28
Gleich nach Sonnenaufgang begab sie sich zu Shanta.
Der Marineingenieur war ein Gewohnheitstier. Sie fand ihn genau dort, wo sie ihn zu dieser Stunde erwartet hatte: beim Teetrinken unter einer Markise auf dem Oberdeck seines luxuriösen Hausboots. Der Leibwächter an der Gangway, ein Söldner, gewährte ihr mit einem Nicken Zutritt – sie kam regelmäßig und war sowieso auf Grund ihrer Hautfarbe und der fremdartigen Distanz im Blick unverwechselbar –, und ein Sklave in Livree geleitete sie durch die pyramidenartig angelegten Ebenen des Boots. Weitere Sklaven standen auf der oberen Galerie in Bereitschaft – Türen mit Holzpanelen wurden unter großem Zeremoniell zurückgezogen, und man bat sie aufs Deck. Dort saß Shanta unter der Markise inmitten von Teppichen und Kissen, umgeben von geleerten Platten mit Confiserie, Brot und Ölen. Neben ihm stand ein großer Samowar, und auf dem Schoß hatte er ein aufgeschlagenes Buch. Er blickte auf und lächelte bei ihrem Anblick. Sie schenkte ihm ihrerseits ein dünnes Lächeln. Wartete ab, bis sie formell angekündigt worden war und der Sklave sich zurückgezogen hatte.
»Mylady Archeth, was für eine angenehme Überraschung!« Shanta winkte sie zu einem Kissen gleich neben seinem. »Wie schön, Euch so bald wiederzusehen. Möchtet Ihr Tee?«
Sie stolzierte heran. »Was für ein Spiel treibt Ihr da, verdammt, Mahmal?«
»Ich?« Er wirkte aufrichtig verblüfft.
»Seht Ihr sonst einen tattrigen Schwachkopf in der Nähe?« Wütend stand sie vor ihm. Vollführte eine weite Geste über das leere Deck. »Oh. Wahrscheinlich nicht. Dann muss ich wohl Euch meinen. Also müsst Ihr es gewesen sein, den ich eine halbe Nacht lang vor einer baldigen Verfütterung an die verdammten Oktopoden zu bewahren versuchte!«
»Aha.« Gravitätisch. »Verstehe.«
»Wirklich? Versteht Ihr wirklich?« Sie trat das Kissen über das Deck davon. »Wart Ihr jemals bei einer dieser Exekutionen dabei, Mahmal?«
Sie wusste, dass er noch nie dabei gewesen war. Akal hatte für seine Feinde immer den sauberen Schlag der Axt bevorzugt: Die Hinrichtungsbretter im geheimen Besprechungsraum waren eine Erfindung von Sabal II. gewesen, erst jetzt wieder eingesetzt von Jhiral nach dem Tod seines Vaters. Und seit der Thronbesteigung hatte sich Shanta weitgehend zurückgezogen, zunächst aus Trauer um seinen alten Freund; und nachdem diese Ausrede untragbar geworden war, hatte er Alter und dringliche Arbeit vorgeschoben.
»Ich fürchte, ich bin dieser Tage nicht häufig bei Hofe. Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Zeuge zu sein, wie Yhelteth ins Zeitalter der Moderne voranschreitet.«
Sie glaubte, ein ganz schwaches Zittern in den Worten zu entdecken; in diesem Fall war es jedoch überlagert von verbindlicher höfischer Ausgeglichenheit.
Und, dachte sie, es hätte ebenso leicht unterdrückte Wut wie Furcht sein können.
Sie bezwang ihre eigene Wut. Ging zur Steuerbordreling und schaute übers Wasser hinaus. Auf der anderen Seite der Mündung fuhr ein Fischerboot, das im böigen Wind heftig krängte, auf das Meer hinaus.
Ich kenne das Gefühl.
Sie versuchte es mit tonlosem Gleichmut.
»Das ist nicht gut, Mahmal. Sanagh hat Euch unter der Befragung preisgegeben. Euch und anscheinend die halbe Gilde der Schiffsbauer.« Sie sah sich nach ihm um. »Ich meine, wann bekommt Ihr das eigentlich mal in Eure verdammten Schädel? Die Pferdestämme haben Euch in den Arsch getreten. Es wird keine ruhmreiche Auferstehung der Küstenkulturen geben. Das ist vorbei. Der Ewige Thron ist gegenwärtig unsere beste Möglichkeit, die Welt zu zivilisieren.«
»Es ist nicht der Ewige Thron, mit dem ich im Streit liege.«
Die relativierenden Worte hingen unausgesprochen in der Luft. Sie ertappte sich dabei, reflexhaft das Deck auf Lauscher zu überprüfen.
