ZWEITER TEIL

FEHLSCHLAG

EINS

 

Während die gekaperte Caroline in den Golf von Aden einfuhr und Torsten Renk sich auf den Weg nach Berbera machte, waren Henriette von Tarow und Petra Waitl damit beschäftigt, ihre Büros einzurichten. Möbel und Computer standen bereits, nun ging es um die individuelle Ausstattung mit Bildern, Kalendern und Ähnlichem.

Petra suchte begeistert die Sachen für ihren Raum aus, aber Henriette stand meist im Weg und ließ ihrer Enttäuschung freien Lauf. »Da wäre ich ja noch besser bei der Luftwaffe geblieben! Jetzt bin ich die Zivilangestellte eines Ministeriums und hocke nutzlos hier herum.«

Petra schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dagegen, dass wir nicht mehr zur reitenden Gebirgsmarine gehören. Das Soldatspielen hat mir nie gepasst.«

»Mein Vater wird enttäuscht sein! Und was meine Brüder dazu sagen werden, mag ich mir gar nicht vorstellen.« Henriette kämpfte mit den Tränen. Generationenlang waren die von Tarows Soldaten gewesen und hatten ihren Dienst in guten wie in schlechten Zeiten verrichtet. Sie war zur Bundeswehr gegangen, um zu beweisen, dass sie nicht weniger taugte als all die von Tarows vor ihr. »Die hätten uns genauso gut beim MAD lassen können«, maulte sie weiter.

»Haben sie aber nicht! Und jetzt komm! Schauen wir uns dein Büro an. Du willst es doch auch gemütlich haben.«

Henriette zuckte mit den Achseln. »Ist mir doch egal, wie es aussieht.«

»Sieh es positiv! Du hast dein Büro genau wie früher mit Torsten zusammen. Aber der steckt in Afrika, und damit kannst du alles so einrichten, wie es dir passt.«

Auch diese Aufmunterung verfing bei Henriette nicht. »Wenn er zurückkommt, werde ich bereits nicht mehr bei diesem Verein sein. Wahrscheinlich gehe ich zur Luftwaffe zurück. Dort kann ich wenigstens als Pilotin arbeiten und sitze mir nicht den Hintern auf einem Bürostuhl breit.«

Petra warf einen kurzen Blick auf Henriettes kleines, wohlgeformtes Gesäß, das nicht so aussah, als hätte es sich bereits durch dauerndes Sitzen verformt. »Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Dabei habe ich gedacht, du würdest dich bei uns wohl fühlen.«

»Es ist ja nicht so, dass ich dich und die anderen nicht mag. Aber ich habe die Luftwaffe nicht deshalb verlassen, um mir …«

»… hier den Hintern plattzudrücken! So ist es doch, oder?« Franz Xaver Wagner hatte den letzten Teil der Unterhaltung mitgehört und machte sich nun bemerkbar.

Henriette sah ihn kämpferisch an. »Sind Sie etwa damit einverstanden, dass wir nicht mehr zur Bundeswehr zählen? Jetzt haben wir irgendeinen politischen Sesselfurzer als Chef, der von unserem Geschäft keine Ahnung hat. Wahrscheinlich wird er uns die meiste Zeit übersehen – und wenn etwas los ist, wird Torsten allein hingeschickt!«

»Auch bei der Bundeswehr war die Kanzlerin unsere höchste Kommandostelle. Das ist jetzt nicht anders. Nur unterstehen wir dem Kanzleramtsminister und nicht mehr dem Verteidigungsministerium. An unseren Aufgaben jedoch hat sich nichts geändert. Wir müssen eingreifen, wenn die Bundesrepublik Deutschland durch wen auch immer gefährdet wird!«

Wagner sprach leise, drückte seinen Ärger jedoch umso schärfer aus. Im Allgemeinen war Henriette vernünftig und befolgte ihre Befehle. Doch die Tatsache, dass sie nicht mehr in Uniform auftreten konnte, schien sie in Panik zu versetzen.

Empört winkte sie ab. »Wenn etwas Bedeutendes passiert, kümmern sich MAD oder BND darum, und wir bleiben außen vor. Torsten wurde ja auch nur nach Afrika geschickt, um ein paar Rekruten auszubilden.«

Bevor Wagner darauf eingehen konnte, stürzte Hans Borchart herein. »Ein dringender Anruf für Sie, Herr Major!«

»Danke! Und nennen Sie mich beim nächsten Mal gefälligst Herr Wagner. Den Major habe ich in Feldafing zurückgelassen.«

Henriette spürte nicht zum ersten Mal, dass Wagner insgeheim ebenfalls damit haderte, zu einer zivilen Dienststelle versetzt worden zu sein, und empfand ein wenig Schadenfreude. Während ihr Vorgesetzter in sein Büro eilte, seufzte sie und nahm die Bilder in Augenschein, die ihnen irgendeine Stelle im Kanzleramt hatte zukommen lassen. Schließlich trug sie einige in den Raum, der ihr und Torsten als Büro zugewiesen worden war.

»Eins muss man ihnen lassen: Wir können unser neues Hauptquartier auf jeden Fall besser ausstatten als unsere Räume in Feldafing«, meinte sie mit einem bitteren Auflachen zu Petra, die ihr gefolgt war.

Die Computerspezialistin nickte erleichtert. »Das kannst du laut sagen! In Feldafing mussten wir uns den Kaffee immer aus dem Automaten holen. Hier aber haben sie uns eine Supermaschine hingestellt. Auch der neue Herd und der Kühlschrank sind eine Wucht. In dem Gefrierschrank können wir übrigens vierzig Tiefkühlpizzen einlagern. Verhungern werden wir nicht!«

Bei diesen Worten zuckten Henriettes Mundwinkel. Die Gefahr zu verhungern bestand bei Petra wohl kaum. Sie fürchtete eher, ihre Kollegin hätte in letzter Zeit weiter zugenommen.

»Wir müssen unbedingt eine Strecke zum Joggen in der Umgebung auskundschaften. Du solltest auch ein wenig Sport treiben. Wenn du willst, trainiere ich dich!«

Der Gedanke an eine anstrengende körperliche Betätigung war Petra zuwider, aber im Moment war ihr alles recht, was ihre Kollegin aufmunterte. »Können wir machen!«

Henriette schien sich wieder zu fangen, aber Petra wollte nicht darauf wetten, dass dies auch so blieb. Wenn es Wagner nicht gelang, ihr in den nächsten Wochen einen interessanten Auftrag zu verschaffen, würde Henriette aus ihrem Verein ausscheiden und zur Luftwaffe zurückkehren.

In dem Moment öffnete Wagner die Tür und trat ein. Seine Miene wirkte verkniffen.

»Ist etwas passiert?«, fragte Henriette.

»Ich habe soeben die Meldung bekommen, dass unser Waffenfrachter für Somaliland von somalischen Piraten gekapert worden ist.«

»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Henriette hoffnungsvoll.

»Einen Haufen Arbeit! Frau Waitl, werfen Sie Ihren Computer an und informieren Sie Renk. Er soll sich umgehend auf die Socken machen und schauen, wo die Caroline hingebracht wird. Danach wird er den Einsatz der Sondertruppe koordinieren, die das Schiff zurückzuholen hat. Wenn bekannt wird, dass wir einen solchen Haufen Kriegsmaterial in diese Gegend geschickt haben, ist die Kacke am Dampfen.«

Da Wagner in dienstlichen Gesprächen normalerweise keine Fäkalausdrücke benutzte, begriffen Henriette und Petra, wie besorgt er war.

Die beiden Frauen wechselten einen kurzen Blick, dann sah Henriette Hans Borchart an. »Kannst du die Bilder aufhängen, die wir für dieses Büro ausgesucht haben? Petra und ich haben jetzt zu tun.«

»Von mir aus! Wo wollt ihr die Dinger hinhaben?«, fragte Hans.

»Such dir ein paar schöne Stellen aus.« Henriette verließ ihr Büro und eilte hinter Petra her. Auch wenn sie nicht vor Ort war, so brachte diese unerwartete Entwicklung in Afrika doch ein wenig Farbe in ihren eintönigen Alltag. Dann aber dachte sie an die Matrosen an Bord der Caroline, die jetzt wahrscheinlich Todesängste ausstanden, und schämte sich für ihre Sensationslust.

ZWEI

 

Sie hatten noch etwa sechzig Kilometer bis Berbera vor sich, als aus Torstens Koffer ein durchdringender Ton erschallte. Al Huseyin wurde durch das Geräusch so irritiert, dass er das Steuer verriss, während Omar Schmitt seine Heckler & Koch G3 hochriss und beinahe durch die Frontscheibe geschossen hätte.

»Was ist das?«, keuchte er.

»Einer von Petras Scherzen!« Torsten öffnete die Beifahrertür und hangelte sich nach draußen. Auf der Ladepritsche öffnete er seinen Koffer und hätte beinahe die scharfen Gasdruckfedern vergessen. Im letzten Moment zog er den Kopf zurück, damit der aufschnellende Deckel ihm keinen Kinnhaken verpassen konnte.

Er schob alles beiseite, was er über seinen Laptop gelegt hatte, und nahm das Gerät heraus. Dann setzte er sich zwischen die Pakete auf die Plattform und stützte sich mit den Beinen ab. Als er das Gerät aufklappte, sah ihm Petras angespannt wirkendes Gesicht entgegen.

»Endlich!«, rief sie. »Ich dachte schon, du hättest deinen Winterschlaf begonnen.«

»Dafür ist es hier zu heiß. Aber schieß los! Was gibt es?« Noch während Torsten dies sagte, fuhr der Wagen durch ein besonders tiefes Schlagloch, und er stieß mit dem Kopf gegen die Rückwand der Fahrerkabine.

»Verdammt«, stöhnte er, biss dann aber die Zähne zusammen, als er sah, dass Petra sein Missgeschick nicht entgangen war, sie aber nicht grinste. Das war ein äußerst schlechtes Zeichen. Er versuchte, eine sicherere Sitzposition einzunehmen, und wartete gespannt auf das, was seine Kollegin zu berichten hatte.

Petra stärkte sich mit einem Schluck Kaffee und blickte ihn durchdringend an. »Was ich zu sagen habe, wird dir nicht gefallen. Die Caroline, die nach Berbera unterwegs war, ist noch im Roten Meer von somalischen Piraten gekapert worden. Die Ladung darf auf keinen Fall in den Händen der Entführer bleiben. Aus dem Grund wollen unsere Obergurus das Schiff zurückholen. Sobald wir wissen, in welchen Hafen es die Piraten bringen, machst du dich auf die Socken und klärst vor Ort auf. Danach siehst du zu, dass du an Bord kommst und das Schiff in den eigentlichen Zielhafen bringst.«

»Um mich auf die Kommandobrücke eines Frachtschiffes zu stellen, bin ich bei der falschen Truppengattung … gewesen«, antwortete Torsten bissig. Auch er hatte es noch nicht verwunden, dass er nicht mehr beim Militär war, sondern zum Verantwortungsbereich des Kanzleramtsministers gehörte.

»Du musst dich nicht selbst ans Steuer stellen. Das macht die Besatzung – sofern sie bis dahin überlebt hat. Du sollst an Bord bleiben, damit du dich nicht erneut durchs Feindesland schlagen musst. Ich überspiele dir jetzt alle Informationen, die wir bisher sammeln konnten. Viel ist es allerdings nicht. Ich hoffe, dir beim nächsten Mal mehr erzählen zu können.« Nach diesem Versprechen verschwand Petras Gesicht vom Bildschirm.

Torsten sah, wie der kleine Farbbalken, der eine Datenübertragung anzeigte, kurz aufleuchtete und wieder erlosch, und sagte sich, dass er wohl kein Tausendseitendossier erhalten hatte. Als er die Datei aufrief, war außer den Plänen der Caroline nur noch der Funkspruch darin, den Kapitän Diezmann von der Sachsen aus geschickt hatte.

Einen Moment starrte Torsten auf den schwarz gewordenen Bildschirm, dann verstaute er seinen Laptop und kletterte in die Fahrerkabine zurück. Omar Schmitt sah ihn fragend an, und auch Al Huseyin riskierte trotz der elenden Straße einen neugierigen Blick.

»Gibt es Probleme?«, fragte der Major.

Torsten nickte. »Das kann man wohl sagen. Der Frachter Caroline ist von Piraten aufgebracht worden.«

»Aber ihr Deutschen wolltet dem Schiff doch eine Eskorte schicken«, rief Al Huseyin empört.

»Lassen Sie Renk reden, Major!«, wies Omar Schmitt ihn zurecht.

Torsten atmete kurz durch und gab dann weiter, was er von Petra erfahren hatte. »Die Caroline ist bereits im Roten Meer gekapert worden, bevor sie den Schutz der Fregatte Sachsen in Anspruch nehmen konnte, die den Frachter am Ausgang des Bab el Mandeb erwartet hatte.«

»Das ist eine Katastrophe!«, entfuhr es Al Huseyin. »Wenn die puntländischen Milizen die Waffen in die Hände bekommen, können wir unsere Grenzen nicht mehr verteidigen. Diese verdammten Hunde werden uns bis nach Äthiopien und Djibouti zurücktreiben.«

Torsten lachte hart auf. »Jetzt lassen Sie die Kirche oder meinetwegen auch die Moschee im Dorf! Die Piraten mögen die Caroline zwar gekapert haben, aber behalten werden sie sie nicht. Dafür sorgen wir.«

»Und wie? Wollen Sie etwa nach Laasqoray, Bacaad oder Qandala fahren, zu den Häfen, aus denen die meisten Piraten kommen, und die Kerle bitten, Ihnen das Schiff zurückzugeben?«

Auch wenn Torsten Al Huseyins Besorgnis nachvollziehen konnte, ärgerte es ihn, dass der Mann das Überleben von Somaliland von diesem Vorfall abhängig zu machen schien.

Omar Schmitt war der hysterische Ausbruch seines Stellvertreters peinlich. »Betreiben Sie doch nicht so eine Schwarzseherei, Major. Mit Jammern erreichen wir gar nichts. Renk sagte ja bereits, dass seine Leute das Schiff zurückholen werden.«

»Worauf Sie sich verlassen können!« Torsten entblößte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen. Er hatte während der ganzen Reise darauf gewartet, dass etwas geschehen würde, aber er hätte nicht angenommen, einen so großen Bissen schlucken zu müssen. »Ich werde mich jetzt erst einmal um die Caroline kümmern. Dafür muss ich in das Piratengebiet«, erklärte er.

Al Huseyin schüttelte fassungslos den Kopf. »Nichts leichter als das! Ein Europäer fällt ja bei den Warsangeli oder in Puntland überhaupt nicht auf. Sie kommen keine Meile weit über die Grenze, dann haben Sie bereits eine Kugel im Leib.«

»Gibt es keine Möglichkeit, mich dort einzuschmuggeln?«, wollte Torsten wissen.

Während Omar Schmitt überlegte, nahm Al Huseyin eine Hand vom Steuer und machte eine verächtliche Handbewegung. »Ihretwegen werden wir unsere Spione in Puntland keiner Gefahr aussetzen.«

»Ich übernehme die Sache!«, erklärte sein Vorgesetzter scharf. »Irgendwie finden wir den Piratenhafen, zu dem das Schiff gebracht wird. Jetzt aber sollten wir zusehen, dass wir Berbera erreichen. Vielleicht wissen die maßgeblichen Leute dort schon mehr.«

DREI

 

Anja Kainz blickte bewundernd auf ihre neue Helferin. Jamanah hatte eine rasche Auffassungsgabe und eine Geduld, mit den Patienten umzugehen, die ihr selbst fehlte. Sie wollte alles so schnell wie möglich erledigen, um sich rasch dem nächsten widmen zu können. Die junge Somali aber sprach mit den Menschen und nahm auf deren Lebensweise Rücksicht. Nur eines störte die Ärztin. Selbst im Hospitalzelt legte Jamanah niemals ihre Kalaschnikow ab, sondern trug sie über der Schulter, als erwarte sie jeden Augenblick einen Angriff feindlicher Milizen.

»Gut machst du das!«, lobte sie, als Jamanah einem Kind den Verband so anlegte, wie sie es ihr gezeigt hatte. Der Blick der Somali bewies der Ärztin, dass sie ihre Worte anhand der Stimmlage verstanden hatte. Im Grunde war die junge Frau als Helferin in jeder Hinsicht besser als der Mann, der ihr als Assistent zugeteilt worden war. Zwar hatte dieser angeblich Medizin studiert, stellte sich aber reichlich ungeschickt an. Auch fehlte ihm das Einfühlungsvermögen, das Jamanah auszeichnete.

»Ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist«, sprach Anja Kainz weiter. Dabei war sie sich der sexuellen Anziehungskraft der hochgewachsenen Frau durchaus bewusst, kämpfte jedoch dagegen an. Schließlich war sie nach Afrika gekommen, um über der Arbeit ihre gescheiterte Beziehung zu ihrer langjährigen Freundin zu vergessen. Auch diese war hochgewachsen und schlank gewesen, und die junge Afrikanerin erinnerte die Ärztin ständig an ihre frühere Liebe.

Dabei schien die Somali in ihr nur die europäische Ärztin zu sehen, denn nichts in ihrer Haltung deutete darauf hin, dass die junge Frau ähnlich empfand wie sie.

Laute Rufe vor dem Zelt brachten die Ärztin in die Realität zurück. Sie sah, wie Jamanah aus dem Zelt lief. Auch die Verletzte, die von ihr versorgt worden war, stand auf und humpelte hinter ihr her. Der noch nicht fixierte Verband löste sich und flatterte als langes weißes Band hinter ihr her.

Draußen stand Dr. Kainz’ Assistent mit grauem, verzerrtem Gesicht, während im Lager immer mehr Frauen zu schreien und zu jammern begannen.

»Was ist los?«, fragte die Ärztin.

Ihr Helfer drehte sich zu ihr um, und sie bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte. »General Iqbals Brigade ist von den Feinden in eine Falle gelockt und bis auf den letzten Mann ausgelöscht worden. Jetzt steht kein einziger Soldat mehr zwischen uns und den mörderischen Milizen. Wir müssen sofort weg von hier!« Der Mann sah aus, als wolle er auf der Stelle davonlaufen.

Die Ärztin packte ihn am Ärmel. »Wir können die Leute hier nicht im Stich lassen.«

»Dann bringen die Mordbrenner uns alle um!«, rief der Mann und riss sich los. Die Ärztin folgte ihm ein paar Schritte, besann sich aber und kehrte ins Krankenzelt zurück. Dort traf sie auf einen jungen Offizier, dessen Gesicht zu einer Maske des Schreckens erstarrt war.

»Frau Doktor, packen Sie alles ein, was Sie mitnehmen müssen! Wir stecken nun mitten im Kriegsgebiet. Daher brechen wir dieses Lager umgehend ab und ziehen uns nach Xagal zurück. Aber wir werden es diesen verdammten Warsangeli und Dulbahante schon zeigen! Das hier ist unser Land, und wir werden es nicht diesen elenden Hunden überlassen.«

Die letzten Sätze klangen in Dr. Kainz’ Ohren eher wie das Pfeifen eines Kindes im Wald. Der Mann schien nicht das Geringste über die mörderischen Angreifer zu wissen und klammerte sich daran, dass es sich bei ihnen um die Nachbarstämme der Isaaq handelte, mit denen sie sich bereits seit Jahrzehnten herumschlugen. Sie selbst kannte die Gegebenheiten in Somalia zu wenig, um sich ein Bild machen zu können. Doch eines war ihr klar: Der Weg nach Xagal würde für viele der verletzten und geschwächten Bewohner dieses Lagers zum Todesmarsch werden.

