser mal los und lasst alle raus, nicht wahr?«

Der Mann, der als Erster das Wort ergriffen hatte, rümpfte die Nase. »Scheiß drauf! Die sind sowieso alle aus dem Norden. Von mir aus soll das verdammte Dach auf die runterplumpsen.«

Ringil nahm den Rabenfreund von der Schulter und richtete ihn auf den Mann. Es fühlte sich merkwürdig mühelos an – der Rabenfreund war leicht, aber so leicht nun auch wieder nicht. Er ließ sein Gesicht völlig ausdruckslos werden und legte etwas Befehlston in seine Stimme.

»Ihr geht beide los und lasst die Sklaven hier raus, bevor ihr sonst was tut. Auf der Stelle. Ich stehe draußen am Vordereingang, und wenn ich eins von euren Gesichtern vor denen der Sklaven zu sehen bekomme, dann teilt ihr euch einen Beutesack mit meinem Freund Pashla hier. Kapiert?«

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatten sie es begriffen.

Er sah ihnen nach, wie sie eilig in der Dunkelheit verschwanden, wartete, bis der Schein der Fackel verschwunden war, und ging dann weiter. Die Beschreibung, die sie ihm gegeben hatten, stimmte. Die Hauptportale standen einen vorsichtigen Spaltbreit offen und ließen die Dämmerung herein. Die gesegneten Wachmänner scharten sich zu beiden Seiten, die Waffen gezogen, und spähten nervös in die Dunkelheit. Bei seinem Auftauchen schraken sie auf und riefen ihn halbherzig an, aber am Ende bereiteten sie ihm kaum mehr Probleme als ihre Kollegen drinnen. Er erzählte ihnen dieselbe Geschichte und gab ihnen den Rat, sich fernzuhalten. Sie ließen ihn durch. Falls einer von ihnen Menkaraks Gesicht erkannte, das an seinem Knie schwang, so wollte ihn keiner deshalb zur Rede stellen.

Wie versprochen stellte er sich in der frischen morgendlichen Luft an die Türen, bis die Sklaven allein oder zu zweit herauströpfelten. Junge Männer und Frauen, hastig in Decken und dünne Kleidung gehüllt, die Füße zumeist bloß, die Gesichter benommen über jeden Ausdruck hinaus, den man hätte lesen können. Gesichter aus dem Norden, jedes einzelne. Er sah sie im frühen Licht blinzeln und zittern, und er versuchte probeweise, ein Gefühl von Verwandtschaft mit ihnen zu entwickeln.

Er spürte überhaupt nichts, was er hätte benennen können.

Du bist nicht durch das dunkle Tor gegangen.

Wirklich nicht?

Dennoch unterband er ein paar Versuche der Wachmänner, über einige der hübscheren Frauen, über einige der noch entzückenderen Knaben herzufallen, und erzählte allen, dass es jetzt Schutzbefohlene des Palastes seien. Bald käme jemand, der sich um sie kümmern würde, also lasst die Finger von ihnen, verdammt! Die Phrase Schutzbefohlene des Palastes bedeutete ihnen eindeutig gar nichts, aber sie würden sich nicht mit diesem hageren, blutbespritzten Söldner streiten, der auftrat wie ein Kommandant und die großartige blutige kiriathische Klinge in der Hand hielt. Für einen solchen Scheiß erhielten sie nicht halb genug Sold …

Er sah die beiden Bewaffneten, die er losgeschickt hatte, heraustreten und nickte ihnen zu. Sie zuckten vor seinem Blick zurück und schlichen davon.

Hinter ihm kroch die Sonne über den Fluss, ergoss ihre Strahlen über die dunkle Masse der großen Tore und überzog den Himmel mit Streifen aus blassem Rosa und Grau. Die Luft begann, sich aufzuheizen. Er wartete den kurzen Auszug ab, dann ließ er den Tempel hinter sich, wanderte zum Ufer hinab und zündete dort die kiriathische Fackel an.

Verwunderlicher Weise funktionierte sie beim ersten Mal.

Die Flasche in seiner Hand ruckte heftig und stieß brüllend ein weißes Feuer aus, das sich langsam dunkler färbte und tanzende Flecken vor seinen Augen zurückließ. Rauch stieg in einem perfekten Halbkreis von der Flamme hoch durch die wärmer werdende Luft, riss dann ab und hing da und trieb östlich auf dem Wind davon. Über Ringils Kopf stand ein chemisch grünes Licht im Himmel, das den Morgen unheimlich befleckte. Im Fluss, weiter unten, sprang etwas Großes aus dem Wasser und versank wieder.

 

Archeth fand ihn am Flussufer sitzend und über das Wasser hinausstarrend, als überlegte er, wie er hinüberkäme. Den Rabenfreund hatte er quer auf seinem Schoß. Pashla Menkaraks Kopf lag eingebettet im Sand neben ihm. Die toten Augen blickten leer auf dasselbe ferne Ufer.

