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»Und wie genau bist du an dieses mörderische kleine Ding gekommen?«

Ringil berührte den Knauf des Rabenfreunds an seiner Schulter. »Es wurde in An-Monal von Grashgal, dem Wanderer, für mich geschmiedet.«

»Ja – eigentlich habe ich mit dem Schwert gesprochen.«

 

Steuermänner – er hatte sie nie sonderlich gemocht, selbst in den alten Tagen nicht. Wenn man tatsächlich einen zu Gesicht bekam, konnte man ihren unbeweglichen eisernen Leibern zu wenig entnehmen, wenn man sie nicht sah, erging es einem mit ihren körperlosen gönnerhaften Stimmen ebenso. Und sie waren viel zu eingenommen von sich selbst. Persönlich, hatte er Archeth erklärt, als das Thema ›Anasharal‹ zur Sprache kam, vertraue ich diesen Dingern etwa ebenso weit, wie ich ihren eingeschmolzenen Kadaver die Straße entlang tragen könnte. Sie sind kaum besser als Dämonen – als würde man den dunklen Hof in einer verdammten Flasche auf seinem Kaminsims aufbewahren. Wer weiß, was sie denken oder beabsichtigen?

In Wahrheit übertrieb er etwas, um des Effekts willen. Im Krieg hatte er viel Zeit in An-Monal verbracht und ab und zu mit Manathan gesprochen, allerdings meistens in Begleitung seiner kiriathischen Betreuer. Der Steuermann hatte ihm keinen Grund zur Abneigung geliefert, abgesehen davon, dass es Ringil jedes Mal ein wenig kalt überlief, wenn er ihn unerwartet aus dem Gestein angesprochen hatte. Für Grashgal und die anderen waren die Dinger Teil des Mobiliars, und im Lauf der Zeit hatte Ringil herausgefunden, dass er eine ähnliche Haltung einnehmen konnte. Was jedoch nichts daran änderte, dass man es mit etwas zu tun hatte, das ebenso starr wie ein Schwert oder eine Tempelmauer war und trotzdem – anscheinend – über eine Intelligenz verfügte, welche die eigene bei weitem übertraf. Und dem es offenbar großen Spaß machte, einen diese Tatsache spüren zu lassen.

Der dunkle Hof und die Dwendas hatten zumindest den Anstand, menschlich zu erscheinen.

»Na ja, du wirst trotzdem mit ihm reden müssen.« Archeth, pragmatisch wie immer, wenn es um etwas anderes als das eigene Leben ging. »Er ist das Herz der Expedition, er ist der Grund, weshalb wir überhaupt losfahren.«

»Ja, das gibt einem zu denken, nicht wahr?«

»Was?« Seite an Seite ritten sie von Shantas Werften zurück durch das mittägliche Gewimmel auf den Straßen und die Hitze der Stadt. Aber selbst vor dem Hintergrund des Lärms und dem Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster hörte er die gereizte Anspannung in ihrer Stimme aufsteigen. »Was soll einem das zu denken geben?«

Er seufzte. Dieses Gespräch war schon längst überfällig. Er hatte es seit Tagen hinausgeschoben.

Ich könnte es jetzt hinter mich bringen.

»Archeth, nun komm schon! Eine Stadt im Meer, ein Klan, der über die Jahrhunderte hinweg Wache steht? So lebt kein Volk, und das weißt du. Nicht einmal das deine. Anasharal spinnt am knisternden Feuer ein Garn für Kinder. Du glaubst nicht mehr daran als ich. Darum geht es bei dem Ganzen gar nicht.«

»Weißt du …« In ihrer Stimme lag eine bemühte Ruhe, ein Warnzeichen für eine schwelende, unterdrückte Wut, das er gut kannte. »Ich werde allmählich verdammt sauer, wenn Männer glauben, mir erklären zu müssen, worin meine echte Motivation besteht. Wenn du dir so sicher bist, dass wir Zeit vergeuden, warum hast du dann …«