Um das Schlimmste zu verhindern, hielt sie den unruhig von einem Fuß auf den anderen tretenden Offizier am Ärmel fest. »Wir brauchen Fahrzeuge für die Ausrüstung, die Kranken und das ganze Gepäck einschließlich der Zelte.«

»Wir haben nur einen einzigen Geländewagen. Den brauchen wir selbst, um zu unserem neuen Quartier zu gelangen.«

»Aber Sie können diese armen Menschen doch nicht durch die Hitze laufen lassen! Viele können sich ja nicht einmal auf den Beinen halten«, rief die Ärztin empört.

Sie erntete jedoch nur ein Schulterzucken. »Ich kann Ihnen nicht geben, was ich nicht habe«, erklärte er. »Wir werden Sie und Ihre medizinische Ausrüstung mitnehmen und das Hospitalzelt in Xagal sofort wieder für Sie aufschlagen. Dann sind Sie in der Lage, die Leute zu behandeln, sobald sie dort ankommen. Das ist alles. Jetzt beeilen Sie sich! In einer halben Stunde fahren wir los.«

»Und lassen mehr als zweitausend Menschen ohne Schutz zurück. Wenn diese Verbrechermilizen hier auftauchen, haben sie leichtes Spiel!« Dr. Kainz kämpfte mit den Tränen, doch der Offizier beachtete sie nicht weiter. Mit schriller Stimme befahl er ihrem Assistenten und zwei seiner Untergebenen, das Hospitalzelt abzubauen und samt dem medizinischen Material auf seinem Geländewagen zu verstauen.

»Die Frau Doktor kommt mit uns. Die anderen müssen zu Fuß gehen. Sie sollen so viel mitnehmen, wie sie tragen können!«

Die Aufforderung war der reinste Hohn, da die geschwächten Menschen nur einen Bruchteil dessen, was sie benötigten, transportieren konnten. Dies war auch dem Offizier klar. Doch der Befehl lautete, die Flüchtlinge und die einheimischen Bewohner aus diesem Teil der Provinz zu evakuieren, damit die Armee ungehindert gegen die Feinde vorgehen konnte.

Da neben seinem Gepäck und dem weitaus umfangreicheren von Dr. Kainz nur noch zwei seiner Männer Platz im Wagen fanden, teilte er die drei anderen den Flüchtlingen als Eskorte zu. Die Soldaten nahmen den Befehl mit einer Miene hin, als schicke er sie auf ein Himmelfahrtskommando. Resigniert halfen sie den Flüchtlingen, die Zelte abzuschlagen und so viel von den vorhandenen Vorräten mitzunehmen, wie sie tragen konnten.

Kurz vor der Abfahrt fasste der Offizier die sich sträubende Ärztin um die Taille, setzte sie auf seinen Wagen und gab seinem Fahrer den Befehl, Gas zu geben. Erst als das Gefährt anrollte, erinnerte Dr. Kainz sich wieder an Jamanah und sah sich suchend um. Die junge Frau kniete an der Stelle, an der bis eben noch das Hospitalzelt gestanden hatte, und starrte wie entrückt auf die Erde. Die Ärztin empfand einen kleinen Stich, dass Jamanah keinen Blick mehr für sie hatte, doch vor allem anderen wünschte sie ihr, den Weg bis Xagal unversehrt zu bewältigen.

Jamanah hatte in diesem Augenblick tatsächlich keinerlei Gedanken übrig für die freundliche Ärztin oder das Los der Flüchtlinge. Die Nachricht, General Iqbals Truppen seien vernichtet worden, hatte den Panzer um ihre Seele gesprengt. Nun stieg die Trauer um ihre ermordeten Angehörigen mit aller Gewalt in ihr auf und vermischte sich mit der Wut auf jene, denen es nicht gelungen war, ihr Dorf vor den Feinden zu schützen.

Als eine Frau auf sie zutrat und sie mit lautstarker Stimme aufforderte, sich gefälligst eine Traglast zusammenzusuchen und sich in den Treck nach Xagal einzureihen, schüttelte sie den Kopf. »Dort leben andere Clans der Isaaq. Das Land meiner Leute liegt dort hinten. Da die Soldaten es nicht verteidigen wollen, werde ich es tun!« Wieder standen ihr die Gesichter der Männer, die ihr Gewalt angetan hatten, vor Augen, aber dann wurden sie ersetzt durch das der Anführerin jener Mordbrenner. Sie begriff, dass sie erst wieder Ruhe finden würde, wenn diese Ungeheuer vom Angesicht der Erde getilgt worden waren. Wie sie das erreichen konnte, wusste sie nicht. Aber sie kannte die Landschaft im Grenzgebiet besser als die Soldaten, die sich bei Xagal sammeln und das nun menschenleere Land verteidigen sollten.

Während die Frau sie beschimpfte, suchte Jamanah unter den Sachen, die von den anderen zurückgelassen worden waren, nach Gegenständen, die sie brauchen konnte. Ihr fielen ein Aluminiumtopf, ein Becher und ein Krummdolch in die Hände. Sie versah die Gegenstände mit Schnüren und befestigte sie an ihrer Hüfte. Aus dem nicht mehr bewachten Vorratslager nahm sie sich eine Packung Hirse, ein paar andere Lebensmittel und eine Flasche Mineralwasser. Dann machte sie sich auf den Weg.

Dr. Kainz’ Assistent, der genau wie die anderen die achtzig Kilometer nach Xagal zu Fuß laufen musste, blickte kopfschüttelnd hinter ihr her, hinderte aber ein paar Frauen daran, ihr nachzulaufen. »Lasst die Verrückte gehen! Wenn sie unbedingt sterben will, soll sie es tun.«

Jamanah hörte es und bog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. Sie ging nicht, um zu sterben, sondern um zu töten.

VIER

 

Ein paar tausend Kilometer von den Steppen Somalias entfernt scheuchte Major Dietrich von Tarow seine Untergebenen durch das Manövergelände.

»He, nicht so langsam!«, schrie er zwei Soldaten an, die hinter den anderen zurückgeblieben waren. Dann sah er, wie ein Soldat mit hochgerecktem Gesäß durch das Gras robbte. »Den Arsch runter, Fahrner! Im Ernstfall schießt ihn dir einer weg!«

Trotz seiner bissigen Bemerkungen war von Tarow mit dem Ausbildungsstand seiner Männer zufrieden. Mit ihnen konnte er in die Hölle eindringen und dem Teufel die drei goldenen Haare stehlen.

»Und jetzt ein bisschen Tempo! Schließlich seid ihr keine Schnecken. Los, los! Wenn ich vorne am Schießstand angekommen bin, will ich keinen von euch hinter mir sehen!« Mit diesen Worten begann Dietrich von Tarow zu rennen und legte die nächsten fünfhundert Meter samt seinem Gepäck in einer neuen Rekordzeit zurück.

Auch seine Leute rannten, was das Zeug hielt. Trotzdem gelang es niemandem, den Kompaniechef zu überholen. Von Tarow stoppte die Zeit, bis auch der Letzte angekommen war, und nickte zufrieden. »Nicht schlecht! Das nächste Mal könntet ihr trotzdem ein wenig schneller sein. Und jetzt kommt die Schießübung. Zehn Meter laufen, zu Boden werfen und feuern. Immer drei zusammen! Und los!«

Die ersten drei Mann sprinteten nach vorne, hechteten in das Schlammloch und beharkten die aufgestellten Ziele mit Dauerfeuer aus ihren Heckler & Koch MP5.

Von Tarow sah zufrieden, dass kaum ein Geschoss danebenging. »Gut. Und jetzt die nächste Gruppe!«

Innerhalb von fünf Minuten sahen die Soldaten aus, als hätten sie ein Schlammbad genommen. Sie grinsten jedoch und blickten ihren Anführer herausfordernd an.

»Na, Herr Major, wie gut können Sie schießen?«, fragte Leutnant Grapengeter.

»Wir können es ja ausprobieren!« Dietrich von Tarow spurtete aus dem Stand, warf sich in das Schlammloch und feuerte, noch während er stürzte.

Seine Untergebenen sahen verblüfft, wie präzise seine Schüsse trafen.

Fahrner kam nicht aus dem Kopfschütteln heraus. »Es gibt nichts, was unser Von nicht besser kann als jeder andere.«

In seiner Stimme schwang Neid. Jeder in dieser Kompanie hielt sich für einen Elitesoldaten. Doch im Vergleich zu Dietrich von Tarow fühlte sich selbst der Beste wie ein kleines Würstchen.

»Nur gut, dass ich am Wochenende frei habe. Unser Von ist in der Lage, unseren Trupp auch am Samstag und Sonntag zu schleifen. Wir könnten ja sonst Rost ansetzen«, raunte Leutnant Grapengeter einem Kameraden zu.

Dieser nickte. »Unser Von ist ziemlich ehrgeizig und will unbedingt General werden. Soll in der Familie liegen! Die waren bis zu Adam hinunter alle Generäle. Sogar die Schwester ist bei der Bundeswehr, allerdings bei der Luftwaffe.«

»Das Mädchen wollte wahrscheinlich nicht riskieren, von seinem Bruder geschliffen zu werden. Wir hätten auch zur Luftwaffe gehen sollen.« Grapengeter seufzte und stellte sich an die Spitze seines Zuges.

»Haben wir jetzt Feierabend, Herr Major?« Fahrners Frage war berechtigt, denn letztens hatte von Tarow den Trupp noch eine Runde auf dem Übungsgelände drehen lassen. Diesmal aber nickte er.

»Abtreten, Leute! Für heute ist Schluss. Putzt in der Kaserne als Erstes eure Waffen und bringt eure Sachen in Ordnung. Ich schaue mir heute Abend alles an.«

»Scheiße«, flüsterte Grapengeter. »Eigentlich wollte ich mich gleich in die Büsche schlagen, um meinen Zug zu erwischen. So komme ich erst morgen früh nach Hause.«

»Frag doch unseren Von, ob er dich gehen lässt«, schlug Fahrner vor.

»Sonst noch was? Der lässt mich zwar gehen, taucht mich dafür aber am Montag doppelt in die Scheiße, damit ich mir das Bier ausschwitze, das ich angeblich übers Wochenende getrunken habe. Dabei bin ich Antialkoholiker.«

Dietrich von Tarow entging nicht, wie seine Leute sich während des Rückmarsches zum Quartier leise unterhielten, und er kannte auch den Spitznamen, den sie ihm gegeben hatten. Für die Männer war er wegen seiner adeligen Herkunft der Von. Ihm war es gleich. Hauptsache, sie machten ihre Sache so gut, dass er und seine Vorgesetzten mit ihnen zufrieden waren.

»Ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf! Ihr seid doch keine lahmen Enten«, rief er und begann wieder zu laufen.

Seine Soldaten fielen fast automatisch in denselben kraftsparenden Laufschritt. Obwohl er ihnen auch an diesem Tag ein hartes Pensum zugemutet hatte, blieb keiner zurück.

Nach einem Dauerlauf von etwa vier Kilometern erreichten sie die Kaserne und trabten in vorzüglicher Ordnung durch das Tor. Die beiden Wachtposten sahen sich kopfschüttelnd an. »Tarows Eisenköpfe ziehen mal wieder ihre Schau ab«, stellte einer von ihnen fest.

»Bin ich froh, dass ich nicht bei dem Haufen gelandet bin«, gab der andere mit einem etwas schief geratenen Grinsen zurück. »Tarow soll ein übler Schleifer sein. Ein Freund hatte ihn während seiner Grundausbildung als Vorgesetzten. Damals war der Major noch ein normaler Kompaniechef. Glaub mir, der Junge zittert heute noch, wenn er den Namen hört.«

Dietrich von Tarow wollte seine Leute gerade abtreten lassen, da stürzte eine Ordonanz des Stützpunktkommandeurs aus dem Verwaltungsgebäude und kam atemlos auf ihn zu. »Major von Tarow! Sie sollen sich unverzüglich beim Oberst melden. Für Ihre gesamte Kompanie wurde Alarmbereitschaft angeordnet. Urlaub und Ausgang sind vorerst gestrichen.«

Leutnant Grapengeter stöhnte auf. »Das ist wirklich nicht mein Tag! Da habe ich endlich Urlaub, und schon wird er gecancelt.«

Dietrich von Tarow kümmerte sich nicht um das Grummeln seiner Männer, sondern tippte kurz mit dem Zeigefinger an seine Feldmütze, die er dem Barett vorzog. »Melden Sie dem Oberst, ich komme gleich. Ich will mich nur noch ein wenig frischmachen!«

»Das würde ich Ihnen ja gerne gönnen, denn Sie sehen aus wie ein Ferkel. Aber der Alte hat ›unverzüglich‹ gesagt, und so meint er es auch. Er wollte mich schon losschicken, um Sie vom Gelände zu holen, aber da waren Sie bereits auf dem Rückmarsch. Folgen Sie mir! Ich will Ihretwegen keinen Anpfiff kassieren.« Der Mann drehte sich um und stiefelte los.

Dietrich von Tarow wandte sich noch einmal an seine Leute. »Seht zu, dass ihr so schnell wie möglich sauber seid und eure Waffen gereinigt habt. Dann packt eure Sachen! Es sieht so aus, als stünde uns ein Ausflug bevor.«

Er folgte der Ordonanz und holte den Mann mit seinen langen Beinen ein, ehe dieser das Zimmer ihres Vorgesetzten erreicht hatte.

Von Tarow trat ein und salutierte. Dabei registrierte er mit einer gewissen Genugtuung, dass getrockneter Schlamm von seinem Kampfabzug abbröckelte und auf den Boden fiel. Wieso musste der Kommandeur ihn auch rufen lassen, bevor er sich hatte umziehen können?

Dann erst sah er die zweite Gestalt im Raum und erstarrte. Wenn der Generalmajor höchstpersönlich aus Potsdam kam, herrschte Alarmstufe Rot.

»Ich melde mich zur Stelle, Herr Oberst!«, sagte er mit gepresster Stimme und stand stramm.

»Stehen Sie bequem, Major. Ich würde Ihnen ja gerne einen Stuhl anbieten, aber dafür sind Sie mir nicht sauber genug.«

Dietrich von Tarow grinste. »Wir waren auf dem Übungsgelände, Herr Oberst. Da gilt es, den inneren Schweinehund auch mal in ein Schlammloch zu werfen.«

»Wenn es wenigstens beim inneren Schweinehund geblieben wäre. Aber Sie mussten ja unbedingt hinterherhüpfen.«

Der Tonfall seines Vorgesetzten verriet von Tarow, dass diese Bemerkung nicht als Scherz gemeint war. Oberst Hilbig trat neben seinen Schreibtisch. Darauf lag eine Landkarte, die das Horn von Afrika und die angrenzenden Seegebiete umfasste.

Generalmajor Martin bemerkte Dietrichs fragenden Blick. »Hier sehen Sie Ihr neues Einsatzgebiet, Major von Tarow. Sie und Ihre Leute werden noch heute mit einer A400 nach Djibouti fliegen und sich dort an Bord der Fregatte Sachsen begeben. Diese bringt Sie zu Ihrem Zielort, der erst kurz vorher festgelegt werden kann. Ihre Aufgabe ist es, ein Schiff zu befreien, das von somalischen Piraten überfallen und gekapert worden ist.«

»Handelt es sich um die Lady of the Sea?« Dietrich hatte am Morgen gelesen, dass das modernste Kreuzfahrtschiff der Welt auf seiner Jungfernfahrt mit einer ganzen Reihe an Prominenten unter den Passagieren an Bord den Suezkanal passiert hatte.

Sein oberster Kommandeur schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank nicht! Es geht um den Containerfrachter Caroline. Sie werden ihn zurückholen und dabei ähnlich vorgehen wie die Piraten. Das heißt, Sie und Ihre Leute werden sich bei Nacht dem Schiff nähern, an Bord steigen und die Feinde mittels Ihrer überlegenen Ausrüstung niederkämpfen.«

»Aber wäre das wegen der als Geiseln gehaltenen Besatzung an Bord nicht eher ein Job für die GSG 9?«, fragte Dietrich verwundert.

»Dieser Auftrag wird Ihnen und Ihren Leuten übertragen. Oberste Priorität ist, dieses Schiff aus den Händen der Entführer zu befreien. Sehen Sie zu, dass so wenig Besatzungsmitglieder wie möglich dabei ums Leben kommen. Ihre Kompanie wird durch sechs Marineangehörige ergänzt, die in der Lage sein werden, die Caroline zu steuern. Weitere Informationen erhalten Sie in Djibouti.«

Als der General seine Erklärungen beendet hatte, trat Oberst Hilbig mit ernster Miene auf Dietrich zu. »Machen Sie sich so rasch wie möglich fertig, Major. Das Flugzeug wartet nicht. Notfalls müssen Sie als Dreckspatz an Bord steigen. Ob Sie aber in Djibouti Zeit finden, sich zu waschen, bezweifle ich.«

Dietrich salutierte und meldete sich ab. Das Letzte, was er noch hörte, war eine Bemerkung des Brigadegenerals. »Hoffentlich schafft von Tarow es mit seinen Leuten. Sonst holt uns alle der Teufel!«

FÜNF

 

Während Dietrich von Tarow sich in aller Eile wusch und umzog, durchpflügte das hochmoderne Kreuzfahrtschiff Lady of the Sea die Wellen des Indischen Ozeans. Der leichte Nervenkitzel, den die Passagiere und die Besatzung seit der Fahrt durch den Suezkanal verspürt hatten, verschwand allmählich. Ihr nächstes Ziel, die Malediven, war nur noch einen Tag entfernt, und diese Inseln galten als sichere Weltengegend.

Dabei, fand die Starreporterin Evelyne Wide, hatte sich das Schiff keinen Augenblick in einer gefährlichen Situation befunden. Die Lady war, seit sie das Bab el Mandeb passiert hatte, von drei Schiffen der multinationalen Flotte eskortiert worden. Auch jetzt konnte man die drei Kriegsschiffe noch vom Sonnendeck des Kreuzfahrers aus sehen, aber sie hielten bereits größeren Abstand und würden im Lauf des Nachmittags wieder in ihr eigentliches Operationsgebiet zurückkehren.

»Das war ein Abenteuer!« Sven Kunath, Exfußballstar und Teilnehmer des letztjährigen Dschungelcamps, musterte Evelyne lächelnd. Die Frau war blond und hübsch, und es wurde gemunkelt, sie hätte einige ihrer aufregendsten Interviews im Bett geführt. In jedem Fall kam sie ihm gerade recht, um die bisher eher langweilige Reise etwas aufzupeppen.

»Nun ja, so schlimm war es ja nun nicht gerade. Kein Pirat wäre so dumm, ein von drei Kriegsschiffen begleitetes Schiff anzugreifen«, gab die Reporterin kühl zurück.

Ihr passte es nicht, dass Kunath sie schon wieder anbaggerte. Er sah zwar gut aus und hatte einen durchtrainierten Körper, aber ihm fehlte der Touch des Besonderen, den sie bei ihren bisherigen Liebhabern immer gesucht und gefunden hatte.

Seine nächsten Worte ließen ihn nicht gerade in ihrer Achtung steigen. »Trotzdem gefällt es mir nicht, dass die Kriegsschiffe schon jetzt verschwinden. Sie hätten uns bis zu den Malediven eskortieren müssen!«

Evelyne Wide verzog spöttisch den Mund. »In diesem Seegebiet hat es seit über zwei Jahren keinen Überfall mehr gegeben. Außerdem überwachen die Kriegsschiffe die gesamte Umgebung. Da kommt nicht einmal ein Ruderboot unbemerkt durch.«

Sie lachte hell auf, um dem Exfußballer zu zeigen, wie wenig ernst sie seine Bedenken nahm, sah hinter ihm den Ersten Offizier des Schiffes auftauchen und gesellte sich zu diesem.