Sie kehrte zu ihm zurück. Hockte sich dicht vor ihn.
»Er ist ein Mensch, Mahmal. Er wird leben, und er wird sterben – genau wie sein Vater, genau wie sein Großvater. Und ich erinnere mich an alle – vergesst das nicht. Bis zurück zu Sabal, dem Eroberer, und der war ein absolutes Arschloch. Es geht nicht um sie. Es geht um das, was sie errichten.«
»Das ist eine bewundernswerte kiriathische Perspektive, Mylady.« Shanta schloss das Buch auf seinem Schoß, beugte sich zu dem Samowar hinüber und füllte sein Glas neu. »Ihr werdet mir vergeben, wenn ich, als bloßer Sterblicher, weniger geneigt bin, auf lange Sicht zu denken. Betan Sanagh war ein Freund.«
»Dann müsst Ihr Euch Eure Freunde etwas sorgfältiger aussuchen« , fauchte sie.
Diese Worte standen eine Weile zwischen ihnen, während er sich am Samowar zu schaffen machte. Sorgfältig legte er das Buch zur Seite und mied dabei ihren Blick. Er hielt das Glas Tee geziert in beiden Händen, den Kopf über das dampfende Getränk geneigt wie ein Wahrsager, der die Zukunft für einen schwierigen Kunden vorhersagte.
»Nun gut«, sagte er milde. »Ich werde mir den Ratschlag Eurer Ladyschaft angemessen durch den Kopf gehen lassen.«
»Ja – tut das! Weil ich die Kastanien nicht mehr für Euch aus dem Feuer holen kann, wenn Ihr das wieder vermasselt.«
Er blickte auf. »Ich bin dankbar für Eure Intervention, Archeth.«
»Klingt nicht sehr danach«, sagte sie knurrig.
»Wirklich, ich bin dankbar.« Allmählich bekam seine Stimme etwas Drängendes. »Aber ich habe geschworen, Archeth, genau wie Ihr. Wenn die Gilde mit ihren Klagen und Ängsten zu mir kommt, habe ich geschworen, mich um diese Sorgen zu kümmern. Ihr wisst, wie viele von uns den Säuberungen zum Opfer gefallen sind. Was soll ich denn Eurer Ansicht nach tun? Ein höfliches Lächeln aufsetzen und mir wie Sang die Augen verbinden? Beiseitetreten, wenn meine Freunde und Kollegen verschwinden und zu Tode gefoltert werden?«
»Und Ihr seid wirklich der Ansicht, es wird etwas ändern, wenn Ihr Euch Euren Freunden auf dem Hinrichtungsbrett anschließt?« Sie seufzte. Ging das Kissen holen, das sie weggetreten hatte. Beugte sich herab und rief ihm dabei zu: »Was hätte ich tun sollen, Mahmal? Ich musste dafür sorgen, dass Ihr am Leben bleibt. Yhelteth braucht Menschen wie Euch und mich. Die Säuberungen werden vorübergehen, Jhiral wird sich beruhigen. Wir müssen diese Phase überstehen.«
»Ich bin ein alter Mann, Archeth. Ich bezweifle, das noch zu erleben – selbst wenn es Euch gelingt, mich für diese Zeit von der Umarmung der Tentakel fernzuhalten.«
»Und, also?« Sie kehrte zurück und legte das Kissen wieder hin. Setzte sich. »Ihr sucht nach einem ruhmreichen Ende? Ist es das? Einem Märtyrertod?«
»Wohl kaum.«
»Die Zitadelle ist unruhig, Mahmal – Ihr wisst es. Und Demlarashan ist ein perfekter Zündfunke. Menkarak und seine Clique brauchen nicht viel, um daraus einen theokratischen Aufstand zu entfachen, angesichts dessen die Geschehnisse um den neunten Stamm wie eine Kneipenschlägerei unter Betrunkenen erscheinen. Wollt Ihr das? Bärtige Arschlöcher randalieren voller Selbstgerechtigkeit an jeder Ecke, und das Blut lediger Mütter rinnt durch die Straßen? Jhiral zumindest will dagegen angehen.«