»Das habe ich nicht gesagt.« Er drehte sich leicht im Sattel, sodass er sie besser ansehen konnte. »Ich habe nicht gesagt, wir würden unsere Zeit vergeuden. Sieh mal, vielleicht existiert An-Kirilnar ja. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es nicht wie An-Naranash geplündert worden. Die Hironier sind schon zäh, dass sie dort aufs Meer hinausfahren. Und ja, es sind wahrhaft schlimme Gewässer, also haben sie diesen Ort vielleicht übersehen. Darauf setzen deine Kaufmannskumpel gewiss ihre Hoffnungen. Und natürlich schlage ich Köpfe ein und halte die Ordnung für dich aufrecht, und ich fahre mit, wenn du losfährst. Dann habe ich was zu tun, dann bin ich beschäftigt. Aber erzähle mir doch bitte nicht, dass du wirklich der Überzeugung bist, wir würden eine geschäftige kleine Kolonie kiriathischer Wächter da oben finden, die einen nassen Granitbrocken mit einem Grabmal obendrauf im Auge behalten, fröhlich ihre Mission in den vergangenen viertausend Jahre vom Vater auf den Sohn weitergereicht haben und so tun, als würde der Rest der Welt nicht existieren. Ich meine, ist das wahrscheinlich?«

»Es ist nicht unmöglich.«

Wiederum seufzte er. »Nein, es ist nicht unmöglich. Sehr wenig in dieser Welt scheint unmöglich. Aber glaubst du wirklich, das zu finden?«

»Und, was folgt daraus? Du meinst, Anasharal hat das bloß erfunden?« Sie wich allzu offensichtlich aus, und die kratzigen Anzeichen des Krinzanzentzugs lagen in der brüchigen Stimme. »Zu welchem verdammten Zweck, Gil? Beantworte mir das! Eine Kabale von reichen Sonderlingen anzetteln, Schiffe bauen und ausrüsten, Männer anheuern und ausbilden lassen, alles für eine Expedition an einen Ort, der nicht existiert – warum sollte ein Steuermann das wollen?«

Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, das haben wir schon durchgekaut. Du versuchst, die Motive von etwas völlig Unmenschlichem zu ergründen. Warum sollten seine Motive uns irgendwie sinnvoll erscheinen?«

Wortlos ritten sie weiter, ein Dutzend oder mehr trappelnde Pferdeschritte.

»Na schön.« Und Archeth wiederholte mit offensichtlicher, mürrischer Befriedigung: »Du wirst trotzdem mit ihm reden müssen.«

 

Er war sich nie recht im Klaren, weshalb er bewaffnet vor ihn trat.

Für Adelige bestand in der Liga eine gewisse formelle Kleidervorschrift. Der Krieg war schließlich ihr Gewerbe, und es erschien angemessen, dass sie diese Tatsache in der Öffentlichkeit repräsentierten. Vor der Ankunft des schuppigen Volks war diese Tradition etwas in Vergessenheit geraten. Die Adeligen, die bessere Manieren zeigen wollten, trugen zierliche Degen und sorgten sich eher um eine auffällige Scheide und den Handschutz als um den schlichten Stahl darin. Aber mit dem Krieg und dem nachfolgenden Aufstand traten schwere Klingen wieder in Erscheinung, und Ringil hatte im vergangenen Jahr bei seiner Rückkehr nach Trelayne entdeckt, dass er unerwartet auf der Höhe der Mode war.

Aber daran lag es nicht.

Sondern vielleicht einfach an der Tatsache, dass der Rabenfreund seine Verbindung zur Welt der Kiriath darstellte, sein Passierschein und sein Empfehlungsschreiben für alles, was Anasharal repräsentierte. Grashgal hatte ihn in Werkstätten geschmiedet, zu denen Ringil nie Zutritt erhalten hatte, aus Legierungen, für die Menschen keine Bezeichnungen hatten, und Ringil hatte manchmal den Verdacht, dass dort Mechanismen zu finden waren, über welche die Kiriath nur ungern sprachen. Wenn, hatte er einmal Egar gegenüber betrunken eines Nachts in der Steppe argumentiert, diese kryptischen Armleuchter sich von ihren Steuermännern bei der Fahrt mit ihren Feuerschiffen helfen lassen, warum sollten sie nicht etwas Ähnliches haben, das ihnen bei der Kriegführung hilft? Etwas – ich weiß nicht so recht – etwas mit Bewusstsein?