Immer ein bisschen dick auftragen, die Männer mögen das, schoss es ihr durch den Kopf, und sie sah lächelnd zu dem Mann auf. »Sie wollten mir doch die Reservebrücke zeigen, Herr Kapitän.«

Stefan Magnus fühlte sich geschmeichelt. »Das mache ich sehr gerne. Allerdings werden Sie ein wenig enttäuscht sein. Außer ein paar Bildschirmen und einigen Anzeigen ist dort nichts zu sehen. Unsere Lady ist nämlich ein ganz besonderes Schiff. Ein Mann allein könnte sie mit einem einzigen Hebel steuern!«

»Was Sie nicht sagen!« Evelyne gelang es, genau die richtige Dosis an Bewunderung in ihre Stimme zu legen.

Prompt gab der Erste Offizier ihr weitere Informationen. »Zu dem Zweck ist die Lady mit einem einzigartigen Computersystem ausgestattet, das alle Funktionen an Bord vollautomatisch kontrolliert. Selbst wenn die gesamte Führungsmannschaft ausfiele, würde unsere Lady Sie und die anderen Passagiere in den nächsten Hafen bringen. Es gibt sogar schon Überlegungen, ein kleineres Schiff mit dieser Computersteuerung testweise ohne Besatzung auf eine Reise um die Welt zu schicken. Heutzutage geht alles mit Sensoren, die andere Schiffe und jedes Hindernis sofort erkennen, und der Computer stellt sich umgehend auf die neue Situation ein.«

»Wenn das einmal die Norm wird, sind dann Bordoffiziere wie Sie überflüssig?«

»Schiffe werden immer eine Besatzung erhalten, denn jemand muss die Computer überwachen. Außerdem gibt es auch sonst viel zu tun. Oder wollen Sie beim Captain’s Dinner mit einem Roboter anstoßen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Evelyne lachend. »Viel lieber stoße ich mit Ihnen an. Wie wäre es heute Abend?«

»Gerne! Da habe ich nämlich frei.« Stefan Magnus betrachtete die Reporterin mit einem begehrlichen Blick.

Kunath, der die beiden beobachtete, knurrte gereizt. Noch war er nicht bereit, aufzugeben. Daher trat er, als der Offizier sich verabschiedete, sofort wieder neben Evelyne. »Und, was wollen Sie mit dem restlichen Nachmittag anfangen?«

»Mich ein bisschen ausruhen, damit ich am Abend fit bin. Auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten ließ die Reporterin den Exfußballer stehen.

»Dumme Kuh!«, zischte er ihr nach und sah sich dann Maggie Dometer gegenüber, einer Industriellenwitwe, deren barocke Formen durch ein noch barockeres Bankkonto aufgewertet wurden.

Sie hatte Kunaths Bemerkung gehört und stieg mit Vergnügen darauf ein. »Die Wide ist ein aufgeblasenes Stück! Sie können sich nicht vorstellen, was die letztens über mich geschrieben hat. Am liebsten hätte ich diese Ziege verklagt.«

Die übergewichtige Frau entsprach nicht unbedingt Sven Kunaths Vorstellungen von Weiblichkeit, doch sein Selbstbewusstsein brauchte eine Bestätigung. Zudem würde eine Affäre mit dieser Frau ihn wieder in die Schlagzeilen bringen, die er seit seinem frühen Ausscheiden aus dem Dschungelcamp vermisste. Daher zwang er seinen Lippen ein strahlendes Lächeln auf und legte Maggie Dometer den Arm um die Schultern. »Vergessen wir die dumme Pute und gehen lieber an die Bar. Bei dieser Hitze bekommt man Durst.«

»Gerne.« Die Witwe und der Exfußballer vernachlässigten bei ihrem Flirt die Tatsache, dass es im Innern der Lady of the Sea angenehm temperiert war.

Keine zehn Minuten später saßen sie auf bequemen Sesseln in einer kaum einsehbaren Nische, hielten jeweils ein großes Glas mit einem stark alkoholischen Cocktail in der Hand und amüsierten sich prächtig. Maggie strich die Bedeutung der Firmen heraus, deren größte Anteilseignerin sie war, während Sven Kunath von seiner Zeit als Fußballspieler erzählte und dabei in seinem Fußballerlatein sogar beinahe quasi im Alleingang die Champions League gewonnen hätte.

Drei Cocktails später saß Maggie bereits auf Kunaths Schoß und spürte eine gewisse Härte unter ihren Pobacken, die ihr bewies, dass auch das volle Gewicht ihrer hundertundzwei Kilo einen Mann in Stimmung versetzen konnte.

»Mein lieber Sven, das alles ist tatsächlich hochinteressant. Weißt du, ich bin die Hauptsponsorin der TUS Weggenwehe, des Sportvereins meiner Heimatstadt. Leider sind die Ergebnisse nicht so, wie ich es mir wünsche. Da du den Trainerschein gemacht hast, wäre es doch schön, wenn du meinen Verein als Spielertrainer übernehmen könntest. Über dein Gehalt können wir uns, wenn du magst, anschließend in meiner Kabine unterhalten.«

Kunath wusste, dass es nicht beim Unterhalten bleiben und die Höhe seiner Gage wohl weniger von seinen fußballerischen Fähigkeiten abhängen würde. Aber da er Evelyne Wide nicht bekommen konnte, war diese Frau ein guter Ersatz. Letztlich traf er es mit ihr sogar noch besser, denn im Gegensatz zu Evelyne konnte Maggie ihm einen Job besorgen, der seinen Fähigkeiten entsprach. Mit dem festen Vorsatz, sie nicht zu enttäuschen, folgte er ihr in ihre Kabine und zog sie dort an sich, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war.

»Du bist aber ein Wilder«, gurrte sie und ließ es zu, dass er sie mit flinken Fingern entkleidete.

Als sie nackt vor ihm stand, sagte Kunath sich, dass er mit dieser Eroberung zufrieden sein konnte. Zwar war sie einige Jahre älter als er und alles andere als schlank, strahlte aber eine Sinnlichkeit aus, die es ihm leicht machte, sie zu lieben. Er überstürzte jedoch nichts, sondern zog sich langsam aus und hob sie dann so spielerisch leicht auf ihr Bett, als hätte sie das Gewicht eines Mannequins.

Als er zwischen ihre gespreizten Schenkel stieg und sie bereits nach wenigen Stößen zum ersten Orgasmus brachte, dachte er kurz an die Reporterin. Wahrscheinlich lag die Wide gerade unter dem Ersten Offizier. Aber ob sie so viel Spaß daran hatte wie er bei der üppig gebauten Maggie, bezweifelte er. Auf jeden Fall fand er das Leben wieder schön und freute sich schon darauf, das erste Mal mit dem Trikot der TUS Weggenwehe auflaufen zu können. Hinterher, sagte er sich, würde es bei Maggie in die Verlängerung gehen. Für beides musste er all sein Können aufwenden, aber dazu war er gerne bereit.

SECHS

 

Torsten Renk spürte Omar Schmitts Griff auf seinen Schultern und kroch noch tiefer zwischen die Säcke, mit denen der Wagen beladen war. Er wusste, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatten, und doch konnte er es nicht so recht ernst nehmen. Er lag unter zehn Säcken mit Hirse verborgen auf einem einachsigen Karren, der von einem Esel gezogen wurde, während Omar als einfacher Somali verkleidet neben dem Wagen ging und als Waffe nur einen uralten Lee-Enfield-Karabiner aus dem Zweiten Weltkrieg umhängen hatte. Die Kleidung des Halbsomali bestand aus Plastiksandalen, einem wadenlangen Wickelrock und einem karierten Holzfällerhemd, das durch eine Kleidersammlung in diese Weltgegend verschlagen worden war. Auf dem Kopf trug er eine schlichte Filzkappe, der man anzusehen schien, dass er damit seinen Esel tränkte.

Obwohl Omar sich gut getarnt hatte, verknoteten sich seine Magennerven beim Anblick der Straßensperre, die ihnen den Weg verlegte. Die Männer, die dort Wache hielten, sahen gut genährt aus und trugen Uniformen amerikanischen Zuschnitts. Auch ihre Waffen waren ein Geschenk von Uncle Sam und sollten ihnen bei der Abwehr der islamischen Al-Shabaab-Milizen helfen. Allerdings verwendeten die Warsangeli-Milizen diese Waffen auch im Kampf gegen ihre Nachbarstämme, insbesondere gegen die Isaaq von Somaliland.

Angesichts der Brutalität, mit der die letzten Angriffe gegen seine Heimat geführt worden waren, zwickte es Omar in den Fingern, es den Männern an der Straßensperre heimzuzahlen. Er zwang sich jedoch zur Ruhe und grüßte freundlich. »Salam alaikum! Ich bin Omar und bringe Hirse zu Sidhi Mohammed!«

Einer der Männer ging um den Wagen herum. Dabei betastete er mehrere Säcke, ohne zu merken, dass ein paar von ihnen kleiner waren als die anderen, um Torsten Platz zu bieten.

»Deine Papiere!«, forderte er Omar barsch auf.

Dieser griff in die Tasche und zog einen schmierigen Zettel hervor, in dem einige zerfledderte äthiopische Birrnoten steckten.

Der Freischärler nahm beides, ließ die Geldscheine mit einer geübten Bewegung verschwinden und reichte den Zettel wieder zurück.

»Kann passieren!«, rief er seinen Leuten zu. Diese traten beiseite und machten den Weg frei.

Omar verabschiedete sich mit ein paar Floskeln von den Kerlen, atmete aber erst auf, als er aus deren Schussweite gelangt war. »So, das hätten wir geschafft.«

Torsten schob den kleinen Sack, den er vor seinen Kopf gezogen hatte, wieder beiseite und atmete ebenfalls kräftig durch.

»Das war jetzt die dritte Straßensperre. Wenn das so weitergeht, kommen wir nie ans Ziel.« Tatsächlich war der Hafen von Laasqoray, in dessen Nähe die Caroline vor Anker gegangen sein sollte, noch über einhundert Kilometer entfernt. Bis sie die mit dem Eselskarren zurückgelegt hatten, würde die geplante Befreiungsaktion längst vorbei sein, ohne dass er hatte eingreifen können.

»Keine Sorge, Renk. In der nächsten Stadt verkaufe ich die Hirse samt Wagen und Esel und miete uns einen Geländewagen. Spätestens morgen Mittag sind wir in Laasqoray und können uns dort umschauen. Passen Sie aber auf Ihre Sachen auf. So einen Computer, wie Sie ihn besitzen, gibt es in ganz Somalia nicht.«

»Ich werde mir Mühe geben. Kann ich jetzt hier raus? Langsam wird es mir unter der Hirse zu heiß.«

»Warten Sie noch ein paar Kilometer. Weiter vorne gibt es eine Senke, die nicht so leicht eingesehen werden kann. Dort können Sie Ihr Versteck für eine Weile verlassen.« Omar Schmitt grinste, auch wenn Torsten dies nicht sehen konnte. Der Gedanke, die Milizen der lokalen Warlords so leicht getäuscht zu haben, ließ ihn beinahe übermütig werden. Er wusste jedoch, dass sein und Renks Leben keinen Schuss Pulver mehr wert waren, wenn die Feinde ihnen auf die Schliche kamen.

SIEBEN

 

Leutnant Grapengeter lehnte sich zurück und sah Dietrich von Tarow grinsend an. »So lasse ich mir das Reisen mit der Air Bundeswehr gefallen. Der Kasten hier ist fast so gemütlich wie ein Ferienflieger.«

»Es ist nun einmal das modernste Transportflugzeug der Welt. Allerdings ist das hier extra für solche Jobs wie den unseren eingerichtet worden. Bei den anderen A400 gibt es keine Sitze wie in der Businessclass. Da sitzen Sie brav auf Ihrem eigenen Rucksack statt auf einem bequemen Sessel«, erklärte der Major, der zu angespannt war, um für Witze empfänglich zu sein.

Vor ihnen lag eine Aufgabe, die ihnen alles abverlangen würde. Er musste sich darauf einstellen, dass die Rückgewinnung des Frachters nicht ohne Verluste gelingen würde. Dies war zwar das Risiko jedes Soldaten, doch bei seinen bisherigen Aktionen war es ihm stets gelungen, alle seine Männer wieder heil nach Hause zu bringen.

Es geht mir zu hopplahopp, dachte er besorgt. Dabei wusste er selbst, dass die Zeit bei solchen Befreiungsaktionen eine große Rolle spielte. Doch ohne richtige Vorbereitung war eine Operation wie diese kaum mehr als ein Stochern im Nebel. Bislang wusste er nicht mehr als den Namen des gekaperten Schiffes. Er konnte nur hoffen, dass er in Djibouti mehr Informationen und vor allem genaue Pläne der Caroline erhalten würde. Auch musste ihm genug Zeit bleiben, seine Leute auf den Einsatz vorzubereiten.

Da der Major nicht an einer Unterhaltung interessiert schien, wandte Grapengeter sich leise an seinen anderen Sitznachbarn. »Unser Von macht sich anscheinend Sorgen.«

»Würde ich mir an seiner Stelle auch machen«, antwortete Fahrner. »Ist ein Scheißjob, ein Schiff zu kapern. Wenn die Piraten etwas merken und unsere Schlauchboote zusammenschießen, dürfen wir schwimmen. Und wie wir dabei noch schießen sollen, weiß ich nicht.«

»Dann werden Sie es lernen!«, warf Dietrich von Tarow ein. »Das war anscheinend ein Teil der Ausbildung, den Sie geschwänzt haben, Fahrner!«

Ein paar Soldaten um sie herum begannen zu lachen. »Das kriegen wir schon hin, Herr Major. Wäre doch gelacht, wenn wir die Kerle nicht aufmischen könnten.«

»Genau! Wir holen uns diesen Kasten. Ich weiß auch schon, was ich mir als Belohnung wünsche«, stimmte Grapengeter in den Chor der Optimisten ein.

»Und was, Leutnant?«, fragte Dietrich, der sich nicht länger unguten Gedanken hingeben wollte.

»Eine Rückfahrt auf der Lady of the Sea! Die muss dort in der Gegend sein. Das Schiff ist das Feinste vom Feinen und topmodern. Gerade ist es auf seiner Jungfernfahrt und hat jede Menge Promis an Bord, darunter ein paar heiße Feger!« Grapengeter grinste herausfordernd. Dabei wusste er genauso gut wie die anderen, dass man sich für das Geld, welches eine einzige Fahrt auf diesem Kreuzfahrtkoloss kostete, einen nagelneuen Kleinwagen kaufen konnte.

Dem Leutnant war es gelungen, die Stimmung an Bord des Flugzeugs aufzuheitern. Die Männer dachten nicht mehr an das, was vor ihnen lag, sondern schwelgten in Urlaubserinnerungen, die teilweise nur in ihrer Phantasie existierten, und machten Pläne, was sie nach diesem Einsatz alles unternehmen wollten.

Sogar Dietrich von Tarow ließ sich von dem Übermut seiner Leute anstecken. Dann aber machte einer der Männer eine Bemerkung, die ihn schmerzhaft in die Wirklichkeit zurückholte. »Ich habe gehört, dass uns einer vom MAD von Land aus unterstützen soll. Hoffentlich weiß der Kerl, was er tut, sonst entern wir noch den falschen Kahn. Es liegen ja genug vor der Küste herum.«

»Wozu brauchen wir einen Reiseleiter an Land? Dort wollen wir doch gar nicht hin«, antwortete Grapengeter lachend.

Dietrich von Tarow war jedoch nicht zum Lachen zumute, denn er hatte von Oberst Hilbig erfahren, welcher Agent ihre Aktion unterstützen sollte. Und so war zu der Sorge um seine Männer noch eine sehr viel größere hinzugekommen: Seine Schwester Henriette bildete nämlich mit Torsten Renk ein Team. Wenn sie sich ebenfalls in Somalia befand, war sie in höchster Gefahr. Ich bringe Renk um, wenn ihr etwas zustößt, schoss es ihm durch den Kopf. Dabei wusste er genau, dass der Mann am wenigsten dafür konnte, wenn Henriette in diese Weltgegend abkommandiert worden war.

ACHT

 

Ohne etwas von den Befürchtungen ihres Bruders zu ahnen, half Henriette ihrer Kollegin Petra, die Daten über den Verlust der Caroline auszuwerten. Um zu ermitteln, wie es zu der Kaperung des Frachters hatte kommen können, überprüften sie seine Fahrt vom Antwerpener Hafen bis zu dem Augenblick, an dem sein Kapitän der Sachsen mitgeteilt hatte, dass sie Piraten in die Hände gefallen seien. Petra hackte sich in einige fremde Computersysteme ein und kam schon bald zu überraschenden Erkenntnissen.

»Henriette! Schau dir das an. Die Caroline hat den Hafen von Catania angelaufen, obwohl es offiziell keinen Grund für diesen Umweg gab, und dort über siebzig Container an Bord genommen.«

Henriette sah ihr über die Schulter, las die Daten vom Bildschirm ab und schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie kann das sein? Von der Spedition, die den Transport der Waffenlieferung übernommen hat, ist das Schiff vollständig und ausdrücklich nur für unsere Ladung gemietet worden. Also hätte die Caroline unterwegs keinen Hafen anlaufen dürfen.«

»Hat sie aber«, erklärte Petra mit Nachdruck. »Sie hat Ladung für … einen Moment! Ah! … für Mombasa an Bord genommen. Ich glaube, unsere Leute sollten sich einmal mit der Reederei unterhalten. Was die gemacht hat, ist eine Sauerei.«

»Was ist eine Sauerei?«, fragte Wagner, der eben den Kopf zur Tür hereingestreckt hatte.

»Kommen Sie her und sehen Sie es sich selber an. Die Reederei, die die Waffencontainer nach Somaliland schaffen sollte, hat unterwegs noch ein paar Zusatzgeschäfte abgewickelt.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Wagner und beugte sich ebenfalls über den Bildschirm. Als er die Eintragung las, auf die Petra angespielt hatte, begann er zu fluchen. »Dabei hieß es, diese Reederei sei absolut zuverlässig!«

»Wir sollten den Geheimdienst wechseln, der uns mit Informationen versorgt«, spottete Petra. »Ich habe herausbekommen, dass die Reederei bereits vor drei Monaten zwielichtige Geschäfte gemacht hat. Kurz vorher haben sowohl der Eigner wie auch das Management gewechselt. Der neue Besitzer soll ein Drogenbaron aus Mexiko sein, der sein Geld über diese Reederei waschen will. Außerdem kann er seinen Stoff auf diese Weise in jede Weltgegend schmuggeln. In welchem Hafen wird schon jeder Container durchsucht, vor allem, wenn er sauber verplombt ist?«

Auch wenn die Informationen unangenehm waren, glänzte Petra vor Stolz, weil sie die Fakten herausgefunden hatte.

Doch Wagner war nicht in der Stimmung, zu loben. »Haben Sie auch schon ermittelt, wie die Piraten an Bord gekommen sind?«

»Ich bin eine unterbezahlte Computerspezialistin und nicht Jesus, der alles weiß. Erst muss ich mich durch den gesamten Datenwust wühlen und herausfinden, was für uns wichtig sein könnte und was nicht!«

Wagner sah sie scheinbar überrascht an. »Und ich dachte, Sie seien ein Genie!«

»Wenn, dann eines, das kurz vor dem Verhungern ist. Ich glaube, ich schalte den Kasten ab und gehe erst einmal Mittag essen. Was meinst du, Henriette?«

»Ich bestelle etwas beim Pizzadienst«, rief Wagner, der Angst hatte, Petra könnte tatsächlich Pause machen.

