5
Die Jagd ging bis in die Nacht hinein.
Zunächst waren es nackte Panik und Verwirrung, Geschrei und das erregte Gebell der Hunde, die nach wie vor unten am Lager angekettet waren. Das Krachen im Unterholz rings umher. Flüchtlinge, die frei gekommen waren und sich trampelnd und um sich schlagend ihren Weg den bewaldeten Hang hinauf bahnten. Hinter ihnen, zwischen den dichter werdenden Ausläufern des Waldes, verblassender Schimmer von Feuersglut. Gerin brannte die Kehle vor lauter Keuchen, im ganzen Gesicht hatte er blutige Striemen von den unsichtbaren, tief hängenden Zweigen, die zurückschnellten, während er dem Schmied folgte. Er rannte blindlings weiter, die entsetzliche Furcht vor den Jagdhunden trieb ihn an wie eine Peitsche.
Er hatte sie auf dem Marsch gesehen: Große graue Wolfstöter mit zotteligem Fell und Schnauzen, welche die Sklaven von der Seite anzugrinsen schienen, während die Hunde rastlos an ihren Leinen hin und her trabten. Die Angst, die sie erweckten, war eine Urangst. Einst, als Kind draußen im Sumpfland, hatte er gesehen, wie ein Mann von solchen Hunden erwischt worden war, ein Sträfling aus einer Familie der Sumpfbewohner, der aus einem der Gefängnisschiffe im Meeresarm entkommen und in der blinden Hoffnung auf Zuflucht verzweifelt nach Hause geflohen war. Gerin war damals gerade einmal vier oder fünf Jahre alt gewesen, und die Geräusche, die der Mann von sich gab, als ihn die Hunde zu Boden rissen, steckten ihm tief im Schädel an einer Stelle, die Gefühlen des Entsetzens vorbehalten war, für die ihm die Worte fehlten.
Aber die Erinnerung brachte einen bewussten Gedanken mit sich. Er packte den Schmied beim Hemd und riss an dem dahin stolpernden Mann, woraufhin ihm ein weiterer Zweig ins Gesicht schlug. Er spuckte Fichtennadeln aus, wischte sich die triefende Nase und suchte nach Worten.
»Warte – bleib stehen, stehen bleiben!«
Die beiden kamen keuchend zum Stehen, an einem trockenen steilen Abhang, umgeben von Schösslingen und dichtem Unterholz. Sie standen da, hielten einander aufrecht und rangen nach Luft. Rechts schlug sich jemand lautstark durch die Bäume, zu weit entfernt, als dass sie ihn in dem dichten Unterholz hätten erkennen können. Er bewegte sich von ihnen weg, sodass das Getrampel leiser wurde. Die kühle, nach Regen duftende Stille der Fichten hüllte sie ein. Abrupt machte sich die zusammengebackene Masse des Eintopfs in Gerins Magen bemerkbar, stieg ihm heiß in die Kehle. Er beugte sich vor und erbrach sich. Der Schmied starrte ihn bloß an.
»Verdammt, wozu hast du mich angehalten?« Doch er rührte sich nicht.
»Nicht gut.« Gerin stand noch immer vornübergebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt, hustend und würgend. Fäden von Schnodder und Speichel, silbern in dem schwachen Licht, die Stimme selbst ein dünner Faden. »So zu laufen. Nicht gut. Sie haben Hunde.«
»Ich höre die verdammten Köter, Junge! Warum laufen wir, was meinst du?«
Gerin schüttelte den gesenkten Kopf; sein Atem ging immer noch hektisch. »Nein, hör zu! Wir müssen …« Er spuckte, gestikulierte. »… Wasser finden, einen Fluss oder so. Müssen den Duft loswerden.«
Der Schmied schüttelte den Kopf. »Was soll das? Jetzt bist du auch noch ein Experte darin, wie es ist, von Hunden gehetzt zu werden?«
»Ja.« Gerin richtete sich zitternd wieder auf. »Bin ich. Ich habe den größten Teil meines Lebens die Wache von Trelayne und ihre Köter draußen im Sumpf abgeschüttelt. Ich sag’s dir. Wir müssen Wasser finden.«
Der Schmied schnaubte und brummelte etwas Unverständliches. Aber als Gerin sich umschaute, eine Richtung auswählte und sich wieder gewaltsam seinen Weg durch das Blattgewirr bahnte, folgte ihm der Mann wortlos. Vielleicht lag es an dem Vertrauen, das er sich durch den gelungenen Trick mit dem Schaum vor dem Mund und dem Anfall errungen hatte, vielleicht bloß an einem allgemeinerem Zutrauen. In der Stadt zirkulierten eine unendliche Vielzahl an Sagen und Märchen über die Sumpfbewohner; dass sie Wasser im Wind riechen und einen dorthin führen konnten, war allgemeiner Glaube. Gerin überfiel erneut die Angst, und er versuchte den Mythos ebenso zu glauben, wie es sein Gefährte aus der Stadt anscheinend tat.