Egar hatte einen Blick auf den Rabenfreund geworfen, der neben dem Feuer gelegen hatte. Und höhnisch gegrinst.

Ja, habe dich ein paar Mal mit ihm reden sehen. Ihn streicheln. Du solltest auf diesen Scheiß achtgeben, Gil.

Ringil hatte einen Stiefel nach ihm geworfen.

Er legte die Erinnerung ab.

»Sprich so viel zum Schwert, wie du möchtest«, sagte er gleichmütig zu Anasharal. »Ich habe hier das Sagen.«

»Na ja, wenn du meinst.«

Er hockte auf einem niedrigen Ziertisch neben der großen Feuerstelle. Morgendlicher Sonnenschein fiel von hoch oben durch die Fenster in der östlichen Wand, sodass die merkwürdigen Facetten und Ritzen in der runden Oberfläche des Steuermanns wie Juwelen glitzerten. Seine Gliedmaßen – wenn es denn welche waren – hatte er gleichmäßig vom Leib abgespreizt wie die Beine einer Sumpfspinne. Sie hoben sich zu einem Gelenk in der Mitte und fielen dann ab zu spitzen Enden, die sich deutlich erkennbar ins Holz der Tischplatte bohrten. Archeth hatte ihm erklärt, dass er sich nicht sehr schnell oder geschickt bewegen könne, aber in Ringils Augen wirkte das Ding, als könnte es jeden Moment zum Sprung ansetzen oder irgendwohin davonhuschen.

»Eigentlich sagt das Lady kir-Archeth Indamaninarmal.« Er löste den Rabenfreund von der Schulter und lehnte ihn vorsichtig an eine Seite des Kaminsimses. In dem harten, hellen Licht schienen sich die Staubmotten um die Waffe zu ballen, als er sie losließ. »Sie hat mich zum Kommandanten der Expedition ernannt. Und da sie in dieser Angelegenheit Gehör beim Imperator findet, würde ich sagen, endgültiger geht’s eigentlich nicht mehr.«

»Und weiß Lady kir-Archeth, wie beliebt du im Augenblick in den nördlichen Gefilden bist?«

Ringil ließ sich auf dem Sessel ihm gegenüber nieder. »Ich würde sagen, sie hat eine Vorstellung davon.«

»Und seine imperiale Lichtgestalt?«

»Was dieses Arschloch denkt, ist mir so was von scheißegal!«

»Verstehe. Auch noch der gute alte Trotz des Todgeweihten.« Aus dem Tonfall ließ sich unmöglich schließen, ob der Steuermann sich über ihn lustig machte oder nicht. »Ja, ich verstehe, warum du auserwählt wurdest.«

»Auserwählt?« Herausgeplatzt, bevor er sich zurückhalten konnte.

»Du weißt, wovon ich spreche – Drachentöter.«

Atme. Setze ein dünnes Lächeln auf. »Niemand nennt mich so.«

»Eine Schande. Bestimmt ärgerlich, dieser Mangel an echter Anerkennung.«

»Na ja.« Ringil setzte sich tiefer in den Sessel. Untersuchte die Nägel der rechten Hand. »Es war eine gemeinsame Anstrengung.«

Die Stille zog sich in die Länge. Er sah den Stäubchen zu, die um den Griff des Rabenfreunds tanzten. Auf dem Tisch zuckte eine von Anasharals Gliedmaßen. Die Spitze hob sich ein winziges Stück und tippte auf die hölzerne Platte wie der Finger eines ungeduldigen Schulmeisters.

»Die Ahn Foi sind nicht gerade deine Freunde, Ringil Eskiath. Das solltest du im Hinterkopf behalten.«

»Ich«, sagte er trotz des eisigen Schauers, der ihn überlief, »kenne diesen Namen nicht.«

»Nein? Wie wär’s damit: Die unsterbliche Wache. Die Mörder der Muhn. Hoirans Bande. Die Himmelsbewohner. Der dunkle Hof. Klingelt da irgendwo eine Glocke?«

Ringil starrte die Maschine an und rang Erinnerungen an Dakovash nieder. »Mit dem dunklen Hof habe ich nichts zu schaffen.«

»Schön«, sagte Anasharal, auf einmal barsch. »Das ist eine gesunde Einstellung. Du wirst länger leben.«

Ringil warf einen Blick zur Feuerstelle hinüber, obwohl sie zu dieser Tagesstunde kalt und voller Asche war. Rang ein schleichendes Gefühl nieder, dass der Steuermann kein einziges seiner eigenen Worte glaubte.