Die beiden Frauen sahen sich kurz an, dann nickte Petra und lächelte. »Tun Sie das, Herr Major. Ich könnte auch ein Pitabrot mit Zaziki als Vorspeise und hinterher ein Tiramisu vertragen.«

»Sie sind ja noch verfressener als früher«, stöhnte Wagner auf.

»Als Hauptgang hätte ich gerne eine Pizza Wurstel con Krauti, und wenn der Typ unterwegs an einem Supermarkt vorbeikommt, könnte er mir von dort eine Packung Pfefferminzdrops mitbringen«, fuhr Petra ungerührt fort.

Wagner schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Ich glaube, ich fahre lieber selbst. Und was wollen Sie, Frau von Tarow?«

»Nur eine Pizza Margherita. Übrigens sollten wir uns langsam selbst einen Vorrat anlegen. Wozu haben wir das schöne Gefrierfach und den Herd?«

»Das muss alles noch offiziell abgenommen werden. Und das dauert«, erklärte Wagner säuerlich.

»Dann sollten wir unsere Küche demnächst illegal in Betrieb nehmen. Sonst verhungert mein Genie noch!«

Wagner lächelte gequält und verschwand.

Bevor Petra sich wieder daranmachte, den Kurs der Caroline nachzuvollziehen, warf sie Henriette einen bewundernden Blick zu. Ihre Kollegin war vielleicht fünf Zentimeter größer als sie, wog aber um einiges weniger. Obwohl sie durchtrainiert war, hatte sie sehr weibliche Formen, und die leicht gebräunte Hautfarbe verlieh ihr in Kombination mit den strahlend blauen Augen und den schwarzen Haaren einen exotischen Touch.

»Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Seit Anfang des Monats habe ich schon wieder zwei Kilo zugenommen. Dabei esse ich kaum etwas«, stöhnte Petra.

Henriette verdrehte die Augen. Ein Pitabrot, eine Riesenpizza und dazu noch Tiramisu zum Nachtisch konnte man beim besten Willen nicht »kaum etwas« nennen. Sie sagte jedoch nichts, um Petra nicht zu stören, die sich schon wieder in den Daten zu verlieren schien.

Gerade vergrößerte sie ein Satellitenbild, das den Hafen von Port Said zeigte. »Schau hier! Das ist die Caroline. Und was erkennst du noch?« Petras rechter Zeigefinger stach auf den Bildschirm zu.

Henriette beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Wird da etwas auf das Schiff geladen?«

»Das kannst du laut sagen! Die Kerle nehmen erneut Container an Bord. Warte, ich durchforste noch einmal die Computer der Reederei.«

Für eine Weile war es bis auf das Klappern der Tastatur still im Raum, dann blickte Petra fassungslos zu Henriette auf. »Von dieser neuen Fracht weiß die Reederei nichts. Aber aus den Hafenunterlagen von Port Said geht hervor, dass es sich um vier Container handeln muss, die einem gewissen Abdullah Abu Na’im aus Saudi-Arabien gehören.«

»Dann sollten wir sehen, ob wir etwas über diesen Abdullah herausfinden«, schlug Henriette vor.

»Bin schon dabei!« Petra deutete auf eine Liste, die immer länger wurde. Schon bald zog sich auch ihr rundliches Gesicht in die Länge. »Es scheint, fast jeder zweite Saudi heißt Abdullah Abu Na’im. Bis ich die alle gefilzt habe, liegt Weihnachten hinter uns.« Ihrer eigenen pessimistischen Prophezeiung zum Trotz arbeitete sie konzentriert weiter und schränkte die Gruppe der Verdächtigen mehr und mehr ein.

»Na also! Es geht doch. Hier haben wir ein Mitglied des saudischen Herrscherhauses, das seine Finger in sehr vielen Geschäften stecken hat. Ich werde mal einen Suchlauf auf den Kerl machen. Dann habe ich noch zwei weitere interessant erscheinende Kandidaten. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht den richtigen Abu herausfinden!«

Sie machte sich ans Werk und bediente sich dank ihres ausgezeichneten Übersetzungsprogramms schamlos der Datenbanken des saudischen Geheimdienstes. Gerade als Wagner mit den bestellten Pizzen zurückkam, drehte sie sich triumphierend zu Henriette um.

»Na, wer sagt’s denn! Dieser Abdullah Abu Na’im hier hat in Port Said vier Container bestellt. Die wurden allerdings nicht in Saudi-Arabien ausgeladen, sondern sollten ebenfalls nach Mombasa gebracht werden. Ich wette eine trockene Semmel gegen eine Pizza Superiore, dass er mit der Sache zu tun hat.«

»Wissen Sie schon, wie die Caroline gekapert worden ist?«, fragte Wagner, während er mehrere Einkaufstüten auf einem Beistelltisch ablegte.

Petra sah Henriette kopfschüttelnd an. »Da quäle ich meine kleinen grauen Zellen, um etwas herauszufinden, und unserem Chef ist das immer noch zu wenig. Ich glaube, ich kündige und suche mir einen Job, bei dem meine Fähigkeiten mehr gewürdigt werden.«

Wagner stellte die größten Schachteln auf Petras Schreibtisch, sodass ihr der Duft in die Nase zog. »Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich, Frau Waitl. Ich weiß, dass es außer Ihnen niemand gibt, der diese Sache aufklären kann. Was haben Sie also herausgefunden?«

Sie seufzte, nahm ein Pitabrot heraus, bestrich es mit Zaziki und begann zu essen. Mit einer Hand tippte sie weiter und zeigte schließlich auf den Bildschirm. »Bei dem Besitzer der Container handelt es sich um diesen Abdullah. Der Mann ist übrigens mit einer Somali verheiratet, besser gesagt, sie ist eine seiner drei Ehefrauen. Deren Schwester wiederum war die Frau des somalischen Warlords Nabil Ruh Atuf, der zu den führenden Kräften des Dulbahante-Stammes gehört hat.«

»Gehört hat? Ist er tot oder vertrieben?«, wollte Wagner wissen.

»Er ist so tot, wie ein Mann nur sein kann, unter dessen Hintern fünfzig Kilo TNT hochgegangen sind. Jetzt führt sein Schwiegervater in seinem Machtbereich das Regiment, bis sein Enkel alt genug ist. Der nennt sich Sayyid Ruh Atuf. Den Vornamen hat er von seiner Mutter. Die heißt Sayyida.«

»Die Frau können wir vergessen. Mich interessiert, was deren Vater mit diesem – wie heißt er gleich wieder? – ach ja, diesem Abdullah zu tun hat!«

Auf Wagners Anweisung hin suchte Petra nun nach Informationen über Abdullah Abu Na’im und seinen somalischen Schwiegervater, während sie mit großem Appetit aß. Viel fand sie nicht heraus. Wafal Saifullah war ein alter Mann, der bereits seit Jahrzehnten zu den höchsten Würdenträgern seines Stammes gehörte, auch wenn er nie eine Miliz angeführt hatte. Auch der Saudi betätigte sich mehr als Geschäftsmann und Waffenhändler denn als Terrorist. Dennoch hätte Petra ein Stück trockenes Brot gegen ein Dutzend Pizzen gewettet, dass die beiden hinter der Entführung der Caroline steckten.

NEUN

 

Hinter einem Busch hockend blickte Jamanah zu den Ruinen ihres Dorfes hinüber. Sie hatte erwartet, dass die Feinde den Brunnen unbrauchbar machen würden, damit die Bewohner nicht mehr zurückkehren konnten. Stattdessen hatten einige Männer dieser Mordbande die Umgebung des Brunnens gesäubert und in der Nähe ein Zelt aufgeschlagen. Nicht weit davon stand ein Pritschenwagen mit einem darauf befestigten Maschinengewehr, dessen Lauf angriffslustig in den Himmel ragte. Zwei Freischärler durchsuchten gerade die Überreste des Dorfes und warfen alles, was aus Metall bestand, in einen Sack. Andere Gegenstände, die vom Feuer und von den Kugeln verschont worden waren, schichteten sie zu mehreren Haufen auf.

Es sah so aus, als wollten sie sich dauerhaft einnisten. Jamanah streichelte mit einer unbewussten Geste den Griff ihrer Kalaschnikow. Anscheinend fühlten die Kerle sich völlig sicher, weil ihre Kumpane die Brigade von General Iqbal geschlagen hatten. Aber sie lebte, und sie würde das Land ihrer Sippe gegen die Eindringlinge verteidigen. Auch wenn sie nur ein Mädchen war, wusste sie mit dem Sturmgewehr umzugehen. Der Vater hatte es ihr beigebracht, damit sie als Älteste ihre jüngeren Geschwister beschützen konnte. Zwar war ihr das bei dem Überfall nicht gelungen, doch nun würde sie Rache für ihre Toten nehmen.

Mit einer entschlossenen Handbewegung legte sie den Sicherungshebel um und schlug die Kalaschnikow an. Doch im nächsten Moment senkte sie die Waffe wieder. Der große Pritschenwagen und das Zelt sprachen dafür, dass noch mehr Männer hier waren. Daher wartete sie im Schatten des Busches ab und wurde nicht enttäuscht. Von der anderen Seite näherten sich zwei Freischärler, die mehrere Schafe vor sich hertrieben. Als die Tiere den Geländewagen erreichten, verließ ein Mann das Zelt. Seiner Uniform und seiner Ausrüstung zufolge handelte es sich um den Anführer.

Fünf Männer stellten einen harten Brocken dar, deswegen zögerte Jamanah und wollte sich schon zurückziehen. Dann aber erkannte sie in einem den Kerl, der ihren kleinen Bruder in die brennende Hütte geworfen und sie als Erster vergewaltigt hatte. Hass und Wut loderten wie ein versengendes Feuer in ihr auf.

Dennoch wartete sie geduldig, bis die Sonne gesunken war, und schlich dann langsam näher. Vor dem Zelt hatten die Freischärler ein Lagerfeuer entzündet. Vier saßen dort und unterhielten sich, während der fünfte wie ein wachsamer Hund um das Dorf kreiste und nach Feinden Ausschau hielt. Den Kerl, das war Jamanah klar, musste sie als Ersten erwischen, und das möglichst lautlos. Sie beobachtete ihn während einiger Runden und huschte, als er auf der anderen Seite des Dorfes war, zu einer Stelle, an der er vorbeikommen musste. Ihre Kleidung war so dunkel, dass sie mit dem Boden verschmolz, und sie drehte den Kopf weg, damit er ihre Augen nicht im Feuerschein glänzen sah. Dann tastete sie nach ihrem Dolch.

Als der Freischärler näher kam, pochte ihr das Herz so laut, dass sie glaubte, er müsse es hören. Kurz bevor er die Stelle erreichte, an der sie lauerte, drehte er sich zum Lagerfeuer um und rief etwas hinüber. Er erhielt eine Antwort, lachte und ging weiter. Da seine Kumpane zu ihm herüberblickten, blieb Jamanah liegen und wartete auf die nächste Runde des Wächters.

Als er erneut auf sie zukam, waren die Männer am Lagerfeuer wieder mit sich selbst beschäftigt, und er lauschte dem Kläffen eines Schakals, das aus der Ferne zu ihnen drang. Daher bemerkte er den dunklen Umriss am Boden nicht, der plötzlich lebendig wurde.

Ehe der Freischärler begriff, was geschah, hatte Jamanah ihn von hinten gepackt und zog ihm den Dolch durch die Kehle. Er starb lautlos, und ebenso leise ließ sie den Körper zu Boden sinken und schritt an seiner Stelle die Runde ab. Da sie eine Uniformjacke und eine Waffe trug, hoffte sie, dass seine Kumpane sie im diffusen Licht des Mondes für den Wächter hielten. Der Plan schien aufzugehen, niemand kümmerte sich um sie.

Allmählich zog sie ihre Runden enger, bis sie keine dreißig Schritt mehr vom Lagerfeuer entfernt war. Einer der Männer schien anzunehmen, sein Kamerad wolle abgelöst werden, und stand auf. Noch während er sich nach seiner Waffe bückte, begann Jamanah zu feuern. Sie sah die vier Leiber am Feuer zucken und zusammenbrechen. Einem Einzigen gelang es noch, seine Waffe anzuschlagen, doch der Feuerstoß aus seiner Cobray M-11 ratterte hoch über Jamanah hinweg. Dann schlug auch er zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Jamanah wollte ans Feuer treten, blieb aber stehen, bevor sie in den Kreis geriet, den die Flammen ausleuchteten. Hatte sich da einer der Männer leicht bewegt? Sie musterte ihn genauer und glaubte zu sehen, wie sich seine Finger um den Griff einer Maschinenpistole schlossen. Jamanah feuerte drei Schuss auf ihn ab, lud ihr Magazin neu und umschlich das Feuer wie ein misstrauischer Schakal.

Obwohl sich niemand mehr regte, schoss sie noch einmal auf jeden, wartete erneut und wagte sich erst an das Feuer heran, als es fast niedergebrannt war. Rasch nahm sie die vier MPs an sich und zog den Männern die Kampfmesser aus den Gürteln. Danach legte sie ein paar Holzstücke nach. Als das Feuer wieder heller brannte, war sie sicher, dass alle Freischärler tot waren. Zuerst erfüllte sie diese Tatsache mit Befriedigung und Stolz, dann brach sich die Erkenntnis Bahn, dass sie Menschen getötet hatte. Ihr wurde so übel, dass sie sich mehrmals übergab.

»Dummes Stück!«, beschimpfte sie sich selbst. »Diese Mordbrenner haben deine Familie und all deine Freunde umgebracht und dich geschändet. Es war deine Pflicht, Rache zu üben!«

Doch es dauerte lange, bis Jamanah sich beruhigt hatte. Erst dann durchsuchte sie mit zusammengebissenen Zähnen die vier Toten am Lagerfeuer und nahm deren Geld und persönliche Gegenstände an sich. Schließlich zog sie dem Größten die Hose aus, an der zum Glück kein Blut klebte, und legte sie anstelle des Wickelrocks an. Nun würde sie sich die Waden nicht mehr an dornigem Gestrüpp aufreißen. Da sie nachts in ihrer Jacke fror, nahm sie ein frisches Hemd und eine dickere Uniformjacke an sich, die ihr toter Besitzer über einen Stein gelegt hatte, und streifte sich beides über. Die Kleidung passte halbwegs und verfügte über so viele Taschen, dass sie ihre Beute darin verstauen konnte.

Zuletzt nahm sie sich ein passendes Paar Schuhe und vervollständigte ihren Aufzug mit einem Barett. Nun sah sie aus wie ein richtiger Soldat. Ihr Busen war noch recht klein und ihr Gesäß wenig ausladend. Da sie zudem einen Großteil der Männer überragte, würde niemand erkennen, dass sie eine Frau war. Endlich fühlte sie sich nicht mehr der Willkür anderer ausgeliefert.

Erst nachdem Jamanah den fünften Toten zum Feuer geschleift und auch seine Besitztümer an sich genommen hatte, ging sie zum Brunnen, holte Wasser herauf und trank, um den galligen Geschmack im Mund zu vertreiben. Noch immer schwankte sie zwischen Stolz und Ekel. Fünf Männer hatte sie getötet, ohne dass es einem von ihnen gelungen war, ihr einen Kratzer beizubringen. Aber es waren keine Menschen gewesen, sondern Mörder, Teufel ohne Herz. Außerdem hatte sie sich an einem der Kerle gerächt, die sie vergewaltigt hatten. Nun musste sie den anderen und dessen Anführerin finden und beide bestrafen.

ZEHN

 

Stefan Magnus’ Gedanken beschäftigten sich mehr mit der aufregenden Stunde, die er mit Evelyne Wide verbracht hatte, als mit den Bildschirmen und Anzeigen der Lady of the Sea. Da riss ihn ein schabendes Geräusch aus seinen angenehmen Erinnerungen. Gleichzeitig klangen draußen erschreckte Rufe auf.

»Was ist da los?«, fragte er den Mann an der Steuerkonsole.

»Weiß ich nicht! Es klang so, als hätten wir ein großes Stück Treibgut gerammt, vielleicht einen Container, den ein Frachter bei einem Sturm verloren hat.«

Im nächsten Moment pochte jemand an die Tür der Kommandobrücke. »He, ihr da! Anhalten! Ihr habt eben ein Segelboot über den Haufen gefahren.«

»Geschwindigkeit verringern und Scheinwerfer an! Verdammt, warum hat das verdammte Radar nichts gemeldet?« Der Erste Offizier sprang auf und eilte nach draußen. Dort begannen sogleich etliche Passagiere auf ihn einzureden.

»Jetzt lasst mich doch erst einmal nachsehen, was überhaupt passiert ist! Auf alle Fälle besteht keine Gefahr für das Schiff.« Mit diesen Worten schob er sich durch die Menge und trat an die Reling. In dem Licht der Außenscheinwerfer der Lady konnte er ein kieloben treibendes Boot erkennen, das achteraus zurückblieb. Ein Stück davon entfernt schienen Menschen im nachtschwarzen Wasser zu schwimmen.

Verdammt!, dachte Magnus. Das gibt eine saumäßige Presse. Verärgert griff er zu seinem Funkhandy und rief die Brücke an. »Ist der Kapitän da?«

»Nein, der ist vorhin schlafen gegangen«, erhielt er zur Antwort.

Damit lag die ganze Verantwortung bei ihm. Magnus fluchte insgeheim. Am liebsten hätte er befohlen, die Fahrt mit voller Geschwindigkeit fortzusetzen und das Segelboot zu vergessen. Doch das war natürlich unmöglich. Daher gab er den entsprechenden Befehl. »Maschinen stopp und dann langsame Fahrt zurück. Wenn wir nach Hause kommen, gibt es ein Donnerwetter, weil die Radaranlage das Boot nicht erfasst hat.«

»Wie es aussieht, ist es doch nicht so gut, sich bei der Steuerung eines so großen Schiffes nur auf den Computer zu verlassen.« Evelyne Wide war durch den Lärm wach geworden und nur mit einem Morgenmantel bekleidet an Deck geeilt, um keine Story zu verpassen.

»Wahrscheinlich ist das Ding zu klein, um vom Radar erfasst zu werden.« Magnus lotste die Lady rückwärts in die Nähe der Stelle, an der er das gekenterte Boot gesehen hatte. Als die Scheinwerfer einen Schwenk machten, entdeckte er es wieder. Es war nicht groß, doch es schwammen mindestens acht Leute in seiner Nähe.

»Diese Idioten haben den Kahn wahrscheinlich auf den Malediven gechartert und wollten eine Mondscheinfahrt machen. Warum mussten sie ausgerechnet uns vor den Bug schippern? Das Meer ist doch groß genug!« Und warum musste das ausgerechnet während meiner Wache geschehen, fügte er im Stillen hinzu. Damit war ihm die ganze Jungfernfahrt versaut worden.

»Lasst ein Boot zu Wasser und holt die Leute raus!«, rief er einigen Matrosen zu.

Danach rief er die bordeigenen Sicherheitsleute zu sich. »Wahrscheinlich handelt es sich um harmlose Touristen, aber ich will auf Nummer sicher gehen.«

»Glaubst du, es könnte sich um Piraten handeln?«, fragte Evelyne Wide sensationslüstern.