Wiederholt drückte er Blut aus einem kleinen Schnitt auf seinem Gesicht, vermengte ihn mit Speichel auf dem Daumenballen und blies sanft auf das Gemisch. Unhörbar brummelte er das rasche Gebet an Dakovash, das er auf dem Knie seiner Mutter erlernt hatte:
… Salzherr, Meister des Schattens und der wechselnden Winde, aus dem kalten Quartier des Winds und dem Westen, höre mich jetzt an und strecke deine krumme Hand nach mir aus …
Und vielleicht war es einfach eine Gewohnheit aus der Kinderzeit, das einfachere Selbstbewusstsein, das sie mit sich brachte, oder die flüchtige Erinnerung an die Wärme der Mutter, aber das Unterholz vor ihm schien jetzt etwas nachgiebiger zu sein, die Äste und Zweige schienen seine Haut etwas weniger zu kratzen, und der Boden unter seinen Füßen schien fester zu werden und seine Füße zu lenken.
Der Wald öffnete sich und atmete sie ein.
Eine Stunde später stolperten sie über den Fluss, ein schwaches Glucksen fließenden Wassers und ein unterbrochener, vom Bandlicht erhellter Faden am Grund eines flachen Tals. Die Geräusche der Verfolger waren Richtung Norden verschwunden, und sie legten auf dem Landsattel, der den kleinen Fluss überblickte, eine Pause ein. Zeit, einander anzusehen und zuzugrinsen, bevor sie zwischen den Bäumen hinabstiegen und jetzt leichter atmeten, weil sie etwas bedächtiger weitergehen konnten. Es war ein wenig wie das Erwachen aus einem Albtraum. Die Köpfe weniger ausgefüllt mit Furcht, sodass Raum für andere Gedanken blieb als den, bloß den Hunden zu entfliehen, und Gerin allmählich die rohen Schwielen spürte, die die Schellen an Fuß- und Handgelenken hinterlassen hatten. Das fiebrige Zittern in seinen Gelenken, das heisere Kratzen in seiner Kehle beim Atmen.
Sie erreichten das Flussufer, fielen auf die Knie und tranken das Wasser in tiefen Schlucken.
»Du hast gewusst, dass der Fluss hier ist?«, fragte ihn der Schmied, als er schließlich zum Luftholen wieder auftauchte. »Du hast ihn wirklich riechen können, wie du gesagt hast?«
Gerin schüttelte den Kopf, weil er sich wahrhaftig nicht mehr sicher war. Etwas hatte ihn vorangetrieben, mehr wusste er nicht. Er zog die schlammbeschmutzten Hände durch sein nasses Haar und über das Gesicht. Zuckte zusammen, als das Wasser in den Wunden der Fesseln brannte.