Unter den zollhohen Wellen, die das Wasser ans Ufer warf, ragte Ringils Drachenzahndolch aus dem sandigen Schlamm hervor, bis zum Heft darin vergraben.

Sie blieb ein paar Meter hinter ihm stehen und unterdrückte den Schmerz der Erleichterung in ihrer Kehle. Sie schluckte. Legte die Hände auf die Hüften.

»Gil? Würde es dir was ausmachen, mir zu sagen, was Schutzbefohlene des Palastes zu bedeuten hat, verdammt?«

Er schaute auf. »Da bist du ja.«

»Ja, du weißt ja, wie das ist. Zu dieser Zeit des Morgens bist du mit einem Pferd keinen Schritt schneller. Bin so schnell hergekommen wie möglich.« Sie sah Menkaraks Kopf an und stieß mit einer Stiefelspitze dagegen, sodass er im Schlamm aufs Gesicht fiel. »Wir schaffen den besser weg, bevor ihn jemand zu sehen bekommt.«

»Sie haben ihn bereits gesehen, Archidi.« Er legte den Rabenfreund beiseite und stand mühsam auf. Grinste sie an – sie unterdrückte ein Zusammenzucken. »Niemand wird mir Schwierigkeiten machen.«

Sie nickte zu dem Drachenzahndolch hinab. »Was tut der hier?«

»Oh.« Er zuckte die Achseln. »Lange Geschichte. Ist dort angespült worden, glaube ich.«

»Angespült?« Sie starrte die sauber in den Sand gesteckte Klinge an, deren Griff aus den Wellen herausragte, dann wieder sein blutbeschmiertes Gesicht und die erschöpften Augen, die sie daraus ansahen. »Gil, alles in Ordnung mit dir? Du bist unverletzt?«

Erneut schenkte er ihr dieses Grinsen. »Ein paar Kratzer. Nichts, das nicht nach einem Bad und etwas Schlaf verheilen würde. Du hast den Drachentöter schon raus?«

»Ja. Das ist ’ne längere Geschichte.«

Hinter ihnen polterte etwas. Den ganzen Fluss entlang stiegen Vögel in die Luft. Ringil und Archeth schauten sich gleichzeitig um und sahen einen Abschnitt der Frontfassade des Tempels nach innen zusammenfallen. Eine Staubwolke wölbte sich brodelnd nach außen. Aufgeregtes Geschrei. Uniformen rannten umher, hielten Leute zurück.

»Hab das den ganzen Morgen gemacht«, sagte Ringil zusammenhangslos. Er beugte sich herab und hob das Drachenmesser auf, wischte es sorgfältig an seinen blutigen und schlammbedeckten Hosen ab. Er hielt es ans Licht, als wollte er sich eines Aspekts der Schnitzerei vergewissern.

»Ein gutes Messer«, sagte er. »Möchte ich nicht gern verlieren.«

Noyal Rakan eilte das Ufer hinab auf sie zu. Die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber sie verblasste etwas beim Anblick von Gils Gesicht.

»Mylord Ringil.« Er blieb knapp vor ihm stehen. »Seid Ihr … heil?«

Gil nickte und verstaute das Messer. »Heil genug.«

»Das ist gut.« Der Kommandant vom Ewigen Thron sah zu Archeth hinüber. »Wir müssen ihn sofort zum Palast bringen. Der, äh, Imperator fordert Eure sofortige Anwesenheit.«

»Wirklich?«

»Wirklich«, erwiderte Archeth trocken.

Ein weiterer Teil des Tempels fiel hinter ihnen zusammen. Ringil betrachtete es einen Augenblick lang, dann sah er wieder seine Gefährten an.

»Also gut. Ich säubere mich besser etwas. Hat einer von euch beiden eine Ahnung, was seine imperiale Lichtgestalt so dringend möchte?«

Archeth und Rakan wechselten Blicke. Archeth zuckte die Achseln. Hob die offenen Hände.

»Ich glaube, er wird dir einen Orden verleihen«, sagte sie.

 

Ringil lachte den ganzen Weg über bis zu den Pferden. Es war kein richtig angenehmes Geräusch.

Er lachte nach wie vor dasselbe harte, gnadenlose Lachen still in sich hinein, während die drei westlich am Fluss entlangritten, die aufsteigende Sonne im Rücken und die Gesichter im Schatten. Seine Gefährten warfen ihm verstohlen unbehagliche Blicke zu, aber ihnen wollte nichts einfallen, was sie sagen könnten. Stattdessen trieben sie mit einem Schnalzen die Pferde an, und ihre Tiere liefen etwas schneller. Ihre Schatten eilten ihnen voraus, als wären sie besorgt, etwas zurückzulassen.

Später würden sie bloß sagen, dass er wortlos und steif wie ein Leichnam im Sattel gesessen habe, dass Tränen von dem Gelächter über sein blutverschmiertes Gesicht herabgelaufen seien und Spuren wie von Klauen hinterlassen hätten und dass er sie nicht abgewischt habe.