»Lady kir-Archeth berichtete mir«, sagte er, »dass An-Kirilnar als Schutz gegen die Wiederkehr eines uralten Bösen errichtet wurde. Einem menschlichen Verbündeten der Dwendas.«

»Ja.«

»Sie sagt, du hast ihn den Wechselbalg der Illwrack genannt.«

»Ja.« Eine gewisse Durchtriebenheit kroch in die Stimme Anasharals. »Sagt dir dieser Name etwas?«

Wie durch einen Schlag unters Herz war er wieder an den grauen Orten.

Seethlaw, der seine Schwester vorstellte. Ihr archaisches, entstelltes Naomisch.

Ich bin von Namen Risgillen von Illwrack.

»Was kannst du mir über ihn sagen?«

»Über ihn?« Jetzt schwang in der Stimme des Steuermanns eindeutig Heiterkeit mit. »Oder über den aldrainischen Klan, der ihn aufgezogen hat?«

Ringil brachte ein Achselzucken zustande. »Gibt es einen Grund, weshalb du mir nicht über beide etwas sagen könntest?«

Stille legte sich über den Raum zwischen ihnen. Der Rabenfreund war eingehüllt in tanzenden Staub und Licht. Der Steuermann klopfte erneut auf die Tischplatte – mit allen Anzeichen, dachte Ringil, von Verdrießlichkeit.

»Ich weiß, was du bist, Eskiath«, sagte er. »Glaube keinen Augenblick lang, dass ich es nicht wüsste.«

Ringil ließ diese Worte so stehen, ließ sie in die Stille versickern. Er behielt sein ausdrucksloses Gesicht bei. Schließlich legte er einen Fußknöchel übers Knie, beugte sich mit einem Stirnrunzeln in seinem Sessel vor und wischte einen Staubflusen vom Stiefel ab.

»Würde es dir was ausmachen, etwas ausführlicher zu werden?«

Klopf-klopf. Stille.

»Oh, na schön …« Anasharals Stimme wurde jetzt zu einem leichten Singsang. »Der Wechselbalg der Illwrack stammt aus einem edlen Hause, dessen Name jetzt verschollen ist. Als Kind verbrachte er wahrscheinlich – kapierst du das, Ringil Eskiath? – verbrachte er wahrscheinlich ebenso viel Zeit in der aldrainischen Sphäre wie auf der Erde, und von daher bezog er seine Kräfte. Wechselbalg ist eigentlich eine unzutreffende Bezeichnung, ein fälschlich angewandter Mythos der Sumpfbewohner. Sie haben ihn denjenigen der herrschenden Klasse von Menschen angehängt, die wegen ihrer großen Schönheit und Schärfe des Intellekts von den aldrainischen Herren auserwählt und im frühen Alter weggebracht wurden, damit sie die Kultur der alterslosen Sphäre erlernten. In dieser Hinsicht ähnelte es in gewisser Weise der Militärausbildung, die dem männlichen Adel heutzutage im Reich oder in der Liga zuteil wird. Damals wie heute müssen sich die Mütter von ihren Söhnen verabschieden, sie den Armen schrecklicher Fremder überlassen und ihre lange Abwesenheit beweinen.

In jenen Zeiten bevölkerten viele aldrainische Klans die Erde. Die Aldrainer gingen unter den Menschen einher, und das war ebenso wenig bemerkenswert wie bei den Kiriathern, die in den letzten Jahrhunderten unter den Menschen einhergingen. Eheliche Vereinigungen zwischen den Rassen waren nichts Ungewöhnliches, obwohl sie selten zu Nachkommen führten. Freundschaften und Familienbande entstanden. Gab es Nachkommen, so wurden sie verehrt. Viele Klans nahmen Wechselbälger in die alterslose Sphäre, und viele menschliche Adelshäuser gaben ihre Nachkommenschaft freudig für diese Ehre hin. Aber kein Name unter jenen Klans stand so hoch in Ehre wie derjenige der Illwrack – das Königshaus, die Stifter und Anführer der erneuten Inbesitznahme. Und vom Klan Illwrack auserwählt zu werden, war die höchste Ehre. Seine Sprösslinge nahmen nur die allerbesten und klügsten, eröffneten ihnen alle Geheimnisse der aldrainischen Rasse und warfen sie dann zurück in die Welt als ihre mächtigsten und getreuesten Diener. Denn dies war immer die Sitte der Aldrainer gewesen – unterworfene Rassen nicht mit eigener Hand zu regieren, sondern unter den unterworfenen Rassen welche zu finden, die sie dazu formen konnten, in ihrem Namen zu herrschen.«