Shanta grunzte. »Euch entgeht der springende Punkt, Mylady. Jhiral selbst ist mitverantwortlich dafür, dass sich die Leute letzten Endes um die Hüter scharen. Wenn er nicht einen solchen Schatten auf die imperiale Autorität geworfen hätte, wie er es seit der Thronbesteigung getan hat, würde niemand diesen besagten bärtigen Arschlöchern auch nur zuhören. Akal hätte nie …«
»Oh, erspart mir doch diesen Scheiß! Ich war da, Mahmal. Schon vergessen? Akal ist mit der Zitadelle ins Bett gestiegen, weil er Soldaten brauchte, schlicht und ergreifend. Religiöse Trottel, die seine Armee aufstockten, Deklarationen der Zitadelle, die seine verfluchten Eroberungen rechtfertigten. Wir durchleben den Schlamassel, den sowohl er als auch Jhiral angerichtet haben.«
»Und daher vergeben wir Korruption und imperiale Tyrannei, weil sie verspricht, theokratischen Zorn zu unterdrücken?«
»Nein. Was wir tun, ist, ein Gefühl für die Perspektive zu erhalten. Wir achten darauf, wo wir den Fuß hinsetzen, und wir suchen nach Wegen, die Bilgen so zu säubern, dass dabei nicht ein großes fettes verdammtes Loch im Rumpf entsteht.«
Die nautische Metapher rief ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen hervor.
»Dann habt Ihr ein Putztuch?«, fragte er.
»Ich glaube es, ja.« Sie nickte zu dem Samowar hinüber. »Schenkt mir ein Glas davon ein, und ich erzähle Euch alles.«
Anschließend saß er lange Zeit schweigend da.
Archeth schlürfte ihren kalt gewordenen Tee und ließ ihn freudig gewähren. Dass er es überdachte, konnte nur ein gutes Zeichen sein.
Geräusche vom Kai drangen an der Steuerbordseite hoch, allerdings gedämpft wegen der Höhe des Hausbootdecks. Entsprechend der Jahreszeit hatte Shanta das Schiff von seinem Winterplatz flussabwärts befördern und nahe der Flussmündung andocken lassen, wo die Meeresbrise die sommerliche Hitze in Schach halten konnte. Das ermöglichte ihm außerdem, den Hafen mit seinen Teleskopen abzusuchen und sich über die ausländische Schiffstechnologie auf dem Laufenden zu halten. Erst im vergangenen Jahr war er beim Anblick eines schmalen grauen Schiffs mit viereckigen Segeln, das von Trelayne hereingekommen war und einen schrägen Bug mit schmalerem Baum aufgewiesen hatte, in rauschhafte Ingenieursverzückung geraten. Da werft Ihr einen Blick in die Zukunft, hatte er ihr gesagt, als sie durch das Teleskop geschaut hatte, ratlos, was das ganze Getue denn sollte. Diese verdammten Hurensöhne der Liga … immer einen Sprung voraus. Habt Ihr eine Vorstellung, wie schnell diese Schönheit sein muss, selbst in schwerer See? Sie durchschneidet die Wellen wie ein Messer.
Also machen wir uns gleich daran und bauen genauso, hatte sie vermutet.
Er schüttelte den Kopf. So, wie die Dinge momentan stehen, kaum. Versucht mal, jemanden da unten davon zu überzeugen, dass er noch nicht erprobte Veränderungen an etwas durchführt, das bisher länger, als sich jemand zurückerinnern kann, perfekt funktioniert hat. Für etwas derart Neues fehlt allen die Courage. Gildenmonopol, verschleierte Interessen bei Hofe, eine Schlange verdammter Pensionsanwärter, die von den Toren des Palasts bis um den Block reicht. Wir ersticken daran, Archeth, und daran kann keiner von uns beiden etwas ändern. Akal hätte …
Und so weiter.
Ihr Tee war eiskalt. Sie schüttete ihn in die Pfanne für den Satz, beugte sich zum Samowar hinüber und öffnete den Hahn für einen frischen Aufguss. Shanta sah bei der Bewegung auf, als hätte er ihre Anwesenheit vergessen.