»Wir müssen vom Ufer weg«, sagte er. »In der Mitte bleiben und flussaufwärts oder abwärts weiter. Dann können die Hunde nicht folgen.«
»Wie lang? Das Wasser ist verdammt eisig.«
»Eine Weile.« Gerin watete bereits hinein, bis auf Höhe seiner Waden. »Sie lassen die Hunde auf beiden Seiten am Ufer entlanglaufen, damit sie nach dem Geruch suchen, aber das braucht so seine Zeit. Und sie müssen sich für eine Richtung entscheiden. Dadurch bekommen wir eine fünfzig-fünfzig Chance. Und ich kenne noch mehr Tricks, wenn wir weiterkommen. Jetzt los!«
Der Schmied kam knurrig auf die Beine. Er trat zu Gerin in die Mitte des Flusses und suchte sich ungeschickt seinen Weg über die Steine am Grund.
»Na gut, Sumpfjunge«, sagte er. »Bislang warst du ziemlich gut, schätze ich. Kann nicht schaden, mal zu sehen, was du sonst noch …«
Die Worte erstickten ihm im Hals, und er blieb stehen. Sein Gesicht zerfiel zu einem Ausdruck des Unglaubens und des Schmerzes. Er stieß einen hilflosen Laut aus, hob eine Hand zu Gerin hin, zog sie dann zur eigenen Brust zurück, wo die Eisenspitze eines Armbrustbolzens sechs Zoll aus seiner jäh blutgetränkten Weste hervorstach.
»Bleib, wo du bist!«
Der Ruf kam von der Biegung unten am Fluss. Gerins Kopf fuhr bei dem Geräusch hoch. Das Bandlicht zeigte ihm die drei Antreiber, die sich flussaufwärts durch das hüfttiefe Wasser nahe am anderen Ufer quälten, zwei sabbernde Hunde kurz an der Kette gehalten. Schwarz und silbern, die Silhouetten der Männer und der Hunde, spritzendes Wasser rings um sie. Der Mann mit der Armbrust stand weiter entfernt breitbeinig auf einer abgeflachten Landzunge am Ufer, hielt seine entladene Waffe gesenkt und drehte ungeschickt die Kurbel, um sie wieder zu spannen.
Blut quoll dem Schmied aus dem Mund. Er hielt den Blick fest auf Gerin gerichtet.
»Läufst besser«, sagte er heiser und fiel mit dem Gesicht voran ins Wasser.
»Bleib stehen, Sklave, oder wir schießen dich nieder!«
Gerin sah das Blut wie Rauch unter dem treibenden Leichnam des Schmieds hervorquellen, unter den vollgesogenen Falten der Weste des Mannes, und er sah den Armbrustbolzen steif aus seinem Rücken ragen. Er sah unten an der Flussbiegung den Armbrustschützen nach wie vor mit seiner Waffe kämpfen. Er spürte, wie der Augenblick unter ihm wegkippte wie das Deck eines Schiffs in kabbeligem Wasser.
Er fuhr herum und floh.
Flussaufwärts, sechs verzweifelte, klatschende Schritte, und hinaus auf die Felsbrocken am Ufer, nasse Abdrücke von Händen und rutschenden Füßen auf den Steinen, dann kroch er den nachgiebigen Erdhang hinauf und zwischen die Bäume. Hinter sich hörte er, wie die Hunde von der Leine gelassen wurden, hörte das Fluchen von Männern, Klatschen. Er nahm sich die Zeit für einen letzten panikerfüllten Blick über die Schulter, sah den Leichnam des Schmieds, Hände und Füße gespreizt, sich im Flussarm wiegen, sah die Hunde im Wasser in der Nähe der Felsen. Sie bellten wild zu ihm hinauf, waren anscheinend jedoch außerstande hinauszuklettern.
Er fiel in die Umklammerung des Albtraums zurück.
Der Hang war steil, und er musste sich immer wieder auf alle viere fallen lassen, damit er nicht nach unten rutschte. Der Harzduft der Fichten klebte in seiner Kehle, während er hinaufkletterte. Die Antreiber waren zumeist große, stämmige Männer; das hatte mit dem zu tun, womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten. Unter den Bäumen konnte er ihnen wahrscheinlich voraus bleiben. Aber die Hunde …
Nur eine Sache von Minuten, bis sie einen Weg nach oben fanden.