»Wenn es welche sind, lassen wir ihnen keine Chance. Meine Damen und Herren, treten Sie zurück, damit wir die Verunglückten an Bord nehmen können.« Der Erste Offizier hätte die Passagiere am liebsten in ihre Kabinen oder in die Salons der Lady zurückgeschickt, doch er wusste, sie würden es sich nicht verbieten lassen, in dieser sternenklaren Nacht Fremde an Bord kommen zu sehen. Selbst die Möglichkeit, es könne sich um Piraten handeln, brachte niemanden dazu, seinen Platz zu räumen. Sie vertrauten dem jungen Offizier und den sechs groß gewachsenen, muskelbepackten Männern, die alle die rechte Hand unter ihre Jacken steckten, um sofort die Pistolen aus den Schulterhalftern ziehen zu können.

Magnus blickte nach unten und sah die Schiffbrüchigen auf die Lady zuschwimmen. Zwar trugen sie moderne Kleidung, aber es schien sich nicht um Europäer oder weiße Nordamerikaner zu handeln, denn der Vorderste hatte eine ziemlich dunkle Haut. Noch vor ihm fasste eine junge Frau nach der Jakobsleiter, die zwei Matrosen herabgelassen hatten, und kletterte mit Mühe hoch. Eine weitere Frau folgte ihr.

Magnus atmete auf. Unter den somalischen Piraten gab es keine Frauen. Außerdem hatte die indische Marine die Banditen aus diesem Teil des Ozeans verscheucht.

»Sieht so aus, als wären es bloß harmlose Ausflügler«, sagte er zu seinen Sicherheitsleuten. Diese entspannten sich sichtbar, und zwei von ihnen halfen der jungen Frau an Bord. Es handelte sich um eine relativ hellhäutige Afrikanerin, die sofort Magnus’ Hand schüttelte und ihm wortreich für ihre Rettung dankte.

Noch während der Erste Offizier sich fragte, weshalb es keine Vorwürfe wegen des Zusammenstoßes gab, griff sie in ihre Handtasche, die sie erstaunlicherweise noch bei sich trug, und richtete eine Pistole auf Magnus. Das ging so schnell, dass der Sicherheitsdienst völlig überrascht wurde.

Die Frau lächelte freundlich, doch der Lauf, der auf Magnus’ Bauchnabel zielte, sprach eine andere Sprache.

»Sind Sie der Kapitän?«, fragte die Frau ihn auf Englisch.

Stefan Magnus schüttelte vorsichtig den Kopf. »Nein, ich bin der Erste Offizier.«

»Auf jeden Fall sind Sie mein Gefangener! Sorgen Sie dafür, dass die Passagiere in ihre Kabinen gehen und die Besatzung ihre Arbeit macht. Dann passiert Ihnen nichts. Ach ja, in der Beschreibung Ihres Schiffes im Internet war zu lesen, dass Sie Sicherheitsleute an Bord hätten. Diese Männer sollen hierherkommen und ihre Waffen abgeben. Tun sie es nicht, wird jede Viertelstunde ein Passagier erschossen.«

Die Stimme der Piratin klang bestimmt, und Magnus zweifelte nicht daran, dass sie ihre Drohung ernst meinte. Dies war auch den Sicherheitsleuten klar, die fieberhaft überlegten, wie sie die Piraten ausschalten konnten. Doch als zwei vortraten und ihre Pistolen auf den Boden legten, um die Frau abzulenken, sodass ihre Kollegen unauffällig in Schussposition kamen, wurden diese von den erschreckten Passagieren eingekeilt und beiseitegedrängt.

Unterdessen war auch die zweite Frau an Bord gestiegen. Sie trug ebenfalls eine Tasche bei sich und entnahm ihr eine handliche Maschinenpistole, mit der sie auf die Passagiere und die unter ihnen versteckten Sicherheitsleute zielte. Diesen wurden nun ihre Größe und ihre einheitlichen beigen Sakkos zum Verhängnis. Im normalen Bordbetrieb war es sinnvoll, dass die Passagiere sie gleich erkennen konnten. Nun aber machte ihr Erscheinungsbild es den Piraten leicht, sie aus der Menge herauszuholen und zu entwaffnen.

Zwei von ihnen hatten sich noch in das Innere des Schiffes zurückziehen wollen, um Handlungsfreiheit zu gewinnen. Doch die Passagiere standen dicht an dicht und waren vor Angst wie erstarrt, sodass kein rasches Durchkommen möglich war. Damit war die letzte Chance vertan, die Kaperung des Schiffes zu verhindern.

Sayyida war zufrieden. Auch dieses Schiff hatte sie mühelos entern können, und das würde diesen aufgeblasenen Europäern wehtun. Nun hatte es sich für sie ausgezahlt, dass sie die Caroline noch während der Fahrt nach Laasqoray verlassen hatte und mit dem Flugzeug nach Male geflogen war. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Sie hatten mehrere Boote gechartert, mit denen sie der Lady of the Sea entgegengefahren waren, und eines vor den Bug des Kreuzfahrtschiffes gelenkt. Wie erwartet, hatten die Europäer ihr Schiff angehalten und die vermeintlichen Schiffbrüchigen an Bord geholt.

Mit einem triumphierenden Blick musterte sie den Ersten Offizier. »Ich habe verlangt, dass die Passagiere in ihre Kabinen gehen! Weshalb sind sie noch da?«

»Ich muss es ausrufen lassen«, antwortete Magnus mit einer wachsenden Wut im Bauch, die niemand anderem galt als ihm selbst. Ich hätte weiterfahren und diese verdammten Piraten ersaufen lassen sollen, gleichgültig, was die Presse darüber geschrieben hätte, sagte er sich. Dafür aber war es nun zu spät. Von der Pistole in der Hand der Frau, die sich Sultana Sayyida nannte, und den Maschinenpistolen zweier ihrer Männer bedroht, bat er die Passagiere, Ruhe zu bewahren und ihre Kabinen aufzusuchen.

Evelyne Wide zögerte, da sie mehr über die Piraten erfahren wollte. Auch der Passagier Erlmann, ein pensionierter Major der NVA, und das Ehepaar Weigelt aus Staufen blieben noch an Deck, während der Bundestagsabgeordnete Dunkhase und die anderen sich durch die Eingänge quetschten, um in ihre Kabinen zu flüchten.

»Magnus hätte besser aufpassen müssen«, sagte Jürgen Weigelt leise zu Erlmann. »So hat er die Piraten ja regelrecht eingeladen, uns zu entern.«

»Sie sind nur zu acht! Die können wir überwältigen, wenn wir genug Männer von der Besatzung und den Passagieren zusammentrommeln können«, antwortete Erlmann flüsternd.

Motorengeräusche und weitere Boote, die jetzt auf die Lady of the Sea zukamen, ließen ihn den Gedanken an Widerstand jedoch rasch aufgeben. Gemeinsam mit dem Staufener Ehepaar stieg auch er die Treppe hinab und fragte sich auf dem Weg zu seiner Kabine, welche Szenen sich hier abspielen würden, wenn die Kriegsschiffe der multinationalen Schutzflotte den Versuch unternahmen, das Schiff zu befreien.

Unterdessen zwang die Anführerin der Piraten den Ersten Offizier, sie auf die Kommandobrücke zu bringen. Dort stand Kapitän Ganswig mit hochrotem Kopf. »Sie gottverdammter Idiot!«, schrie er Magnus sogleich an. »Ein kleines Kind hätte merken müssen, dass hier etwas faul ist. Aber Sie Schwachkopf mussten unbedingt den barmherzigen Samariter spielen!«

»Es … es tut mir leid«, stotterte Magnus.

Die Anführerin der Piraten stieß Kapitän Ganswig den Lauf ihrer Pistole so hart in den Leib, dass dieser aufstöhnte. »Ihr Schiff ist jetzt mein Schiff! Sie werden sofort Kurs auf den Golf von Aden nehmen. Jeder Kontakt zu einem anderen Schiff, mit Ihrer Reederei oder zu irgendjemand anderem ist strengstens verboten. Und damit Sie begreifen, dass ich es ernst meine …«

Sayyida beendete den Satz nicht, sondern gab einem ihrer Begleiter einen Wink. Der Mann richtete seine Waffe auf einen der Sicherheitsleute und schoss diesem eine Kugel in den Kopf.

»Nun wissen Sie, woran Sie sind«, erklärte Sayyida ungerührt und setzte sich auf den Sessel, der für den Kapitän reserviert war. Sie war euphorisch, weil es ihr gelungen war, auch dieses Schiff ohne Probleme in ihre Gewalt zu bekommen. Während die anderen Boote anlegten und weitere Piraten an Bord stiegen, formulierte sie im Kopf bereits das Ultimatum, welches sie der deutschen Regierung stellen würde.

ELF

 

Torsten Renk spähte mit Omars Fernglas von einem Hügel aus zu der etwa einen halben Kilometer vor der Küste liegenden Caroline hinüber. Dutzende kleinerer Boote umschwirrten den Containerfrachter, und es gingen immer mehr Leute an Bord. Dabei handelte es sich offenkundig nicht nur um Kämpfer der Piratenmilizen, sondern auch um Frauen und Kinder, die die Jakobsleitern hochstiegen und sich oben auf den Containern verteilten. Die Frauen stießen schrille Schreie aus und tanzten, während die Freischärler mit den Kolben ihrer Gewehre gegen die Container klopften und einen Höllenlärm verursachten.

»Wie es aussieht, feiern die Kerle ihren Erfolg«, sagte Torsten zu Omar Schmitt, der neben ihm lag und die Stadt im Auge behielt.

»Lange werden sie nicht feiern. Wann soll die Eliteeinheit eintreffen?«, fragte Schmitt.

»Laut meiner letzten Information morgen Nacht. Zwischen ein und drei Uhr soll die Sache laufen. Allerdings gefällt mir nicht, dass ich vorher keinen Kontakt mit dem Trupp aufnehmen kann. Doch unser Oberkommando ist der Ansicht, Funksprüche könnten die Piraten warnen. Daher muss ich mit meiner Kollegin Petra über die Satellitenleitung Verbindung halten. Sie gibt meine Informationen an den MAD weiter, dieser an das Hauptquartier der KSK, und von denen geht es über Djibouti zu den Männern, die den Angriff durchführen sollen. Ehrlich gesagt sind mir das ein paar Ecken zu viel.«

»Ich denke, diese Vorsicht tut not! Wenn unsere speziellen Freunde in Laasqoray herausbekommen, dass ein deutscher Agent vor Ort ist, werden Sie kaum schnell genug laufen können.« Omar Schmitt war mit der Anweisung der deutschen Militärführung zufrieden, versprach sie doch auch Sicherheit für Renk und ihn. »Es wird bald Nacht«, fügte er hinzu. »Wir sollten uns ein verstecktes Plätzchen suchen, an dem wir schlafen können. Allerdings müssen wir abwechselnd Wache halten. Diese Banditen schicken immer wieder Patrouillen aus, und die sollten uns besser nicht entdecken.«

Nach einem letzten Blick auf die Caroline zog Torsten sich kriechend zurück. Omar Schmitt folgte ihm nicht weniger vorsichtig. »Das ist ein Abenteuer wie von Winnetou und Old Shatterhand.«

»Ich würde eher sagen, wie von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar!« Trotz seiner Anspannung musste Torsten lachen. Allerdings war das hier kein Abenteuer, das sich Karl May in einem beschaulichen Winkel Sachsens ausgedacht hatte, sondern blutige Wirklichkeit.

Nach einem Fußmarsch von etwa einem Kilometer gelangten sie im letzten Licht des sinkenden Tages an eine Mulde, die gegen die Stadt durch einige stachlige Büsche abgeschirmt wurde. Dort machten sie es sich so bequem, wie es in dem steinigen Sand möglich war, und teilten ihre Vorräte miteinander.

Während sie aßen, blickte Torsten zu den Sternen auf. »Es ist eine so wunderschöne Nacht! Warum müssen Menschen sie ausnützen, um zu töten und anderen Schmerzen zuzufügen?«

Omar Schmitt lachte kurz auf. »Sie sind ein Idealist, Renk! Ich glaube ja nicht, dass sich das lohnt. Man muss die Menschen nun einmal so nehmen, wie sie sind. Die meisten sind borniert und nur auf ihren Vorteil bedacht. So ist es in Deutschland und leider auch hier.«

Diesen bitteren Worten entnahm Torsten, dass Schmitt in Deutschland nicht nur Angenehmes erlebt hatte, aber er wollte nicht daran rühren. Er zog einen weiteren Riegel aus der Tasche, riss die Hülle auf und begann langsam zu kauen. Das Zeug schmeckte nach nichts und war zudem so trocken, dass er es kräftig einspeicheln musste, um es überhaupt schlucken zu können.

»Jetzt käme mir ein Bier gerade recht«, stöhnte er.

»Ich hätte auch nichts dagegen«, erklärte Schmitt.

»Obwohl Sie Moslem sind?«

»Ich bin kein Fanatiker. Außerdem verbietet der Prophet nur das, was betrunken macht, und das tut ein einziges Bier nicht. Hier ist Wasser. Denken Sie sich den Biergeschmack dazu. Allerdings müssen wir sparsam damit umgehen. Ich möchte morgen nicht noch einmal zum Brunnen gehen. Irgendjemandem könnte ich doch auffallen.« Bei den letzten Worten reichte Omar Schmitt Torsten die noch halbvolle Plastikflasche.

Obwohl dieser durstig war, musste er sich zwingen, die von der Hitze des Tages warme Brühe hinunterzuwürgen. Immer noch durstig, gab er die Flasche zurück. »Ich hoffe, mein nächster Einsatzort ist in Grönland. Dort ist es wenigstens nicht so heiß!«

»Wenn Sie es kalt haben wollen, müssen Sie nur noch ein wenig Geduld haben. Spätestens um Mitternacht werden Ihnen die Zähne klappern«, spottete Omar, obwohl er und Torsten bereits eine Nacht in der Steppe verbracht hatten und er selbst stärker gefroren hatte als sein Begleiter.

Torsten erhob sich, um die Umgebung ihres Lagerplatzes noch einmal mit dem Fernglas nach potenziellen Gefährdungen abzusuchen. Doch um sie herum regte sich nichts.

Da Schmitt die erste Wache halten sollte, setzte er sich auf und nickte seinem Begleiter zu. Torsten wickelte sich in seine Decke und legte sich hin. Doch er war noch zu angespannt, um schlafen zu können, daher gesellte er sich nach einer Weile zu dem Halbsomali.

Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann zeigte Omar zu den Sternen empor. »Sie haben recht, Renk. Es ist eine wunderschöne Nacht. Wenn ich mir das da oben ansehe, kann ich auch nicht begreifen, dass es so viel Neid und Missgunst auf der Welt gibt.«

Er holte tief Luft. »Ich bin vor drei Jahren von Deutschland weggegangen, weil ich das Gefühl hatte, nicht dorthin zu gehören. Doch in diesem Land, in dem ich wegen meiner Hautfarbe wirklich nicht auffalle, geht es mir nicht anders. Mein Vater hat sich zeit seines Lebens als Somali gefühlt, und auch ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, hierherzugehören. Aber als ich hier ankam, machte man mir schnell klar, dass ich vor allem der Sohn eines Mannes vom Stamm der Isaaq bin. Für Sie dürfte es schwer verständlich sein, wie es in Somalia aussieht.«

»Ich weiß es zumindest ungefähr.«

»Wirklich? Es ist, als würde Deutschland zunächst in seine sämtlichen Bundesländer zerbrechen und diese gegeneinander Krieg führen. Dann würden sich in Nordrhein-Westfalen die Westfalen vom Rheinland trennen. Im Süden des Rheinlands würden die Kölner ihre eigene Republik ausrufen, um von Düsseldorf unabhängig zu werden. Das wiederum würde die Aachener dazu bringen, sich von Köln loszusagen, und weil dies den Bewohnern des Kreises Heinsberg nicht passt, würden diese ihre eigene Selfkant-Republik gründen. Können Sie sich das vorstellen, Renk?«

»Ehrlich gesagt: nein!«

»Ich habe es mir auch nicht vorstellen können. Aber es ist so. Somalia zerfällt an seinen Stammesgrenzen, und einige der Stämme teilen sich in Unterstämme auf, die einander ebenfalls bekriegen. Auch in Somaliland haben wir etliche Probleme dieser Art. Im Osten des von uns beanspruchten Gebiets leben Teile der Warsangeli- und Dulbahante-Daroud, die wiederum mit den Majerten-Daroud von Puntland verwandt sind. Puntland will daher deren Gebiete für sich gewinnen. Doch die beiden Teilstämme haben in den Grenzgebieten ihre eigenen Republiken ausgerufen und kämpfen sowohl gegen die Majerten wie auch gegen uns Isaaq. Gerade das macht es uns so schwer, zu erkennen, wer derzeit unser Grenzland verheert.

Dazu leben in unserer westlichsten Provinz Leute vom Stamm der Dir-Somalis. Von diesen fordern viele ihre Unabhängigkeit und wiederum andere den Anschluss ihres Gebiets an Djibouti, das von den dort lebenden Dir-Somalis beherrscht wird. Ich frage mich wirklich, weshalb die Welt so verrückt ist.«

»Das glaube ich Ihnen. Ich hoffe sehr, dass die Menschen hier irgendwann zur Vernunft kommen und begreifen, dass Krieg und Feindschaft nichts bringen.«

»Sie sind wirklich ein Idealist, Renk.« Omar Schmitt lachte freudlos auf und winkte dann ab. »Wahrscheinlich müssen Sie das sein, um Ihren Job machen zu können. Auch ich habe die Hoffnung noch nicht verloren, in meinem etwas bewegen zu können. Aber jetzt sollten Sie sich hinlegen. Immerhin bekommen wir beide heute Nacht ohnehin nur den halben Schlaf!«

ZWÖLF

 

Dietrich von Tarow hatte gehofft, in Djibouti mehr über ihren Einsatz zu erfahren. Doch kaum war die A400 gelandet, wurde er mitsamt seinen Männern und der Ausrüstung zum Hafen gefahren, in dem die Fregatte Sachsen bereits auf sie wartete. An Bord des Schiffes wurde es eng, als neben den zweihundertfünfundfünfzig Frauen und Männern der Besatzung auch noch die vierundsechzig Mann von Tarows Trupp und weitere sechs Marineangehörige untergebracht werden mussten.

Leutnant Grapengeter brachte es auf den Punkt. »Entweder wir schlafen in Schichten oder in Schichten!«

»Hä?«, stieß Fahrner hervor.

»Ich meine, entweder schlafen wir abwechselnd oder in mehreren Schichten übereinander. Ich wusste schon, warum ich nicht zur Marine wollte. Ich brauche Ellbogenfreiheit!« Grapengeter zwinkerte Dietrich von Tarow zu, der sich mit seinen zwei Metern wie ein Taschenmesser würde zusammenklappen müssen, um Platz zu finden.

Doch der Major winkte ab. »Wir werden nicht viel zum Schlafen kommen, Leutnant. Wie Sie an den Maschinengeräuschen hören können, legen wir bereits ab. Es wird nicht lange dauern, bis wir in Aktion treten.«

»Zuerst muss der Kahn hier uns ans Ziel bringen. In der Zeit können wir schlafen. Ich bin nur ausgeruht gut.« Grapengeter stellte seinen Seesack und sein Sturmgepäck gegen die Wand, rollte seine Isomatte aus und legte sich hin. Doch da warf Fahrner ihm den Rucksack samt der MP5 und dem G22-Scharfschützengewehr auf den Bauch.

»He, Grapi, wir anderen brauchen auch noch Platz!«

»Leg dich doch auf ihn drauf. Er mag es, in Schichten zu schlafen«, rief ein anderer lachend.