Ringil knurrte. »War schon immer die Methode derjenigen, die etwas Grips im Kopf und nur beschränkte Mittel für die Finanzierung des Heeres hatten.«

»Ja – nun gut.« Anasharal hielt missbilligend inne und fuhr dann in leichtem, belehrendem Tonfall fort: »Der Wechselbalg wurde von einem Spross der Illwrack mehr oder weniger aus der Wiege geholt. Das Kind soll angeblich so schön gewesen sein, dass der aldrainische Herr gegen seinen Willen wie bezaubert war. Dass er sich mit der ganzen impulsiven Leidenschaftlichkeit seines Volks in ihn verliebte und sich nicht davon abbringen lassen wollte. Er knappste sich die Zeit für die kurze Spanne der menschlichen Jugend ab, lehrte den Jungen und leitete ihn durch alles, was er sehen und wissen sollte, führte den solchermaßen entwickelten Jüngling so jung durch das dunkle Tor, wie es kein Aldrainer zuvor getan hatte. Beschenkte ihn früh, verstehst du, umgab ihn mit seiner ersten eigenen kalten Legion, als er noch keine zwanzig war. Es musste, so will es die Legende, ihn sehr gequält haben, mit solcher Macht ausgestattet worden zu sein. Dann wiederum waren die Augen des Wechselbalgs, heißt es, vom Grün des Sonnenlichts, das durch die Blätter der Bäume fiel, und bei seinem Lächeln, sogar schon als Kind, wurde einem das Herz weich. Nachdem er zum Mann herangewachsen war, war er groß, hatte lange Gliedmaßen und …«

»Dieser aldrainische Herr.« Ringil hielt seine Stimme bewusst neutral. »Hat er einen Namen?«

»Er ist verschollen«, erwiderte Anasharal lapidar.

»Wie so viele Einzelheiten dieser Geschichte.« Ringil rieb müßig an einer abgescheuerten Stelle seines Stiefels herum. »Sag mir, Steuermann: Weißt du genau, dass es da oben jenseits der hironischen Inseln eine Phantominsel gibt? Weißt du genau, dass eine Stadt im Meer Wache hält? Du würdest dir diese ganze Sache nicht einfach aus den Fingern saugen, oder?«

»Ist die Geisterinsel nicht auf den Karten der Schiffsherren aus deiner eigenen Stadt verzeichnet?«

»Auf einigen davon, ja. Ebenso die Stelle, an der vor einhunderttausend Jahren ein treibender Stern in den westlichen Ozean gefallen ist, als die Götter um die Herrschaft über die Himmel kämpften.«

»Na ja, vielleicht gibt’s die auch.«

»Archeth sagt, du behauptest, die Geisterinsel schon zuvor gesehen zu haben, bevor du auf die Erde gefallen bist. Dass du die Oberfläche der Welt seit Tausenden von Jahren beobachtest. Was für mich die Vermutung nahelegt, dass du diesen treibenden Stern ebenfalls gesehen hast.«

Kurzes Zögern. »Vielleicht.«

Ringil nickte. Rieb weiter an der abgeschabten Stelle seines Stiefels herum. »Ist er also da oder nicht?«

Diesmal währte das Zögern länger. Weiterhin klopf-klopf mit einer der abgewinkelten Gliedmaßen des Dings.

