FÜNFTER TEIL

DAS GEISTERSCHIFF

EINS

 

Henriette von Tarow tippte Petra an. »Wenn wir uns ein besseres Quartier suchen wollen, haben wir nicht mehr viel Zeit. Sonst müssen wir den ganzen Tag in dieser Enge sitzen bleiben, und das kann eine anrüchige Sache werden – wenn du weißt, was ich meine.«

»Ich kann es mir denken!« Da Petra schon eine ganze Weile zur Toilette musste, hatte sie nichts dagegen, die Kammer zu verlassen. Doch als Henriette die Hand ausstreckte, um die Tür, die ins Innere des Schiffes führte, zu öffnen, hielt sie sie zurück: »Einen Moment!«

»Was ist?«, fragte Henriette, doch da löste ihre Freundin bereits eine fast unsichtbare Abdeckung mit einem Allzweckwerkzeug, das einem Schweizer Offiziersmesser glich. Unter der Platte kam ein USB-Anschluss zum Vorschein. Petra stöpselte ein Kabel in den Port, verband ihren Laptop damit und betätigte einige Tasten. »Schau hier!«

Henriette kniete sich neben sie und starrte auf die Bilder, die Petra eines nach dem anderen aufrief.

»Das ist der Korridor hinter der Tür. Wie du siehst, ist er leer«, erklärte diese.

»Das Licht ist seltsam«, wandte Henriette ein.

»Eigentlich ist da gar kein Licht. Die Überwachungskamera arbeitet auch auf Infrarotbasis. Wäre da ein Pirat, würden wir ihn als hellen Fleck sehen können. Hier ist die Kammer, die wir erreichen müssen. Sie liegt beinahe zweihundert Meter weiter vorne ein Stück unterhalb der Notsteuerzentrale. Zum Glück treibt sich dort ebenfalls niemand herum.«

Petra suchte, bis sie drei Decks weiter oben den ersten Somali entdeckte. Der Mann patrouillierte einen langen Korridor entlang und machte sich dabei den Spaß, mit dem Kolben seines Sturmgewehrs immer wieder gegen die Kabinentüren zu schlagen.

»Wie du siehst, ist die Luft rein. Allerdings möchte ich mir noch etwas anschauen, bevor wir losziehen.«

Ein neues Bild erschien auf dem Schirm, und Henriette sah einen großen Raum, in dem palettenweise Mineralwasserflaschen standen und große Kartons, die ihren Aufschriften nach Lebensmittel enthielten.

»Schließlich müssen wir uns zuerst einmal verproviantieren«, sagte Petra augenzwinkernd. »Mein Gehirn arbeitet nicht, wenn es keinen Brennstoff bekommt. So, jetzt können wir aufbrechen.« Sie entfernte das Kabel, schraubte die Plakette wieder an und nahm ihre Ausrüstung an sich.

»Was machen wir mit dem Boot, dem Fallschirm und unseren Wärmeanzügen?«, fragte sie dabei.

»Das Zeug lassen wir hier. Allerdings brauchen wir die Gummiüberschuhe, um uns geräuschlos bewegen zu können. In den unteren Decks bestehen die Fußböden meist aus Gitterplatten. Das knallt ganz schön, wenn man mit Straßenschuhen darüberläuft!«

Petra kicherte. »Dann hören wir wenigstens, wenn uns ein Pirat zu nahe kommt!«

»Schön wär’s! Aber die meisten hörst du nicht, denn die Somalis dürften barfuß gehen.«

»Bei den Gitterplatten bräuchten die Kerle schon eine zentimeterdicke Hornhaut an den Füßen, um schmerzfrei darüberlaufen zu können.«

Henriette hatte keine Lust, die ins Unsinnige abdriftende Unterhaltung fortzuführen, sondern schulterte ihren Rucksack, nahm den Rest ihres Gepäcks in die linke Hand und holte mit der rechten ein futuristisch aussehendes Schießgerät heraus.

»Was ist das? Ein Laserstrahler?«, wollte Petra wissen.

»Nein, eine moderne Gasdruckpistole. Sie verschießt kleine Giftbolzen, die sich im Körper auflösen. Da außer einem kleinen roten Punkt auf der Haut nichts zu erkennen ist, sieht es so aus, als wäre der Getroffene nach einem Herzinfarkt umgekippt.«

»Schießt das Ding auch durch Stoff?«

»Tut es«, antwortete Henriette und forderte Petra ungeduldig auf, die Tür zu öffnen.

Sie schlüpfte als Erste hinaus. Sofort stand sie in undurchdringlicher Schwärze. Im ersten Moment erstarrte sie. Dann ärgerte sie sich, weil sie in ihrer Anspannung vergessen hatte, die Nachtsichtbrille aufzusetzen. Sie holte dies nach und wollte auch Petra dazu auffordern.

Doch ihre Kollegin hatte selbst daran gedacht und lächelte sie fröhlich an. »Ich sagte doch, dass niemand hier ist!«

Henriette nickte unbewusst und schlich vorsichtig durch den Gang. Licht einzuschalten wagte sie nicht, doch das Nachtsichtgerät reichte aus, um sich zurechtzufinden.

Am Ende des Wartungsgangs mussten sie über eine Treppe nach unten steigen, bis sie jenes Deck erreichten, in dem ihr anvisiertes Versteck lag. Danach ging es über hundertundfünfzig Meter weiter bis zu einer Wand, in der eine Luke, die einem Wartungsschott glich, mehr zu ertasten als zu erkennen war.

Auch hier half Petras kleiner Sender weiter. Die Luke schwang automatisch auf, und Henriette konnte sich ins Innere der Kammer zwängen. Diese war groß genug, um einem Dutzend Leute Platz zu bieten, und verfügte in der hinteren Ecke sogar über eine Hygienezelle mit Dusche und Toilette.

»Wie die Luke, durch die wir ins Schiff gelangt sind, ist das hier ein geheimer Einbau, der solche Aktionen wie die unsere ermöglichen soll. Allerdings haben die Planer nicht mit über hundert Piraten gerechnet. Gegen die bringt auch ein Sonderkommando bis an die Zähne bewaffneter Elitesoldaten nichts. Deshalb sind wir gefragt«, erklärte Petra, die sich zur Vorbereitung auf diesen Auftrag intensiv mit der Planung des Schiffes befasst hatte.

Henriette nickte angespannt. »Die Kerle sollen Sprengsätze installiert haben.«

»Das ist dein Job! Aber erst morgen. Jetzt solltest du uns als Erstes etwas zu essen besorgen. Ich hätte gerne Pizzen, Hot Dogs, Sauerkraut und, wenn du sie findest, auch ein paar Salzheringe. Außerdem könnte ich einige Tafeln Schokolade vertragen, sozusagen als Nachbrenner für meinen Gehirnmotor.«

Bei dieser Auswahl schüttelte es Henriette. Ihrer Meinung nach waren Petras Essensvorlieben in den letzten Wochen noch extremer geworden. Sie sagte jedoch nichts, sondern lud ihren Packen und den Rucksack ab und verschwand wieder nach draußen. Petra hingegen eilte, so rasch sie konnte, zur Toilette und öffnete aufatmend ihre Hose.

ZWEI

 

Henriette fand den Lagerraum auf Anhieb. In normalen Zeiten hätte sie die Tür mit einer Magnetkarte öffnen können, doch die Piraten hatten auch die Stromkreise abgeschaltet, an denen die dafür notwendigen Geräte hingen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tür mit Hilfe eines Nachschlüssels zu entriegeln und mit der Hand so weit aufzuschieben, dass sie hineinschlüpfen konnte. Zuerst wollte sie Pakete von den nächststehenden Paletten nehmen, sagte sich dann aber, dass dies möglicherweise auffallen würde, und drang tiefer in den Lagerraum ein. Schließlich entnahm sie mehreren hinten stehenden Paletten je einen Packen und stapelte diese neben der Tür auf.

Sie selbst hätte sich mit Wasser, Milch und Haferflocken begnügt, aber der Gedanke, die ganze Zeit mit einer nörgelnden Petra auf engstem Raum zu leben, brachte sie dazu, eine größere Auswahl an verschiedenen Lebensmitteln zusammenzusuchen, die man kalt aus der Packung essen konnte.

Als sie ihre Beute begutachtete, stöhnte sie auf. Sie hatte so viele Vorräte bereitgestellt, als gingen Petra und sie auf eine mehrmonatige Expedition. Für einen Augenblick überlegte sie, den größten Teil wieder zurückzubringen. Doch ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Piraten bald wieder durch das ganze Schiff patrouillieren würden.

Mit einem leisen Fluch packte sie die ersten Schachteln und verließ den Kühlraum. Unterwegs musste sie mehrere Leitern in engen Schächten hinabsteigen. Dabei dachte sie sehnsüchtig an die großen Freitreppen, die es in den von Passagieren bewohnten Decks gab. Hier in den Tiefen des Schiffes, die nur von Besatzungsmitgliedern betreten wurden, hatte die Reederei auf solchen Luxus verzichtet.

Schwitzend kam sie zu ihrem Versteck und klopfte gegen die Luke. Petra öffnete sofort, hielt aber eine der Luftdruckpistolen in der Hand. Bei Henriettes Anblick entspannte sich ihre Miene. »Endlich! Ich war schon in Sorge.«

Da Henriette kaum mehr als eine Viertelstunde weg gewesen war, schob sie Petras Besorgnis auf deren Nervosität und lächelte sie an. »Ich habe ein paar Sachen hergerichtet, die ich noch holen muss. Schaff du inzwischen die Pakete hier hinein.«

Sie stellte ihre Last ab und lief eilig los. Bevor die ersten Piraten auftauchten, musste sie alles in den Raum geschafft haben, der ihnen in den nächsten Tagen als Versteck dienen sollte. Dabei durfte sie keine Spuren hinterlassen, die die Somalis auf ungebetene Eindringlinge aufmerksam machen würden. Den Vormittag wollte sie mit Petra dazu nutzen, die geheimen Überwachungskameras an Bord anzuschalten und damit die Quartiere ihrer Gegner auszuforschen.

Als sie mit den nächsten Paketen auftauchte, warnte Petra sie. »Einer der Kerle ist nur ein Deck über dem Lager. Wenn er etwas hört …«

»Ich bin so leise wie eine Maus, die die Speisekammer plündert«, versprach Henriette und sauste davon.

Sie musste noch zweimal gehen, dann konnte sie den Lagerraum verschließen und in ihr Versteck zurückkehren. Als sie durch die Luke kroch und diese hinter sich zumachte, saß ihre Freundin auf einem Karton, hatte ihren Laptop auf einem zweiten abgestellt und schaufelte sich heißhungrig Schokolade in den Mund. Dies hinderte sie nicht daran, kräftig in die Tasten zu greifen.

»Unsere Freunde haben ausgeschlafen und sind in Aktion«, erklärte sie Henriette und rief hintereinander mehrere Bilder auf. Auf einem war eine Frau zu sehen, die sich gerade mit einem jungen, schlanken Burschen auf dem Bett wälzte. Da eine Kalaschnikow an der Wand lehnte, konnte es sich bei dem Mann nur um einen Piraten handeln. Ob die Frau Passagierin oder Besatzungsmitglied war, war nicht zu erkennen.

»Die macht freiwillig mit! Eine Vergewaltigung ist das jedenfalls nicht«, stieß Henriette überrascht aus.

Petra schüttelte den Kopf. »Im Grunde doch! Die Frau macht es entweder, weil sie hofft, der Mann würde im Gegenzug seine Kumpane davon abhalten, ebenfalls über sie herzufallen, oder sie hat das Stockholmsyndrom.«

»Du meinst, sie identifiziert sich bereits mit den Besetzern des Schiffes?«

»Es wäre möglich. Sie sind bereits seit ein paar Tagen Geiseln und haben wahrscheinlich das Gefühl, die Regierung würde sie im Stich lassen. Daher sind nicht mehr die eigentlichen Schurken der Gegner, sondern die, die zu wenig tun, um sie freizubekommen. Das ist traurig, aber leider wahr.«

Petra schaltete auf eine andere Überwachungskamera um. Nun sahen sie ein Urlauberpaar, das apathisch in seiner Kabine hockte und nicht einmal mehr die Gegenwart des anderen wahrzunehmen schien.

Erneut wechselte Petra die Kamera und geriet in einen größeren Raum, in dem mindestens dreißig Frauen zusammengepfercht waren. Anhand ihrer Kleidung ordneten die beiden Freundinnen sie als Angehörige der Besatzung ein.

»So, das wird in den nächsten Stunden unsere Arbeit sein«, sagte Petra. »Wir sehen uns einen Raum nach dem anderen an und notieren, was wir dort sehen. Während ich damit beginne, könntest du mir eine Pizza warm machen.«

»Pizza ist nicht! Wir haben hier keinen Herd. Du wirst dich mit Würstchen und Käse zufriedengeben müssen. Dazu habe ich Kekse, Schokolade und Räucherlachs.«

»Würstchen, Käse und Räucherlachs wären ein schöner Pizzabelag!« Petra leckte sich die Lippen, zeigte dann aber auf einen Karton Sauerkraut und forderte ihre Freundin auf, ihr eine Dose aufzumachen. »Haben wir Besteck?«

»Das hier!« Henriette holte ein Gerät aus ihrer Tasche, das Messer, Gabel und Löffel in einem war. »Du hast auch so ein Ding«, setzte sie hinzu, als Petra danach griff.

Sie musste ihrer Freundin suchen helfen. Dann sah sie verblüfft zu, wie Petra sich quer durch die Dosenvorräte futterte und sich fast gleichzeitig zu den Essiggurken und dem Sauerkraut Schokoladenstücke in den Mund schob.

»Du isst, als wenn du schwanger wärst«, platzte es aus ihr heraus.

Petra lachte hell auf. »Du hast ja eine lebhafte Phantasie!«

Dann wurde sie plötzlich ernst und zählte stumm nach, wie viele Monate seit dem Urlaub auf Mallorca vergangen waren, den sie mit Torsten verbracht hatte.

»Wahrscheinlich ist es bloß der Stress«, murmelte sie und steckte sich den nächsten Schokoriegel in den Mund.

Auch Henriette bekam nun Hunger. Zuerst aber benützte sie die Toilette, spülte mit Mineralwasser nach, da die Wasserversorgung nicht funktionierte, und wusch sich mit dem Wasser auch die Hände. Dann wählte sie aus den Essensvorräten etwas aus, was ihr nicht so schwer im Magen liegen würde. Während sie Wasser mit ein wenig Fruchtsaft vermischt trank, sah sie Petra zu, die mit akribischer Genauigkeit jeden Raum notierte, in den sie mit Hilfe der Überwachungskameras hineinschauen konnte.

»Zum Glück werden die Dinger nicht vom Bordcomputer gesteuert«, kommentierte sie ihre emsige Tätigkeit. »Die Reederei wollte sichergehen, dass ein Befreiungskommando an Bord kommen und sich informieren kann. Eine Schlamperei gab es dabei allerdings, und die wird uns noch zu schaffen zu machen.«

Sie zeigte auf eine flache Schachtel, die sie auf eine der Vorratskisten gestellt hatte.

»Was ist da eigentlich drin?«, bohrte Henriette nach.

»Eine Platine, die von Anfang an in den Computer der Notsteueranlage hätte eingebaut werden sollen. Da dies nicht geschehen ist, müssen wir in den Raum, in dem sich die Notsteuerung befindet, und dieses Teil dort anbringen. Das dürfte nicht leicht werden. Jedes Mal, wenn ich den Raum aufgerufen habe, war mindestens ein Pirat drin, und ich glaube nicht, dass uns die Kerle unbehelligt dort arbeiten lassen!«

Henriette grinste schief. »Das werden sie gewiss nicht tun.«

Dabei überlegte sie, wie sie den Wächter am unauffälligsten ausschalten konnte.

DREI

 

Dietrich von Tarow und seine Männer lagen auf einem Hügel, von dem aus sie Maydh unter Beobachtung halten konnten. Auch wenn sie sich nicht an dem Angriff beteiligten, so wollten sie wenigstens sehen, was dort geschah. Jamanah hockte in Dietrichs Nähe auf der Erde und streichelte ihre Kalaschnikow. Der Major konnte ihr ansehen, dass es ihr nicht leichtfiel, zurückzubleiben, während die somaliländischen Soldaten gegen die Feinde vorrückten, die ihnen die heilige Stadt weggenommen hatten.

»Gleich geht’s los«, berichtete Fahrner, der das Geschehen mit seinem Fernglas verfolgte.

Jetzt nahm auch Dietrich sein Glas zur Hand und sah General Mahsins Leute auf Maydh zuschwärmen. Noch war kein Alarm gegeben worden, doch nach dem ersten Schuss würde dort die Hölle los sein.

»Was meinen Sie, Herr Major? Sollten wir nicht doch ein bisschen mitmischen?«, fragte Fahrner.

Dietrich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unser Krieg. Etwas anderes wäre es, wenn in dem Ort unsere vermissten Kameraden oder andere Geiseln gefangen gehalten würden. So aber ist es eine Auseinandersetzung zwischen zwei somalischen Milizen, und in die mischen wir uns nicht ein.«

»Schade! Dabei bin ich gerade so richtig in Form.« Fahrner grinste und zeigte nach vorne. »Jetzt sind die Kerle endlich aufgewacht. Wer wettet mit mir, dass die Verteidiger den ersten Treffer machen?«

»Sie reden, als wäre das ein Spiel mit Halmakegeln. Allerdings werden die Toten und Verletzten Ihren Spaß nicht verstehen!« Dietrich wurde ein wenig laut, denn Fahrner war zwar ein guter Soldat, nahm es aber mit den Grenzen, die ihm als Angehörigem der Bundeswehr gesetzt waren, nicht allzu genau. Fast bedauerte er es, ihn nicht mit den Verletzten nach Berbera geschickt zu haben. Andererseits war er nach Grapengeters Ausfall der beste Einzelkämpfer in der Kompanie und bewahrte auch in schwierigen Lagen die Übersicht.

Fahrner hatte gemerkt, dass er zu weit gegangen war. »Entschuldigung, Herr Major! So habe ich es nicht gemeint. Mir tun die armen Hunde dort drüben leid – und zwar auf beiden Seiten! Die, die für diesen Krieg verantwortlich sind, sitzen mit ihren breiten Ärschen zu Hause auf einem bequemen Stuhl und überlegen sich, wie sie weitere arme Irre dazu bringen können, sich verheizen zu lassen.«

»Ich glaube kaum, dass alle freiwillig bei der Truppe sind, und wenn es nur die Stammestradition ist, die sie zum Kämpfen zwingt«, warf ein anderer Soldat ein.

Jamanah war der kurzen Diskussion gefolgt, ohne sie zu verstehen. Eines aber begriff sie. Der Mann, der sich Fahrner nannte, hatte seinen Anführer erzürnt. Anstatt ihn jedoch dafür niederzuschießen, hatte Taro es bei einigen zornigen Worten belassen. Sie schüttelte den Kopf über die eigenartigen Männer aus der Fremde. Trotzdem mochte sie zumindest den Anführer ein wenig. Zwar hatte er sie gefangen genommen, ihr aber nichts getan. Außerdem hatte er sie gegen General Mahsin verteidigt, der sie hatte berauben und nach Xagal zurückschicken wollen.

Bei dem Gedanken verspürte sie eine gewisse Bitternis.

Die Überlebenden ihres Dorfes hatte man nach Xagal gebracht, und daher würde man auch sie dazu zwingen, dorthin zu gehen. Dann würde sie niemals mehr die Gelegenheit erhalten, sich an dem zweiten Kerl, der ihr Gewalt angetan hatte, und an jener Frau zu rächen, die sich Sultana Sayyida nannte.