»Also glaubt Ihr, was diese Kreatur sagt?«
»Steuermänner erfinden im Allgemeinen nichts, Mahmal. Sie können rätselhaft, absichtlich vage, hin und wieder störrisch sein. Aber bei einer Lüge habe ich bisher noch keinen ertappt.«
»Eine Stadt, die draußen im Meer steht?«
»Wie im Shaktan-See, ja.«
»Ein See und ein Ozean sind zwei sehr verschiedene Dinge, Archeth! Die Existenz einer Stadt, die in den Wassern des einen steht, beweist nicht notwendig die Möglichkeit einer Stadt im anderen.« Aber durch die pedantische Argumentation hörte sie bereits heraus, dass er ihr glaubte, dass er ihr glauben wollte. »Shaktan ist flach im Vergleich zum nördlichen Ozean. Zumeist ist es dort mild. Aber die Meere rund um die hironischen Inseln? Stellt Euch doch nur einmal vor, welche Belastung eine solche Struktur aushalten müsste. Stellt Euch vor, welche Konstruktion hierfür erforderlich wäre!«
»Wenn Anasharals Plan funktioniert, werden wir es uns nicht länger vorstellen müssen, mein Freund. Wir werden es mit eigenen Augen sehen.«
»Hmm.« Er warf ihr einen verschlagenen Blick von der Seite zu. Das mein Freund war vielleicht etwas dick aufgetragen. »Natürlich wird dieses An-Kirilnar, selbst wenn es existiert, sehr wahrscheinlich eine Ruine sein, ebenso wie An-Naranash.«
»Vielleicht.« Es auszusprechen, schmerzte mehr, als sie erwartet hätte.
»Ihr glaubt, eine Stadt Eures Volks hätte sich die ganze Zeit über vor unseren Blicken verborgen gehalten? Wirklich?«
Sie rang ihre Gefühle zu etwas nieder, das der Vernunft nahekam. »Wie der Steuermann sagt, kommt und geht diese Stadt in das, was wir unter Realität verstehen, genauso wie jene Geisterinsel. Sie besitzt eine Technologie, die der Magie der Dwendas auf ihrem Höhepunkt ebenbürtig ist. Wer weiß also, worauf sie sich gründet, wenn sie nicht in unserer Welt verankert ist? Vielleicht hat der Klan Halkanirinakral durch das Studium der Dwendas eine Möglichkeit entdeckt, zwischen Welten hin und her zu reisen, ohne erneut die irdischen Adern zu benutzen.«
»Und sie lieber nicht mit dem Klan Eures Vaters geteilt?«
Sie zuckte die Achseln. »Der Kontakt zwischen An-Monal und An-Naranash war jahrhundertelang abgeschnitten, soweit ich feststellen konnte. Über den Grund äußern sich die Steuermänner nur vage. Wir wissen immer noch nicht, wohin die Kiriath vom Shaktan-See wirklich gingen, als sie ihre Stadt verließen. Wer weiß denn, ob dasselbe oder gar Schlimmeres nicht An-Kirilnar zugestoßen ist?«
Das brachte ihr einen weiteren schrägen Blick ein, ein weiteres nachdenkliches Gemurmel, aber er widersprach ihr nicht. Nichts, das die helle kleine Flamme zertreten hätte, die in ihrem Bauch entfacht worden war.
»Seht mal, Mahmal, selbst wenn keine richtigen Kiriath mehr in dieser Stadt verblieben sind, so sagt Anasharal, dass sie sich vor einigen Wochen materialisiert hat und seit dieser Zeit dort geblieben ist. Das lässt auf einen funktionsfähigen Antrieb schließen. Und niemand ist zum Plündern gekommen wie in Shaktur. Die hironischen Inseln sind kaum bewohnt – bestenfalls sind einige Fischerdörfer und Außenposten der Walfänger über die Inseln verstreut. Keine Städte, keine gebildeten Männer oder wohlhabenden Schiffseigner. Wenn Menschen die Stadt gesehen haben, so werden sie wie verrückt fluchen und sich davon fern halten.«
Shanta lächelte. »Ich glaube, Ihr unterschätzt die Zähigkeit von Fischern, Archeth. Die See ist bestenfalls eine harte Schule, und dort oben ist sie noch dazu kalt. Wer sich seinen Lebensunterhalt in diesen Gewässern verdient, lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Und wenn ich es richtig verstehe, fahren die Walfänger ziemlich regelmäßig nach Trelayne und wieder zurück. Die Kunde wird unausweichlich gelehrte Männer und wohlhabende Schiffseigner erreichen, wenn es nicht bereits geschehen ist.«
»Dann besteht umso mehr Grund, selbst dorthin zu fahren, und zwar rasch, bevor die Liga zum Zug kommen kann.«
»Hmm.«
Er stand etwas steif auf und schritt zur Steuerbordreling hinüber, wie von dem gedämpften Tumult da unten angezogen. Sie beobachtete ihn einen Augenblick und folgte ihm dann.