Mit der Moral seiner Männer konnte Dietrich von Tarow zufrieden sein. Dennoch verspürte er eine innere Unruhe, die stärker war als bei jedem anderen Einsatz. Dabei hatte er in Afghanistan gegen Freischärler gekämpft und war mit seinen Leuten dort mehrfach in bedrohliche Situationen geraten. Wahrscheinlich lag es daran, dass er in einen Kasten aus Stahl gesperrt worden war und sich auf andere verlassen musste.

»Ich hätte mir was zum Lesen mitnehmen sollen«, murmelte er.

»Auf diesem Pott muss es doch so etwas wie eine Bordleihbücherei geben. Ob Ihnen die Bibliothekarin allerdings eine Verlängerung einräumt, bezweifle ich.« Grapengeter grinste, und einige seiner Kameraden lachten sogar.

Auch Dietrich von Tarow rang sich ein Lächeln ab. »Ich kann es ja versuchen. Auf alle Fälle gehe ich jetzt erst einmal an Deck, um frische Luft zu schnappen. Ihr lasst brav die Türen auf, damit es durchzieht. Nicht jeder von euch hat vor dem Abflug das richtige Deo erwischt!«

Nun hatte er die Lacher auf seiner Seite. Mit einer lässigen Handbewegung tippte er an den Schirm seiner Feldmütze und verließ den Raum.

»Das heißt nicht Tür, sondern Schott! Schließlich sind wir hier bei den Blaujacken«, rief Fahrner ihm nach.

Dietrich von Tarow achtete nicht mehr auf ihn, sondern stieg den nächsten Aufgang hoch und trat an die Reling des Kriegsschiffes. Djibouti lag bereits ein ganzes Stück hinter ihnen. Mehrere Kriegsschiffe schienen auf gleichem Kurs zu laufen. Leider waren sie zu weit entfernt, als dass er ihre Hoheitsabzeichen hätte erkennen können. Er fragte sich, ob sie an dieser Aktion beteiligt waren oder den Hafen von Djibouti nur zufällig zur gleichen Zeit verlassen hatten wie die Sachsen.

Da es viele Fragen gab, aber keine einzige Antwort, betrat er die Brücke des Schiffes und wandte sich an den Kapitän. »Gibt es schon neue Befehle oder Informationen?«

Diezmann schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht. Aber wir werden alles früh genug erfahren.«

»Das will ich hoffen. Bis jetzt haben wir noch nicht einmal einen Plan der Caroline. Wie sollen wir sie angreifen und die Piraten niederkämpfen, wenn wir das Schiff nicht kennen? Jetzt hätten wir noch Zeit, uns die Pläne anzusehen.«

Dietrich von Tarow klang so drängend, dass Kapitän Diezmann sich an den Funker wandte. »Fragen Sie mal in Djibouti an, ob sie Lesestoff für unsere Passagiere haben. Aber codieren Sie den Spruch. Es darf nichts nach außen dringen.«

»Wird gemacht, Kapitän!« Jensens Finger flitzten über die Konsole, dann setzte er mit ruhiger Stimme den Funkspruch ab. Es dauerte nicht lange, bis die Antwort eintraf.

»Buchausgabe erscheint später. Jetzt sollen die Kindchen sich schlafen legen.«

»Kindchen! Wenn ich den Kerl erwische, poliere ich ihm die Fresse.« Dietrich von Tarow war sauer. In unzähligen Übungsstunden hatte er seinen Männern gepredigt, wie wichtig eine sorgfältige Vorbereitung für den Erfolg einer Aktion war. Einfach so ins Blaue geschickt zu werden war ihm zuwider.

»Wissen die Leute eigentlich, weshalb wir hier sind?«, fragte er Diezmann in ätzendem Tonfall.

»Ich glaube schon. Aber das Ganze ist eine verdammt heiße Angelegenheit. Selbst in Djibouti erfährt man nicht mehr, als dass ein Frachter gekapert worden ist«, antwortete der Kapitän.

»Die Caroline ist nicht der erste Frachter, der diesen Banditen zum Opfer gefallen ist. Ausgerechnet bei dieser Entführung sollen wir eingreifen und ihn zurückholen. Daher wüsste ich gerne etwas mehr über das Schiff.«

»Ich werde zusehen, was ich tun kann. Jensen, versuchen Sie über das Internet etwas über die Caroline herauszufinden.« Der Kapitän trat neben den Funker, doch der gab nach wenigen Versuchen auf.

»Tut mir leid, Kapitän. Aber wir sind gesperrt.«

»Was soll das heißen?« Auch Diezmann wurde langsam ärgerlich.

»Wir können von unserem Computer aus einige Stichworte nicht mehr aufrufen. Eines davon ist die Caroline. Sieht so aus, als wäre alles so geheim, dass nicht einmal wir etwas darüber erfahren dürfen. Vielleicht haben die maßgeblichen Personen Angst, die Piraten könnten die Server überwachen, auf denen die Informationen über das Schiff gespeichert sind.«

»Dann sehen Sie zu, dass Sie die Pläne eines möglichst baugleichen Schiffes finden. Drucken Sie die ein paarmal aus und übergeben Sie sie Major von Tarow. Er wird sich wohler fühlen, wenn er seine Leute beschäftigen kann.«

Dietrich lachte hart auf. »Das können Sie mir glauben, Kapitän! Danke für Ihre Mühe. Wann kommen wir an?«

»Morgen gegen Einbruch der Nacht. Wir müssen allerdings Abstand zur Küste halten, um die Kerle nicht zu alarmieren. Deshalb werden Sie gut fünfzig Kilometer mit Ihren Schlauchbooten zurücklegen müssen.«

»Hoffentlich müssen wir nicht die ganze Strecke paddeln«, gab Dietrich von Tarow missgelaunt zurück und verabschiedete sich, um zu seinen Leuten zurückzukehren.

DREIZEHN

 

Petra Waitl und Henriette von Tarow war es gelungen, Abdullah Abu Na’ims Wege in den letzten Wochen minutiös nachzuvollziehen. Obwohl dieser in der Zeit Saudi-Arabien nicht verlassen hatte, waren beide sich sicher, dass er mit dem Piratenüberfall auf die Caroline zu tun haben musste.

»Schau her«, sagte Petra und zeigte auf eine Bildschirmzeile. »Dieser Abdullah war an der Küste, als die Caroline diese passiert hat. Hier steht außerdem, dass der Frachter wegen eines Sandsturms Schutz im Hafen von Mastâbah gesucht habe. Dabei gibt es in Mastâbah keinen Hafen, sondern nur eine Reede. Die Caroline ist auch nicht lange dort gewesen, sondern hat nach weniger als einer Stunde ihre Fahrt fortgesetzt. Da war keine Rede mehr von einem Sandsturm.«

Henriette sah von ihrem eigenen Laptop auf. »Ich habe mir die Wettermeldungen aus dieser Region angesehen. Als die Caroline in Mastâbah angelegt hat, gab es einen ganz leichten Sandsturm. Der hatte jedoch keine Auswirkungen auf die saudische Küste.«

»Also war das nur eine Ausrede gegenüber der Reederei, um in Mastâbah ankern zu dürfen«, schloss Petra.

»Glaubst du, dass Kapitän und Besatzung der Caroline mit diesen Schurken unter einer Decke stecken?«

»Wenn das der Fall wäre, hätten unsere Geheimdienste gründlich versagt. Nun ja, die haben auch schon die Reederei der Caroline für koscher gehalten.«

Petra hackte sich erneut in die Computer der Reederei ein, fand aber keinerlei Hinweise auf eine Verbindung mit den somalischen Piraten. Kapitän Wang wurde als fähig, aber auch schwierig beschrieben, und über seinen Stellvertreter Arroso stand zu lesen, dass man ihm nicht zutraute, ein Schiff in eigener Verantwortung zu führen.

»Jetzt müsste man wissen, wie die beiden zueinander stehen. Einem sich benachteiligt fühlenden Ersten Offizier wäre es zuzutrauen, sich auf diese Weise an seinem Kapitän und der Reederei zu rächen. Immerhin haben die somalischen Piraten bergeweise Lösegeld erpresst und könnten diesen Arroso bestechen.« Petra krauste die Nase. Das klang zwar logisch, überzeugte sie jedoch selbst nicht.

Auch Henriette meldete Zweifel an. »In dem Fall hätte Arroso seinen Kapitän an die Wand spielen müssen. Doch das kann ich mir nicht vorstellen. Immerhin heißt es, dieser Wang wäre sehr von sich eingenommen.«

»Knackt ihr immer noch Nüsse?« Hans Borchart war ins Zimmer gekommen. »Eure Köpfe rauchen schon. Kommt lieber mit Onkel Hans ins Esszimmer. Ich habe Pizzen gebacken, da gehen euch die Augen über.«

Bei dem Wort Pizza begann Petras Magen laut zu knurren. Trotzdem sah sie Hans misstrauisch an. »Hast du etwa unseren neuen Herd eingeschaltet, ohne dass dieser offiziell abgenommen worden ist?«

»Das würde ich niemals tun«, erklärte Hans grinsend. »Daher habe ich den entsprechenden Leuten die Arbeit abgenommen und in ihre Verwaltungsdateien eingegeben, dass unser ganzer Bau ordnungsgemäß überprüft und freigegeben worden ist!«

Petra starrte ihn verblüfft an. »Sag bloß, du hast dich als Hacker betätigt!«

»Alles von dir gelernt! Keine Sorge, die Eintragungen sehen so echt aus, dass es keinem auffallen wird. Und wir können endlich unsere Küche benutzen. Jetzt folgt mir! Das Essen steht auf dem Tisch. Ihr wollt doch nicht, dass es kalt wird.«

Hans trat zur Tür hinaus, blieb aber stehen, als er Petras Stimme hinter sich vernahm. »Und was gibt es als Nachtisch?«

»Einen Haufen neuer Schwierigkeiten«, meldete sich in dem Moment ihr Vorgesetzter Wagner mit missmutiger Stimme.

»Was ist geschehen?«, fragte Henriette angespannt.

»Das Kreuzfahrtschiff Lady of the Sea, das gestern Abend in Male hätte anlegen sollen, ist aus unerfindlichen Gründen auf Westkurs gegangen und steuert die somalische Küste an. Da die Mannschaft auf Kontaktversuche nicht reagiert, ist davon auszugehen, dass das Schiff von Piraten gekapert worden ist. Jetzt drehen da oben alle durch. Renk soll die Aktion gegen die Caroline sofort abbrechen und sich nach Somaliland zurückziehen. Können Sie ihm das durchgeben, Frau Waitl?«

»Torsten wird sich freuen! Schließlich ist er tief ins Feindesland eingedrungen, um bei der Befreiung der Caroline zu helfen. Jetzt darf er die gesamte Strecke noch einmal zurücklegen.«

»Vielleicht sogar mehr als einmal. Kann sein, dass er sich noch um die Lady of the Sea kümmern muss. Jetzt soll er sich erst einmal in Sicherheit bringen.« Wagner sah Petra grimmig an. »Machen Sie sich keinen Kopf wegen Renk, sondern teilen Sie ihm mit, was Sache ist. Danach packen Sie alles ein, was Sie für einen Auslandsaufenthalt brauchen. Das gilt auch für Sie, Frau von Tarow, und für Herrn Borchart. Wir sollen uns vor Ort um die Sache kümmern, und zwar mit allen Kräften. Auf Deutsch: Wir fliegen nach Ostafrika!«

Henriette ballte die Rechte zur Faust. »Endlich bekommen wir richtige Arbeit! Ich wäre hier sonst noch versauert.«

»Sie werden sich bald in Ihre ruhige Dienststelle zurückwünschen«, antwortete Wagner säuerlich. »Das wird kein so gemütlicher Ausflug wie damals nach Belgien.«

»Na ja, so gemütlich war der auch nicht«, murmelte Henriette beleidigt.

Bevor es zu einem heftigeren Wortwechsel kommen konnte, griff Hans Borchart ein. »Also was ist jetzt? Wollt ihr Pizza essen oder nicht?«

»Wir wollen!« Petra hatte die Übertragung an Torsten beendet und schaltete ihren Computer auf Stand-by. Als sie aufstand, betrachtete sie das Gerät mit einem bedauernden Blick. »Leider kann ich den Kasten nicht mitnehmen. Dafür ist er sogar ohne Peripheriegeräte zu groß. Aber mir wird schon etwas einfallen.«

»Das hoffe ich doch«, erklärte Wagner grimmig. »Der Auftrag wird kein Zuckerschlecken. Wenn die Lady of the Sea tatsächlich in die Hand von Piraten gefallen ist, haben wir eine verdammt harte Nuss zu knacken. Da genügt es nicht, die Fünfte Kavallerie in Form der GSG 9 oder einer KSK-Einheit loszuschicken. Da muss Geheimdienstarbeit geleistet werden.«

»Dafür sind wir doch da.«

Henriettes Bemerkung entwaffnete Wagner für einen Augenblick, dann knurrte er wie ein gereizter Hund. »Sie werden auch anders reden, wenn wir erst einmal so richtig in der Scheiße sitzen! Und das wird nicht mehr lange dauern, das gebe ich Ihnen schriftlich.«

»Vorher sollten wir uns Hans’ Pizzen widmen. Mit vollem Magen sitzt es sich besser!« Mit diesem Statement verließ Petra ihr Büro und eilte in die Küche, aus der ein verlockender Duft nach geschmolzenem Käse, Salami und Tomaten drang. Henriette folgte ihr auf dem Fuß, und Hans Borchart kam lächelnd hinter ihnen her.

Wagner sah ihnen nach und versuchte, gegen seine innere Unruhe anzukämpfen. Was hatten sich seine neuen Vorgesetzten nur dabei gedacht, ihn mit zwei Frauen und einem Mann loszuschicken, der in Afghanistan einen Arm und einen Fuß verloren hatte? Schließlich war er weder Superman noch James Bond.

VIERZEHN

 

Zum ersten Mal seit der Vernichtung ihres Dorfes hatte Jamanah wieder genug Wasser und Vorräte. Außerdem waren ihr fünf moderne Schnellfeuergewehre und Maschinenpistolen mit genügend Munition und zahlreiche weitere Ausrüstungsgegenstände in die Hände gefallen. Zuerst hatte sie überlegt, einen Teil davon in der Nähe zu vergraben. Doch schließlich lud sie alles auf den Pritschenwagen. Sie baute sogar das Zelt der Soldaten ab und zog diesen die restliche Kleidung aus. Was sie brauchen konnte, würde sie mitnehmen, und den Rest verbrannte sie.

Nach einem letzten Blick auf die Leichen, die nun nackt der Sonnenglut ausgesetzt waren, stieg sie ins Auto und ließ es an. Zwar hatte sie noch nie ein solches Ding gefahren, aber sowohl in ihrem Dorf wie auch im Flüchtlingslager zugeschaut, wie man damit umging.

Der Motor ließ sich problemlos starten. Dann begannen die Schwierigkeiten. Es krachte erbärmlich, als sie einen Gang einlegen wollte. Nervös kniff sie die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, wie die anderen das gemacht hatten. Da war doch etwas mit einem Pedal gewesen. Sie probierte es aus und entdeckte zuerst den Gashebel und dann die Kupplung. Jetzt konnte sie einen Gang einlegen. Doch als sie das Pedal losließ, ruckte der Wagen kurz, und der Motor ging aus.

Jamanah startete erneut, legte den Gang ein und trat dabei das Gaspedal durch. Kaum zog sie den linken Fuß vom Kupplungspedal zurück, da raste der Wagen wie von einem Katapult abgeschossen los. Jamanah sah einen großen Busch näher kommen und riss erschrocken die Arme vors Gesicht. Es krachte, als der schwere Pritschenwagen durch das Gebüsch brach und dann eine scharfe Wendung nach rechts machte und auf die zerstörten Häuser des Dorfes zufuhr.

Jamanah griff zum Lenkrad und kurbelte daran. Zu ihrer Erleichterung gehorchte der Wagen, aber als sie weiterfahren wollte, bewegte sich das Ding in so starken Schlangenlinien, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. Doch noch war sie nicht bereit, das Auto stehen zu lassen und zu Fuß zu gehen. Zum einen würde sie dann nur einen kleinen Teil ihrer Beute mitnehmen können, zum anderen musste sie die Gegend so rasch wie möglich verlassen, um nicht den Kumpanen der Toten in die Hände zu fallen. Daher biss sie die Zähne zusammen und brachte den bockigen Pritschenwagen halbwegs unter Kontrolle.

Für einige Augenblicke erwog sie, hinter den anderen Flüchtlingen herzufahren und Frau Dr. Kainz in Xagal zu suchen. Diese würde sich gewiss freuen, denn mit diesem Fahrzeug wäre sie nicht mehr von der Gnade der Soldaten abhängig. Doch Jamanah ahnte, dass die Männer ihr das Auto und den größten Teil ihrer Beute abnehmen würden, ohne dass sie dafür etwas bekam. Sie hatte nicht ihr Leben riskiert und fünf Männer getötet, um hinterher mit leeren Händen dazustehen. Daher lenkte sie den Wagen nach Nordosten und hoffte, sich im Gebirge verstecken zu können, bis ihr eine andere Lösung eingefallen war.

FÜNFZEHN

 

Maggie Dometer und Sven Kunath hatten eine leidenschaftliche Stunde erlebt und erfuhren von der Kaperung des Schiffes erst, als die Lautsprecher im ganzen Schiff ansprangen.

»Hier spricht Kapitän Ganswig! Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Die Lady of the Sea befindet sich in der Hand fremder Kräfte. Ich fordere alle Personen an Bord auf, Ruhe zu bewahren und vorerst in ihren Kabinen zu bleiben. Ich wiederhole: Bleiben Sie in Ihren Kabinen und verlassen Sie diese nicht. Die Besatzung wird bis auf die Maschinenmannschaft aufgefordert, sich im unteren Salon zu versammeln und dort auf weitere Befehle zu warten. Leisten Sie keinen Widerstand und befolgen Sie die Befehle der Schiffsbesetzer unverzüglich. Ich wiederhole: Leisten Sie keinen Widerstand und gehorchen Sie den Piraten aufs Wort. Tun Sie das nicht, kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren. Ende!«

»Was bedeutet das?«, fragte Maggie erschrocken.

Sven Kunath griff nach dem Glas Wein, das er sich von einem Steward hatte bringen lassen, und leerte es in einem Zug, während er einen klaren Gedanken zu fassen versuchte. »Anscheinend haben Piraten diesen Kahn gekapert.«

»Aber warum haben wir nichts gemerkt?«

»Wir waren beschäftigt! Außerdem hatten die Piraten anderes zu tun, als in jede Kabine zu schauen.« Kunath zog sich an und reichte auch Maggie ihre Kleidung.

»Wie es aussieht, bleibt uns nichts anderes übrig, als erst einmal abzuwarten. Wenn ich den Kapitän richtig verstanden habe, muss ich in meine eigene Kabine zurückkehren.«

»Du willst mich doch jetzt nicht allein lassen!«, rief Maggie erschrocken.

Kunath machte eine beruhigende Geste. »Natürlich bleibe ich bei dir. Aber ich werde trotzdem einmal hinmüssen, denn ich habe ja nur das Zeug dabei, das ich am Leib trage.«

»Aber warte bitte, bis der Kapitän sagt, dass es ungefährlich ist!«, rief Maggie erregt.

»Versprochen!« Sven Kunath versuchte zu lächeln und schlang einen Arm um die mollige Taille der Frau. »Schließlich bist du meine zukünftige Chefin bei der TUS Weggenwehe. Der Job interessiert mich nämlich – und du auch.«

»Wirklich?« Maggie war nicht mehr die Jüngste, und auch die Ehe mit einem Mann, dem das Lesen seiner Bankauszüge mehr Freude bereitet hatte, als eine zärtliche Stunde mit seiner Frau zu verbringen, hatte ihre Sehnsucht nach Romantik nicht versiegen lassen. Doch das, was nun um sie herum geschah, gehörte nicht zu den Dingen, die sie sich erträumt hatte.