Diesen Namen hatte sie auch General Mahsin und Hauptmann Ikrum genannt, war aber von beiden ausgelacht worden. Eine Frau als Anführerin somalischer Freischärler war in den Augen der Männer ebenso wenig denkbar, wie ein Mädchen unter ihre Soldaten aufzunehmen. Dabei wäre ihr dies lieber gewesen, als zu ihren Leuten zurückkehren zu müssen.

Die ersten Schüsse rissen Jamanah aus ihrem Sinnieren, und sie blickte nach Maydh hinüber. Aus den Fenstern einiger halbzerstörter Häuser ragten die Läufe von Sturmgewehren und Maschinenpistolen sowie einzelner leichter MGs. Im ersten Moment sah es so aus, als würde das Abwehrfeuer der Milizionäre, die zu Diya Baqi Majid gehörten, die Angreifer daran hindern, weiter vorzurücken.

Fahrner schnaubte. »Mahsins Leute gehen ja ziemlich zögerlich vor. So nehmen sie die Stadt niemals.«

»Warten Sie ab!« Dietrich zeigte auf Hauptmann Ikrum, der in der Deckung eines Felsens in ein Funkgerät sprach und dabei mit der anderen Hand Gesten vollführte, als gebe er jemandem Anweisungen. Dann klang das bellende Tackern eines schweren Maschinengewehrs auf, das seine Salven gegen die Lehmwände der Häuser hämmerte, welche den Verteidigern nur eine schwache Deckung boten. Weiter zeigte ein wummerndes Geräusch an, dass auf Seiten der Somaliland-Soldaten leichte Artillerie in den Kampf eingriff.

»Na, Fahrner, sagen Sie jetzt immer noch, dass Mahsin zu zögerlich vorgeht?«, fragte Dietrich mit leisem Spott.

»Ich wusste doch nicht, dass der General so viel aufbieten kann. Mit den 37-Millimeter-Kanonen hauen seine Leute die ganzen Hütten zusammen.«

»Die Verteidiger setzen sich ab!« Dietrich kniff die Augen zusammen, da er die Bewegungen der Milizionäre nicht richtig einordnen konnte. Die Männer, die die Häuser am Stadtrand hatten verteidigen sollen, zogen sich nämlich nicht ins Stadtinnere zurück, sondern in Richtung der nach Laasqoray führenden Straße. Ikrums Soldaten schossen hinter ihnen her und drangen dann in einem blitzschnellen Angriff in die Stadt ein, in der nun der Nahkampf begann.

In dem Wissen, dass Diya Baqi Majids Warsangeli-Milizen mit den Mörderbanden, die ihre Dörfer in der Grenzregion verheerten, unter einer Decke steckten, kämpften die Soldaten aus Somaliland verbissen und warfen die Verteidiger immer weiter zurück. Diesen halfen zuletzt auch ihre Panzerfäuste und Handgranaten nichts mehr, da sie jedes Mal, wenn sie sich irgendwo festgesetzt hatten, von General Mahsins Artillerie unter Beschuss genommen wurden.

Schließlich gaben die Warsangeli auf und verließen in wilder Flucht die Stadt. Ikrums Kompanie verfolgte sie ein Stück weit, während andere Somaliland-Soldaten die Stadt durchkämmten. Sie trafen nur noch auf wenige versprengte Feinde, von denen keiner überlebte. Die Wut der Isaaq über die heimtückischen Überfälle war zu groß.

Fahrner war immer noch nicht zufrieden. »Ikrum hätte die Fliehenden mit der Artillerie beharken sollen, anstatt ihnen mit seinen Männern zu folgen. Jetzt sind sie außer Reichweite, und viele hat er nicht erwischt.«

»Seien Sie nicht so blutrünstig!«, antwortete Dietrich. »Der Kampf war auch so hart genug. Ich schätze, dass über hundert Verteidiger gefallen sind. Mahsin hingegen hatte verdammt viel Glück. Mehr als ein paar Tote und Verwundete dürfte er nicht haben. Seine Gegner sind überrascht worden und haben die Stadt nicht wirksam verteidigen können. Wahrscheinlich hatten sie sich zu sehr auf ihre Minensperren verlassen.«

»Die hätten ihnen Mahsins Truppe noch lange vom Leib gehalten, wenn es uns nicht gegeben hätte!« Fahrner grinste jetzt und schulterte das G22, das er von Grapengeter übernommen hatte. »Was meinen Sie, Herr Major? Sollen wir uns zur Siegesparty einladen?«

»Erwarten Sie aber kein kühles Bier und auch keinen Korn«, spöttelte Dietrich und machte sich auf den Weg. Er hatte General Mahsin entdeckt, der auf einem mit einem schweren MG bestückten Pritschenwagen auf die Stadt zurollte.

»Dann können wir ihm ja gleich sagen, seine Leute hätten den Feind vollends in die Pfanne hauen können, wenn sie es richtig angefangen hätten.«

Fahrner folgte dem Major, wurde aber von Jamanah überholt, die an Dietrichs Seite blieb.

Als die Gruppe die Stadt erreichte, erstattete Hauptmann Ikrum seinem Kommandeur gerade Bericht. Bei Dietrichs Anblick salutierte er. »Dank Ihrer Hilfe haben wir Maydh zurückgewonnen, Major. Hätten Sie uns nicht den Weg durch die Minenfelder gezeigt, wäre es für uns blutig geworden, und wir hätten es möglicherweise gar nicht geschafft.«

»Was machen Sie jetzt? Rücken Sie weiter vor?«, fragte Dietrich, ohne auf die Bemerkung des Hauptmanns einzugehen. Dieser wechselte einen kurzen Blick mit dem General und schüttelte den Kopf.

»Die meisten sind in die Berge geflohen und werden sich wahrscheinlich bei Cheerigaabo sammeln. Diese Stadt können wir derzeit nicht angreifen, weil dort der Haupttrupp der Warsangeli-Milizen steht. Wenn wir jetzt weiter auf Laasqoray vorrücken, würde diese Einheit in unseren Rücken kommen und uns gemeinsam mit den Piraten in die Zange nehmen. Unsere Brigade könnte dabei ebenso vernichtet werden wie die von General Iqbal. Das dürfen wir nicht riskieren. Also werden wir vorerst in Maydh bleiben und unsere Stellungen ausbauen.«

Diese Entscheidung hielt Dietrich für vernünftig. Fahrner hingegen stieß verächtlich die Luft aus den Nasenlöchern, hielt aber zur Erleichterung seines Vorgesetzten den Mund.

Dietrich salutierte. »Benötigen Sie uns noch weiterhin, General?«

Der Somali schüttelte den Kopf. »Sie haben uns gute Dienste geleistet, Major, und ich hätte gerne jemanden wie Sie in meiner Truppe. Aber in der nächsten Zeit gibt es für Sie hier nichts zu tun. Daher ist es das Beste, wenn Sie zu Ihren Leuten zurückkehren.«

»Ein guter Gedanke! Nicht wahr, Leute? Bei uns zu Hause gibt es wenigstens Bier.« Fahrner leckte sich unwillkürlich die Lippen und grinste die anderen deutschen Soldaten an.

»Unser Von wird schon wissen, was zu tun ist«, meinte einer von ihnen. Ihn drängte es ebenfalls, zu den Kameraden zurückzukehren. Da General Mahsin nicht weiter auf Laasqoray vorrücken wollte, wo man ihre Kameraden gefangen hielt, war eine Befreiungsaktion ohnehin nur von der See aus möglich.

Dietrich sah dies genauso, doch bevor er nach Berbera fahren wollte, um sich von dort abholen zu lassen, hatte er noch ein Problem zu lösen.

»Was machen wir mit ihr?«, fragte er den General und zeigte auf Jamanah.

Mahsin hatte nicht die Absicht, sich viele Gedanken um eine Frau zu machen, und winkte ab. »Die bekommt ein paar Schillinge in die Hand gedrückt und ein wenig Proviant. Dann lasse ich ihr den Weg nach Xagal zeigen. Dort leben ihre Leute im Flüchtlingslager. Sollen die sich um sie kümmern.«

So abgeschoben zu werden hatte Jamanah nach Dietrichs Meinung nicht verdient. »Sie sollten sie wenigstens hinbringen lassen«, sagte er und sah die junge Frau dabei nachdenklich an. »Wissen Sie was? Xagal liegt doch fast auf meinem Weg. Ich begleite sie selbst. Immerhin haben meine Männer und ich ihr unser Leben zu verdanken. Wenn Sie mir einen Wagen zur Verfügung stellen könnten, wäre ich Ihnen dankbar.«

Der General rollte die Augen, nickte aber. »Wie Sie wünschen! Da ich in die Hauptstadt zurückkehre, um dem Präsidenten Bericht zu erstatten, führt mein Weg ohnehin über Berbera. Also kann ich Ihre Leute mitnehmen. Ihnen stelle ich einen Geländewagen und einen Chauffeur zur Verfügung, der Sie nach Xagal bringt.«

»Danke, Herr General!« Dietrich salutierte und drehte sich zu seinen Männern um. »Ihr habt es gehört! General Mahsin sorgt dafür, dass ihr nach Berbera gebracht werdet. Dort wartet ihr auf mich. Ich werde höchstens einen Tag brauchen, um Jamanah abzuliefern.«

Fahrner konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Passen Sie gut auf das Mädchen auf. Sie war zwar arg lästig, aber ich will trotzdem nicht, dass ihr etwas passiert.«

Jamanah entnahm den Wortfetzen und den Blicken der Deutschen, dass über sie gesprochen wurde. Neugierig geworden, ging sie auf Dietrich zu und bat Hauptmann Ikrum, zu übersetzen, was er ihr sagen wollte.

»Die Deutschen werden dieses Land bald verlassen«, erklärte dieser. »Vorher aber wird ihr Anführer dich zu deinen Leuten nach Xagal bringen.«

Jamanah fühlte Trauer in sich aufsteigen, weil Dietrichs Weg und der ihre sich bald trennen würden. Zu Beginn hatte sie ihn als Feind angesehen, aber mittlerweile hatte er ihr das Gefühl vermittelt, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, der sie ernst nahm. Dazu hatte er ihr eine Geborgenheit geschenkt wie noch niemand zuvor. Doch es half nichts, sich viele Gedanken darüber zu machen. Er war ein Fremder in diesem Land und würde in seine Heimat zurückkehren. In diesem Augenblick empfand sie den Verlust ihrer Familie doppelt, denn ihr selbst blieb nichts anderes übrig, als nach Xagal zu gehen und sich den Überlebenden ihres Dorfes anzuschließen.

Was sie dort erwartete, wusste sie nicht. Ohne den Überfall, der ihr ganzes Leben verändert hatte, wäre sie wohl schon mit Bahas Sohn Qusay verheiratet worden. Doch Qusay war ebenso tot wie die meisten jungen Männer ihres Dorfes. Von denen aber, die überlebt hatten, wollte gewiss keiner eine Frau, die auf ihn herabblicken konnte. Wenn sie viel Glück hatte, würde Baha sie in seinen Haushalt aufnehmen und zu einer seiner nachrangigen Frauen machen.

Nicht zum ersten Mal bedauerte Jamanah ihre Größe. Ihre Mutter war zwar auch groß gewesen, hatte aber zu ihrem Mann aufschauen müssen. Dieser war nicht nur der Anführer, sondern auch der längste Mann im Dorf gewesen, vielleicht sogar ebenso hochgewachsen wie Taro. Möglicherweise tat es ihr deswegen weh, den Deutschen scheiden zu sehen. Neben ihm hatte sie sich nicht als Monster gefühlt, wie die anderen Mädchen sie genannt hatten, sondern als ganz normale Frau.

Dietrich sah, wie es in Jamanah arbeitete, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Sie war ein beherztes Mädchen und würde sicher ihren Weg gehen. Trotzdem tat es auch ihm ein wenig leid, dass sie sich trennen mussten. Immerhin wirkte sie selbst in ihrer Militärhose und dem Uniformhemd sehr attraktiv. Er zuckte mit den Schultern. Es brachte nichts, sich überflüssige Gedanken über Dinge zu machen, die er nicht ändern konnte.

Entschlossen reichte er Ikrum die Hand. »Weiterhin viel Erfolg, Captain! Passen Sie auf sich auf.«

»Danke, Major! Das werde ich tun. Wenn Sie nichts dagegen haben, kümmere ich mich jetzt um den Wagen. Dann können Sie die Lange da nach Hause bringen und kommen nicht viel später nach Berbera als Ihre Männer.«

Hauptmann Ikrum salutierte und ging. Einen Moment lang sah Dietrich ihm nach und trat dann zu Mahsin, der eben den Bericht eines Untergebenen entgegennahm.

Der General hob nur kurz den Kopf und legte Zeige- und Mittelfinger an den Rand seines Baretts. »Eine gute Reise, Major, und sorgen Sie dafür, dass die Ladung der Caroline nicht in den Händen unserer Feinde bleibt. Wenn die das Kriegsmaterial gegen uns einsetzen können, nützt uns unser Erfolg hier gar nichts. Wir müssten den gesamten Osten unseres Landes aufgeben und könnten wahrscheinlich nicht einmal mehr Berbera und Hargeysa halten. Das wäre das Ende von Somaliland.«

»Ich werde mich bemühen, General!« Dietrich zeigte einem imaginären Feind die Zähne, denn Mahsins Bemerkung hatte ihn wieder an seinen Fehlschlag erinnert. Sie mussten die Caroline unter allen Umständen zurückerobern. Wenn man ihm die Chance dafür bot, würde er es erneut probieren. Auf seltsame Art erleichtert, dass seine Gedanken sich wieder mit etwas anderem beschäftigten als mit der jungen Somali, salutierte er vor Mahsin, winkte dann Jamanah zu sich und rief: »Mitkommen!«

Das verstand sie. Sie bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten, als er auf den Wagen zuging, der ein Stück entfernt auf sie wartete. Unterwegs entdeckte Dietrich eine Schirmmütze, die einer der Warsangeli auf der Flucht verloren hatte. Er hob sie auf, fand, dass sie noch halbwegs sauber aussah, und schlug den daran haftenden Staub an seinem Hosenbein ab. Dann reichte er die Mütze Jamanah.

»Hier, die ist besser als das Tuch, das du dir neuerdings um den Kopf wickelst.«

Jamanah nahm die Mütze entgegen und presste sie gegen die Brust. Die würde sie als sein Geschenk behalten.

Weiter vorne warteten Fahrner und die anderen Deutschen auf sie. »Viel Glück, Herr Major! Und passen Sie auf Minen auf. Diese Dinger hätte man längst verbieten sollen«, rief Fahrner ihm zu.

»Die sind verboten! Aber wie meistens kümmert sich keiner darum.« Dietrich reichte jedem der Männer die Hand und schärfte ihnen noch einmal ein, sich so zu benehmen, dass sie bei den Somalis nicht aneckten. Dann tippte er mit zwei Fingern der Rechten an seine Feldmütze und stieg in den Wagen, den Hauptmann Ikrum für ihn und Jamanah besorgt hatte. Die junge Somali nahm auf dem Rücksitz Platz.

Der Fahrer konnte recht gut Englisch, und so entspann sich rasch eine angeregte Unterhaltung zwischen ihm und Dietrich.

Jamanah saß schweigend hinter den beiden und wünschte sich, diese Fahrt würde niemals enden.

VIER

 

Mittlerweile begann Hans Borchart, seine Prothesen zu vermissen. Obwohl er in Djibouti mit der Gewehrkrücke geübt hatte, kam er sich so unbeholfen vor, dass er nicht glaubte, auch nur hundert Schritte damit zu bewältigen. Dabei waren es von Durduri, in dessen Nähe der französische Agent ihn verlassen hatte, noch mehr als achtzig Kilometer bis Laasqoray. Zwar hatte Jabir versprochen, eine Beförderungsmöglichkeit für ihn zu organisieren, doch nachdem ein ganzer Tag vergangen war, glaubte er nicht mehr, dass der Franzose seine Zusage einhalten würde.

Verunsichert setzte er sich in den Schatten eines Hauses und streckte die Hand aus. Dabei murmelte er ein paar somalische und arabische Brocken und flehte die Vorübergehenden um Almosen an.

Die meisten kümmerten sich nicht um ihn. Nur eine jüngere Frau blieb kurz stehen und sah ihn an. Dann aber winkte sie ab und ging weiter. Während die Sonne immer höher stieg, sank Hans’ Laune immer mehr. Der Durst quälte ihn, und als er mühsam zum Dorfbrunnen humpelte, stießen ihn zwei Männer von dort weg.

Er stolperte und fiel in den Staub. Während er sich mühsam wieder aufrappelte, juckte es ihn in den Fingern, es den beiden Kerlen zu zeigen. Verprügeln konnte er die jedoch nicht, und sie zu erschießen hätte nur unliebsames Aufsehen erregt.

Wütend auf sich selbst, weil er sich so leicht aus der Fassung bringen ließ, wollte er zu der Hauswand zurückkehren, die ihm Schatten geboten hatte. Doch da tauchte einer der Männer, die ihn zu Fall gebracht hatten, neben ihm auf und reichte ihm einen vollen Becher Wasser.

»Allah möge es dir vergelten«, krächzte Hans mit rauer Stimme.

»Du bist nicht von hier?«

Hans schüttelte den Kopf und antwortete auf Arabisch. »Ich bin auf Reisen nach Orten, an denen ich mich setzen kann und Wasser und Brot erhalte.«

»Hier wirst du kein Glück haben. Das Dorf ist erst vor wenigen Tagen von puntländischen Milizen überfallen worden. Die haben uns fast alles an Nahrungsmitteln weggenommen und auch einige junge Männer als Rekruten für ihre Armee mit fortgeschleppt. Verflucht sollen sie sein, diese Majerten! Da sind mir ja fast noch die Isaaq von Somaliland lieber. Bei ihnen herrscht wenigstens Ordnung und Disziplin!«

Das Arabisch des Mannes war fast zu gut für Hans, der sich in dieser Sprache nur sehr einfach ausdrücken konnte. Daher fragte er flehend: »Was soll ich machen? Ich hatte die Hoffnung, irgendjemand könnte mich armen Kerl nach Laasqoray mitnehmen. Dort sollen reiche Emire herrschen, die einen Hungernden speisen und einem Dürstenden Wasser geben.«

Der Mann schlug schwärmerisch die Augen zum Himmel, schien Hans aber trotzdem abzuschätzen. »Laasqoray war einst eine Perle an der Warsangeli-Küste. Inzwischen leben dort fast mehr Dulbahante als Leute meines Stammes. Trotzdem würde ich auch gern mein Glück dort versuchen. Warum sollte ich es nicht tun? Ich könnte dich mitnehmen, denn ich besitze zwei Esel, die ich nicht hierlassen will.«

Hans wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Mit Eseln würden sie mit Sicherheit drei Tage brauchen, um Laasqoray zu erreichen, und in dieser Zeit konnten wichtige Entscheidungen fallen. Allerdings sah er wenig Sinn darin, noch länger auf die Hilfe des Franzosen zu warten, die vielleicht nie kommen würde.

»Ich würde mich freuen, wenn du mich nach Laasqoray bringen würdest. Zwar habe ich die Stadt noch nie gesehen, aber sie soll wunderbar sein!«, sagte er und lächelte den anderen dankbar an.

»Warte einen Augenblick, mein Freund. Ich hole nur meine Esel!« Mit diesen Worten verschwand der Mann und ließ den vermeintlichen Bettler allein zurück. Ein wenig zweifelte Hans doch, ob der Mann sein Angebot ernst meinte. Doch nach wenigen Minuten kehrte der Somali mit zwei dürren Grautieren zurück.

»Steig auf, mein Freund«, bat er und zeigte auf den etwas weniger mageren Esel.

Hans benötigte seine Hilfe, um auf das Tier zu kommen, bemerkte dann aber, dass der andere völlig ohne Gepäck erschienen war. Auch besaß er keine andere Waffe als einen langen, geraden Dolch.