»Nein«, erwiderte Anasharal schließlich. »Ist er nicht.«

Wiederum nickte Ringil. »War er je da?«

»Vielleicht. Das war vor meiner Zeit. Aber wenn er außerhalb des Mythos existiert hat, ist er versunken. Herabgefallene Sterne treiben nicht.«

»Inseln kommen und gehen auch nicht wie Piratenschiffe.«

»Diese schon.«

 

»Ich weiß nicht«, sagte er am folgenden Morgen zu Archeth. »Bei irgendwas lügt er. Da würde ich jede Summe drauf setzen. Vielleicht nicht bei der Geisterinsel, vielleicht nicht mal bei An-Kirilnar. Aber da geht was vor sich, etwas mehr, als er uns sagt.«

»Wie zum Beispiel?«

»Wenn ich das wüsste.« Er nickte zur Decke hinauf, zu dem Raum hoch, wo der Steuermann untergebracht war. »Wie ich dir immer wieder sage, Archeth, wir befinden uns in unbekannten Gewässern. Du glaubst, das Ding wäre auf deiner Seite, und zwar einfach deshalb, weil Manathan und die übrigen taten, was ihnen das Volk deines Vaters aufgetragen hat. Aber du bist nicht dein Vater, und dieser Steuermann war damals nicht mit dabei. Er ist von woanders hergekommen, und es besteht kein Grund zur Annahme, dass er nach denselben Regeln spielt wie die anderen.«

»Manathan hat mir Anasharal empfohlen, Gil. Manathan hat uns losgeschickt, das verdammte Ding einzusammeln.«

Ringil zuckte die Achseln. »Dann haben sich die Regeln für Manathan vielleicht ebenfalls verändert.«

Darüber brütete Archeth eine Weile.

»Ich spreche mit Angfal«, kam sie am Ende zum Entschluss. »Ich glaube nicht an eine plötzliche böse Verschwörung der Steuermänner. Wenn da was vor sich geht, wird Angfal etwas zu diesem Thema zu sagen haben.«

»Ja, etwas Kryptisches und Höhnisches.« Ringil gähnte in seine Faust. Er war die ganze Nacht aufgewesen und hatte mit Shendanak und Tand die Logistik der Eskorte erörtert. »Etwas Neues von Eg?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hat sich wie Rauch in Luft aufgelöst. Der Kommandant der Wache veranstaltet ein großes Tamm-Tamm und stellt die ganze Stadt auf den Kopf, aber bislang ist das alles viel Lärm um Nichts.«

»Habe ich mir gedacht. Sie haben nicht die …«

Ein zurückhaltendes Klopfen. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und Kefanin steckte den Kopf herein.

»Mylord Ringil?«

»Ja?« Wenn Shendanak mit weiteren verfluchten Namen von Vettern zurück wäre, denen man sein Leben anvertrauen könnte, würde er ihn …

»Kommandant Rakan vom Ewigen Thron für Euch, Mylord.«

»Oh.« Er sah Archeth an, die bloß die Achseln zuckte. »Dann na gut. Bring ihn rein!«

»Er hat gesagt, er würde im Hof auf Euch warten.«

»Im Hof?«

Nicht, dass das eine unangenehme Aussicht gewesen wäre. Archeths Haus war wie die meisten Herrschaftshäuser auf dieser Seite des Boulevards im traditionellen yheltethischen Stil errichtet, quadratisch wie eine kleine Festung. Hohe Mauern und zweigeschossige Bauten um einen weiten offenen Platz, der in alten Zeiten als Schutzraum für das Vieh vor Dieben und Wölfen gleichermaßen gedient hatte. In seiner städtischen Variante war er gepflastert und mit drei dekorativen Springbrunnen ausgestattet. Auf der Stallseite – ein leises Echo der Tradition – gab es Pferdestangen und Wassertröge, aber sonst prunkte das Innere des Hofs mit Steinbänken unter Markisen und Pergolen, an denen sich karminrote Kriechpflanzen emporrankten.

Unter einer der letzteren entdeckte er den wartenden Noyal Rakan. Der junge Kommandant zeigte sich in vollem Glanz der Ausgehuniform des Ewigen Throns und trug dazu ein Schwert, das mehr zum Kampf als zum Repräsentieren taugte, und er gab, um die Wahrheit zu sagen, insgesamt eine ziemlich einnehmende Figur ab. Aber die Haltung des jungen Mannes, bemerkte Gil, als er und Kefanin näherkamen, entsprach nicht der imperialen Ausstattung. Nein, Rakan stand unentschlossen da und starrte zu Boden, wie eingeklemmt zwischen den Lichtstrahlen, die durch das Laubwerk fielen. Beim Geräusch ihrer Schritte auf den Pflastersteinen drehte er sich linkisch um und streckte die Hand mit einer Herzlichkeit aus, die Gil für gespielt hielt.