»Wie konnte unser Schiff in die Hände der Piraten fallen? Wir sind doch von drei Kriegsschiffen eskortiert worden.«

»Das begreife ich auch nicht. Aber schließlich bin ich nur Fußballer von Beruf und kein Pirat.« Kunath versuchte zu lachen, um sie ein wenig aufzuheitern.

Das schien ihm zu gelingen. Maggie lehnte sich vertrauensvoll an ihn und erzählte von sich und ihren Plänen. »Wenn aus uns etwas werden soll, musst du schon einige Jahre bei mir in Weggenwehe bleiben. Gelingt es dir, unseren Fußballclub eine Liga höher zu bringen, werden die Leute dich lieben und es akzeptieren, wenn wir beide ein Liebespaar werden.«

Bis jetzt hatte Kunath sich vorgestellt, mit Maggie ein paar leidenschaftliche Stunden an Bord dieses Schiffes zu verbringen und dafür mit dem Posten des Spielertrainers ihres Vereins abgefunden zu werden. Doch was sie ihm da anbot, versprach Sicherheit und ein Leben in Wohlstand für etliche Jahre. Er würde nie mehr für ein paar Euros in irgendwelchen dämlichen Talkshows auftreten und im Dschungelcampschlamm nach Molchen und Kakerlaken wühlen müssen. Mit einem fröhlichen Lächeln, wie er es seit Jahren nicht mehr auf die Lippen gebracht hatte, streichelte er Maggies Wange.

»Keine Angst, das kriegen wir schon hin!« Für sich sagte er, dass er es für diese Zukunft mit sämtlichen Piraten der Welt aufnehmen würde.

SECHZEHN

 

Evelyne Wide war schließlich doch in ihre Kabine gegangen und hatte sich dort eingesperrt. Zwar hatten die Piraten verboten, vom Schiff aus Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, doch sie war zu sehr Reporterin, um sich daran zu halten. Als Erstes griff sie zum Handy und wollte ihre Redaktion anrufen, doch dann fiel ihr ein, wie sie das Ganze noch dramatischer gestalten konnte. Sie packte den Laptop aus, schaltete ihn ein und wartete, bis die Verbindung über Satellit geschaltet war. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass ihre Frisur noch richtig saß. Da sie nicht wie das blühende Leben erscheinen durfte, übte sie eine Miene ein, die gleichermaßen entsetzt wie ängstlich wirkte.

»Na, Evelyne, was gibt es Neues von deiner Kreuzfahrt?«, fragte der Kollege, der ihre Meldung entgegennahm, mit einem gewissen Neid in der Stimme.

»Hier ist Evelyne Wide auf der Lady of the Sea. Wir befinden uns derzeit irgendwo westlich der Malediven. Unser Schiff ist von Piraten – vermutlich aus Somalia – besetzt worden. Ich melde mich unter Lebensgefahr, denn die Piraten haben streng verboten, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.« Evelyne spulte ihren Bericht wie eine Maschine herunter und sah auf dem Bildschirm, wie ihr Kollege blass wurde.

»Das ist doch wohl ein Scherz? Oder?«, rief er, als sie eine Pause machte.

»Leider nein! Die Piraten gehen mit ungewöhnlicher Brutalität vor. Um die Besatzung und die Passagiere einzuschüchtern, haben sie als Erstes einen Sicherheitsmann erschossen! Ich befinde mich in meiner Kabine, die ich nur unter Lebensgefahr verlassen kann. Jetzt muss ich die Übertragung beenden, damit die Piraten nicht auf mich aufmerksam werden. Ich melde mich wieder, sobald es mir möglich ist!«

Das reicht erst einmal für die Schlagzeile, dachte Evelyne, während sie die Verbindung unterbrach. Zufrieden lächelnd holte sie aus dem Kühlschrank in ihrer Kabine eine kleine Flasche Sekt, öffnete sie und füllte ein Glas. Nach einem Schluck des prickelnden Getränks setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihr Bett, legte sich den Laptop auf den Schoß und machte sich daran, einen Bericht über die Kaperung der Lady of the Sea zu schreiben. Vielleicht würde sie dafür sogar den Pulitzerpreis bekommen, dachte sie, während sie aus zwei Frauen und sechs Männern eine wilde und blutdürstige Horde machte, die mehr einem Hollywoodfilm über die Piraten der Karibischen See entnommen war als der Realität.

SIEBZEHN

 

Ein leises Summen schreckte Torsten Renk aus dem Schlaf. Im Reflex griff er nach seiner Sphinx AT2000, merkte aber dann, dass das Geräusch von seinem Laptop kam. Er zog ihn aus seinem Rucksack und klappte ihn auf. Kaum wurde der Bildschirm hell, blickte er in Petras Gesicht. Sie sagte jedoch nichts, sondern hielt einen Zettel vor die eingebaute Kamera.

»Kann ich sprechen?«, stand darauf.

Torsten blickte in die Runde, sah aber nur Omar Schmitt, der etwa zwanzig Meter entfernt in der Deckung eines Busches hockte und ihm ein Zeichen gab, dass alles ruhig sei.

»Du kannst reden«, sagte er zu Petra.

»Gut. Es gibt neue Befehle. Du sollst die Caroline sausen lassen und dich auf einen weitaus härteren Einsatz gefasst machen. Die somalischen Piraten haben das neue Kreuzfahrtschiff Lady of the Sea in ihre Gewalt gebracht und werden spätestens übermorgen die somalische Küste erreichen. Bis jetzt gibt es noch keine Lösegeldforderungen, auch für die Caroline nicht. Aber ich schätze, dass die Herrschaften sich bald melden werden.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Torsten das Ausmaß der Entführung begriff. »Auf der Lady of the Sea befindet sich doch ein Haufen prominenter Gäste, die zur Jungfernfahrt eingeladen worden sind. Das sind die idealen Geiseln für diese Gangster!«

»Du merkst aber auch alles. Übrigens ist auch jemand aus deinem Heimatort dabei, nämlich der ehemalige Fußballprofi Sven Kunath. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst.«

»Und ob ich ihn kenne!«, rief Torsten. »Sven hat mir das Fußballspielen beigebracht. Er ist ein paar Jahre älter als ich und wollte unbedingt in der Bundesliga spielen.«

»Das hat er ja auch geschafft. Aber jetzt ist er eher ein C-Promi als ein Star. Außer ihm haben wir noch die Sensationsreporterin Evelyne Wide, die Industriechefin Margarete Dometer, die Bundestagsabgeordnete Blauert, den …« Petra rasselte eine Reihe von Namen herunter, die Torsten alle schon einmal gehört hatte. Doch mehr als mit diesen Politikern, Stars und Sternchen beschäftigten seine Gedanken sich mit Sven Kunath. Der Fußballspieler war ein prima Bursche und trotz des Altersunterschieds für einige Zeit sein bester Freund gewesen. Mit achtzehn war Sven von einem Verein der Zweiten Bundesliga angeheuert worden und der Kontakt mit ihm abgebrochen. Doch Torsten glaubte jetzt noch immer sein drängendes »… und abspielen!« zu hören.

»Okay, und was soll ich jetzt nach Ansicht unserer neuen Bosse tun?«, fragte er, als Petra eine Pause machte.

»Unsere neuen Bosse, wie du sie so schön nennst, erwarten von dir, dass du erst einmal nach Somaliland zurückkehrst und dort ein paar harte Kerle rekrutierst. Mit denen sollst du dich auf die Suche nach der Lady machen, diese von Land aus überwachen und uns Informationen liefern. Übrigens ist unser ganzer Verein losgeschickt worden, um bei der Sache zu helfen.«

»Und was ist mit der Caroline?«, fragte Torsten.

»Die Aktion ist vorerst gecancelt. Die Regierung hat Angst, die Piraten könnten sich sonst an den Leuten auf der Lady vergreifen. Bei diesen prominenten Passagieren wollen sie nichts riskieren. Ich muss jetzt Schluss machen. Weitere Informationen gibt es, wenn wir mehr wissen. Bis dorthin viel Glück!«

Torsten starrte auf den dunkel werdenden Bildschirm und schüttelte den Kopf. Die Lage wurde immer verworrener. Nach einigem Nachdenken packte er seinen Laptop wieder weg und gesellte sich zu Omar Schmitt.

»Unsere Pläne wurden geändert. Wir sollen die Caroline erst einmal in Ruhe lassen. Die Piraten haben ein zweites Schiff gekapert, und das liegt unseren Bossen schwer im Magen.«

Der Halbsomali sah ihn entsetzt an. »Denen sollte besser die Caroline im Magen liegen – und zwar quer! Wenn deren Entführer herausfinden, was der Frachter geladen hat, werden hier sämtliche Milizenchefs aus dem erweiterten Umkreis zusammenkommen, um ihnen das Zeug abzukaufen. Bekommen die Kerle, die uns angegriffen haben, auch noch diese Waffen in die Hände, können wir unsere Ostgrenze nicht mehr verteidigen.«

»Ich habe Befehl, mich nach Somaliland zurückzuziehen und dort einen Trupp zusammenzustellen, mit dem ich erneut in das Piratengebiet vordringen kann. Ich hoffe, Sie helfen mir dabei.« Besorgt musterte Torsten seinen Begleiter.

Omar Schmitt seufzte. »Also gut! Ich werde Ihnen helfen. Dabei liegt die Caroline so nahe, dass es mich ärgert, sie zurücklassen zu müssen.«

»Wenn Sie wollen, können wir beide ja zur Caroline hinüberschwimmen und versuchen, sie im Alleingang zu befreien. Auf die Fünfte Kavallerie brauchen wir nicht mehr zu hoffen. Die bleibt brav zu Hause in ihrem Fort.« Nicht weniger angesäuert als sein Begleiter, begann Torsten, seine Sachen zu packen. »Sollen wir zu Fuß gehen, uns wieder einen Eselskarren besorgen, oder ziehen Sie ein moderneres Fortbewegungsmittel vor?«, fragte er, als er seinen Rucksack schulterte.

»Das werden wir unterwegs entscheiden«, antwortete Omar Schmitt und marschierte los.

ACHTZEHN

 

Dietrich von Tarow kontrollierte noch einmal seine Waffen und sah dann seine Männer an. »Also, Leute, es ist so weit. Hat jeder von euch den Plan der Caroline im Kopf?«

»Wenn es wirklich der Plan der Caroline war, dann ja«, wandte Leutnant Grapengeter ein.

»Das Schiff soll baugleich sein. Also wird er wohl stimmen!« Das klang weitaus zuversichtlicher, als Dietrich sich fühlte. Bis jetzt war kein Kontakt mit dem Agenten an Land zustande gekommen, und von ihrer Operationszentrale in Calw hatte er seit ihrer Abfahrt aus Djibouti ebenfalls nichts mehr gehört. Er konnte nur hoffen, dass seine Informationen korrekt waren.

»Liegt die Caroline noch vor Laasqoray?«, fragte er Kapitän Diezmann, als er an Deck stieg.

Dieser nickte. »Wir haben vorhin die Fotos einer amerikanischen Aufklärungsdrohne zugespielt bekommen. Die Caroline liegt etwa sechshundert Meter vor der Küste, und zwar leicht westlich von Laasqoray. Die Position wurde auf Ihren Karten vermerkt. Also können Sie den Kasten nicht verfehlen.«

»Sagen die Bilder der Amidrohne auch etwas über mögliche Verteidigungsmaßnahmen der Piraten aus?«, bohrte Dietrich weiter.

»Da war nichts zu erkennen. Allerdings konnte die Drohne nicht im Tiefflug über das Deck sausen. Sicher ist, dass die Kerle einen Haufen Frauen und Kinder an Bord gebracht haben.«

Dietrich verzog das Gesicht. »Hoffentlich sind die wieder weg, wenn wir ankommen. Ich traue den Brüdern zu, sie als menschliche Schutzschilde zu verwenden.«

Diezmann verstand seine Besorgnis, konnte ihm aber nicht helfen. »Der Befehl, den wir in Djibouti bekommen haben, lautet, die Caroline unter allen Umständen in unseren Besitz zu bringen.«

»Ich weiß! Das werden wir auch. Trotzdem gefällt es mir nicht, dass wir so überhastet und ohne gründliche Vorbereitung losgeschickt werden.«

»Das ist wohl Absicht. Die Piraten wissen, dass wir Deutschen im Allgemeinen eher zögerlich vorgehen. Mit einem schnellen, präzisen Schlag werden sie daher nicht rechnen!« Diezmann klopfte Dietrich aufmunternd auf die Schulter und trat zurück.

Der Major war jedoch noch nicht fertig. »Schicken Sie uns die beiden Hubschrauber zur Unterstützung?«

»Ich habe keinen entsprechenden Befehl erhalten«, antwortete Diezmann. »Es heißt ausdrücklich, nichts zu unternehmen, was die Kerle warnen könnte. Ein Hubschrauber, der in der Nacht dort herumfliegt, würde alle Alarmsirenen anspringen lassen. Ich verspreche Ihnen aber, die beiden Sea Lynx loszuschicken, sobald Sie an Bord sind. Außerdem dampfen wir Ihnen mit Höchstgeschwindigkeit entgegen.«

»Das ist wenigstens etwas. Und jetzt los, Leute! Oder wollt ihr wieder einschlafen? Und noch etwas: Bis wir vor Ort sind, herrscht Funkstille. Habt ihr verstanden?«

»Jawohl, Herr Major«, scholl es ihm aus mehr als sechzig Mündern entgegen.

»Dann wollen wir mal.« Dietrich kletterte das Netz hinunter, das anstelle einer Jakobsleiter an der Bordwand befestigt war, und stieg in eines der großen Schlauchboote, die für ihre Aktion zur Verfügung standen. Jedes bot Platz für zwanzig Mann samt Ausrüstung und verfügte über einen Kombiantrieb aus einem modernen Dieselmotor für lange Strecken und einem Elektromotor zum leisen Anschleichen an ihr Ziel. Das Kunststoffmaterial war so zäh, dass es Streifschüsse überstehen konnte. Zudem waren die Auftriebskörper in mehr als ein Dutzend Luftkammern aufgeteilt, sodass auch ein direkter Treffer die Boote nicht zum Sinken brachte.

Die Soldaten stiegen an Bord und nahmen ihre Plätze ein. Dafür mussten sie sich zwar, wie Grapengeter spöttelte, in Ölsardinen ohne Öl verwandeln, aber für die knapp sechzig Kilometer, die sie noch von ihrem Ziel trennten, war dies kein Problem. Innerhalb weniger Minuten war jeder dort, wo er hingehörte, und es ragten nur noch die Köpfe und die Läufe ihrer Waffen über die wulstigen Bordwände hinaus.

Es handelte sich um vier Boote. Drei davon waren voll besetzt, während sich auf Dietrichs Kommandoboot außer ihm selbst nur zehn Personen befanden, aber dafür etliches an Ausrüstung und genug Waffen, um die Caroline nach der erfolgreichen Befreiung gegen Angriffe von Piratenbooten verteidigen zu können.

Dietrich ließ noch einmal jedes Teil kontrollieren und gab dann den Befehl, abzulegen. Grapengeter löste die Leine, die das Boot noch mit der Sachsen verband, und übernahm das Steuer. Ihr Boot fuhr als erstes los, die anderen reihten sich hinter ihnen so ein, dass immer drei Bootslängen zwischen ihnen lagen.

Die Dieselmotoren brachten es mit stärkster Leistung auf über neunzig Stundenkilometer, doch Dietrichs Einsatzplan gab vor, vorerst nur vierzig zu fahren, um das Motorengeräusch zu dämpfen. Daran hielt er sich, und dennoch blieb die Sachsen rasch hinter ihnen zurück. Nach einem kurzen Blick auf die Fregatte richtete er sein Augenmerk auf ihr Ziel, das noch jenseits des Horizonts lag.

»Nach zwanzig Kilometern drosseln wir auf dreißig, und nach dreißig auf zwanzig. Fünfzehn Kilometer vor der Küste schalten wir auf Elektroantrieb um«, gab er durch und sah, wie die Meldung von Boot zu Boot weitergereicht wurde. Damit hatte er getan, was möglich war, damit sie sich ihrem Ziel so unauffällig wie möglich nähern konnten. Dietrich ertappte sich jedoch dabei, dass er das Kreuzzeichen schlug und ein kurzes Gebet sprach. Vor einem solchen Einsatz, sagte er sich, war es sicher kein Fehler, die himmlischen Mächte um Beistand zu bitten.

NEUNZEHN

 

Auf der Sachsen ließ Kapitän Diezmann die Uhr nicht aus den Augen, während einer seiner Untergebenen die wahrscheinlich zurückgelegte Strecke der vier Boote in festen Zeitabständen in eine Karte eintrug.

»Jetzt müssten sie auf Elektroantrieb umgeschaltet haben«, sagte er, als sein Bleistiftstrich eine bestimmte Linie überschritt.

»Noch etwa zwanzig Minuten«, schloss Diezmann daraus, denn die Boote konnten nun schneller fahren als mit den gedrosselten Dieselmotoren. »Sind die Hubschrauber startbereit?«

»Sie sind bemannt, betankt und bewaffnet. Jetzt warten sie auf den Startbefehl«, antwortete der Erste Offizier.

»Die Hubschrauberpiloten sollen sich bereithalten. Wenn das Gefecht losgeht, kommt es auf jeden Augenblick an. Den Bildern der Aufklärungsdrohnen nach verfügen die Milizen in Laasqoray über mindestens fünfzehn Schnellboote. Mit denen können sie von Tarow und seinen Leuten mächtig Feuer unter dem Arsch machen!«

Während sein Stellvertreter den Befehl weitergab, saugte Diezmanns Blick sich an der Uhr fest. Fünf Minuten vor der Zielankunft der Boote ließ er die Geschwindigkeit der Sachsen erhöhen und das Schiff auf südlichen Kurs gehen, um der Caroline entgegenzufahren.

Da klang die Stimme des Funkers durch den Raum. »Herr Kapitän, die Basis in Djibouti meldet gerade, dass der Einsatz abgeblasen wurde. Major von Tarows Trupp soll auf der Sachsen bleiben!«

»Aber er ist doch längst unterwegs!« Diezmann schüttelte verwirrt den Kopf, während sich seine Gedanken überstürzten. In wenigen Augenblicken mussten die Boote die Caroline erreichen. Wenn er von Tarows Trupp jetzt anfunken ließ, würden die Piraten gewarnt und das Einsatzkommando auf dem Rückzug von feindlichen Schnellbooten gejagt werden. Diezmann hätte von Tarow am liebsten freie Hand gelassen. Aber Befehl war Befehl.

»Jensen, nehmen Sie Kontakt zu den Booten auf und teilen Sie von Tarow mit, dass er sofort ablaufen soll. Wir fahren ihm entgegen. Die Hubschrauber starten lassen!« Der letzte Befehl galt seinem Stellvertreter, der sofort grünes Licht für die beiden Sea Lynx gab.

Unterdessen stellte Jensen die Verbindung zu von Tarows Boot her und meldete dem Major, dass er die Aktion abbrechen sollte.

ZWANZIG

 

Im Mondschein glitzerte die sandige Küste gelblich, und die Caroline hob sich wie ein düsterer Schatten gegen den Hintergrund ab. Dietrich von Tarow versuchte, die Entfernung zum Schiff zu schätzen. Es konnte ein Kilometer sein, aber auch zwei.