Der Anstieg flachte ab, die Bäume dünnten aus. Der Hang wurde zu einem breiten Sattel, gesäumt vom erodierten Steilufer des Flusses. Ein kühler Wind pfiff über die Felsen, schnitt durch seine klatschnasse Kleidung, sodass er bis auf die Knochen durchgefroren war. Gerin richtete sich auf und verfiel in einen stolpernden Lauf über die Kuppe.
Etwas Dunkles erwartete ihn auf seinem Weg.
Gerins Herz hämmerte bereits in seiner Brust, aber beim Anblick der schwarzen Gestalt schien es völlig zu erstarren. Eine einzige Sekunde war es, als blickte er auf etwas, das aus den verdrehten Überresten von Borke und Baumstämmen zusammengetragen und tödlich schwarz verkohlt war. Die Gestalt zeichnete sich scharf von dem glatten, offenen, vom Bandlicht erhellten Gipfel des Grats ab. Bei dem Anblick kam er ruckartig zum Stehen, und erst da begriff er, dass er einen Mann vor sich hatte, einen groß gewachsenen Krieger in einem Mantel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und über der linken Schulter ragte der Knauf eines Breitschwerts empor, dessen Scheide an seiner rechten Seite hing.
Ein Aufseher!
Aber es war keiner, und irgendwie, irgendwo in seinem panikerfüllten Gehirn, wusste er das bereits. Er starrte in ein hageres Gesicht, das einst vielleicht gut ausgesehen haben mochte, jetzt jedoch schmallippig und hohläugig und an einer Kinnseite von einer dünnen, schlangenförmigen Narbe verunziert war, wie ungehorsame Huren sie in der Stadt bekamen. Er begegnete einem Blick, der nicht mehr Mitgefühl bot als der eines Anglers, der seine reglose Schnur beobachtete.
»Dakovash?«, fragte er heiser. »Bist du das?«
Die Gestalt regte sich und warf ihm einen neugierigen Blick von der Seite zu.
»Nein«, erwiderte sie mit überraschend sanfter Stimme. »Und ich habe ihn hier oben auch nicht gesehen. Hast du den dunklen Hof erwartet?«
»Ich …« Gerin zitterte. Ein Niesen überkam ihn und schüttelte ihn durch, laut und jäh wie die Brandung an den Felsen der Melchiorspitze. »Ich habe um das Einschreiten des salzigen Herrn gebetet.«
Die Gestalt wischte sich geziert mit einer Hand an der Weste herum. »Dann stammst du aus den Sümpfen?«
»J-ja. Ich war …«
Hinter ihm das Kratzen von Klauen auf dem Fels und das freudige Gebell aus voller Kehle, als die Hunde ihr Opfer erspähten. Gerin, völlig durchnässt, wirbelte herum, sah den ersten aus der Meute der Hunde auf sich zurennen, ganz Zähne und gräuliche Muskelpakete, spürte, wie sich ein Schrei in seiner Kehle sammelte …
Neben sich hörte er den Schwertkämpfer etwas in einer ihm unbekannten Sprache sagen. Sah aus dem Augenwinkel einen erhobenen Arm, der ein kurzes Zeichen in die Luft malte.
Der Hund jaulte.
Kam in einem Dutzend Metern Entfernung rutschend zum Stehen. Schnappte und fauchte wiederum, wollte jedoch nicht näherkommen. Ein Finger wackelte, zeigte zum Rand des nächst gelegenen Felssturzes. Der Hund erhob sich und humpelte eilig zur Kante, sah hinab, blickte einmal zurück zu der Gestalt im Mantel und warf sich dann in die leere Luft. Ein langes Heulen trieb herauf, das Krachen der brechenden Äste, und dann herrschte Stille.
Der Rest der Meute heulte im Einklang mit ihrem gestürzten Anführer, wollte jedoch ebenfalls nicht weiter herankommen. Die Hunde rutschten auf den Bäuchen am Waldrand hin und her, bis der Schwertkämpfer zwei weitere ungeduldige Schritte auf sie zutat, wiederum sprach und Zeichen machte, und dann krochen sie wimmernd fort in den Schutz des Waldes und flohen.