»Viel nimmst du ja nicht gerade mit«, meinte er.

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Wer nicht viel hat, kann nicht viel mitnehmen. Alles, was ich besaß, haben mir die Majerten geraubt.«

»An deinen Eseln hatten sie anscheinend kein Interesse«, sagte Hans mit einem Anflug von Misstrauen.

»Die waren gut versteckt!« Der Mann trieb die beiden Tiere lachend an. Die aber erweckten den Anschein, als würden sie lieber die dürren Halme rupfen, die gelegentlich auf der braun verbrannten Erde wuchsen.

Hans erkannte rasch, dass selbst die drei Tage, die er den Eseln für den Weg nach Laasqoray zugebilligt hatte, zu optimistisch geschätzt waren. In dem müden Trott, den die Tiere einschlugen, würden sie nicht mehr als zehn, maximal fünfzehn Kilometer am Tag bewältigen.

»Geht es nicht schneller?«, fragte er seinen Begleiter.

Der winkte lachend ab. »So Allah will, werden wir bald in Laasqoray ankommen oder eben später. Vielleicht aber auch gar nicht!«

Ein Unterton in der Stimme des Mannes ließ Hans aufhorchen. Zwar glaubte er nicht, dass dieser ihm gefährlich werden konnte, aber trotzdem beschloss er, vorsichtig zu sein.

Zunächst sah es so aus, als hätte sein Begleiter wirklich nichts anderes vor, als mit ihm zusammen nach Laasqoray zu reisen. Er erzählte unentwegt Geschichten, als wäre er froh, endlich wieder einmal Arabisch reden zu können. Dabei verfluchte er die Majerten von Puntland ebenso wie die Dulbahante im Süden und die Isaaq in Somaliland. Nachdem Hans auch noch erfahren hatte, dass die Frau seines Vetters diesen mit einem Freischärler aus Diya Baqi Majids Miliz betrogen hatte, aber von einem bestechlichen Richter freigesprochen worden war, hielt sein Reisegefährte die beiden Esel an.

»Für heute sind wir weit genug geritten und sollten jetzt für die Nacht Rast machen.«

»Aber es ist doch noch mindestens drei Stunden hell!«, beschwerte Hans sich.

Der Somali stieg ab, zerrte ihn vom Esel und band dann beiden Tieren die Vorderbeine so zusammen, dass sie zwar ein wenig hoppeln, aber nicht davonlaufen konnten.

»Jetzt können sie fressen«, erklärte er und setzte sich neben der Straße auf einen Felsen.

Hans humpelte auf seiner Krücke zu einem anderen Felsen und ließ sich dort nieder.

»Warum kommst du nicht zu mir?«, fragte der Somali. »So muss ich ja schreien, wenn ich mit dir reden will!« Er erhob sich und kam auf Hans zu. Dieser sah, wie dessen Rechte sich dem Dolchgriff näherte, und machte sich bereit.

»Sag, was hast du auf deinem Weg schon alles erbettelt? Ich habe gesehen, dass du einen vollen Beutel bei dir trägst!« Noch während er es sagte, machte er einen letzten langen Schritt und zog im gleichen Augenblick den Dolch.

Doch als er zustoßen wollte, rammte Hans ihm das obere Ende der Krücke unter das Kinn, schwang sie durch die Luft und traf den anderen genau zwischen den Beinen. Der Kerl ließ mit einem Schrei den Dolch fallen und sank stöhnend und würgend zu Boden.

Mit einem Schlag seiner Krücke beförderte Hans den Dolch aus der Reichweite des verhinderten Räubers und sah diesen dann kopfschüttelnd an. »Musste das sein?«

»Du bist ein Teufel!«, keuchte der und presste die Hände gegen den Unterleib.

»Ich würde sagen, du bist ein verdammt armer Teufel.« Hans wusste nicht, was er mit dem Kerl anfangen sollte. Im Grunde war es zu gefährlich, ihn am Leben zu lassen, doch er scheute davor zurück, ihn kaltblütig zu erschießen. Noch während er überlegte, klang aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, das Knattern eines Zweitaktmotors auf.

Mit einer raschen Bewegung löste Hans den unteren Teil der Krücke, um sie notfalls als Gewehr einsetzen zu können. Ein Motorrad mit Beiwagen bog weiter hinten um die Kurve, kam auf ihn zu und hielt schließlich bei ihm an. Der grinsende Kerl darauf war niemand anders als Jabir.

Hans senkte erleichtert die Waffe und begrüßte den Franzosen. Dieser starrte den Besitzer der Esel an, der sich langsam wieder erholte. »Wer ist das?«

»Er hat mir angeboten, mich nach Laasqoray zu bringen, und wollte mich hier ausrauben.«

»Und Sie haben ihn am Leben gelassen?« Jabir schüttelte den Kopf, stieg von seinem Motorrad und packte den Kerl. »Los, mitkommen!«, schnauzte er ihn an und stieß ihn vor sich her.

Ein paar Minuten später kam er wieder zurück und steckte seinen Dolch in die Scheide. »Das wäre erledigt. Es hätte fatal ausgehen können, wenn der Bursche den falschen Leuten erzählt hätte, hier würde sich ein einbeiniger und einarmiger Krüppel herumtreiben, der einen gesunden, kräftigen Mann mit Leichtigkeit zusammenschlagen kann. Außerdem müssten Sie mit seiner Rachsucht rechnen. Die Leute hier gehen nicht zum Richter, wenn sie glauben, ihnen wäre Unrecht geschehen. Die nehmen die Kalaschnikow zur Hand!«

»Aber werden seine Leute jetzt nicht Rache suchen?«, fragte Hans besorgt.

Jabir lachte kurz auf. »Wenn Sie länger hierbleiben, haben Sie die Kerle am Hals! Deshalb sollten wir rasch verschwinden. Wieso sind Sie auf den verrückten Gedanken gekommen, mit dem Burschen nach Laasqoray zu reisen? Ich hatte doch gesagt, ich würde dafür sorgen, dass Sie dorthin gelangen.«

Hans senkte betroffen den Kopf. »Es tut mir leid, aber nachdem Sie bis heute Morgen nicht gekommen waren, dachte ich, Sie hätten die Sache aufgeben müssen.«

»Ihr Deutschen denkt einfach zu viel! Jetzt kommen Sie. Steigen Sie ein! Ich habe mir extra ein Gefährt besorgt, das für Sie geeignet ist. Das hat eben ein wenig gedauert.«

Während Hans seine Krücke wieder zusammenschraubte und zum Motorrad humpelte, sprach Jabir munter weiter. »Der Kerl hat wohl Ihren Beutel gesehen und Lust bekommen, den Inhalt zu kassieren. Übrigens handelte es sich um einen Zuträger der hiesigen Machthaber und Piraten, den ich ohnehin aus dem Weg hätte räumen müssen. Das ist nun geschehen, und alle werden denken, Sie wären es gewesen!«

»Damit haben Sie mir jetzt auch noch die Oberschurken im Land zum Feind gemacht, was?« Hans machte aus seiner Verärgerung keinen Hehl, da die lockere Art, mit der Jabir über die Sache hinwegging, an seinen Nerven zerrte.

Der Franzose half ihm, sich in den Beiwagen zu setzen, und startete den Motor. Als er losfuhr, musste er schreien, damit Hans ihn verstehen konnte. »Bis die Bosse in Laasqoray Bescheid wissen, werden ein paar Tage vergehen. Sie sollten trotzdem nicht zu lange in der Stadt bleiben. Da Sie im Gegensatz zu mir das Land bald wieder verlassen, ist es mir lieber, der Tod dieses Kerls wird mit Ihnen in Zusammenhang gebracht als mit mir.«

Das wiederum verstand Hans. Tatsächlich hätte er Jabir durch seine Ungeduld beinahe in große Schwierigkeiten gebracht. Außerdem schüttelte er über sich selbst den Kopf. Der Kerl hatte ihn beim Brunnen zu Boden gestoßen. Wie hatte er nur annehmen können, der andere wäre plötzlich vom ruppigen Saulus zu einem hilfsbereiten Paulus geworden? Auch die Tatsache, dass der Kerl kein Gepäck mitgenommen hatte, hätte ihn misstrauisch machen müssen.

Nun kämpfte Hans mit dem Gefühl, sich gleich bei seinem ersten Einsatz in Wagners Team außerordentlich dumm angestellt zu haben, und nahm sich vor, in Zukunft besser achtzugeben.

FÜNF

 

Die Straße war in einem bemitleidenswerten Zustand und zudem, wie Jabir berichtete, stellenweise vermint. Dies hinderte den Franzosen jedoch nicht daran, mit einer Geschwindigkeit darüberzubrettern, dass Hans sich nicht nur der Minen wegen Sorgen machte.

»Glauben Sie, die Stoßdämpfer werden das noch länger durchhalten?«, fragte er, als Jabir etwas langsamer fahren musste.

Der Franzose nickte. »Bis Laasqoray sicher! Dort gibt es einen Mechaniker, bei dem ich sie nachsehen lassen kann.«

»Wenn wir bis dahin kommen und nicht vorher auf eine Mine fahren!« Hans’ Stimme klang düster und reizte Jabir zum Lachen.

»Ihr Deutschen macht euch wirklich über alles und jeden Gedanken. Aber wenn es Sie beruhigt: Ich weiß ungefähr, wo die einzelnen Konfliktparteien ihre Minen verlegt haben. Der wichtigste Minengürtel, mit dem die Majerten von Puntland den Vormarsch der Truppen von Somaliland und später den der Mordmilizen verhindern wollten, liegt bereits hinter uns. Jetzt müssen wir nur noch durch ein einziges Minenfeld, und dort ist die Straße zum größten Teil bereits geräumt. Wenn wir an der Stelle auf eine Mine fahren, haben wir Pech gehabt. Genauso gut können Sie ein Lotterielos kaufen und damit gewinnen.«

»Was mir im Endeffekt lieber wäre«, gab Hans trocken zurück.

»Mir auch.« Jabir lachte hart auf und drehte den Gashebel wieder bis zum Anschlag.

Hans hatte Mühe, die Strecke zu schätzen, die sie bereits zurückgelegt hatten, als Jabir das Motorrad von der Straße lenkte und zwischen zwei Hügel hineinfuhr. »Hier werden wir lagern«, erklärte der Franzose. »Wir sind jetzt mehr als anderthalb Stunden gefahren und haben dabei über dreißig Kilometer geschafft. Morgen werden wir in Laasqoray zu Mittag essen.«

»Oder in der Hölle«, murmelte Hans, dem durch das ewige Schlagen und Stoßen des Beiwagens jeder Knochen im Leib wehtat. Dann aber dachte er an Torsten, der händeringend auf ihn wartete, und war froh, dass sie gut vorwärtskamen.

Plötzlich fielen ihm die Esel ein, die sie einfach neben der Straße zurückgelassen hatten. Als er Jabir darauf ansprach, winkte dieser ab.

»Die werden sich einmal satt fressen und dann bald gefunden werden. Weit seid ihr ja nicht gekommen. Ihr hattet ja kaum die Hälfte der Strecke zurückgelegt wie wir jetzt. Steigen Sie aus und suchen Sie sich ein Plätzchen zum Ausruhen. Mit einem Lagerfeuer kann ich Ihnen allerdings nicht dienen, denn ich will niemanden auf uns aufmerksam machen. Die meisten Bewohner der Dörfer der Umgebung sind geflüchtet, und wer sich jetzt noch hier herumtreibt, gehört zu unseren ganz speziellen Freunden.«

Hans hinkte zu einem von der Sonne erwärmten Felsen und lehnte sich seufzend dagegen.

Mit einem aufmunternden Lächeln in seine Richtung holte der Franzose zwei Flaschen Mineralwasser und mehrere Fladenbrote aus seiner Gepäcktasche und teilte sie mit ihm. »Um die Zeit sieht die Steppe ganz friedlich aus. Trotzdem muss im Osten geschossen worden sein. Schätze aber, dass es nicht in Laasqoray war. Dafür klangen die Schüsse zu dünn.«

»Ich habe nichts gehört!«, sagte Hans und musterte Jabir fragend.

»Sie waren zu dem Zeitpunkt noch im Dorf, da dürfte der Schall durch die Berge abgelenkt worden sein. Außerdem war es sehr früh am Tag, und ich hatte mein Motorrad noch nicht angeworfen. Jetzt interessiert mich natürlich brennend, was da los war. Es kann von einem kleinen Grenzscharmützel bis zu einer Generaloffensive der Warsangeli gegen die Isaaq von Somaliland alles sein. Vielleicht sogar ein Gegenangriff der Isaaq, die sich nicht mit dem Verlust ihrer heiligen Stadt Maydh abfinden wollen. Das Gebiet hier ist nun einmal ein Hexenkessel, aus dem alle Beteiligten ihre Suppe löffeln wollen. Neben den hier lebenden Stämmen der Majerten, Warsangeli, Dulbahante und Isaaq mischen auch die radikal-fundamentalistische Al-Shabaab und die kaum weniger radikale Allianz für die Befreiung Somalias mit.

Die Fronten wechseln laufend, die Bündnisse ebenso. Seit neuestem aber sammelt sich hier eine Gruppierung, die mit brutaler Gewalt gegen jeden vorgeht, den sie als Feind ansieht. Bis jetzt weiß noch niemand, wer dahintersteckt. Manche meinen gar, es wäre eine Frau, die als Blutsäuferin bezeichnet wird.« Jabir verzog das Gesicht. »Das ist natürlich ein Märchen! Kein somalischer Krieger würde sich dem Kommando einer Frau unterstellen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Ehefrau, Schwester oder Tochter eines Warlords, die die Freischaren begleitet und Verwirrung stiftet, damit der eigentliche Blutsäufer, wenn wir ihn so nennen wollen, im Hintergrund bleiben kann.«

»Sie kennen sich verdammt gut hier aus«, sagte Hans bewundernd.

Jabir blickte zum Himmel hoch, der innerhalb weniger Minuten dunkel geworden war und auf dem die ersten Sterne wie kleine Leuchtkäfer wirkten.

»Es ist mein Job, mich auszukennen, mein Freund. Ich gebe zu, es ist ein verdammt einsamer Job. Deshalb genieße ich einen Abend doppelt, an dem ich mit jemandem zusammensitzen kann, der meine Ansichten teilt. Zwar ist mein Job nicht ungefährlich, aber in ein paar Jahren kann ich damit aufhören. Dann werde ich in La France auf einem Bürostuhl sitzen und nach Feierabend zu meiner Familie nach Hause fahren und zum Abendessen Rotwein trinken.«

»Haben Sie eine Familie?«, fragte Hans.

»Derzeit noch nicht. Aber es gibt ein paar hübsche Mädchen in Djibouti, die genau wie ich einen Fremdenlegionär zum Vater und eine Issa als Mutter haben. Unter denen finde ich schon eine, die mit mir gehen will.«

Obwohl Jabir lachte, spürte Hans, dass es dem Franzosen mit der Sehnsucht nach einem geregelten Leben sehr ernst war. Sein Ehrgeiz war es jedoch, nicht in irgendeinem verrufenen Vorort zu enden, sondern in einem hübschen kleinen Viertel mit Einfamilienhäusern, in denen er als Monsieur Jabir seine Kinder auf eine gute Schule schicken konnte.

»Ich habe eine Frau und ein Kind«, sagte Hans leise. »Ich hätte Ihnen gerne ein Bild gezeigt, aber in dieser Verkleidung konnte ich solche Erinnerungen nicht mitnehmen.«

Jabir klopfte Hans auf die Schulter. »Andere mögen dies für unsentimental halten, aber ich hätte es auch nicht getan. Sieht jemand durch Zufall so ein Bild, kann es den Unterschied zwischen einer gesunden Heimkehr und einem Erdloch bedeuten, in dem man verbuddelt wird.«

»Es ist auf jeden Fall ein Risiko, das ich nicht eingehen wollte. Ich möchte halbwegs heil zu meiner Frau und meiner Tochter zurückkehren! Außerdem habe ich ihr Bild hier.« Hans klopfte sich mit dem Knöchel gegen die Stirn und kämpfte gleichzeitig gegen die Sehnsucht nach seiner Familie an.

»Sie sind ein tapferer Mann, Borchart. Ich hoffe, dass ich, sollte ich einmal in dieselbe Lage kommen wie Sie, meinem Land ebenso dienen kann. Aber jetzt sollten Sie sich schlafen legen. Ich wecke Sie gegen Mitternacht. Dann halten Sie bis vier Uhr Wache, und den Rest übernehme ich wieder. Morgen bringe ich Sie dann nach Laasqoray und sehe zu, dass ich an Informationen über die Schießerei von heute Morgen komme.«

Hans musste bei seinen Worten an Torsten, Petra, Henriette und deren vermissten Bruder denken. Möglicherweise konnte Major von Tarow aus einem dummen Zufall heraus genau in dieses Gefecht geraten sein, sagte er sich und machte sich noch mehr Sorgen.

SECHS

 

Sayyida starrte verärgert auf den Vorhang, der sie von den Männern im Raum trennte. Eigentlich hätte sie gleichberechtigt unter ihnen sitzen müssen, doch die Vertreter der radikalen Islamisten hatten sich strikt geweigert, eine Frau als Gesprächspartnerin zu akzeptieren. Daher saß sie in einem abgetrennten Teil im Dunkeln, sodass sie die Männer durch den Vorhang belauschen konnte, aber selbst nicht gesehen wurde.

Zwar konnte sie gelegentlich ihrem Vater ein paar Worte zuflüstern, damit er in ihrem Sinne antwortete, doch ansonsten hatte sie keinen Einfluss auf das Gespräch. Diese Situation empfand sie als demütigend. Um ihren Ärger zu kanalisieren, überlegte sie sich, was sie mit den Anführern der Al-Shabaab und den anderen aufgeblasenen Clanführern und Warlords anstellen würde, wenn sie endlich über die Macht im Land verfügte.

Eben forderte einer der radikalislamistischen Abgesandten, dass ihr Vater das Gebiet, welches er kontrollierte, für ihre Milizen öffnen und sich mit ihnen verbünden sollte.

»Gemeinsam werden wir die Isaaq-Separatisten niederwerfen und eine islamische Republik errichten, die einmal das gesamte von uns Somalis bewohnte Gebiet umfassen wird«, rief er aus.

»Das bedeutet Krieg mit Äthiopien und Kenia«, wandte Abdullah Abu Na’im ein. Der Saudi war mit seinem Privatjet tief in der Nacht auf dem Flugfeld von Laasqoray gelandet, um seiner Schwägerin von seinen Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu berichten. Diese zogen sich länger hin, als er erwartet hatte, doch ebenso wie Sayyida war er sicher, dass die Deutschen nachgeben würden. Jeder Tag, den die Geiseln sich länger in der Gewalt ihrer Männer befanden, würde den Widerstand der deutschen Kanzlerin weiter schwächen.

»Wir müssen unsere Stammesbrüder in Äthiopien und Kenia befreien, die Sklavenregime, die der Westen dort eingerichtet hat, vernichten und ihre Länder ebenfalls zu islamischen Republiken machen«, erklärte der Al-Shabaab-Vertreter soeben großspurig.

Der Saudi hielt wenig von islamischen Republiken, vor allem, wenn diese sich jene Länder als Vorbild nahmen, zu denen sein Heimatland in Konkurrenz stand. Noch weniger nach seinem Geschmack war ein großer Krieg, der ganz Ostafrika erschüttern würde.