Eine Weile lehnten sie dort Seite an Seite in behaglichem Schweigen und blickten auf das bunte Treiben am Kai unten hinab. Träger und Mulis, Kuriere und Frachtagenten, Frachtbegleiter und ihre Sklaven, alles bunt durcheinander gemischt und einander nervend in der hellen morgendlichen Hitze. Einige gestikulierende Schiffskapitäne im Streit mit uniformierten Zollbeamten, die Kutsche eines Adeligen, die im Gewimmel feststeckte. Soldaten, Matrosen sowie Bettler, die lautstark behaupteten, einmal das eine oder andere gewesen zu sein. Stark geschminkte Huren mit Armreifen, die Ärmel hochgeschoben, Haar und Schultern trotzig zur Schau gestellt, einen Fuß geziert auf eine Kiste oder einen Ankerpfosten gestellt, wiegten sich, die Arme in die Seiten gestemmt, in der Hüfte hin und her, sodass die Reife klirrten. Taschendiebe und Luden, die sich deutlich erkennbar durch die Menge schlängelten.
»Seid Ihr schon an einen der anderen herangetreten?«, fragte er sie.
»Nein, noch nicht. Ich war die ganze Nacht auf, um Euch den dürren Hals zu retten.«
Eine leichte Übertreibung. Sie hatte den Palast nicht lange nach Einbruch der Nacht verlassen. Daheim gespeist, in Gesellschaft von Kefanin und Ishgrim. Kef hatte das Mädchen wieder einmal herausgeputzt, viel wallendes Satin und Spitze, das Haar gewaschen und hochgesteckt, Netz und Bänder darin. Archeth war sich neben ihr wie ein toter, vom Blitz zerstörter Baum vorgekommen. Trotzdem versuchte sie, fröhlich zu erscheinen, gab sich alle Mühe, den Blick nicht allzu häufig zum Ausschnitt des Mädchens aus dem Norden wandern zu lassen, und wehrte alle Fragen nach den Ereignissen in An-Monal ab. Letzteres erwies sich als das Einfachste. Das Gespräch bestand zum größten Teil aus einer atemlosen Erzählung vom Zusammenstoß des Drachentöters mit der Wache von der Zitadelle draußen vor dem Tor während ihrer Abwesenheit. Allerdings kam Archeth der Bericht Kefs und Ishgrims übermäßig dramatisch vor. Im Kreuzverhör fand sie heraus, dass keiner von beiden den Kampf tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hatte und dass sie im Hinblick auf die Einzelheiten auf die Torwache angewiesen waren. Da der Drachentöter jedoch nicht anwesend war, um Fragen selbst zu beantworten, musste sie ihre Geschichte auf Treu und Glauben hinnehmen.
Wie sich herausstellte, war Egar jetzt tatsächlich seit Tagen von der Bildfläche verschwunden. Kefanin hatte ihm am Morgen nach der Prügelei das Frühstück bereitet, aber da war er zum letzten Mal daheim gesehen worden. Der Prophet wusste, was er in der Zwischenzeit nun wieder für einen chaotischen Scheiß vorhatte.
Er wandert heute Nachmittag vielleicht zu Imrana rauf, ausprobieren, ob er da an die Luft gesetzt wird. Wird Zeit, dass er mal wieder mit wem ins Bett hüpft.
Hoffen wir’s.
In Wahrheit hätte sie die Probleme kommen sehen müssen. Egar war schlechter Laune gewesen, seitdem Großoffizier Saril Ashant in die Stadt zurückgekehrt war und seine ehelichen Rechte wieder beansprucht hatte. So plötzlich der Aufmerksamkeit Imranas beraubt hatte der Drachentöter Streit gesucht, jede Art von Streit, mit jedem. Die natürliche Konsequenz von lange nicht gemolkenen Eiern und der Tatsache, sein Leben lang andere Männer für den eigenen Lebensunterhalt getötet zu haben. Gewiss hättest du es kommen sehen sollen, Archidi. Aber letztlich sind es ein Hüter, ein verdammter Priester, und seine Prügelknaben. Warum sollte dich das auch nur einen Scheißdreck kümmern?