»Also«, sagte der Neuankömmling mit seiner sanften Stimme. »Vielleicht möchtest du mir sagen, wie du heißt, Junge?«
»Gerin«, brachte Gerin noch immer zitternd hervor. »Auch Trickfinger genannt, weil ich, als ich noch ein Junge war …«
Die Gestalt drehte sich hin und her und winkte ungeduldig. »Ja, das ist bestimmt eine faszinierende Geschichte. Du kannst sie mir später erzählen. Du bist von der Sklavenkarawane?«
»Ja. Wir sind entkommen. Aber sie sind gleich hinter m…«
»Mach dir darum keine Sorgen! Dein Schicksal hat sich gerade gewandelt, Gerin Trickfinger. Ich bin …«
Der Schmerz traf ihn mit einem gewaltigen Hieb in die Seite. Gerin blinzelte. Einen Augenblick lang glaubte er, der Schwertkämpfer habe ihn erstochen. Er stolperte und setzte sich unbeholfen auf den Fels, die Beine ausgestreckt wie ein Kind. Benommen schaute er an sich herab und entdeckte den Bolzen, der unter seinen Rippen hervorstach. Blut leckte rings herum aus der Wunde. Er blickte zu seinem neuen Gefährten auf, begegnete dessen Blick verwundert und furchtsam und mit etwas, das sich, lächerlicher Weise, wie Scham anfühlte. Er kam sich dumm vor und träge, als bewegte er sich durch Sirup. Er lächelte zögerlich.
»Scheiße, sie …«
Und jetzt sah er in den Augen, die tot wie Stein gewesen waren, etwas aufflammen. Die Gestalt stieß einen angespannten, harten, schluchzenden Laut aus und fuhr herum, und eine bleiche Hand zerrte bereits oben am Knauf des Breitschwerts. Die Klinge fuhr hoch, heraus und herum – schon eine trickreiche Scheide, dachte Gerin benommen, muss an einer Seite völlig offen sein – und schimmerte im Bandlicht.
Zwei der Antreiber hatten es bis zu ihm herauf geschafft. Der Armbrustschütze kurbelte schon wieder für seinen nächsten Schuss, der andere hielt sein Schwert beidhändig und deckte seinen Kameraden, schwer atmend, jedoch bereit zum Kampf.
»Ein entkommener Sklave«, keuchte er. »Ihr müsst Euch da nicht weiter einmischen, guter Mann.«
»Aber ich mische mich ein«, sagte Gerins neuer Gefährte mit schrecklicher, bebender Stimme. »Ich bin ein Sohn der freien Städte, ebenso wie dieser Junge. Und das hier sieht mir nicht sehr nach Freiheit aus.«
Der Mann mit der Armbrust war mit seiner Kurbelei fertig, legte einen neuen Bolzen in die Rinne und hob die Waffe mit offensichtlicher Erleichterung.
»Ich möchte nicht mit Euch über Politik debattieren, Sir«, sagte der andere Antreiber jetzt etwas ruhiger. »Ich mache die Gesetze nicht, ich erledige bloß meine Arbeit. Wenn Ihr also jetzt nicht dasselbe Frühstück haben wollt, das dieser Sklave gerade bekommen hat, so lasst uns den Skalp einsammeln und unseres Weges ziehen. Seid ein guter Bürger und tretet zurück!«
»Aber Ihr habt keine Waffen, um mich dazu zu zwingen.«
Diese Worte waren wie ein Blitz, der zwischen ihnen einschlug. Gerin, der dem Geschehen zuschaute, sah, dass der Armbrustschütze seine Waffe fallenließ, als ob sie heiß wäre, und ungläubig auf seine leeren, offenen Hände hinabblickte. Der andere Antreiber hielt sein Schwert in lockerem Griff hoch, und das Gewicht entrang es ihm, sodass es auf den steinigen Grund fiel.