»Das sind doch Hirngespinste!«, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Uns geht es um jene Dinge, die man erreichen kann. Nach dem Mond zu greifen ist erst dann sinnvoll, wenn man die Rakete dafür hat. Solange Somalia aus einem Dutzend miteinander im Streit liegender Gruppierungen und Provinzen besteht, muss man sich damit begnügen, erst einmal diese zu unterwerfen. Und selbst das ist seit mehr als zwanzig Jahren niemandem mehr gelungen.«

»Wir werden es schaffen! Aus diesem Grund fordern wir euch auf, euch mit uns zusammenzutun. Gemeinsam können wir die Isaaq und die anderen rebellischen Stämme bezwingen.« Der Vertreter der Al-Shabaab ließ keinen Zweifel daran, wer in einer solchen Allianz das Sagen haben sollte, und stieß mit dieser Forderung die gemäßigteren Männer in der Runde vor den Kopf.

Diya Baqi Majid, der erst vor wenigen Stunden die Meldung erhalten hatte, dass die Minenfelder seiner Truppen nicht ausgereicht hatten, General Mahsins Männer an der Rückeroberung von Maydh zu hindern, verspürte am wenigsten Lust, sich den Radikalislamisten zu unterwerfen. »Meine Männer sind Warsangeli, und sie werden niemandem folgen, der sie in einen Kampf mit Äthiopien verwickeln will. Wir schützen unser Land, und wir wollen unsere eigene Provinz, in der weder Majerten noch Isaaq noch sonst einer uns etwas sagen will!« Den Namen Dulbahante verkniff Diya Baqi Majid sich, um Sayyida nicht zu verärgern.

Diese nahm es lächelnd zur Kenntnis. Auch sie hatte bereits von Diya Baqi Majids Rückschlag in Maydh erfahren und sagte sich, dass er ihrer Hilfe nun noch dringender bedurfte. Es gab einige Anführer unter den Warsangeli, die gerne seine Stelle einnehmen würden.

Während Frauen Tee servierten und Wasserpfeifen hereinbrachten, ging die Diskussion weiter. Einige Abgesandte erklärten, dass sie zwar zu Bündnissen bereit seien, aber zu ihren eigenen Bedingungen. Mit den Radikalislamisten wollten auch sie nichts zu tun haben.

Der Vertreter aus Galmudug, der als Habirgedir zwar ebenfalls der Stammesgruppe der Hawije angehörte wie der Degodia, brachte es schließlich auf den Punkt. »Du und deine Leute, ihr habt unseren Stamm seit Jahren bekämpft, unsere Männer getötet und unser Vieh fortgetrieben. Warum sollen wir euch jetzt vertrauen?«

Sayyida klatschte dem Sprecher insgeheim Beifall. Die Radikalen der Al-Shabaab würden ihr ärgster Gegner sein, wenn sie ihr Einflussgebiet in den Süden Somalias ausdehnen wollte. Die Islamisten hatten sich mit Terror und Gewalt ein Gebiet unterworfen, das von der kenianischen Grenze bis zum Fluss Shabeelli reichte. Doch die Al-Shabaab bestanden aus verschiedenen Gruppierungen, die sich gegenseitig nicht grün waren, und so kam es immer wieder zu Gefechten zwischen ihnen. Da sie bei ihren Aktionen keine Rücksicht auf Stammestraditionen nahmen, war Sayyida sicher, die gemäßigten Stämme und Milizen auf ihre Seite ziehen und mit ihnen gemeinsam die radikalen Islamisten vernichten zu können.

Verliere über dem zweiten Ziel nicht das erste aus den Augen, rief sie sich zur Ordnung. Zuerst ging es darum, Somaliland zu erobern und zu verhindern, dass andere Milizen ihr die Beute streitig machten. Daher beugte sie sich vor und berührte durch den Vorhang die Schulter ihres Vaters.

»Mach ihnen klar, dass der Norden uns gehört. Wer hier etwas erreichen will, kann dies nur mit unserer Zustimmung tun.«

Wafal Saifullah hob zögernd die Hand. »Ich habe euch zusammengerufen, um die Bedingungen auszuhandeln, unter denen ihr euch uns anschließen dürft.«

»Mit uns meinst du wahrscheinlich dich und deine Tochter?«, unterbrach ihn der Mann von Al-Shabaab spöttisch und erntete unwirsches Murmeln. Sogar die Vertreter anderer islamischer Milizen funkelten ihn zornig an. Keiner von ihnen wollte den Stammesältesten der Dulbahante verärgern, denn sie wussten, wie dessen Todesschwadronen im Feindesland wüteten. Nicht umsonst hatte man diesen den Beinamen »Blutsäufer« gegeben.

Der Abgesandte der radikalen Islamisten begriff, dass er auf verlorenem Posten stand. Einen offenen Zwist mit dem Gastgeber und dessen Verbündeten konnte sich seine Organisation nicht leisten, solange sie den Süden Somalias nicht vollständig kontrollierte.

»Ich entschuldige mich bei dir, Wafal Saifullah. Du bist nicht nur ein Ältester der Dulbahante, sondern auch ein berühmter Wadad und Rechtsprecher!« Es fiel dem Mann nicht leicht, diese Worte auszusprechen, denn die in uralten Stammestraditionen verhafteten Anführer wie Wafal Saifullah setzten seiner Gruppierung den heftigsten Widerstand entgegen. Außerdem hatte der Mann, wie er an Abdullah Abu Na’im ersehen konnte, Freunde und Verbündete in Saudi-Arabien, die ihn unterstützten. Ihn sich zum Feind zu machen, konnte die Al-Shabaab sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten.

»Ich verzeihe dir!« Wafal Saifullah lächelte freundlich und begann wieder Kat zu kauen, während die anderen Milizchefs eifrig weiterverhandelten und nicht wenig stritten. Da es dabei aber nur um nachrangige Dinge wie die Herrschaft über einzelne Dörfer und Wasserstellen ging, brauchte Sayyida ihren Vater nicht noch einmal aufzufordern, das Wort zu ergreifen. Ihr genügte es, den Einfluss der Al-Shabaab im Norden von Somalia vorerst beschnitten zu haben. Bis die Islamisten begriffen, welche Pläne sie tatsächlich verfolgte, würde es für sie zu spät sein. Sobald Dia Baqi Majid ihr Laasqoray ganz übergeben hatte, würde sie die deutschen Waffen auf dem Frachtschiff an Land bringen lassen und damit eine ganze Armee ausrüsten. Anwerben würde sie diese Kämpfer mit dem Lösegeld für die Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lady of the Sea.

Mit diesem Gedanken lehnte sie sich auf ihrem Diwan zurück und dachte darüber nach, welche Belohnungen ihr Vater den anwesenden Anführern in persönlichen Gesprächen versprechen sollte. Außerdem musste sie sich die Antwort an die deutsche Kanzlerin überlegen. Mit einem Mal empfand sie brennenden Neid auf diese Frau, die offen und unangefochten an der Spitze ihres Volkes stehen konnte. Ihr selbst würde dies für immer verwehrt bleiben.

SIEBEN

 

Petra Waitl blickte von ihrem Laptop auf und grinste. »Wie schön, dass unsere Freunde mit den Hühnern schlafen gehen. Jetzt können wir loslegen!«

»Da ist doch noch einer auf der Ersatzbrücke«, wandte Henriette von Tarow ein.

»Der wird auch gleich müde werden.« Petra zog eine kleine Gaspatrone aus dem Ausrüstungspaket und zeigte sie Henriette. »Die musst du auf dem Deck unter der Ersatzbrücke in der Zuleitung der Klimaanlage anbringen und öffnen. Pass aber auf! Das ist ein speziell für solche Aktionen entwickeltes Gas. Wenn du nur ein Nanogramm einatmest, darf ich dich hierherschleppen und für die nächsten sechs bis acht Stunden schlafen lassen. Wach kriege ich dich dann nicht mehr!«

»Haben wir keine Gasmasken dabei?« Jetzt wühlte Henriette in dem Ausrüstungspaket und brachte eine Nasenklemme mit Mundstück zum Vorschein. »Na ja, zur Not geht auch so ein Ding«, meinte sie nicht sonderlich überzeugt.

»Die konnten uns nicht zentnerweise Zeug mitgeben. Wie hätten wir das schleppen sollen?« Petra seufzte, denn wie es aussah, war die Unzufriedenheit ihrer Freundin noch immer nicht geschwunden. Dabei hatte sie gehofft, Henriette würde bei dieser Aktion wieder so schwungvoll vorgehen wie in Belgien. Möglicherweise fehlte ihr Torsten oder ein anderer Mann, gegen den sie sich behaupten musste.

Henriette schob sich die Klemme über die Nase und nahm das Mundstück zwischen die Zähne. Das Atmen mit dem Ding fiel ihr leichter, als sie es erwartet hatte. Mit einer energischen Bewegung schob sie das Kampfmesser, mit dem sie vorhin eine Dose geöffnet hatte, in den Gürtel und nahm die Gasdruckpistole in die Hand. Sie hatte sich bereits nach ihrer Fourageaktion umgezogen und trug nun einen hautengen schwarzen Dress mit Kapuze, der nur das Gesicht frei ließ. Damit glich sie, wie Petra behauptet hatte, einer Eisschnellläuferin. Allerdings schleppte eine solche keine tödlichen Waffen mit sich herum.

»Ich werde deinen Weg mit den Kameras überwachen und dich notfalls anleiten«, versprach Petra.

»Sehr gut!« Da Henriette endlich selbst eingreifen konnte, ging ein Ruck durch sie. Aller Ärger war verflogen, und sie fühlte sich wieder der langen Reihe der von Tarows würdig, die ihr Leben für ihr Land eingesetzt hatten. Ein kurzer Blick auf Petras Bildschirm zeigte ihr, dass der Korridor vor ihrem Versteck ebenso leer war wie jener, in dem sie die Gaspatrone platzieren musste. Sie öffnete die Luke und schlüpfte hinaus.

Henriette war bereits mehrmals auf Fähren ähnlicher Größe gefahren. Diese hatten sich mit ihrem Motorenlärm und all den anderen Geräuschen beinahe wie ein lebendes Wesen angefühlt. Hier aber umfing sie eine fast schmerzhafte Stille. Die Piraten hatten die meisten Aggregate abgeschaltet, die für den Bordbetrieb notwendig waren, darunter auch die Klimaanlage. Dieser Gedanke brachte sie dazu, sich noch einmal umzudrehen und den Kopf durch die Luke zu stecken.

»Wieso können wir den Wächter in der Ersatzbrücke betäuben, wenn die Luftversorgung nicht funktioniert?«

»Das Gas schießt durch den Druck, mit dem es aus der Patrone herauskommt, nach oben und wird durch die Einlass-Schlitze der Klimaanlage in die Ersatzbrücke gepresst. Der Kerl wird so schnell bewusstlos werden, dass er nicht einmal mehr einen Alarmknopf drücken kann. Sobald das geschehen ist, komme ich mit der Platine nach, und wir können sie einbauen.«

»Dann sieh zu, dass du ebenfalls so eine famose Nasenklemmen-Gasmaske aufsetzt, sonst darf ich dich hierher zurückschleppen, und der ganze Aufwand war umsonst. Ich weiß nicht, wo ich dieses Ding anbringen soll!«

Während Petra in das Ausrüstungspaket griff, um eine Gasmaske herauszuholen, schlich Henriette den Gang entlang und stieg dann vorsichtig ein Deck höher. Kurz darauf erreichte sie die Stelle, die Petra ihr genannt hatte. Die Abdeckung, hinter der sie die Patrone anbringen musste, war mit vier Schrauben gesichert, die sie mit Hilfe ihres Kampfmessers losdrehen konnte. Sie stellte die Abdeckplatte auf den Boden, leuchtete mit ihrer Taschenlampe in den Schacht und fand den Anschluss-Stutzen auf Anhieb. Schnell klappte sie den Deckel auf, schraubte die kleine Gaspatrone darin fest und prüfte anschließend, ob die Nasenklammern ihrer Gasmaske auch richtig saßen. Dann drehte sie sowohl das Ventil der Patrone wie auch das des Anschluss-Stutzens auf und wich ein paar Schritte zurück.

Zu hören und zu sehen war nichts. Sie wurde auch nicht müde, wie sie insgeheim befürchtet hatte. Stattdessen vernahm sie Petras Stimme in ihrem Kopfhörer. Das Funkgerät war auf schwächste Leistung eingestellt, und das Signal reichte nicht weit. Daher war ihre Kollegin kaum zu verstehen.

»Ich bin unterwegs. Komm nach oben!«

Henriette nickte, obwohl Petra die Geste nicht mehr sehen konnte, und machte sich auf den Weg. Als sie die Tür der Notbrücke erreichte, stand ihre Kollegin schon davor und mühte sich mit einem Nachschlüssel ab. »Die Kerle haben die Tür doch auch aufgebracht«, stöhnte sie, als es ihr nicht gleich gelang.

Mit einem nachsichtigen Lächeln nahm Henriette ihr den Schlüsselbund ab, suchte einen anderen Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss. Jetzt ließ die Tür sich ohne Mühe öffnen.

»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte Petra verblüfft.

»Nur den richtigen Schlüssel genommen. Seine Nummer hat als letzte Ziffern eine Neun und eine Drei. Du hast den Schlüssel mit der Endung Drei und Neun genommen, also die Zahlen verdreht. Aber still jetzt! Sonst finden die Piraten, wenn sie nachschauen kommen, neben ihrem schnarchenden Kumpel uns zwei ebenfalls süß und selig schlummernd vor.«

»Wir hätten richtige Gasmasken gebraucht!« Petra stöhnte, legte aber die Nasenklammer und das Mundstück wieder an und schlüpfte, als Henriette die Tür weit genug aufgezogen hatte, in die Notbrücke hinein. Hier waren die gleichen Instrumente angebracht wie auf der richtigen Brücke, allerdings auf weitaus kleinerem Raum. Da Petra sich intensiv mit den Plänen dieser Steuerzentrale befasst hatte, deutete sie sogleich auf die Stelle, an der sie den Einbau vornehmen musste. Genau dort hatte das Gas den Piraten überrascht.

Mit einer Handbewegung machte sie Henriette klar, dass diese ihr helfen sollte, den Kerl wegzuziehen. Danach legte sie sich vor der Verkleidung der Steuerkonsole auf den Boden und löste die Platten mit einem Schraubenzieher. Henriette trat unterdessen neben die Tür und hielt Wache. Nun war sie froh, dass die Piraten die bordeigene Computeranlage abgeschaltet hatten. Damit hatten die Banditen sich selbst der Möglichkeit beraubt, die unteren Decks von der Brücke aus mit Kameras zu überwachen. Gerne hätte sie die Chancen, die sich dadurch für sie ergaben, mit Petra durchgesprochen. Doch zum Reden waren ihre Gasmasken nicht geeignet.

Das machen wir später, beschloss sie und warf Petra einen kurzen Blick zu. Ihre Kollegin hatte inzwischen die Abdeckplatte entfernt und kroch nun fast bis zur Taille in die Konsole hinein. Nach wenigen Sekunden kam sie wieder zum Vorschein, reckte Henriette den erhobenen rechten Daumen entgegen und schraubte die Abdeckplatte fest.

So schnell, wie ihre Figur es erlaubte, schoss sie aus dem Raum, wartete auf dem Gang, bis Henriette ihr gefolgt war und die Tür wieder versperrt hatte, riss sich die Nasenklammer ab und atmete hastig durch.

»Puh! Zuletzt hat meine Phantasie mir beinahe einen Streich gespielt«, bekannte sie. »Ich hatte das Gefühl, als würde ich das Betäubungsgas riechen, und hatte Angst, bewusstlos zu werden.«

»Daran sind die Filter dieser Minigasmasken schuld. Sie hinterlassen einen ekligen Geschmack auf der Zunge. Wir sollten beantragen, dass sie nächstens nach Pfefferminze schmecken.« Henriette hatte nur einen Scherz machen wollen, doch ihre Freundin sah sie sehnsüchtig an.

»Was gäbe ich im Augenblick für ein Pfefferminzdrops!«

Da sie sich bereits an die eigenartigen Anwandlungen ihrer Kollegin gewöhnt hatte, grinste Henriette. »Geh du schon vor! Ich schaue noch einmal in die Vorratsräume, ob ich etwas für dich finde.«

»Danke! Aber vergiss unterwegs nicht, die Gaspatrone wieder abzubauen. Nicht dass einer der Kerle sich fragt, warum sein Kumpel so schläfrig geworden ist, und der Sache auf den Grund geht.«

»Klar!«, versprach Henriette und sauste los.

Als sie nach etwa zehn Minuten in ihr Versteck zurückkehrte, saß Petra vor ihrem Laptop und gab die ersten Daten ein. »Mehr können wir heute nicht unternehmen«, sagte sie zu Henriette, ohne ein einziges Mal aufzuschauen. »Du solltest ein wenig schlafen. Ich wecke dich, wenn ich mit dem mir vorgenommenen Pensum fertig bin.«

»Okay!« Zwar war Henriette nicht danach, sich so einfach hinzulegen, doch da sie Petra nicht bei der Arbeit stören wollte, rollte sie sich in der oberen Koje zusammen. Zuerst wirbelten ihre Gedanken noch, aber schon nahm sie sich Torsten Renks Aussage zu Herzen, dass man in ihrem Job zusehen müsse, dass man genug Schlaf bekäme. Daher versuchte sie, sich zu entspannen, und schlief schließlich tatsächlich ein.

ACHT

 

Am Morgen nach Petras und Henriettes Aktion zwangen Hunger und Durst Evelyne Wide, ihre Kabine zu verlassen und die Essensausgabe aufzusuchen. Dort hatte in den drei ersten Tagen ihrer Entführung reges Treiben geherrscht, aber an diesem Vormittag standen nur wenige Leute an. Hauptsächlich Männer, die eingeschüchtert von dem martialischen Auftreten der Piraten waren und zitternd um etwas zu essen baten. Sie wirkten erschöpft und rochen nach Schweiß. Dennoch zählten sie gewissermaßen zu den privilegierten Geiseln, die bislang in ihren Kabinen hatten bleiben dürfen. Die Mannschaft und ein Teil der anderen Passagiere waren in Salons und Lagerräumen eingepfercht worden.

Evelyne gehörte ebenfalls zu jenen, die nicht aus ihren Kabinen herausgeholt worden waren, aber sie rechnete jeden Augenblick damit, anderswo eingesperrt zu werden. Die Atmosphäre an Bord hatte sich verändert, seit die Lady vor Anker lag. Weitere Piraten waren an Bord gekommen und dachten sich neue Schikanen aus, um die Geiseln zu demütigen. Verzweifelt fragte sie sich, welcher Hass diese Männer antrieb. Keiner der Menschen, die in ihre Gewalt geraten waren, hatte ihnen oder ihrem Land je etwas getan.

Ein rüder Kolbenstoß beendete Evelynes Gedankengang, und sie stolperte weiter. Vor ihr bat ein verzweifelter Mann um Milch für das Kind, das er auf dem Arm trug. Es wirkte apathisch, und seine Augen glänzten im Fieber.

Evelyne bedauerte, dass der Sender ihr verboten hatte, noch einmal live auf Sendung zu gehen. Zwar konnte sie ihre Eindrücke an die Fernsehanstalt weitergeben, doch diese wurden zuerst von Experten der Geheimdienste gesichtet, die nur das freigaben, was sie für unverfänglich hielten. Informationen über Erschießungen, Vergewaltigungen und todkranke Kinder gehörten nicht dazu, da die deutsche Regierung die Entführer der Lady of the Sea nicht durch Nachrichten dieser Art gegen sich aufbringen wollte.

Die Reporterin schrak hoch, als ein Pirat dem Familienvater eine Flasche Mineralwasser hinwarf, zusammen mit einem Viertel Brotlaib und einer Konservendose, die geschälte Tomaten enthielt.

»Ist genug!«, schnauzte er den Mann an.