»Kommandant Rakan.« Ringil ergriff die Hand und bemühte sich, dem Gesicht des jüngeren Mannes, das vom Sonnenlicht gestreift war, etwas zu entnehmen. »Welchem Umstand habe ich diese Ehre zu verdanken?«

»Die Ehre ist ganz meinerseits.« Rakan brachte ein Lächeln zustande, das eher erschrocken wirkte. »Unter einem solchen Kommandanten zu dienen, ist …«

Die Worte erstarben.

»Schwierig?« Ringil ging aufs Ganze. »Ärgerlich? Macht Euch deswegen keine Sorgen. Ich bin selbst mehrmals auf solche Weise in den Hintergrund gedrängt worden, und einmal sogar von einem richtigen Arschloch. Tut anfangs etwas weh, aber nach einer Weile werdet Ihr einsehen, dass ich Euch einen Gefallen erweise.«

Die Augen des Mannes vom Ewigen Thron wurden groß. »Nein, Mylord. Ich habe einzig und allein Respekt vor Eurem Werdegang und Ruf.«

Die Worte trockneten in der sonnenhellen Luft. Ringil war verblüfft. Rang um Fassung.

»Na ja, das … lässt darauf schließen, Kommandant«, er leckte sich die Lippen, um ein Lächeln zu verbergen, bei dem er sich plötzlich ertappte, »dass Ihr sehr wenig von mir gehört habt.«

»Ich hole eine Limonade«, sagte Kefanin hastig und verschwand.

»Ich habe von der Galgenschlucht gehört«, sagte Rakan mit seltsam ruhigem Eifer. »Und ich habe auch von Beksanara gehört. Ich kenne Männer und habe mit ihnen gesprochen, die unter dem Kommando meines Bruders standen und die gesehen haben, was Ihr dort getan habt.«

Galgenschlucht, Beksanara. Die Belagerung von Trelayne. Du sammelst die Namen wie Schmutz unter deinen Fingernägeln und kriegst sie nicht mehr raus.

Und alle jungen Männer treten in Reih und Glied an und bewundern die verdammten Dinger.

Ringil unterdrückte sein Lächeln. Er räusperte sich und winkte zur nächsten Bank hinüber. »Sollen wir uns, äh, setzen?«

»Ja. Gern.«

Sie ließen sich an den entgegengesetzten Enden der Bank nieder. Rakan streckte sich lang aus, die schlanken Beine in Kavalleriestiefeln, und lehnte sich zurück. Gil spürte jäh einen beschleunigten Herzschlag in seiner Kehle pochen. Zuvor waren ihm die Hinweise entgangen, er hatte in ihnen, wenn überhaupt, die manierierte Lässigkeit gesehen, welche die yheltethische Oberklasse als Beweis ihres überlegenen Stands zur Schau zu stellen pflegte. Jetzt jedoch dämmerte ihm verspätet, dass der Kommandant vom Ewigen Thron Noyal Rakan sich zumindest auf eine Weise sehr von seinem älteren Verwandten unterschied.

»Tut mir sehr leid mit Eurem Bruder«, sagte er linkisch. »Er war ein guter Soldat.«

»Und Ihr habt ihn in einen …« Der jüngere Rakan schluckte. »Guten und ehrbaren Tod geführt. Zur Verteidigung des Reichs gegen das große Böse. Er hätte es nicht anders haben wollen.«

Eigentlich habe ich ihn mehr oder weniger dadurch so weit gebracht, dass ich ihn in Verlegenheit gebracht habe, erinnerte sich Ringil insgeheim. Ich habe ihn herausgefordert, sich in Beksanara zu stellen und zu sterben, und er hat es getan, weil er unmöglich zulassen konnte, dass ihn ein degenerierter Nordländer vor seinen eigenen Männern schlecht aussehen ließ.