Die Gestalt im Mantel erreichte sie, bevor Gerin auch nur den nächsten qualvollen Atemzug hätte tun können. Es war, als ob der Raum um den Neuankömmling sich wie das Bild auf einem Papier zusammengefaltet hätte und er über die zerknüllten Kanten getreten wäre. Die Klinge aus blauem Stahl schlitzte dem Armbrustschützen den Bauch von einer Seite zur anderen auf, fuhr zurück und zerschnitt dem anderen Mann die Kehle. Blut spritzte, schwarz im Bandlicht, und die beiden Männer gingen keuchend, schreiend zu Boden.
Eine Bewegung in den Schatten unter den Bäumen. Der dritte Antreiber hatte den Hang bewältigt, das Kurzschwert in der Hand. Seine Stimme war heiser vor Anstrengung und Wut.
»Jungs, verdammt, was habt ihr mit meinen Hunden angestellt? Sie sind völlig …«
Ruckartig brach alles ab, sowohl seine Worte wie auch seine Schritte, als er die Leichen seiner Kameraden erblickte und das, was über ihnen stand. Seine Stimme schraubte sich eine volle Oktave in die Höhe.
»Wer, verdammt, bist …«
»Du kommst gerade rechtzeitig«, krächzte die Gestalt, und die blaue Klinge blitzte. Der dritte Antreiber hatte gerade noch Zeit, das Schimmern metallischen Lichts vor seinem Gesicht zu erkennen, dann kippte sein Sichtfeld und geriet ins Taumeln und alles wirbelte herum. Fichten, Wolken und Flecken des Himmels, vom Bandlicht erleuchtet, sausten vorüber – er hatte diesen einzigen Augenblick zu denken, er sei über den Rand des Felssturzes gestoßen worden –, und dann folgte ein schmerzhafter Schlag, unerklärlich verblasste die Sicht, der Geschmack von Erde im klaffenden Mund, und sein Blick blieb als Letztes an etwas hängen, das er vielleicht noch als den eigenen zusammenbrechenden, Blut verspritzenden, kopflosen Leichnam erkennen konnte …
Der Schwertkämpfer sah den Leichnam fallen und wandte sich dann wieder Gerin zu, der nach wie vor mit gestreckten Beinen auf dem Boden saß und dessen Kopf jetzt nach vorn fiel. Die Gestalt im Mantel hockte sich vor den Jungen, tastete sanft die Wunde rund um den Bolzen ab und verzog das Gesicht. Er legte die Klinge nieder und hob das herabsackende Kinn des Jungen an. Gerin erwiderte seinen Blick verständnislos einen Moment lang, dann erfasste ein kindliches Lächeln die Winkel seines blutverschmierten Munds.
»Tut nicht mehr weh« , murmelte er. »Sind wir davongekommen?«
Die Gestalt räusperte sich. »In gewisser Weise, ja. Ja, du bist davongekommen.«
»Dann ist’s gut.«
Sie sahen einander noch eine Weile an. Blut lief aus einem Winkel von Gerins lächelndem Mund. Die Gestalt sah es, ließ das Kinn los und legte seine hohle Hand stattdessen auf die zerfleischte, schlammige Wange des Jungen.
»Kann ich etwas für dich tun, Junge?«
»Draußen im Sumpf«, sagte der Junge undeutlich. »Salz im Wind …«
»Ja?«
»Mutter sagt …«
»Ja … Gerin, nicht wahr? Was sagt sie, Gerin?«
»… sagt, komm … nicht zu nah an …«
Der Schwertkämpfer setzte ein Knie auf den Boden. Wartete. Nach einem Augenblick liefen dem Jungen Tränen aus den Augen und tropften ihm in den Schoß.
»Verdammt!«, weinte er. »Verdammt sollen alle sein!«
Er hob den Kopf nicht wieder.
Ringil Eskiath hielt Gerins Wange so lange, bis er sich ziemlich sicher war, dass der Junge tot war. Dann nahm er sein Schwert und stand schweigend auf. Eine Weile lang schaute er auf den kleinen Leichnam hinab, dann blickte er über die Felsen zu den fernen Lagerfeuern der Sklavenkarawane.
»Das kann ich wohl für dich tun«, sagte er sinnend.