»Wir brauchen mehr«, flehte der verzweifelte Vater. »Wir sind zu viert, meine Frau, ich und noch ein Kind. Die Kleine hier muss dringend Milch bekommen. Sie ist krank.«

»Schreib an deutsche Regierung, dass sie dir schickt Milch«, antwortete der Pirat und versetzte ihm einen Stoß. Der Passagier stolperte zwei Schritte und fiel dann samt Kleinkind hin.

Während ein paar Entführer lachten, sah Evelyne, dass andere angewidert das Gesicht verzogen. Ein älterer Somali nahm rasch einen Tetrapak Milch an sich und verließ die Küche durch eine andere Tür.

Als der gestürzte Passagier sich wieder aufrappelte und mit hängendem Kopf davonschlich, traf er beim nächsten Quergang auf den Somali, der ihm wortlos die Milchpackung in die Hand drückte und so schnell verschwand, als löse er sich in Luft auf.

Inzwischen war Evelyne an der Reihe. Bisher hatte man ihr die Ration immer so hingestellt, dass sie sie hatte wegnehmen können. Nun aber sah der Mann an der Ausgabe sie mit höhnischer Miene an. Er war hellhäutiger als ein Somali und hatte einen langen, dunklen Bart. Der Farbe seiner Augen nach hielt Evelyne ihn für einen Europäer. Möglicherweise war er sogar ein Deutscher. Obwohl der Kerl sich bemühte, gebrochen zu reden, kamen die einzelnen Worte zu flüssig und vor allem in einem Akzent aus seinem Mund, der sie an das Ruhrgebiet erinnerte.

»Du wollen?«, fragte er. Dann weiteten seine Augen sich vor Überraschung, und er grinste, als wäre ihm ein guter Gedanke gekommen.

»Ich brauche etwas zu essen und zu trinken«, erklärte Evelyne mit matter Stimme.

Der Mann fasste sie am Kinn. »Was zahlst du dafür?« Diesmal verstellte er seine Stimme nicht mehr.

Er ist Deutscher, und er hat mich erkannt, durchfuhr es Evelyne. Laut sagte sie: »Ich habe kein Geld mehr. Man hat uns gleich zu Beginn alles abgenommen.«

»Ich dachte auch an eine andere Bezahlung. Du bekommst Essen für …« Die Hüftbewegung, die er dabei machte, ließ an seinen Absichten keinen Zweifel.

Hunger und Durst brachten Evelyne dazu, sich zu überlegen, ob sie dazu bereit war. Dann schüttelte sie den Kopf. »Der Preis ist mir für ein deutsches Schwein, das es mit diesem Gesindel hält, zu teuer!«

Im gleichen Augenblick schlug der andere zu. Evelyne flog gegen die Wand und stieß so mit dem Kopf dagegen, dass sie Sterne sah. Blut rann ihr von den Lippen. Du dummes Stück, dachte sie. Warum hast du dem Kerl nicht versprochen, die Beine für ihn breitzumachen? Dann hättest du wenigstens etwas zu essen bekommen. Doch ihre Selbstachtung war noch nicht so weit gesunken, sich diesem Schurken auszuliefern.

Zwei weitere Tage, sagte sie sich, würde sie auch ohne Essen aushalten. Wasser konnte ihr vielleicht jene dickliche Frau verschaffen, mit der sie in Kontakt stand. Ohne den Kerl noch einmal anzusehen, drehte sie sich um und machte sich wieder auf den Weg zu ihrer Kabine.

Sie sah nicht, dass der deutsche Pirat seinen Posten an der Essensausgabe einem Somali überließ, der in gewohnter Weise eine Flasche Wasser, ein halbes Brot und eine Konservendose ausgab, und ihr folgte.

In ihrer Kabine ging sie als Erstes ins Bad und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Die Lippe hatte zu bluten aufgehört, und es würde wohl auch kein Veilchen zurückbleiben. Beinahe hätte sie sich eines gewünscht, um bei der nächsten Schaltung zum Sender die Leute zu Hause schockieren zu können. Aus diesem Grund beschloss sie auch, den eingetrockneten Blutfaden, der sich über Kinn und Hals zog, nicht zu entfernen. Stattdessen trank sie ein wenig von dem abgestanden schmeckenden Wasser, zu dem Petra ihr verholfen hatte. Da hörte sie auf einmal, wie an der Tür ihrer Kabine gerüttelt wurde, und zuckte zusammen.

Sie drehte sich um und trat aus dem Bad. Im gleichen Augenblick rammte jemand mit dem ganzen Körpergewicht die Tür. Evelyne versuchte noch, von innen dagegenzuhalten. Doch das Schloss brach, und die Tür flog mit einem Knall auf. Die Wucht des Schlags warf Evelyne gegen den Schrank. Entsetzt sah sie, wie der Kerl, der sie eben an der Essensausgabe angegangen war, breitbeinig auf sie zukam.

»Ich wollte schon immer mal eine Prominente pimpern! Hier auf dem Schiff habe ich gleich eine hübsche Auswahl von euch Ludern. Los, ausziehen!«

Evelyne wich bis ans Fenster zurück und überlegte fieberhaft. »Warum tun Sie so etwas?«, fragte sie, weil sie hoffte, ihn vielleicht durch Reden dazu zu bringen, sie in Ruhe zu lassen.

»Weil ich Lust darauf habe, die berühmte Fernsehreporterin Evelyne Wide durchzuziehen. Du bist doch das Miststück, das die Reportagen über die Kaperung dieses Kastens gesendet hat. Darum kümmere ich mich hinterher. Finde ich in dieser Kabine irgendetwas Verdächtiges, dann …« Er deutete mit beiden Händen an, wie er ihr diese um den Hals legen und sie erwürgen würde.

Am Ausdruck seiner Augen erkannte Evelyne, dass er es genau darauf anlegte, und sie spannte die Muskeln für den letzten Kampf ihres Lebens an. »Sie sind doch Deutscher. Warum helfen Sie diesen Leuten?« Selbst im Angesicht des Todes konnte sie die Reporterin nicht verleugnen.

»Steck dir dein Scheißdeutschland in den Arsch! Dort durfte ich nur malochen und ›Aber natürlich, Herr Gruppenleiter‹ und ›Das ist doch selbstverständlich, Herr Gruppenleiter‹ sagen. Dabei war der Kerl so dumm wie ein Kamel und hat sein Gehalt nur deshalb bekommen, weil ich und die anderen Trottel den Karren immer wieder aus dem Dreck gezogen haben. Zum Dank hat der Kerl dann dafür gesorgt, dass ich auf die Straße geflogen bin, als die Firma mit einer anderen fusioniert wurde. Abfindung gab’s nicht, und von Hartz IV wollte ich nicht leben. Also habe ich mir andere Freunde gesucht, Leute, bei denen ich der Massa bin!«

Bei den letzten Worten trat er auf sie zu und packte sie. Evelyne wollte sich verteidigen, konnte aber gegen den kräftig gebauten Mann nichts ausrichten. Er riss sie hämisch lachend hoch, warf sie auf das Bett und zerriss ihr die Bluse. Sie versuchte ihn zu beißen, erhielt dafür aber eine Ohrfeige, die sie Sterne sehen ließ. Der Mann öffnete ihren Gürtel, packte ihre Jeans an den Hosenbeinen und zerrte sie ihr vom Leib.

Evelyne strampelte mit ihren Beinen, erhielt eine weitere Ohrfeige und sah dann wie durch einen Schleier zu, wie ihr Peiniger grinsend seine Hose öffnete.

»Jetzt werde ich es dir besorgen, du Luder«, sagte er und wollte auf sie steigen.

In dem Augenblick klang eine helle Stimme hinter ihm auf.

NEUN

 

Henriette war aufgewacht, als Petra sie an der Schulter packte und rüttelte. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es bereits acht Uhr morgens war. Doch bevor sie etwas sagen konnte, zeigte ihre Kollegin erregt auf den Bildschirm.

»Es geht um Evelyne. Willst du eingreifen?«

Statt einer Antwort sprang Henriette auf, zog ihre Gasdruckwaffe und rannte los. Wo Evelyne Wides Kabine lag, hatte sie sich mit Hilfe des Schiffsplans bereits eingeprägt.

»Beeil dich!« Petras drängender Ruf brachte Henriette dazu, noch schneller zu laufen. Sie verließ sich darauf, dass ihre Freundin sie rechtzeitig vor Piraten warnen würde, und hastete die Treppen hoch zu dem Deck, auf dem Evelyne Wides Kabine lag. Zu ihrer Erleichterung war auf dem Flur niemand zu sehen. Während sie an den Kabinentüren vorbeilief, zählte sie mit, bis sie vor der richtigen stand. Die Tür war nur angelehnt und ließ sich mühelos öffnen. Innen sah Henriette die Reporterin nackt auf dem Bett liegen, halb verdeckt von einem bulligen Kerl mit ungewaschenen, fettigen Haaren und Schlangen-Tattoos auf den Unterarmen.

»Jetzt werde ich es dir besorgen, du Luder«, hörte sie ihn sagen und trat voller Wut ein.

»Das glaubst aber auch nur du, du Halunke!«

Der Kerl drehte sich um und wollte nach ihr greifen.

Henriette drückte ab. Ein kurzes, schmatzendes Geräusch klang auf, und sie sah, wie der Kopf der auf dem rechten Unterarm eintätowierten Schlange getroffen wurde. Der Mann hob den Arm und starrte darauf. Doch außer einem winzigen roten Punkt wie von einem Mückenstich war nichts zu sehen.

»Mit deiner Spielzeugpistole kannst du jemand anderen erschrecken, mich nicht!«, spottete er.

Henriette begriff, dass er sie für eine der asiatischen Angestellten hielt und sie nicht ernst nahm. Während sie ihn nicht aus den Augen ließ, streckte er die Oberarme aus, um sie zu packen.

»Umsonst hast du das aber nicht getan, du dreckige kleine Hure.«

Henriette fürchtete schon, dass das Gift wirkungslos blieb, und wollte ein zweites Mal schießen. Da riss der Mann die Augen auf und rang nach Luft. Um zu verhindern, dass er losschrie, wollte sie ihm den Mund zuhalten, da brach ein halbersticktes Gurgeln über seine Lippen. Er kippte um und blieb starr liegen.

Ein Blick verriet Henriette, dass er tot war. Sie musste schlucken. Gleichzeitig hörte sie Petras Stimme erneut in ihrem Knopf im Ohr.

»Ihr müsst schnell verschwinden! Die Kerle gehen von Kabine zu Kabine. Sie scheinen alle in den Salons und Lagerräumen einsperren zu wollen.«

»Halt!«, setzte sie hinzu, als Henriette zu Evelyne eilen und ihr aufhelfen wollte. »Sie dürfen den Toten nicht finden, sonst wissen sie, dass sich jemand an Bord versteckt hat, und filzen den Kasten vom Schornstein bis zum Kiel.«

»Und wie stellst du dir das vor? Ich kann den Kerl nicht in Luft auflösen«, gab Henriette ärgerlich zurück.

»Ich öffne euch eine Luke drei Decks tiefer und leite euch dorthin. Jetzt beeilt euch! Die Piraten werden gleich euren Gang betreten.«

Henriette nickte in die Richtung, in der sie die verborgene Überwachungskamera vermutete, und wandte sich Evelyne zu. Diese hatte sich aufgerafft und zog ihre Hose an.

»Können Sie allein gehen?«, fragte Henriette.

»Ja! Aber ich brauch noch ein paar Sachen.«

»Dazu bleibt keine Zeit!«, fauchte Henriette sie an. »Wenn die Piraten uns hier finden, sind wir geliefert.« Sie steckte ihre Waffe weg, packte den Toten unter den Achseln und zerrte ihn zur Tür.

Evelyne sah ihr einen Augenblick lang zu, raffte dann mit einer fahrigen Bewegung ihre Bluse an sich und schlüpfte hinein. Da der Kerl die Knöpfe abgerissen hatte, knotete sie das Kleidungsstück über der Brust und wollte Henriette folgen. Auf dem Weg zur Tür erinnerte sie sich an ihren Laptop und nahm ihn samt der Tasche an sich.

Unterdessen schleifte Henriette ihr Opfer in Richtung des nächsten Niedergangs, wurde aber von Petra über eine Nottreppe umgeleitet: »Vor euch sind Piraten. Dieser Weg hier ist noch sicher. Ihr könnt von Glück sagen, dass der Bursche nicht blutet. Sonst würde er eine Spur hinterlassen, der selbst ein Blinder mit dem Krückstock folgen kann.«

»Quassle nicht so viel, sondern gib lieber acht, dass uns keiner über den Weg läuft.«

»Keine Sorge. Ihr müsst den nächsten Korridor nach links gehen und dann wieder den Notabstieg nehmen. Die Kerle filzen wirklich das ganze Schiff«, sagte sie angespannt.

Unterdessen wurde Evelyne sich wieder mehr ihrer Umwelt bewusst und sah, wie sich Henriette mit dem schweren Mann abmühte.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, flüsterte sie der Halbphilippinerin zu und fasste nach den Beinen des Toten. Auf diese Weise ging es schneller.

Sie erreichten auf Petras Anweisungen hin eine Ladeluke, die von oben nicht eingesehen werden konnte. Vorsichtig löste die Computerspezialistin per Fernsteuerung die Verriegelung der Luke und ließ sie so weit aufschwingen, wie sie es glaubte verantworten zu können.

»Schnell!«, drängte sie.

Henriette warf einen kurzen Blick nach draußen und sah den Meeresspiegel nur wenige Meter unter sich. Trotzdem würde es klatschen, wenn sie den Toten einfach ins Freie warfen.

»Wir müssen den Kerl vorsichtig hinunterlassen«, wies sie Evelyne an. Diese nickte und hielt den Kerl an einem Bein fest. Henriette ergriff das andere, dann schoben sie ihn langsam zur Luke hinaus. Als nur noch die Füße über deren unteren Rand herausragten, ließen sie los.

Es platschte leicht, als der Tote im Wasser aufschlug. Sogleich schloss Petra die Luke wieder, damit niemand erkennen konnte, woher das Geräusch gekommen war. Nun blieb Henriette und Evelyne nicht viel Zeit, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie hasteten los und erreichten wenige Minuten später das Versteck.

Petra öffnete die Luke, als die beiden Frauen noch drei Schritte davon entfernt waren, und half der zitternden Reporterin in den Raum.

»Du kannst reinkommen! Es ist niemand in unmittelbarer Nähe«, rief sie ihrer Kollegin zu, die den Gang mit der Gasdruckpistole sicherte.

Henriette nickte und stieg mit einem Bein in ihr Versteck, ohne ihre Umgebung aus den Augen zu lassen. Kaum stand sie drinnen, verschloss Petra die Luke und machte ein Siegeszeichen. »Das hätte auch Torsten nicht besser hingekriegt!«

»Ich habe einen Menschen umgebracht«, antwortete Henriette tonlos.

»Tut mir leid! Aber der Kerl hat es verdient.« Petra deutete auf Evelyne, die mit erstaunten Blicken die aufgestapelten Lebensmittel musterte, und sagte mit ruhiger Stimme: »Der Pirat hätte sonst Frau Wide umgebracht, verstehst du!«

Evelyne drehte sich zu ihnen um. »Das war kein Somali, sondern ein Deutscher, der sich den Piraten angeschlossen hatte.«

Henriette hieb mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß, dass ich keine Wahl hatte, aber ich hätte es lieber gesehen, wenn wir den Kerl gefangen nehmen und vor ein Gericht hätten stellen können.«

Dann seufzte sie und zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht so abgebrüht, dass ich jemanden umlegen kann, ohne mit der Wimper zu zucken!«

»Und wenn dem so wäre, könntest du deinen Job nicht mehr machen. Dennoch wirst du nicht umhinkommen, den einen oder anderen Piraten aus dem Weg zu räumen. Ich kann erst die Kontrolle über den Kasten übernehmen, wenn ein paar Schalter im Maschinenraum überbrückt worden sind – und das musst du machen.«

Evelyne starrte sie und Henriette kopfschüttelnd an. »Wie sind Sie eigentlich hier auf das Schiff gekommen? Ich dachte, Sie sind in Deutschland. Und Sie wollen dann auch noch zu zweit dieses Schiff kontrollieren?«

»Vielleicht nicht das Schiff selbst, aber seine Maschinen und die Steuerung.« Petra fasste sich an die Stirn. »Langsam kriege ich Kopfweh. Ich hätte nicht die ganze Nacht durcharbeiten sollen. Andererseits hätte ich dann nicht gesehen, dass der Kerl zudringlich geworden ist. Henriette, bist du so lieb und hältst das Schiff unter Bewachung, während ich ein wenig schlafe? Du kannst Frau Wide dann erklären, wie wir hierhergekommen sind.«

»Ersteres mache ich gerne, das Zweite ist geheim!« Henriette hatte keine Lust, einer neugierigen Journalistin Rede und Antwort zu stehen. Daher setzte sie sich vor den Laptop und klickte der Reihe nach die einzelnen Überwachungskameras an. Eine Zeit lang sah ihr Evelyne zu, dann erinnerte sie sich an ihren Rechner und holte ihn heraus.

»Was haben Sie vor?«, fragte Henriette.

»Dem Sender kurz Bescheid geben, was hier passiert ist!« Die Reporterin wollte eben ihr Gerät einschalten, da legte sich Henriettes Hand auf ihren Unterarm.

»Das würde ich an Ihrer Stelle bleiben lassen. Die Kerle hören mit Sicherheit die deutschen Fernseh- und Radiosender ab, um auf dem Laufenden zu bleiben. Auf keinen Fall dürfen die mitbekommen, dass wir an Bord sind.«

»Aber das ist mein Job!«, protestierte Evelyne.

»Wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen den Laptop abzunehmen. Oder glauben Sie, ich erschieße Ihretwegen einen Mann, um dann durch Ihre Dummheit hopszugehen?« Ein warnender Blitz aus Henriettes blauen Augen begleitete ihre Worte.

Jetzt erst erinnerte Evelyne sich daran, dass der Kerl, der sie hatte vergewaltigen wollen, von ihren Reportagen gewusst hatte, und zog den Kopf ein. »Entschuldigen Sie bitte! Ich will Sie natürlich nicht gefährden.«

»Sie gefährden auch sich selbst, oder glauben Sie, diese Banditen machen einen Unterschied zwischen meiner Kollegin, mir und Ihnen?«

»Das ist mir klar. Aber sehen Sie, ich bin ganz verwirrt. Ich hatte ja darauf gehofft, dass etwas zu unserer Befreiung unternommen wird. Nur das hätte ich niemals erwartet.« Evelyne fand ihren letzten Satz nicht ganz gelungen und lächelte Henriette zu. »Ich bin unendlich froh, dass Sie gekommen sind, und zutiefst dankbar, dass Sie mich vorhin gerettet haben. Der Kerl hätte mich vergewaltigt und danach umgebracht.«

»Solche Verräter sind immer die Schlimmsten«, antwortete Henriette und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm.

Evelyne tröstete sich über die verweigerte Liveschaltung nach Köln mit einem ausgiebigen Frühstück hinweg, das sie sich aus den aufgestapelten Nahrungsvorräten zusammenstellte, und vergriff sich auch an Petras Cola.

ZEHN

 

Nun lag Xagal vor ihnen, und die Gefühle, mit denen Jamanah und Dietrich von Tarow die armseligen Hütten des Ortes und die etwas abseits gelegenen Zelte des Flüchtlingslagers betrachteten, unterschieden sich stark.

Die junge Somali spürte, dass sie nicht mehr die Kraft aufbringen würde, sich noch einmal allein auf den Weg zu machen, um Rache zu suchen. Beim ersten Mal war sie an den deutschen Soldaten gescheitert. Zwar war sie froh, dass sie den Männern hatte helfen können, doch dies wog nicht den Verlust ihrer Freiheit auf, die ihre eigenen Leute nun beschneiden würden.