»Also«, sagte er, um etwas zu sagen. »Haben sie Euch dieses Kommando übertragen.«

Rakan schüttelte rasch den Kopf. »Nur seinen Rang. Der Dienst für den Ewigen Thron ist unsere Familiensache, wir haben die Khimrans seit drei Generationen mit Leibwächtern und Dienstmännern versorgt. Beim Tod meines Vaters hat Faileh den Posten erhalten. Jetzt bin ich …« Eine kurze, flattrige Geste. »Na ja, es ist halt Tradition.«

»Tradition, hm. Wie zeigt sich das für Euch?«

Einen Moment lang begegnete der junge Kommandant seinem Blick, dann sah er wieder beiseite. »Ich, nun ja … es ist schwierig. Ihr werdet immer an dem anderen gemessen.«

»Ja, das kann hart sein.«

»Ich wollte«, platzte es aus Rakan heraus, »Euch danken. Für Euer Einschreiten neulich. Ich bin den Umgang mit Soldaten gewohnt. Mit den anderen habe ich wenig Erfahrung – Kaufleute und Unternehmer, Männer mit Macht und Reichtum, jedoch keinerlei Gefühl von moralischer Verpflichtung, weder gegenüber der Heiligen Offenbarung noch dem Reich. Das ist nicht … Soll heißen, ich hätte nicht geglaubt, dass es so sein könnte …«

»War mir ein Vergnügen.« Ringil hob lässig, wegwerfend einen Arm. »Oben in Trelayne sind wir eine ganze Stadt voller Kaufleute, sogar diejenigen sind welche, die alles daran setzen, das Gegenteil vorzutäuschen. Die Liga ist heutzutage auf Handel gebaut, nicht auf Eroberung. Ich bin daran gewöhnt.«

Der Kommandant vom Ewigen Thron errötete. »Ich wollte Euch nicht …«

»Beleidigen?« Gil grinste. »Habt Ihr nicht neulich abends Lady kir-Archeth beim Essen gehört? Ich bin von edler Herkunft auf meiner Mutters Seite. Abgesehen davon …« Er fläzte sich etwas, ließ die Hand lässig auf seinen Oberschenkel fallen und dort liegen. »… passe ich nicht so recht nach Trelayne. Ich bin nicht gerade das, was Ihr eine Stütze der Gesellschaft dort nennen würdet. Wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Ich … ja.« Eilig: »Mylord Ringil, ich habe etwas über die Logistik der kommenden Expedition nachgedacht. Da gegenwärtig Gerüchte von Pest und Sklavenaufstand rund um Hinerion in Umlauf sind, werden wir wahrscheinlich die nördliche Sumpfküste meiden müssen. Das bedeutet natürlich eine längere Anfahrt, und wir werden weiter westlich in Gergis an Land gehen.«

»Ja, natürlich.« Er kämpfte um eine lockere Neugier in seiner Stimme. »Sklavenaufstand, sagt Ihr?«

»Anscheinend. Die Berichte der Garnison in Tlanmar sind verworren, aber der Garnisonskommandant scheint sich sicher, dass zumindest eine Sklavenkarawane sich gegen ihre Ketten erhoben und ihre Herren niedergemetzelt hat. Es mag andere geben. Und angesichts der grassierenden Pest will der Kommandant von Tlanmar nicht das Risiko eingehen und eine Streitmacht nach Hinerion entsenden, also haben wir wirklich keine rechte Vorstellung davon, was dort vor sich geht. Natürlich haben wir noch Zeit bis zum kommenden Frühjahr, aber alle Anzeichen deuten daraufhin, dass wir Hinerion, falls möglich, umfahren sollten.«

Ringil brachte ein frisches Lächeln zustande. »Na ja, ist sowieso keine großartige Stadt, Hinerion. Da verpassen wir nichts.«

»Äh, ja. Habe ich auch schon gehört.«

»Obwohl natürlich jede Stadt ihre etwas weniger konventionellere Seite hat. Alle Städte haben Straßen, von denen gesittetere Bürger nicht gerne reden. Selbst Yhelteth, es sei denn, es hat sich seit meinem letzten Besuch sehr verändert.«

Diesmal hielt Rakan seinem Blick stand.

»Es hat sich nicht sehr verändert«, sagte er.