Natürlich wusste sie, dass die Wellen dessen, was der Drachentöter getan hatte, früher oder später auch ihr Boot ins Schaukeln bringen würden. Die übliche diplomatische Empörung, die wortreichen Erklärungen über beleidigten Glauben, die ermüdenden Verkündigungen von den Gebetstürmen und Kanzeln. Dennoch brachte sie es nicht fertig, wütend auf ihn zu werden.
Am meisten wünschte sie sich, sie hätte zusehen können.
»Euch erheitert etwas, Mylady?«
Sie legte ihr Lächeln ab. »Schnee von gestern. Etwas, das ich gestern Abend gehört habe.«
»Hmm. Ja, gut, ich kann Euch jetzt sagen, dass das nicht der Spaziergang wird, den ihr anscheinend erwartet.«
Er ist dabei. Er hängt am Haken. Erneut wollten sich ihre Mundwinkeln zu einem Lächeln verziehen. Sie täuschte ein Gähnen vor.
»Zweifelsohne wird es unterwegs Probleme geben.«
Shanta schnaubte. »Es wird Probleme hier in Yhelteth geben. Einfach bloß Tand und Shendanak in denselben Raum zu setzen, bedeutet schon Probleme, um damit anzufangen. Habt Ihr Euch schon Gedanken darum gemacht, wer diese Bande in Schach halten soll?«
»Seine Majestät hat mir eine Schwadron vom Ewigen Thron unter Noyal Rakan zur Verfügung gestellt.«
Ein Knurren. »Jung. Zu jung, um reiche alte Männer herumzuschubsen.«
»Er ist ein guter Mann, heißt es.«
»Einen guten Teil davon hat er dem Ruf seines älteren Bruders zu verdanken. So was habe ich schon früher erlebt. Ich weiß nicht viel über seine Kriegserfahrung, daher will ich keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass er die ideale Wahl ist.«
»Ist er auch nicht«, sagte sie unverblümt. »Er hat kaum im Krieg gedient. Aber Jhiral möchte, dass so wenig Leute wie möglich von der Sache erfahren, und Rakans Schwadron hat den Steuermann bereits zu Gesicht bekommen.«
»Vermutlich habt Ihr auch Senger Halds Seeleute dabei.«
»Ja, sie kommen auch mit.«
Shanta hob eine Braue. »Der Ewige Thron sagt Seeleuten, was sie zu tun haben. Das wird interessant. Sonst noch jemand zu dieser Gesellschaft eingeladen, von dem ich wissen sollte?«
»Lal Nyanar und seine Mannschaft. Hanesh Galt, der Hüter.«
»Nyanar?«
»Ja. Stimmt was nicht mit ihm? Glücklicher Zufall, wo doch sein Vater sowieso auf der Liste steht.«
»Nyanar ist ein Binnenschiffkapitän, Archeth. Ich möchte bezweifeln, dass er im Verlauf seiner Karriere mehr als ein halbes Dutzend Mal außer Sicht des Landes gewesen ist. Ganz bestimmt hat er nie eine Seeschlacht erlebt – dafür hat der alte Shab schon gesorgt.«
»Er wird gewiss einen akzeptablen ersten Offizier abgeben.«
»Das ist Eure wohlüberlegte nautische Meinung, nicht wahr?« Aber er grinste sie hinter der brummigen Bemerkung an. »Archeth, damit habt Ihr Euch einen großen Sack lebendiger Aale eingefangen. Wir werden für diese Sache mindestens zwei Schiffe brauchen, wahrscheinlich drei oder vier. Nun, den Kommandanten der Schwadron werde ich gern mitnehmen, aber Nyanar wird trotzdem sein eigenes Schiff befehligen müssen, und das bedeutet, er wird echte Seemänner davon überzeugen müssen, dass er weiß, wovon er spricht. Stellen wir einen Moment die Frage beiseite, ob Rakan Halds Matrosen dazu bringen kann, ihn ernst zu nehmen – wichtiger ist, dass mindestens zwei der reichen Männer auf Eurer Liste auf die Fahrt mitkommen wollen. Sonst werden sie kein Geld hineinstecken. Und Ihr könnt jede Wette eingehen, dass sie ihre eigenen angeheuerten Söldner mitbringen wollen.«
»Ihr sprecht von Shendanak?«