In Dietrich überwog die Erleichterung, dieses Land bald verlassen zu können. Dennoch hoffte er, noch einmal den Befehl zu einem Angriff auf die Caroline oder gar auf die Lady of the Sea zu erhalten, um die Scharte vom letzten Mal auszuwetzen.

Er warf einen Blick auf Jamanah und spürte leises Bedauern, dass sie sich trennen mussten. Sie hatte sich als mutige und interessante junge Frau erwiesen, aber ihm würde nicht mehr bleiben, als sich später an diese nur wenige Tage währende Freundschaft zu erinnern.

Der Fahrer hielt vor dem Zelt des Kommandeurs. Aus dem gegenüberliegenden Zelt mit dem Roten Halbmond sah eine Frau in weißer Hose und weißem Kittel heraus. Bei Dietrichs Anblick kniff sie die Augen zusammen und kam auf ihn zu.

»Sie sind doch ein deutscher Soldat, nicht wahr?«, fragte sie verwundert.

»Dietrich von Tarow, Major der Bundeswehr«, antwortete Dietrich, ohne seine Einheit zu nennen.

»Von Tarow?« Die Frau lachte kurz auf. »Sind wir denn wieder in der Kaiserzeit, dass adelige Offiziere herumstolzieren und den Menschen hier beibringen, strammzustehen?«

»Ich darf Ihnen versichern, dass wir von Tarows fest auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland und des Grundgesetzes stehen und keinen Umsturz zu Gunsten der Hohenzollern vorbereiten«, antwortete Dietrich und unterdrückte ein Kopfschütteln.

Die Ärztin hatte jedoch nur noch Augen für Jamanah und fasste sie bei den Händen. »Bist du es wirklich? Ich bin so froh, dich gesund und munter wiederzusehen!« Dabei sah sie die junge Somali so besitzergreifend an, dass Dietrich einen Anflug von Eifersucht verspürte. Er schüttelte innerlich den Kopf über sich und sagte sich, dass er den Abschied von Jamanah rasch herbeiführen und kurz halten sollte.

Diese blickte unterdessen von der Ärztin zu ihm und wieder zurück. Von der überschwänglichen Begrüßung hatte sie kein Wort verstanden. Dr. Kainz hatte ihr vor ihrer Flucht aus dem Lager angeboten, als ihre Helferin zu arbeiten. Vielleicht war dies gar nicht so schlecht, sagte sie sich. Doch dazu musste sie die Erlaubnis ihres Beinaheschwiegervaters Baha erbetteln. Da nur wenige Männer aus ihrem Dorf dem Gemetzel entkommen waren, hatte er sich zum Anführer des Dorfes aufgeschwungen. Als solcher würde er auch von ihr Gehorsam verlangen.

Sie begrüßte die Ärztin mit einer gewissen Distanz und wies auf die Zelte der Flüchtlinge. »Ich muss zu meinen Leuten«, sagte sie und ging mit unglücklicher Miene davon.

Dietrich sah ihr nach und wusste nicht, ob er ihr folgen sollte. Die Ärztin nahm den Blick wahr, den er der Somali hinterherwarf, und hielt ihn auf. »Wenn Sie ein deutscher Offizier sind, haben Sie sicher die Möglichkeit, die Öffentlichkeit über die katastrophalen Verhältnisse in diesem Land aufzuklären. Es ist ebenso schlimm – wenn nicht sogar schlimmer! – wie die Katastrophe in Darfur. Menschen werden umgebracht, Dörfer angezündet und Frauen vergewaltigt. Selbst das Vieh wird sinnlos getötet, nur weil dessen Besitzer einem anderen Stamm angehören als dem der Angreifer. Letztens war schon einmal ein Deutscher hier, und ich habe ihn ebenfalls gebeten, etwas zu tun, aber seitdem habe ich nichts mehr von dem Mann gehört.«

»Sie meint Oberleutnant Renk von der Abteilung Spezialaufgaben«, mischte sich ein einheimischer Militär in das Gespräch ein. Es handelte sich um einen Mann mittlerer Größe um die dreißig, der schneidig auf Dietrich zutrat und die rechte Hand kurz an sein Barett führte.

»Ich bin Major Al Huseyin, Angehöriger der Streitkräfte von Somaliland. Meine Aufgabe ist es, diese Gegend vor den feindlichen Todesschwadronen zu schützen. Ich bin, wenn Sie so wollen, Renks Verbindungsmann.«

»Darüber sollten wir unter vier Augen reden«, sagte Dietrich mit einem Seitenblick auf die Ärztin.

»Natürlich!« Al Huseyin lächelte verständnisvoll und zeigte auf das große Zelt gegenüber dem Hospital. »Sie finden mich dort.«

»Ich komme sofort nach.« Dietrich wandte sich noch einmal Dr. Kainz zu und hob bedauernd die Hände. »Es tut mir sehr leid, Frau Doktor, aber im Moment habe ich keine Verbindung zu meinen vorgesetzten Stellen. Ich verspreche Ihnen aber, Ihr Anliegen weiterzuleiten, sobald ich dazu in der Lage bin.«

»Mehr kann ich von Ihnen nicht verlangen.« Dr. Kainz war enttäuscht, fragte sich dann aber, was sie erwartet hatte. Militärs dachten in anderen Kategorien als sie. Kranke und vertriebene Menschen interessierten die Soldaten nur dann, wenn sie ihren Plänen hinderlich waren. Immerhin hatte Major von Tarow ihr versprochen, ihre Bitte um weitere humanitäre Hilfe weiterzugeben, sobald es ihm möglich war. Damit musste sie sich zufriedengeben.

Dietrich hatte die Ärztin bereits wieder aus seinem Gedächtnis gestrichen, als er in das Kommandozelt trat. Obwohl es groß genug war, um fünfzig Soldaten Quartier zu bieten, befand sich nur Al Huseyin darin. Er saß an einem Tisch vor einer Karte, auf der er mit Bleistift Linien zog. Bei Dietrichs Eintreten hob er den Kopf. »Es gibt sehr viel zu tun. Wir müssen uns nicht nur gegen die Todeskommandos, sondern auch gegen die Stammesmilizen der Warsangeli und Dulbahante verteidigen und gelegentliche puntländische Attacken zurückweisen.«

»Ich will Sie nicht aufhalten, Major. Aber Sie nannten vorhin den Namen Renk. War dieser allein hier?« Da seine Schwester Henriette zum selben Stall gehörte wie Renk, befürchtete Dietrich, dass sie den MAD-Mann in den Hexenkessel Somalia begleitet hatte.

Zu seiner Erleichterung nickte Al Huseyin. »Renk kam allein. Wir mussten ihn in Dire Dawa abholen. Das liegt in Äthiopien«, setzte er hinzu, als er Dietrichs fragenden Blick bemerkte.

»Und wo kann ich ihn finden?« Dietrichs Wut auf die Piraten, die ihn und seine Männer in eine Falle gelockt hatten, war noch immer groß genug, um im Land zu bleiben und notfalls gemeinsam mit Renk etwas gegen diese zu unternehmen.

»Renk ist mit meinem Vorgesetzten Omar Schmitt erneut nach Laasqoray aufgebrochen. Beim ersten Mal hätte er Ihren Angriff auf die Caroline überwachen sollen, ist aber vorher zurückgekehrt. Warum er das tat, entzieht sich meiner Kenntnis!«

Al Huseyins Bericht war für Dietrich ein eisiger Guss. »Renk war in Laasqoray? Verdammt, warum hat er uns nicht vor dieser Scheißfalle gewarnt! Wir sind hineingetappt wie heurige Hasen.«

Al Huseyin zuckte mit den Achseln. »Der Mann hat mich nicht in seine Pläne eingeweiht. Er wird seine Gründe gehabt haben.«

»Dieser Gründe wegen ist eines unserer Boote zerstört worden, und es hat Tote und Verwundete gegeben. Renk wird mir einiges zu erklären haben, wenn ich ihn sehe!« Dietrichs Stimme klang eisig.

»Ich hätte Ihnen gerne eine bessere Nachricht überbracht«, sagte der Somali nach kurzem Zögern. »Allerdings werden Sie Renk in Deutschland zur Rede stellen müssen. Es war schon schwer genug, ihn über die Demarkationslinie zu schmuggeln. Bei einem Mann Ihrer Größe und Ihres Aussehens ist das unmöglich.«

Das sah Dietrich ein. Er überragte Renk noch um gut zehn Zentimeter und war um einiges wuchtiger gebaut. Außerdem verstand der MAD-Mann es durch seinen Job, sich unauffällig zu bewegen.

»Er wird auf jeden Fall etwas von mir zu hören bekommen. Doch erlauben Sie, dass ich mich verabschiede. Ich will nur noch kurz Jamanah auf Wiedersehen sagen, dann fahre ich nach Berbera, um von dort abgeholt zu werden.«

»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise!« Al Huseyin streckte Dietrich die Hand hin. Dieser ergriff sie, drückte sie kurz und wandte sich dem Ausgang zu, während der Somali sich wieder über seine Karte beugte.

ELF

 

Als Jamanah auf den Teil des Lagers zuschritt, in dem ihre Leute Zuflucht gefunden hatten, wurde sie mit Blicken empfangen, die nichts Gutes verhießen. Die Frauen schnaubten verächtlich, und die jüngeren Männer zogen wütende Gesichter.

Dann stand sie vor Baha, dem Vater ihres toten Verlobten. Der alte Mann saß auf einem niedrigen Hocker und hatte sich in das weite Gewand eines Stammesanführers gehüllt. Neben ihm hatten andere alte Männer auf Decken und Fellen Platz genommen. Es handelte sich dabei nicht nur um frühere Bewohner ihres Dorfes, sondern in der Mehrzahl um Überlebende anderer Dörfer, die sich unter Bahas Führung zu einer neuen Stammesabteilung zusammengeschlossen hatten. Unter anderen Bedingungen wäre Jamanah froh gewesen, dass ihre Leute den Kern der neuen Gruppe bildeten. Der Gedanke aber, jetzt auch noch Fremden Rede und Antwort stehen zu müssen, erbitterte sie.

Baha sah die junge Frau, die beinahe die erste Ehefrau seines Sohnes geworden wäre, durchdringend an. Sie würde der härteste Prüfstein werden, den er auf seinem Weg zum Anführer des neuen Clans bewältigen musste. Hier durfte er sich keine Schwäche erlauben. Jamanah war zwar die Tochter ihres früheren Dorfhäuptlings, doch da dieser tot war, fiel ihm die Aufgabe zu, das schreckliche Mädchen zum Gehorsam zu zwingen.

»Was ist das für eine Art, das Lager ohne die Erlaubnis des Stammesoberhaupts zu verlassen?«, fuhr er sie an, als sie vor ihm stand.

Jamanah hob den Kopf und sah – so schien es ihm – verächtlich auf ihn herab. »Das Stammesoberhaupt war mein Vater! Er starb, während er unseren Stamm verteidigte. Als ich dieses Lager verließ, war noch kein neues Stammesoberhaupt gewählt. Daher konnte ich auch nicht gegen dessen Willen verstoßen.«

Damit hatte sie zwar recht, doch Baha ließ diese Begründung nicht gelten. »Nach dem Tod deines Vaters war ich als der Vater deines Verlobten dein Vormund. Du hättest mich fragen müssen, ob du gehen darfst, und ich hätte es dir untersagt!«

Zustimmende Rufe erklangen. Jetzt, da die Schrecken des Überfalls hinter ihnen lagen und sie wieder mehr an die Zukunft dachten, sehnten sich die Menschen nach Ordnung, und diese wurde in ihren Augen durch Jamanahs ungebührliches Benehmen gestört.

»Das ist noch nicht alles!«, fuhr Baha mit seiner Anklage fort. »Du hast nicht nur das Lager ohne Erlaubnis verlassen, sondern kleidest dich auch noch wie ein Mann, ja, sogar wie ein Krieger.«

Das böse Zischen der Frauen bekräftigte seine Worte. Jamanah begriff, dass niemand für sie sprechen würde, und straffte die Schultern. »Ich trage die Kleidung, die ich mit meiner Waffe erbeutet habe. Da die Milizionäre unserer Feinde keine Röcke tragen, ist mir nichts anderes übriggeblieben, als deren Hosen und Hemden anzuziehen. Meine Kleidung ging bei dem Überfall auf unser Dorf verloren.«

Bevor Baha seine Macht ausgebaut hatte, hätte Jamanah sich auf diese Weise verteidigen können. Doch mehr als die Hälfte der Männer, die nun über sie zu Gericht saßen, stammten aus anderen Dörfern. Sie kannten weder die genauen Verhältnisse in ihrem Dorf, noch waren sie bereit, einen Verstoß gegen die Regeln zuzulassen, die sie sich selbst gegeben hatten.

»Es ist eine Schande, wenn eine Frau in Männerkleidung herumläuft! Dafür muss sie bestraft werden«, erklärte einer von ihnen.

»So soll es sein!«, nahm Baha den Ball auf, der ihm zugespielt wurde. »Schon der Prophet, Allah segne ihn allezeit, hat bestimmt, dass keine Frau sich wie ein Mann kleiden soll …«

»Das stimmt nicht!«, unterbrach Jamanah ihn erregt. »Auf der Flucht von Mekka nach Medina haben mehrere Frauen in Mohammeds Begleitung die Kleidung von Männern getragen, um die Verfolger über die Zahl seiner Krieger zu täuschen.«

»Das ist ein Kindermärchen«, tat Baha ihren Einwand ab. »Dein Aufzug ist gegen das Gesetz und muss bestraft werden. Daher verurteile ich dich zu fünfzig Peitschenhieben. Danach wirst du in mein Zelt gebracht und mir vorerst als Magd dienen, bis ich dich für wert erachte, eine meiner Ehefrauen zu werden!«

Obwohl Baha keine Frau mochte, die mehr als einen halben Kopf größer war als er, musste er in diese saure Frucht beißen. Zwar war Jamanah nur eine wertlose Frau, aber es galt, ihre Abstammung in gerader Linie vom Stammesgründer Isaaq zu berücksichtigen. Aus diesem Grund hatte er für seinen Sohn Qusay bei ihrem Vater um sie angehalten. Mit dieser Heirat hatte er seine Bedeutung im Dorf stärken und gleichzeitig die Chancen seines Sohnes erhöhen wollen, einmal der neue Häuptling zu werden. Jamanahs Bruder war noch klein gewesen und hätte keine Chance gehabt, innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte seinem Vater nachzufolgen.

Obwohl die Männer, die zum neuen Ältestenrat zählten, ihre Zustimmung bekundeten, sahen nicht alle Stammesmitglieder so aus, als wären sie mit diesem Urteilsspruch einverstanden. Doch als ein Mann etwas zu Jamanahs Gunsten sagen wollte, zischte ihn Bahas Frau an. »Halte den Mund. In dieser Person steckt ein Dämon, der ihr ausgetrieben werden muss. Los jetzt, macht schon!« Während sie und die um sie versammelten Frauen rhythmisch klatschten, kamen mehrere junge Männer auf Jamanah zu und wollten sie ergreifen.

»Zurück!«, fauchte diese und hob ihre Kalaschnikow. »Der Erste von euch, der versucht, mich zu berühren, wird sterben!«

»Das ist unerhört!«, rief Baha wütend. »Du widersetzt dich dem Rat des Stammes und deinem Oberhaupt!«

»Wenn du es so siehst, ja! Welches Recht hast du eigentlich, dich zum Richter über mich aufzuschwingen? Welche Verdienste kannst du aufweisen? Als die Blutsäufer über uns gekommen sind, habe ich dich nur rennen sehen, während mein Vater und andere unser Dorf verteidigt haben und tapfer gestorben sind.«

»Ich bin der Vater des Mannes, den du hättest heiraten sollen, und daher dein Vormund!« Baha war klar, dass er dieses renitente Mädchen unbedingt zähmen musste, denn sonst waren seine Aussichten, Stammesanführer zu bleiben, sehr gering.

»Ach ja?«, antwortete Jamanah voller Wut. »War dein Sohn Qusay, mein Verlobter, denn nicht in jener Nacht der Wächter, der das Dorf behüten sollte? Warum hat er uns nicht rechtzeitig vor den Angreifern gewarnt? Sie sind mit Autos gekommen, daher hätte er sie hören müssen! Hat dein Sohn, mein Verlobter, vielleicht gar nicht gewacht, sondern in dieser Nacht geschlafen und damit den Untergang unseres Dorfes verschuldet?«

Die Anklage saß. Diejenigen, die aus Jamanahs Dorf entkommen waren, mussten an die Toten denken, die sie dort hatten zurücklassen müssen und die bei einer rechtzeitig erfolgten Warnung vielleicht nicht gestorben wären.

Baha bemerkte, wie ihm das Heft entglitt, und schrie die jungen Männer an. »Entwaffnet sie!«

Diejenigen, die Jamanah kannten, traten unwillkürlich einen Schritt zurück, doch vier der Fremden verständigten sich mit Blicken und stürmten auf Jamanah los.

Diese brachte es nicht über das Herz, auf ihre Landsleute zu schießen. Stattdessen rammte sie dem Vordersten den Kolben ihrer Kalaschnikow in den Leib und einem weiteren den Lauf. Während die beiden ächzend zusammensanken, gelang es den beiden anderen, sie zu packen. Jetzt fassten auch die Übrigen Mut und kesselten Jamanah ein. Jemand zerrte am Lauf ihres Sturmgewehrs, um es ihr zu entreißen, und zwei versuchten, ihr die Arme auf den Rücken zu drehen, um sie zu fesseln.

Ich hätte doch schießen sollen, durchfuhr es Jamanah, als sie von ihren Angreifern zu Boden gerissen wurde. In dem Augenblick klang ein wütendes Gebrüll auf, das sie nicht weniger erschreckte als ihre Angreifer und die Zuschauer.

ZWÖLF

 

Auf der Suche nach dem Teil des Flüchtlingslagers, der Jamanahs Sippe beherbergte, traf Dietrich von Tarow auf den einheimischen Assistenten von Dr. Kainz und fragte ihn, ob er ihm helfen könne.

»Mister, Sie müssen zu den Zelten dort hinten gehen«, antwortete der Mann in passablem Englisch.

»Danke!« Dietrich wollte schon weitergehen, als ihm etwas einfiel. »Entschuldigen Sie! Könnten Sie vielleicht mitkommen und für mich übersetzen?«

»Gerne«, antwortete der Somali neugierig und führte Dietrich zu der Stelle, an der Jamanah den Stammesältesten Rede und Antwort stehen musste.

Dietrich blieb außerhalb der versammelten Menschenmenge stehen und sah den Sanitäter fragend an. »Können Sie mir erklären, was da los ist?«

Der Mann hörte eine Zeit lang zu und wiegte nachdenklich den Kopf. »Das ist eine üble Sache. Die junge Frau wird beschuldigt, gegen die Stammesgesetze verstoßen zu haben, und soll bestraft werden.«

»Sagten Sie bestraft?« Dietrich schnaubte empört. Jamanah war eine tapfere junge Frau und hatte gewiss keine Strafe verdient.

»Der neue Anführer will ihren Trotz brechen, weil sie seine Autorität missachtet hat. Deshalb soll sie fünfzig Peitschenhiebe erhalten!«

»Peitschenhiebe?« Dietrich konnte es nicht glauben. Als jedoch mehrere junge Männer auf Jamanah losgingen und sie niederrangen, packte ihn die Wut. Niemand hatte das Recht, einen anderen Menschen auf eine so barbarische Weise zu bestrafen. Er durchbrach den Ring um die kämpfende Gruppe mit der Wucht eines Panzers, packte zwei Angreifer auf einmal und schleuderte sie beiseite.

Jamanah merkte, wie sich die Hände, die sie niederpressten, lockerten, und setzte erneut den Kolben ihrer Kalaschnikow ein, um sich zu befreien. Ihre Angreifer verschwanden so rasch, als würde ein Sturmwind über sie hinwegfegen.

Als sie nur noch einen Mann vor sich sah und zuschlagen wollte, packte dieser sie am Arm. »He, das bin ich!«

»Taro!« Sie starrte Dietrich an, als könne sie nicht begreifen, dass ausgerechnet er ihr zu Hilfe geeilt war.

»Ich lasse nicht zu, dass sie dich auspeitschen«, rief er grollend. »Eher nehme ich dich mit nach Deutschland. Als Somali wirst du dort sicher Asyl bekommen.«

Jamanah verstand zwar nicht, was er sagte, aber es war ein gutes Gefühl, jemanden zu haben, der ihr half. Denn eines war ihr unmissverständlich klar geworden: Der Weg zu ihrem Volk war ihr durch Baha und dessen anmaßendes Verhalten für immer versperrt.

Als sie sah, dass einige Männer nach ihren Waffen griffen, hob sie ihre Kalaschnikow und feuerte ein paar Warnschüsse über deren Köpfe hinweg. »Lasst das, es sei denn, ihr wollt sterben!«, rief sie und gab dann Dietrich einen Stoß. »Wir sollten verschwinden, Taro, bevor die Männer ihre Überraschung überwunden haben. Sonst könnte es übel für uns ausgehen.«

Dietrich verstand zwar nur die zwei, drei deutschen Worte, die sie einmischte, aber ihre Gesten waren deutlich genug. Lächelnd nickte er. »Lass uns gehen!«

Er fasste sie am Arm und führte sie aus dem Rund. Die Frauen, deren Ring sich in der Zwischenzeit wieder geschlossen hatte, wichen widerwillig, aber auch ängstlich vor dem weißen Riesen zurück. Die meisten Anwesenden schienen jedoch heilfroh zu sein, Jamanah auf so leichte Weise loszuwerden. Aufgrund ihrer Größe und ihrer Erziehung wäre sie ein Störfaktor in ihrer Gemeinschaft geblieben. Auf Baha, der aufgesprungen war und wie ein Wahnsinniger zeterte und schimpfte, achtete keiner mehr.

Kurz danach erreichten Jamanah und Dietrich ihren Wagen und stiegen ein. Der Fahrer sah sie grinsend an. »Na, wo soll’s denn jetzt hingehen?«

»Nach Berbera«, antwortete Dietrich. Dort würde er mit Fahrner und den anderen zusammentreffen und auf das Schiff warten, das sie nach Djibouti bringen würde.

DREIZEHN

 

Hans Borchart sah Jabir herausfordernd an, lächelte aber dabei. »Na, was sagen Sie jetzt?«

Der Franzose schüttelte staunend den Kopf. »Ohne Sie hätte ich die letzte Strecke bis Laasqoray wohl zu Fuß gehen müssen.«

»Es ist doch ganz gut, wenn man außer dem Soldatsein noch einen anderen Beruf gelernt hat.« Hans war höchst zufrieden, denn die Reparatur des Motorrads war knifflig gewesen, und er hatte sich dabei mehrmals seine Handprothese zurückgewünscht. Doch jetzt lief die Maschine wieder, und sie konnten die letzten Kilometer ihres Weges in Angriff nehmen.

Die Straße war nun besser in Schuss. Offensichtlich waren die neuen Herren von Laasqoray überzeugt davon, die Stadt auf Dauer halten zu können, und taten etwas für die Infrastruktur. Dies wurde noch deutlicher, als der Ort vor ihnen auftauchte. Hatte er in früheren Zeiten knapp zehntausend Einwohner gezählt, lebte jetzt mindestens die doppelte Anzahl darin. Die bei den Kämpfen zwischen Somaliland, Puntland und den Warsangeli-Milizen zerstörten Häuser waren wiederaufgebaut und Dutzende neu errichtet worden. Das Geld dafür stammte weniger von der Handvoll Industriebetriebe wie der Fischfabrik, sondern von den Einnahmen, die die Herren von Laasqoray als Piraten erzielten.

Hans und Jabir sahen die Lady of the Sea keinen Kilometer vor der Stadt liegen. Der weiße Schwan, wie das riesige Kreuzfahrtschiff auch genannt worden war, wirkte selbst auf die Entfernung schmutzig und heruntergekommen, genau wie die Caroline, die ein Stück weiter ankerte.

»Zeigen Sie Freude, dass es den Kämpfern des Islam gelungen ist, die Ungläubigen zu demütigen«, rief Jabir Hans zu.

Der nickte mit verkniffener Miene. Auch er wusste, dass es besser war, mit dem Strom zu schwimmen. Als sie die erste Straßensperre erreichten, sprach er den dortigen Offizier auf Arabisch an und entnahm dem Getuschel im Hintergrund, dass man ihn für einen Veteranen der unzähligen Kämpfe hielt. Die Männer am Kontrollposten wollten nicht einmal seinen Ausweis sehen, sondern forderten nur Jabir den seinen ab. Dieser reichte ihnen ein sorgfältig in Plastikfolie eingewickeltes Papier mit einer Unmenge an Stempeln. Der Offizier warf einen Blick darauf, stellte einige Fragen und reichte ihn dann lächelnd zurück.

»Du kommst wahrscheinlich, um an diesem Schiff da drüben zu verdienen?« Er wies in Richtung der Lady.

Jabir nickte. »Auf diesem Schiff gibt es vieles, was man zu Geld machen kann, wenn man die entsprechenden Leute kennt. Ein Viertel des Erlöses würden eure Anführer bekommen.«

Damit war das Angebot auf dem Tisch. Jabir ging es weniger um die Teller, Decken und elektrischen Geräte an Bord des Kreuzfahrtschiffes, sondern vielmehr darum, als harmloser Händler von den Piraten Informationen zu erhalten, die wichtig sein konnten.

»Da musst du mit Hanif reden. Der führt das Kommando an Bord«, antwortete der Freischärler.

»Allah möge es dir danken!« Jabir legte den Gang ein und gab Gas.

Nach einer Weile hielt er an und drehte sich zu Hans um. »Wo soll ich Sie absetzen?«

»Da ich keine Ahnung habe, wo Renk zu finden ist, kann ich gleich hier aussteigen!« Hans quälte sich aus dem engen Beiwagen, nahm seinen Beutel mit der Ausrüstung und seine Krücke an sich und verließ Jabir unter tausend Dankesworten.

Er humpelte etwa hundert Meter weit, ließ sich vor der Moschee nieder und streckte die Hand aus wie ein gewöhnlicher Bettler, der um Almosen fleht.

Ein paar einheimische Bettler sahen ihn schief an, einer kam auf ihn zu. »He, was fällt dir ein, dich einfach an unseren Platz zu setzen?«

»Ich bin ein Pilger zu heiligen Stätten, der an diesem Ort von den Gläubigen ein paar Schillinge oder ein Stück Brot erbitten will, um meinen Weg fortsetzen zu können.« Hans hatte sich diesen Ausspruch auf Somalisch eingeprägt, wiederholte ihn aber noch einmal auf Arabisch.

Der andere verzog das Gesicht, trollte sich aber und berichtete seinen Freunden, dass der Fremde nur für kurze Zeit hierbleiben würde. »Vermutlich ein Jemenit, der für einen der Kriegsherren gekämpft hat. Dabei hat er eine Hand und einen Fuß verloren und zieht jetzt bettelnd durch die Lande.«

»Er soll verschwinden!«

»Wenn er nach drei Tagen nicht weitergezogen ist, werden wir ihn uns vornehmen. Bis dahin sollten wir ihn in Ruhe lassen.« Damit war für den Sprecher die Sache erledigt.

Hans hingegen stand vor dem Problem, wie er sich mit Torsten in Verbindung setzen konnte. Da er nicht auf den Zufall setzen konnte, blieb nur die Möglichkeit, Petra zu informieren, damit diese Torsten Bescheid gab. Daher nahm er den winzigen Funksender, der auf einer ungebräuchlichen Frequenz arbeitete und die Signale zusätzlich verschlüsselte, so in die Hand, dass niemand ihn sehen konnte, schaltete ihn ein und begann möglichst deutlich, Allah auf Arabisch zu danken, dass er Laasqoray unversehrt erreicht habe. Zwar verstanden weder Petra noch Henriette diese Sprache, doch Petras Übersetzungsprogramme waren ausgezeichnet und würden ihr zeigen, dass er angekommen war.

VIERZEHN

 

Petra hatte ein wenig geschlafen, um sich von den Anstrengungen der Nacht zu erholen. Da sprang auf einmal ihr Empfangsgerät an. Sie schreckte hoch und lauschte verwirrt den unbekannten Worten.

»Hans hat anscheinend aus Versehen seinen Sender eingeschaltet und überträgt jetzt den Ruf des Muezzins«, spottete sie.

»Das glaube ich nicht! Hör doch hin, das ist Hans’ Stimme, und er hat eben zum zweiten Mal das Wort Laasqoray erwähnt. Er ist hier!« Henriette sprang wie elektrisiert auf und riss das Funkgerät an sich. Sie wollte schon antworten, als ihr einfiel, dass Hans eventuell nicht allein war und ihn eine Stimme aus dem Nichts in höchste Gefahr bringen konnte.

Daher klopfte sie mit dem Zeigefinger im Morsetakt auf das Gerät. Das Geräusch war nicht laut, würde Hans aber auf sie aufmerksam machen.

Kaum hatte sie »Hier ist Henriette« gemorst, kam die Antwort auf gleiche Weise zurück. »Hier Hans! Bin an der Moschee, richtet es Torsten aus.«

Henriette morste »Okay« zurück und sah dann zu Petra. »Du kannst Torsten informieren, dass er zur Moschee gehen soll. Sag ihm, ein einarmiger und einbeiniger Bettler wartet dort auf ihn.«

Petra ließ die Finger über die Tasten flitzen. Es dauerte eine Weile, bis Torsten sich meldete. Er befand sich immer noch im Hotel und hatte erst das Mikrophon abdecken müssen.

»Hallo, Petra, was gibt es?«

»Hans ist in Laasqoray angekommen. Er befindet sich in der Nähe der Moschee und hat einiges für dich dabei, darunter auch einen speziellen Funksender, damit du dauerhaft mit uns in Kontakt bleiben kannst. Das ist wichtig, denn hier kann es mit einem Mal sehr schnell gehen. Wir müssen nur noch ein paar Sicherheitsschalter überbrücken, dann haben wir die Lady unter Kontrolle.«

»Kannst du mir ein Bataillon kampfkräftiger Soldaten zu Hilfe schicken, oder soll ich die Sache im Alleingang durchziehen?«, antwortete Torsten bissig. »Inzwischen haben die Piraten beinahe hundert Geiseln von der Lady of the Sea an Land geholt und in der nach Fisch stinkenden Halle eingepfercht. Dort werden sie von einem guten Dutzend schwer bewaffneter Freischärler bewacht, und in der Stadt halten sich noch etliche hundert weitere Freischärler auf. In meinen Augen ist es unmöglich, die Geiseln zu befreien.«

»Das Wort unmöglich gibt es in unserem Job nicht. Das siehst du ja an Henriette und mir. Wir beide haben ganz allein die Lady gekapert«, wies Petra Torsten zurecht. Sie und Henriette hatten in den letzten Stunden mit ansehen müssen, wie Passagiere gruppenweise von Bord geholt worden waren, und sich schrecklich hilflos gefühlt. Jetzt hofften sie, dass Torsten etwas einfiel.

Der zwang sich zu einem Lächeln. »Vergiss das Bataillon, Petra. Wir wollen hier ja kein Blutbad anrichten. Macht ihr euren Job! Ich erledige den meinen.«

»Wir brauchen noch eine oder zwei Nächte, dann sind wir so weit. Sieh zu, was du erreichen kannst. Wenn es nicht geht, müssen wir im Notfall auf die Geiseln an Land verzichten.« Noch während Petra das sagte, wusste sie, dass Torsten dazu niemals bereit sein würde. Doch weder sie noch Henriette konnte ihm helfen.

»Viel Glück, alter Junge«, sagte sie mit einem Lächeln, das aufmunternd sein sollte.

»Danke! Ich werde es brauchen. Jetzt mache ich mich auf den Weg zu Hans.« Torsten unterbrach die Satellitenverbindung und sagte sich, dass er froh sein würde, wenn er eines der neuen, abhörsicheren Funkgeräte in der Hand hielt.

Mit wachsender Anspannung packte er alles zusammen, was Verdacht erregen konnte. Sollten sich die falschen Leute hier im Zimmer umsehen, durfte nichts von seiner Ausrüstung zurückbleiben. Zuletzt legte er das Mikro wieder frei und verließ das Hotel in seiner Tarnung als Einheimischer.

Omar Schmitt war unterwegs, um sich mit seinen beiden Untergebenen zu treffen. Dabei hoffte der Deutschsomali auf weitere Informationen. Da Torsten gewohnt war, seine Aktionen selbst vorzubereiten und durchzuführen, wollte er auf keinen Fall nur auf Omar und dessen Männer angewiesen sein. Ihm steckte der misslungene Befreiungsversuch der Caroline noch in den Knochen, obwohl er selbst nicht daran beteiligt gewesen war.

Soweit er inzwischen erfahren hatte, war von Tarows Trupp in eine Falle gelockt worden. Zwar mochte es sein, dass die Entführer eine Kommandoaktion der Deutschen erwartet hatten, doch das hielt Torsten für unwahrscheinlich. Als er am Hafen vorbeigegangen war, lagen die meisten Boote der Piraten am Strand, und jeder überraschend über das Meer kommende Gegner hätte die Lady of the Sea kapern können, bevor die Milizen von Laasqoray in der Lage gewesen wären, darauf zu reagieren.

Warum also hatten die Piraten Dietrich von Tarow erwartet? Dieser Gedanke verfolgte ihn, seit er von der Katastrophe gehört hatte, der ein Teil der KSK-Kompanie zum Opfer gefallen war, und er zerbrach sich erneut darüber den Kopf, bis er die Moschee erreicht hatte.

Das Gebäude war ebenfalls erst vor kurzem renoviert worden und hielt jedem Vergleich mit Moscheen in anderen Ländern stand. Wie es aussah, lohnte sich das Piratenwesen trotz aller Anstrengungen westlicher und asiatischer Länder, es zu unterbinden.

»Eine Gabe, eine milde Gabe!« Ein Bettler streckte ihm die linke Hand entgegen, ebenso den Stumpf des rechten Unterarms. Ohne diesen hätte Torsten Hans nicht erkannt, denn sein Kollege steckte in einer idealen Verkleidung. Allerdings spürte er, dass auch Hans sich nicht ganz sicher war, ob er tatsächlich Torsten vor sich sah oder einen Einheimischen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm aufwies. Daher tat er zunächst so, als wolle er ihm mehrere Schillinge reichen, steckte diese dann aber wieder weg.

Während die anderen Bettler bereits grinsten, bückte Torsten sich und packte Hans unter der Achsel. »Ein großer Krieger weiß sicher viel zu erzählen. Erlaube daher, dass ich dich zum Essen einlade!«

Jetzt erkannte auch Hans ihn und zwinkerte ihm kurz zu. Dann ließ er sich unter Stöhnen und Ächzen aufhelfen und humpelte auf seiner Krücke hinter Torsten her. Inzwischen hatte Hans sich an diese Art, zu gehen, gewöhnt und konnte, wenn auch mühsam, mit seinem Kollegen Schritt halten. Als sie das Hotel erreicht hatten, befahl Torsten dem Mann an der Rezeption, für ein reichhaltiges Mahl zu sorgen, und half Hans die Treppe hinauf.

In seinem Zimmer angekommen, legte er kurz den Zeigefinger auf seine Lippen und blockierte das Abhörmikrophon.

Hans sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu. »Die Leute hier sind anscheinend sehr neugierig.«

»Das kannst du laut sagen! Es ist aber nicht festzustellen, wer diese Stadt wirklich beherrscht. Einige sagen, es wären Diya Baqi Majids Warsangeli-Milizen, andere behaupten, es wären Majerten-Piraten, und wieder andere bezeichnen den Dulbahante-Anführer Wafal Saifullah als Chef. Aber das tut nichts zur Sache. Wir haben einhundert Geiseln, die es zu befreien gilt.«

»Nur wir beide?«, fragte Hans entgeistert.

»Wir haben noch drei verbündete Somalis aus Somaliland, die uns helfen werden. Wenigstens hoffe ich das.«

»Fünf gegen fünfhundert? Das ist ein Verhältnis, bei dem wahrhaft Freude aufkommt.« Hans lachte kurz auf, entschuldigte sich dann aber dafür. »Tut mir leid, das ging nicht gegen dich.«

»Wenn überhaupt, solltest du unsere vorgesetzte Stelle rügen, die uns in dieses Schlamassel geschickt hat, ohne uns entsprechend auszurüsten!«

Kaum hatte Torsten das gesagt, holte Hans den Beutel unter seinem weiten Gewand hervor und öffnete ihn. »Ein paar brauchbare Gegenstände habe ich dabei. Hier sind eine MP5 mit entsprechender Munition und dein Sender. Er ist auf die Geräte von Petra, Henriette und mir eingestellt. Außerdem habe ich noch ein paar andere Sächelchen, die uns weiterhelfen können.« Dabei zog er mehrere Sonnenbrillen und ein paar hühnereiergroße Kugeln hervor.

»Das sind Blendbomben. Deswegen auch die Sonnenbrillen. Die Dinger sollen verdammt stark sein. Dazu haben wir noch Schallbomben, die wir mit einer speziellen Treibmunition verschießen können. Die Dinger sollten wenigstens fünfzig, besser hundert Meter von uns entfernt explodieren, denn sie erzeugen einen Ultraschallstoß, der alle in der Umgebung auf die Bretter legt.«

Torstens Miene hellte sich bei jedem Gegenstand, den Hans auspackte, weiter auf. »Wie es aussieht, gibt es in unserem Verein doch noch ein paar Leute mit Verstand. Mit diesen Dingern haben wir eine Chance.«

»Das sage ich doch!« Seine zu Beginn geäußerten Zweifel hatte Hans bereits vergessen. Torsten dachte nicht daran, ihn daran zu erinnern, sondern lud die MP5 mit Treibmunition, um damit Blend- und Schallbomben verschießen zu können. Ein normales Feuergefecht konnte er mit der Kalaschnikow führen, die er von Omar erhalten hatte, und mit seiner Schweizer Sphinx. Mit dieser Bewaffnung war er auch für die erfahrensten Piraten ein harter Brocken.

Hans zeigte ihm die Beretta und sein Krückengewehr, mit denen er ebenfalls in die Kämpfe eingreifen wollte.

Doch Torsten war damit nicht einverstanden. »Du kannst nicht gleichzeitig mit der Krücke schießen und dich auf sie stützen. Daher werde ich die Sache mit Omar und seinen Leuten allein durchziehen.« Als er Hans’ Enttäuschung sah, klopfte er ihm auf die Schulter. »Du bist an einer anderen Stelle weitaus wertvoller für mich.«

Bevor er Hans erklären konnte, was er meinte, vernahm er auf dem Flur Geräusche und zog rasch eine Decke über die Sachen, die Hans ihm gebracht hatte. Doch es war nur Omar Schmitt, der von den Treffen mit seinen Männern zurückkam und den vermeintlichen Bettler misstrauisch beäugte.

»Das ist mein Kollege Hans Borchart und das Omar Schmitt, unser hiesiger Gewährsmann«, stellte Torsten die beiden einander vor.