»Und Kaptal. Wahrscheinlich auch Tand, wenn er sieht, dass Shendanak mitkommt. Was ich so gehört habe, hegen die drei keine allzu große Liebe zueinander. Und Shendanak hat die Angewohnheit, seine Schläger direkt aus der Steppe anzuheuern. Es sind zumeist Vettern und Leibeigene, und die Hälfte von denen spricht wahrscheinlich nicht mal Thetannisch. Also habt Ihr die Aussicht, dass diese Burschen mit den Seeleuten aneinandergeraten. Hinzu kommt noch dieser Mob aus Sklavenaufsehern, die Tand mitbringen möchte, um das Gleichgewicht zu wahren …«
»Soll heißen, wenn er überhaupt mitkommen möchte.«
»Ich gebe Euch den Rat, nicht so früh im Spiel dem Optimismus zu frönen, Mylady.«
»Besser, als kalte Füße zu bekommen, nicht wahr?« Der mürrische Tonfall nur halb im Spaß, weil sie jäh wieder der Krinzanzentzug packte und sie wirklich nicht über das Bevorstehende nachdenken wollte – nämlich nach dem Beutezug eine gewisse Autorität über diese ganze schäbige, zusammengewürfelte Mannschaft aus Freibeutern aufrechterhalten zu müssen. »Was ist los, Mylord Shanta, Ihr werdet plötzlich alt? Möchtet bloß noch Euren Becher Kräutertee und Eure Pantoffeln?«
»Tattriger alter Mann, war’s nicht das?«
»Tattriger Schwachkopf, habe ich gesagt. Ganz und gar nicht dasselbe.«
»Na ja, bei euch Unsterblichen fällt es schwer, auf dem Laufenden zu bleiben.« Jetzt zeigten sich auf einmal auch eine Spur seines Humors sowie dieser kurzfristige gedankenlose Anflug von Neid, den sie von den Menschen gewohnt war, die sie nicht unverblümt hassten. Shanta merkte es ebenfalls und eilte auf der Suche nach sicherem Boden unter den Füßen darüber hinweg. »Vielleicht ist es bloß so, äh, dass mir mein Leben, weil es erst vor so kurzer Zeit gerettet wurde, umso wertvoller erscheint.«
Der nördliche Ozean ist selbst in besten Zeiten kaum ein gefahrloser Ort. Wer weiß, was dort geschehen kann.
Die Worte, die sie am Abend zuvor an Jhiral gerichtet hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Einen albtraumhaften Moment lang sah sie sich es selbst tun.
»Gern geschehen«, sagte sie mürrisch.
Ein weiterer schräger Blick von der Seite. »Wisst Ihr, das möchte ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen. Nichts von allem.«
Ihre Lippen zuckten. »Habe ich mir gedacht.«
»Ich begleite Euch, Archeth. Ihr wisst es. Ich werde Euch die Schiffe bauen, ich werde sie um Gergis und darüber hinaus führen. Ich werde die Karten zeichnen und die Routen planen. Ich stecke alles an Geld hinein, was Ihr benötigt. Ich bleibe sogar still im Rat mit Idioten wie Shendanak und Tand.« Nach wie vor lächelnd schüttelte er den Kopf, vielleicht über diese Kühnheit in seinem Alter. »Aber eins sage ich Euch: Ihr werdet einen fähigeren Mann als Noyal Rakan brauchen, um die Peitsche zu schwingen und diese Bande in Reih und Glied zu halten.«
Natürlich entdeckte sie deswegen, während sie in das Gewühl am Kai hinabstarrte, die hagere, schwarz gekleidete Gestalt, die sich gewaltsam ihren Weg durch die Menge bahnte.
Und genau diesen Augenblick lang – wie eine jähe Übelkeit, wie das Einsetzen des Krinzanzrauschs – hatte sie das Gefühl, sie könnte spüren, wie sich die ungeheuerlich große, uralte Maschinerie des Universums drehte. Und der geölte Mechanismus des Schicksals wäre jetzt entblößt und durch einen ausgefransten Riss in der schäbigen Jahrmarktsfassade und dem bemalten Tuch der scheinbaren Welt in seiner zahnradbewehrten, bösartigen Absicht deutlich zu erkennen.
Und nur diesen einen Augenblick lang fürchtete sie sich.