Omars angespannte Miene machte einem breiten Lächeln Platz. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Er streckte Hans die Hand hin und wunderte sich, als dieser sie mit der linken ergriff. Dann erst bemerkte er den Grund und sog scharf die Luft ein. »Euer Verein ist ja verdammt gerissen. Einen solchen Mann hält wirklich niemand für einen feindlichen Spion.«

»Ich würde eher sagen, unser Verein ist verdammt verzweifelt, weil er sich auf solche Spielchen einlassen muss. Wir werden es ausbaden müssen, und ich weiß auch schon, wo ich das Badewasser einlassen werde.« Torstens Augen blitzten kämpferisch.

FÜNFZEHN

 

Dietrich von Tarow und Jamanah erreichten Berbera, die größte Hafenstadt Somalilands, am späten Nachmittag. Hier schien der Krieg, der den Osten des Landes verheerte, weit weg zu sein. Durch die Straßen wälzten sich Somalis verschiedener Stämme, dazu Amharen und Tigray aus Äthiopien, arabische Händler und Schiffer sowie etliche Europäer, die Dietrichs Jeep entweder neugierig hinterherstarrten oder sich hinter die nächste Ecke drückten, um nicht gesehen zu werden.

Berbera war ein Sammelbecken verschiedener Kulturen und Völker und sich der Wichtigkeit, die die Stadt für Somaliland und darüber hinaus für Äthiopien besaß, durchaus bewusst. Dennoch entdeckte Dietrichs geübter Blick Anzeichen, dass die hiesigen Machthaber darauf vorbereitet waren, sich und ihre Stadt gegen einen gnadenlosen Feind verteidigen zu müssen. Auch eilten weitaus mehr Menschen zum Hafen, um dort auf Schiffe zu steigen, als von dort zurückkamen.

Auch Dietrichs Fahrer wählte den Weg zum Hafen und zeigte, als er an einem Kontrollposten anhalten musste, auf den Major.

»Ich komme von General Mahsin. Ich soll diesen deutschen Offizier zu einem Schiff bringen, das ihn und seine überlebenden Kameraden evakuieren wird.«

Der kontrollierende Soldat warf Dietrich einen kurzen Blick zu, erkannte in ihm einen hochgewachsenen Europäer in Uniform und trat beiseite. Dann sah er zu Jamanah. »Und wer ist das?«

»Die soll den Deutschen begleiten!«, erklärte der Fahrer.

»Wenn er meint.« Der Soldat winkte ihm zu, weiterzufahren, und vertrat dem nächsten Reisenden den Weg.

Im Hafenbecken lagen zahlreiche Schiffe dicht an dicht. Nur ein einzelnes in Tarnfarben gestrichenes befand sich etwas abseits allein an einem Kai. Am Heck flatterte die Trikolore, und als der Jeep anhielt, las Dietrich den Namen Surcouf.

Nun wusste er nicht, ob er erleichtert sein sollte, weil der Irrweg durch Somalia zu Ende war, oder sich ärgern, weil er dieses Land wie ein Hund mit eingekniffenem Schwanz verlassen musste, ohne zu wissen, ob es für ihn noch eine Chance geben würde, die Scharte auszuwetzen und vor allem etwas für seine gefangenen Kameraden zu tun. Beinahe beneidete er Jamanah. Obwohl sie, wenn sie mit ihm das Schiff betrat, ihre Heimat verlor, schien sie es mit stoischer Ruhe hinzunehmen. Sie betrachtete den Hafen und die Schiffe, die am Kai lagen, mit den staunenden Augen eines Kindes, das so etwas noch nie gesehen hatte. Ihrem Gesichtsausdruck zufolge wunderte sie sich über die Masse an Rindern, Ziegen und Schafen, die als Lebendvieh an Bord von kleinen Frachtern gebracht wurden. Man schien diese Schiffe nur selten auszumisten, denn von dort wehte der Gestank von Dung und abgestandenem Tierurin herüber.

Dietrich fasste Jamanah am Arm. »Wir sollten an Bord gehen!« Mit der anderen Hand zeigte er auf die Surcouf. Sie nickte, verabschiedete sich von dem Fahrer und machte ein paar Schritte auf die französische Fregatte zu. Dietrich reichte dem Chauffeur die Hand und ein paar Euroscheine, von denen er hoffte, der andere könne sie verwenden.

»Herzlichen Dank und weiterhin viel Glück!«

»Danke, Major. Ich werde es brauchen können. Ihnen und Ihren Leuten wünsche ich viel Erfolg. Nehmen Sie diesen Schurken in Laasqoray das Schiff wieder ab.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann!« Dietrich folgte Jamanah, die bereits die Gangway der Surcouf erreicht hatte und vor dem dortigen Posten stand. Dieser schien nicht so recht zu wissen, was er mit einer in Soldatenkleidung steckenden Somali anfangen sollte, und atmete auf, als Dietrich auf ihn zutrat.

»Sind Sie Major Tarow?«, fragte er und musste den Kopf in den Nacken legen, um zu Dietrich aufschauen zu können.

»Derselbe! Sind meine Leute bereits an Bord?« Da der Soldat auf Französisch gefragt hatte, antwortete Dietrich ebenfalls auf Französisch.

»Wir warten im Grunde nur noch auf Sie, um ablegen zu können.«

Ein leichter Vorwurf lag in diesen Worten, denn die Fregatte hatte mehrere Stunden länger als geplant im Hafen bleiben müssen.

Dietrich ging nicht darauf ein, sondern reichte Jamanah die Hand und führte sie an dem Wachtposten vorbei auf das Schiff.

»Äh, wer ist das?«, wollte der noch wissen.

»Jemand, der mich nach Deutschland begleiten wird«, antwortete Dietrich kurz angebunden. Im Grunde wusste er selbst nicht so recht, was er mit Jamanah tun sollte. Er fühlte sich für sie verantwortlich und wollte alles tun, damit sie den Übergang in einen ihr völlig fremden Kulturkreis bewältigen konnte.

Ein französischer Marineleutnant empfing sie auf dem Schiff. Auch er warf Jamanah einen misstrauischen Blick zu, konzentrierte sich dann aber auf Dietrich. »Willkommen an Bord, Major von Tarow. Wenn Sie erlauben, bringe ich Sie zu Ihren Leuten. Die Verletzten haben wir mit dem Hubschrauber ausfliegen lassen. Die letzte Information, die wir empfangen haben, lautet, dass es ihnen allen gut geht. Auch Leutnant Graponschetér hat die Sache gut überstanden.«

»Danke!« Dietrich atmete auf, wenigstens auf seinem Boot hatte es keinen Toten gegeben. So konnte er sogar ein wenig darüber lächeln, wie der Franzose den Namen Grapengeter aussprach.

»Meine Begleiterin benötigt ebenfalls ein Quartier«, erklärte er.

»Der Platz an Bord ist etwas beengt, Major. Sie werden Ihre Kajüte mit ihr teilen müssen.«

Dietrich wollte schon ablehnen, dachte dann aber daran, dass Jamanah auch in den vergangenen Nächten zu seinen Füßen geschlafen hatte, und nickte. »Also gut! Wenn es nicht anders geht. Es wird ja nur für ein, zwei Tage sein, bis das Schiff wieder in Djibouti anlegt.«

Der Franzose lächelte – Dietrich meinte sogar eine gewisse Schadenfreue darin zu erkennen. »Bedauerlicherweise sind wir nicht in der Lage, Sie sofort nach Djibouti zu bringen. Unser Auftrag ist es, vor der somalischen Küste zu patrouillieren. Wir haben diese Fahrt nur kurz unterbrochen, um Sie und Ihre Leute aufzunehmen. Daher werden Sie sich auf zwei Wochen auf See einrichten müssen.«

»Ich werde es überleben«, sagte Dietrich und hoffte, dass Jamanah es ähnlich sah.

Im nächsten Augenblick tauchte Fahrner auf und kam lachend auf Dietrich zu. »Sie sind also doch noch rechtzeitig angekommen. Unsere französischen Waffenbrüder haben schon gedroht, sie würden ablegen, wenn Sie bis heute Abend noch nicht an Bord sind.«

Als er Jamanah sah, fiel ihm die Kinnlade herunter. »Die ist ja immer noch bei Ihnen!«

»Das ist eine längere Geschichte, die ich nicht zwischen Tür und Angel erzählen will. Außerdem habe ich Hunger. Können Sie mir sagen, wo ich etwas zu beißen kriege?«

»Keine Sorge, Herr Major. Das habe ich schon ausgekundschaftet. Allerdings würde ich dem Typen an der Ausgabe gerne die Zähne einschlagen. Der macht ganz auf harter Kerl und verspottet uns jedes Mal, wenn wir zu ihm kommen, weil unsere Aktion gegen die Caroline so in die Hosen gegangen ist. Sie – die Franzosen meint er – hätten den Kasten auf jeden Fall befreit.«

Dietrich verstand Fahrners Unmut, wollte aber keinen Ärger mit den Franzosen und legte ihm daher die Hand auf die Schulter. »Was würden Sie zu Franzosen sagen, die ihren Auftrag ebenso versaubeutelt haben wie wir den unseren?«

»Oh, die bekämen von mir etwas zu hören.« Dann erst begriff Fahrner, was er gesagt hatte, und lachte. »Der Franzmann kann wegen mir seine Zähne behalten. Stinken tut es mir aber trotzdem, dass wir uns so etwas anhören müssen.«

»Da sind Sie nicht allein, Fahrner!« Dietrich bedankte sich bei dem französischen Leutnant und sah dann Jamanah an. »Ich würde gerne etwas essen. Hast du auch Hunger?«

So viel Deutsch, um diese Frage verstehen zu können, hatte Jamanah bereits von ihm und seinen Leuten aufgeschnappt. Mit dem Gefühl, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, strahlte sie ihn lächelnd an und antwortete auf Deutsch: »Ja, ich Hunger!«

SECHZEHN

 

Henriette wünschte sich, unsichtbar zu sein und am besten auch unhörbar. Zwei Piraten standen unter ihr und erweckten nicht den Eindruck, als würden sie in absehbarer Zeit verschwinden. Dabei versperrten die Kerle ihr den Weg zu einer Wartungsluke, von der eine Leiter ein Deck tiefer zu dem Verteilerkasten führte, der in Petras Plänen eine entscheidende Rolle spielte. Ihre Hand griff fast wie von selbst zu ihrer Gasdruckpistole, und erst als sie bereits auf einen der beiden Kerle zielte, fragte sie sich, ob sie in ihrem Job bereits zu einer kaltblütigen Mörderin geworden war.

Ein Teil ihrer selbst gab Antwort. Die Männer waren Feinde, und es ging darum, das Schiff und die Geiseln darauf zu befreien. Im Guten war dies nicht möglich, also konnte nur Gewalt helfen. Da die Piraten nach dem Verschwinden ihres deutschen Söldners ruhig geblieben waren, hoffte sie, dass auch der Verlust zweier weiterer Männer sie nicht misstrauisch machen würde.

Ein Risiko war es trotzdem, und sie zögerte. Da sagte einer der Männer lachend etwas zu dem anderen und schlenderte davon.

Nur noch einer, sagte Henriette sich und zählte bis dreißig. Dann würde der andere weit genug weg sein. Der Pirat setzte sich jetzt auf den Sessel des Chefingenieurs, nahm seine MP, eine moderne Cobray M-11, in den Arm und starrte ins Leere.

Henriette überlegte, ob sie ihn auf eine andere Weise ausschalten konnte, doch jede Alternative barg in ihren Augen ein zu großes Risiko. Zudem war der Raum zu groß für den Einsatz einer Gaspatrone. Der Pirat brauchte nur eine einzige Kugel abzufeuern, dann war hier der Teufel los. Daher wartete sie, bis sie das Gefühl hatte, der Mann würde dösen, legte an, atmete einmal tief durch und drückte ab.

Der Somali zuckte zusammen und griff sich mit der Rechten an den Hals, als hätte ihn dort ein Insekt gestochen. Ein paar Sekunden lang keuchte er schwer, dann erschlafften die Glieder, und er hing im Sessel, als schlafe er.

Henriette unterdrückte ihre Gewissensbisse, huschte in den Raum, öffnete die Luke und stieg in die Tiefe. Der Verteilerkasten war riesig, und für einen Moment bezweifelte sie, dass sie ihre Aufgabe zu Petras Zufriedenheit erledigen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen öffnete sie die Abdeckung des Kastens und suchte in dem Gewirr der Kabel nach der richtigen Leitung. Als sie diese gefunden hatte, kontrollierte sie mit einem Phasenprüfer, ob sie unter Strom stand. Das war nicht der Fall, denn die Piraten hatten die meisten Generatoren an Bord abgeschaltet.

Erleichtert löste Henriette die Schrauben der Klemme, in der die vier Drähte der Leitung befestigt waren, zog diese heraus und begann, einen nach dem anderen in einer anderen Klemme wieder festzuschrauben. Als sie damit fertig war, funkte sie Petra kurz an.

»Alles okay!«, kam es leise zurück.

Henriette schraubte die Verkleidung wieder an und stieg nach oben. Bis auf den toten Piraten herrschte im Maschinenraum gähnende Leere. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Mann verschwinden lassen sollte, sagte sich dann aber, dass sie damit mehr Unruhe auslösen würde, als wenn die Kumpane des Kerls glaubten, er wäre auf natürliche Weise ums Leben gekommen.

Auf Schleichwegen kehrte sie zu Petra und Evelyne Wide zurück und genehmigte sich dort erst einmal eine Flasche Mineralwasser, um den unangenehmen Geschmack zu vertreiben, der sich in ihrem Mund breitgemacht hatte.

»Jetzt wären wir so weit. Henriette, du kannst Torsten das Signal senden. Ich fange nämlich an!« Petra hatte ihren Laptop in eine Buchse hinter einer Wandverkleidung gestöpselt und zusätzlich eine Art Joystick angeschlossen. Sie probierte diesen aus und nickte zufrieden.

»Jetzt geht’s los«, sagte sie leise und gab über die Tasten eine Ziffernkombination ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Frame, der Henriette an die Anzeigenkonsolen eines Flugzeugs erinnerte. Es handelte sich um die Steuerung der Lady of the Sea, die Petra eben auf ihren Laptop umgeleitet hatte.

Erneut drückte Petra mehrere Tasten. Ein Aufröhren im Bauch des Schiffes und ein leichtes Vibrieren zeigten ihnen an, dass die Maschinen der Lady anliefen. Mit einem weiteren Tastenbefehl betätigte Petra die Ankerwinden. Danach schloss sie sämtliche Schotten an Bord. Nun konnten die Piraten nicht mehr ungehindert von einem Teil des Schiffes in einen anderen gelangen. Sie versperrte auch die Zugänge zu den Lagerräumen, in denen die Mannschaftsmitglieder und der größte Teil der Passagiere eingesperrt worden waren, sodass diese es nur noch mit ihren Wächtern zu tun hatten. Auf diese Weise, so hoffte sie, würde es nicht zu einem größeren Blutbad kommen. Dann schaltete sie auf ein anderes Bild um, das ihr die wieder funktionierende Radaranlage lieferte, und nahm den Joystick in die rechte Hand.

»Kurs Nordnordost«, murmelte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme.

Evelyne hatte ihr verständnislos zugesehen und wandte sich jetzt an Henriette. »Was macht sie da?«

Petra antwortete selbst. »Kapitänin zur See Petra Waitl geht auf große Fahrt!«

»Und was heißt das?«

Henriette versuchte zu lächeln. »Wir haben die Steuerung des Schiffes und die Kontrolle über sämtliche Maschinen in diesen Raum umgeleitet und die Lady übernommen. Die Piraten müssten jetzt schon die Maschinen in die Luft sprengen, um uns zu stoppen. Das zu verhindern wird meine Aufgabe sein.«

SIEBZEHN

 

Hanif saß an Deck, blickte zu den Sternen und fragte sich, weshalb diese nicht auf ein friedliches und glückliches Volk der Somalis scheinen konnten. Allmählich bezweifelte er, dass der Weg, den Wafal Saifullah unter dem Einfluss seiner Tochter eingeschlagen hatte, zum Frieden führen würde.

Sie hatten Tod und Verderben über die Majerten, die Warsangeli und die Isaaq gebracht. Zwar würden sie deren Gebiete erobern, aber diese Stämme niemals für sich gewinnen können. Irgendwann würden die Unterworfenen sich erheben und sich gegen die Dulbahante wenden, obwohl diese im Grunde die ersten Opfer der fanatischen Witwe geworden waren. Ihr Vater und ihr verstorbener Mann hatten nur einen kleinen Teil des Stammes beherrscht. Unter ihrem Einfluss aber war der Rest mit Drohungen und Versprechungen zu einem Bündnis gezwungen worden. Dabei war noch jeder gescheitert, der die Somalis mit Gewalt hatte beherrschen wollen, ob dies ein Diktator wie Siad Barre gewesen war, Warlords wie Mohammed und Hussein Aidid oder die Fanantiker der islamischen Al-Shabaab.

»Werden auch wir so enden?«, fragte Hanif sich und dachte unwillkürlich an das Schicksal der Geiseln auf dem Schiff. Was würde Sayyida tun, wenn die deutsche Regierung kein Lösegeld zahlte? Sie brauchte das Geld dringend, um ihre Anhänger bei der Stange zu halten. Was würde werden, wenn die Deutschen statt Geld Soldaten schickten, um die Entführung der Schiffe und den Tod der Geiseln zu rächen? Dann würden Tausende Somalis sterben, weil eine einzige Frau vom Ehrgeiz zerfressen war und ihren Willen hatte durchsetzen können.

Hanif wünschte sich, mit Sven Kunath Fußball spielen und sich mit ihm über Sport unterhalten zu können, anstatt ein Schiff und über zweitausend Geiseln bewachen zu müssen. Wenn Sayyida befahl, die Gefangenen zu töten, würde auch dieser Mann sterben. Dabei konnte Sven Kunath ebenso wenig wie die meisten anderen Geiseln etwas dafür, dass ihre Regierung die Isaaq in Somaliland unterstützte.

Bei dem Gedanken sah Hanif zur Caroline hinüber und schüttelte verwundert den Kopf, als er den Frachter nicht mehr an der Stelle fand, an der er ihn vorhin noch gesehen hatte. Nun wurde er auf einen leichten Luftzug aufmerksam, der über das Deck strich, und glaubte, ein Geräusch wahrzunehmen, das aus dem Bauch des Schiffes drang.

Erschrocken sprang er auf und sah sich um. Es war die Lady of the Sea, die sich bewegte! Das Schiff hatte Kurs auf die offene See genommen. Aber das war unmöglich! Sie hatten alle Maschinen abgeschaltet und die Brücke lahmgelegt, um der Besatzung keine Möglichkeit zu bieten, das Schiff wieder an sich zu bringen. Verwirrt eilte er zum Heck und starrte mit aufgerissenen Augen auf den weiß fluoreszierenden Streifen, zu dem die Schiffsschrauben das Wasser verwirbelten.

In dem Augenblick schob Hanif alle Zweifel beiseite, die ihn eben noch bedrückt hatten, und riss seine Cobray M-11 hoch. Die Geschossgarbe raste wie glühende Funken in den Himmel und weckte auch den letzten Piraten auf.

»Alarm! Jemand hat das Schiff in seine Gewalt gebracht und steuert es auf das offene Meer hinaus!«, rief er seinen Männern zu.

Diese sahen sich erschrocken um und stürmten davon. Doch schon bald kamen die meisten wieder zurück.

»Die Türen sind verschlossen und lassen sich nicht mehr öffnen!«, meldeten sie.

»Dann sprengt sie auf! Wir müssen die Kerle erwischen, die das Schiff steuern. Oder wollt ihr draußen auf dem Meer von den fremden Kriegsschiffen aufgebracht werden?« Hanif kämpfte gegen seine Panik an, denn ihm war klar geworden, dass Sayyida und ihre Leute die Entschlossenheit der Deutschen fatal unterschätzt hatten.