»Motoren drosseln«, befahl er, um zu verhindern, dass die Piraten an Bord des Containerfrachters auf ihr schäumendes Kielwasser aufmerksam wurden.

»Macht die Granatwerfer und die Seilharpunen klar! Scharfschützen Achtung! Feuern, wenn Ziel erfasst!« In diesem Augenblick waren sämtliche Zweifel verflogen. Jetzt galt es nur noch, den Job gut zu machen.

Sie näherten sich der Caroline auf weniger als vierhundert Meter, da klopfte ihm Fahrner auf die Schulter.

»Was ist los?«

»Funkspruch von der Sachsen. Aktion abbrechen und zurückkehren!«

»Sind die verrückt geworden? Wir haben das Schiff …« Dietrich hatte den Satz noch nicht vollendet, als an Bord der Caroline plötzlich die Scheinwerfer aufflammten und ihre Lichtkegel nach einem suchenden Schwenk über die See auf seinen Booten stehen blieben. Im nächsten Moment ratterten Maschinengewehre los und schickten ihnen Leuchtspurgeschosse entgegen.

»Scheiße, die haben uns erwartet!«, schrie Grapengeter und zwang das Boot in eine scharfe Kurve, um einer Rakete auszuweichen.

Das Boot hinter ihnen hatte weniger Glück. Zuerst hieb eine MG-Garbe voll in den Bootskörper ein, dann explodierte eine Rakete mitten im Boot. Dietrich hörte Männer schreien und verspürte einen dicken Klumpen im Magen. Sein Gehirn arbeitete jedoch so scharf wie selten zuvor.

»Blendgranaten abschießen und Feuer erwidern!«, rief er und wies Grapengeter an, zu dem zerstörten Boot zu fahren.

»Aber dann erwischen sie uns ebenfalls!«

»Wir lassen unsere Kameraden nicht im Stich!« Dietrich packte eine AG36 und feuerte eine Blendgranate in Richtung Caroline ab.

Für ein paar Augenblicke hatte er Erfolg, denn die MG-Garben der Piraten irrten weit jenseits der drei noch einsatzfähigen Boote über die See. Doch dann geschah etwas, das alle Pläne zunichtemachte. Ein gutes Dutzend Schlauchboote, jedes mit mehr Mann besetzt als die eigenen, zogen in einer scharfen Kurve um den Bug des Frachters herum und nahmen Dietrichs Trupp unter Feuer.

Ein zweites Boot wurde getroffen, blieb aber seetüchtig. Dietrichs Boot bekam ebenfalls etwas ab, und er hörte hinter sich einen Mann aufschreien. Zeit, sich um den Verletzten zu kümmern, hatte er jedoch nicht. Er warf einen verzweifelten Blick auf das zerstörte Boot und sah Männer in dessen Nähe treiben. Ihnen zu helfen war unmöglich.

Schweren Herzens griff Dietrich zum Mikrophon und stellte den Lautsprecher an. »Von Tarow an alle! Rückzug! Seht zu, dass ihr gut nach Hause kommt!« Danach feuerte er die nächste Blendgranate auf die angreifenden Boote ab und gab Grapengeter einen Wink. »Wir müssen von der Caroline freikommen! Sonst setzen uns die Kerle mit ihren schweren MGs außer Gefecht!«

»Die Schweine haben auf uns gewartet! Die wussten genau, dass wir kommen.« Der Leutnant hätte heulen können vor Wut, befolgte aber Dietrichs Befehl und gab volle Kraft auf den Dieselmotor des Bootes. Doch als er den Bug auf die See richtete, verlegten ihnen die Piratenboote den Weg.

»Da müssen wir durch! Feuert mit allem, was ihr habt! Haltet auf die Motoren im Heck. Die Dinger werden mit Benzin betrieben. Wenn ihr trefft, gibt es bei denen ein Feuerwerk!« Dietrich riss das leichte Maschinengewehr hoch, zielte auf eines der Piratenboote und zog durch.

»Grapengeter! Übergeben Sie Ihrem Nebenmann das Steuer! Ich hoffe, Sie treffen mit Ihrem G22 im Einsatz genauso gut wie auf dem Schießstand.« Voller Wut schoss Dietrich mit dem MG, bis der Patronenkasten leer war, ersetzte ihn durch einen vollen und lud erneut durch. Aus den Augenwinkeln sah er, wie eines seiner Boote durch eine Lücke zwischen den Angreifern schlüpfte und mit Höchstgeschwindigkeit davonraste. Das war der erste Lichtblick in dieser Nacht, und er hoffte, es würde nicht der letzte bleiben.

Ein Blick auf das zweite Boot zeigte Dietrich jedoch, dass es von vier Piratenbooten in die Zange genommen worden war, während drei weitere ihm selbst den Weg verlegten.

»Im Zickzack! Wir hauen die Kameraden heraus!«, rief Dietrich und feuerte, was der Lauf hergab.

Während der Soldat, der von Grapengeter das Steuer übernommen hatte, dem Boot einen wild wechselnden Kurs aufzwang, schossen die Männer an Bord mit lange geübter Präzision. Dietrich sah, wie eines der feindlichen Boote sank und ein weiteres ausscherte und auf das Land zufuhr.

»Wir schaffen es!«, rief er, legte das MG ab und feuerte rasch hintereinander mehrere Blendgranaten auf die Piratenboote. Eine schlug in einem Boot ein, und er sah, wie dessen Besatzung erschrocken über Bord sprang. Für einen Augenblick tat sich eine Lücke auf, und das andere KSK-Boot schlüpfte hindurch. Doch als Dietrichs Steuermann ihm folgen wollte, schoben sich mehrere Piratenboote vor ihren Bug, und sie gerieten ins Kreuzfeuer. Etliche Geschosse schlugen in den Rumpf ein, und der Major glaubte, das Geräusch entweichender Luft sogar durch das Knattern der MGs und Sturmgewehre zu hören. Ihr Steuermann wollte ausweichen, sah sich aber weiteren Piratenbooten gegenüber und schrie auf. »Wir sitzen in der Falle!«

»Möglich. Halte voll auf die Kerle zu! Auf meinen Befehl drängt ihr euch alle ganz schnell im Heck zusammen, und wenn ich schreie, werft ihr euch nach vorn!« Dietrich übergab seinen Granatwerfer einem anderen Soldaten und wollte das MG wieder ergreifen. Doch dann entschied er sich dagegen und packte mit der Rechten seine MP5 und mit der Linken eine Handgranate.

»Jungs, gleich wird es rumpeln!«, schrie er und zählte die Sekunden, die sie bis zu den feindlichen Booten brauchten. Ihr Boot wurde erneut getroffen und tanzte unter der Wucht der Einschläge wie betrunken auf dem Wasser. Dann sah Dietrich ein Piratenboot genau vor sich.

»Nach hinten!«, schrie er und schob sich mit einem Ruck ins Heck. Die anderen folgten ihm. Vorne entlastet, hob sich der Bug über die Bordwand des feindlichen Bootes. Im nächsten Augenblick knallte der Boden gegen dessen Flanke und wurde vom Schwung weitergetragen.

»Jetzt nach vorne!«, brüllte Dietrich, um zu verhindern, dass das Boot sich zu stark aufbäumte und sich überschlug. Ihre Geschwindigkeit ließ sie über die Piraten hinwegschlittern, und eine Sekunde später klatschten sie wieder ins Wasser.

Mit einer fast beiläufigen Handbewegung warf Dietrich seine Handgranate in das andere Boot. »Gib Gas!«, schrie er ihrem Steuermann zu und duckte sich. Einen Augenblick später explodierte hinter ihnen die See. Trümmer schossen um sie herum, und ein Teil bohrte sich in ihren Rumpf. Doch sie hatten freie Fahrt, und der Mann am Steuer drehte den Motor voll auf.

»Das war haarscharf! Aber wir haben es geschafft«, rief er Dietrich zu.

Dieser warf einen Blick nach hinten und nickte bedrückt. »Wir ja, aber unsere Männer von Boot zwei hat es erwischt.«

»Die Kerle müssen gewusst haben, dass wir kommen. Sonst wären sie nicht so gut vorbereitet gewesen.« Grapengeter stöhnte und tastete in der Dunkelheit nach seiner Schulter. »Tut mir leid, Herr Major, aber ich habe etwas abbekommen.«

»Gibt es weitere Verletzte?« Nach Toten wollte Dietrich erst gar nicht fragen.

Zwei weitere meldeten sich, meinten aber, dass es nicht so schlimm wäre.

»Der Leutnant blutet ziemlich stark«, warf Fahrner ein.

»Kümmert euch um ihn und die anderen Verletzten«, befahl Dietrich.

»Dafür brauchen wir Licht, und dann könnten uns die Schweine sehen!«, gab Grapengeter zu bedenken und stellte die Frage, die ihn am meisten bewegte. »Werden wir verfolgt?«

Dietrich blickte nach hinten. Einige Piratenboote kamen hinter ihnen her und schienen aufzuholen.

»Was ist denn los? Geht es nicht schneller?«, fragte er den Mann am Steuer.

»Nein, Major! Wir verlieren weiter an Geschwindigkeit. Die Hälfte der Luftkammern läuft voll Wasser, und die Steueranlage ist defekt. Außerdem driften wir immer weiter nach backbord ab und werden dadurch einen Bogen ausfahren, der uns wieder zur Küste trägt. Auf die Sachsen kommen wir auf jeden Fall nicht mehr zurück.«

Dietrich von Tarows Antwort war nicht druckreif. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass die feindlichen Boote sich aufteilten. Zwei kamen in ihre Richtung, während die restlichen die beiden anderen Boote verfolgten. Er konnte die Piratenboote in der Dunkelheit nur anhand ihrer weißlich leuchtenden Kielspur erkennen.

Nun wusste er, was zu tun war, und packte den Steuermann an der Schulter. »Schalten Sie den Diesel aus und lassen Sie den Elektroantrieb auf schwächster Leistung laufen. Dann ziehen Sie das Boot scharf nach links!«

»Aber dann treffen wir noch schneller auf Land«, gab der Mann zu bedenken, befolgte aber den Befehl.

»Jetzt still, Leute! Wir spielen toter Mann«, raunte Dietrich den Männern zu und lud seinen Granatwerfer mit einer Blendgranate. Wenn es hart auf hart kam, konnte diese zum Zünglein an der Waage werden.

Als die Motorengeräusche der Verfolger näher kamen, bissen alle die Lippen zusammen und atmeten möglichst flach, um sich nicht zu verraten. Grapengeter, der vor Schmerzen kaum mehr denken konnte, biss in seinen Ärmel, um nicht zu stöhnen. Wer noch dazu in der Lage war, griff nach seiner Waffe und richtete den Lauf auf die Feinde.

»Nicht schießen, Leute!«, flüsterte Dietrich, der erkannte, dass die Piraten auf dem Kurs blieben, den ihr Boot bis eben noch mit schäumender Heckwelle eingeschlagen hatte. Etwa dreihundert Meter entfernt zogen sie mit Höchstgeschwindigkeit vorbei und entfernten sich rasch.

»Das war knapp!« Bewunderung für die rasche Reaktion ihres Anführers schwang in Fahrners Stimme mit.

Doch Dietrich von Tarow beschäftigte sich bereits mit einem anderen Problem. »Leute, ich möchte euch nichts vormachen. Wir sind zu nahe an Land, als dass die Sachsen uns herausholen könnte. Auch wäre ein Hubschraubereinsatz hier zu gefährlich. Die Somalis würden die Sea Lynx mit Raketen vom Himmel holen. Außerdem könnte der Rettungsversuch die Kerle auf uns aufmerksam machen, und das halte ich für ungesund.«

Unterdrücktes Lachen antwortete ihm. Fahrner, der eben versuchte, Grapengeter trotz der Dunkelheit zu verbinden, war mit dieser Entscheidung jedoch nicht einverstanden.

»Wir brauchen den Hubschrauber, Herr Major! Der Leutnant muss so rasch wie möglich ins Krankenrevier.«

»Du hast doch gehört, dass es zu gefährlich ist«, wies der Verletzte ihn zurecht. »Machen Sie sich meinetwegen keinen Kopf, Herr Major. Ich halte schon durch.«

»Das will ich hoffen, Leutnant. Ich brauche Sie! Ihr anderen sucht alles an Ausrüstung zusammen, was wir für die nächsten Tage benötigen könnten. Wir versuchen, ungesehen an Land zu kommen und uns dort zu verstecken. Irgendwie werden wir schon die Chance kriegen, den Hubschrauber zu rufen. Bis dorthin herrscht strikte Funkstille! Oder wollt ihr diese Banditen auf unsere Spur lenken?«

»Natürlich nicht, Herr Major«, sagte einer.

Fahrner brachte wieder einen Einwand. »Können wir die Sachsen denn nicht per Richtfunk informieren, Herr Major?«

»Wenn Sie mir sagen können, wo sie sich gerade befindet, mache ich es. Aber ohne die genaue Position der Fregatte wäre es ein Versuch, in der Nacht auf Krähen zu schießen. Zudem stehen Piratenboote zwischen uns und der Sachsen. Wenn es bei denen in einem Funkgerät auch nur knackt, wissen sie, dass wir uns hinter ihnen befinden, und dann geht die Hatz auf uns los. Jetzt beeilt euch! Ich will bei Tagesanbruch in einem sicheren Versteck sein.«

Dietrich von Tarow begann selbst, die seiner Ansicht nach notwendigen Ausrüstungsgegenstände zusammenzupacken. Das meiste würden sie zurücklassen müssen. Sie waren zehn gewesen. Drei davon waren verletzt. Zwei weitere würden Leutnant Grapengeter schleppen müssen. Damit blieben außer ihm nur noch vier Mann übrig, die mit vollem Gepäck marschieren konnten.

»Wir nehmen alle Rationen und das gesamte Wasser mit, das wir an Bord haben, dazu für jeden eine MP oder ein Gewehr, genügend Munition, fünf Handgranaten pro Mann und unsere Kampfausrüstung. Zwei Granatwerfer und das MG kommen ebenfalls mit. Denkt auch an die Sprengstoffspürgeräte. Die Grenzgebiete zwischen den somalischen Teilstaaten sind oft großflächig vermint«, befahl er, während das Boot sich dem Ufer näherte.

»Haben Sie ein paar Kamele gemietet, denen wir das Zeug aufladen können?«, fragte Fahrner bissig.

Dietrich drehte sich zu ihm um. »Warum sollte ich? Hier sind genug Esel, die das Zeug schleppen können.«

Selbst Grapengeter fiel in das folgende Gelächter ein. »Ein Kamel wäre mir nicht so recht, Herr Major. Das schaukelt zu stark«, sagte er mit matter Stimme.

»Dann kannst du bloß hoffen, dass wir Esel dich nicht aus Versehen fallen lassen und vergessen aufzuheben«, antwortete Fahrner wenig belustigt.

»Ruhe!«, befahl Dietrich und richtete sich auf.

Kurz vor dem Strand wurde das Wasser flacher, und der Boden des Bootes schleifte bereits über die ersten Untiefen. Etwa zwanzig Meter vor dem Ufer saß es fest. Drei Soldaten sprangen mit angeschlagenen Waffen ins Wasser und wateten an Land, um zu sichern. Zwei halfen den beiden leichter Verletzten aus dem Boot, während der letzte eine Teleskoptrage auszog und Grapengeter mit Hilfe des Majors darauflegte.

Dietrich von Tarow half mit, den Schwerverletzten von Bord zu heben, reichte dann die Ausrüstungsgegenstände, die sie mitnehmen wollten, heraus und wandte sich an den Soldaten, der das Boot gesteuert hatte.

»Helfen Sie mir! Ich will das Boot wieder ins Meer schieben und losfahren lassen.«

»Weit wird es nicht kommen! Die zerstörten Luftkammern nehmen zu viel Wasser auf«, antwortete der Mann.

»Für das, was ich vorhabe, wird es reichen!« Dietrich nahm eine der kleinen Bomben, die sich an Bord befanden, stellte die Zündung auf zehn Minuten ein und stemmte sich gegen den Gummirumpf. Nun begriff der Soldat, was er vorhatte, und startete den Elektromotor. Dieser lief langsam und ruckartig an, war also ebenfalls beschädigt. Dennoch nahm das Boot Fahrt auf und verschwand schließlich in einer weit gezogenen Linkskurve aus ihrem Sichtfeld.

»Gut so«, rief Dietrich und stieg ans Ufer. Dort schulterte er seinen vollgeladenen Rucksack, hielt das Maschinengewehr schussbereit und stapfte an der Spitze seiner Männer landeinwärts. Auf einer Sanddüne hielt er noch einmal an, nahm sein Funkgerät und drückte auf eine Taste. Der Funkspruch, den er damit auslöste, dauerte keine Zehntelsekunde und enthielt nur ein einziges Symbol. Dennoch nickte Dietrich von Tarow zufrieden.

»Damit wissen die auf der Sachsen, dass es uns noch gibt. Lasst uns rasch von hier verschwinden! Für heute habe ich die Schnauze voll und kann keine Piraten mehr sehen.«

EINUNDZWANZIG

 

Die Sachsen durchpflügte mit einer Geschwindigkeit von mehr als sechsundzwanzig Knoten die See. Sämtliche Waffensysteme waren in Bereitschaft, und aus den Lautsprechern klangen die Funksprüche der beiden Hubschrauberbesatzungen und gelegentlich ein Hilferuf von den ausgesandten Booten.

Kapitän Diezmann konnte sich keinen Reim darauf machen, fluchte aber innerlich auf die Verantwortlichen, die den Befehl zum Abbruch der Aktion viel zu spät geschickt hatten. Wie es aussah, waren Major von Tarow und seine Männer in eine Falle gelaufen und wurden nun von den Piraten gejagt.

»Holt alles aus den Maschinen heraus!«, befahl er und wünschte seinem Schiff Flügel.

Die Sachsen wurde noch einen Tick schneller, aber es würde noch mindestens eine Viertelstunde dauern, bis sie die eigenen Boote und deren Verfolger erreichten.

»Was machen die Helikopter?«, fragte der Kapitän.

»Sind vor Ort und halten die Piraten von unseren Leuten fern«, gab Jensen durch. »Es wurden nur zwei der vier Boote gesichtet. Die anderen laufen entweder auf unbekanntem Kurs oder …«

»… wurden vernichtet oder aufgebracht«, setzte Diezmann den Satz seines Funkers fort. Er schüttelte sich und bleckte unbewusst die Zähne. »Die Helikopter sollen die Piraten nicht entkommen lassen. Wir brauchen Gefangene. Und ihr seht zu, dass der Kasten endlich Geschwindigkeit aufnimmt!«

Der Mann hinter dem Steuer lachte unfroh. »Gerne, Kapitän! Aber sagen Sie mir bitte, wie ich das fertigbringen soll. Alle Hebel stehen auf Anschlag, und zaubern kann ich nicht.«

Diezmann begriff, dass er sich seine Unruhe nicht länger anmerken lassen durfte. Er klopfte dem Mann auf die Schulter und rang sich ein Lächeln ab. »Sie machen das schon richtig, Antrop. Gleich haben wir es geschafft!«

Den optimistisch klingenden Worten zum Trotz zogen sich die Minuten wie zäher Schleim. Dann vernahmen sie das Knattern von Schüssen und einzelne Explosionen. Als Diezmann durch sein Nachtsichtglas schaute, sah er die beiden eigenen Boote langsam näher kommen. Ein ganzes Stück von ihnen entfernt führten die beiden Sea Lynx einen bizarren Tanz am Himmel auf, um den schweren MGs und Abwehrraketen der Piraten zu entgehen.

»Die sollen endlich Ernst machen, damit es den Schuften ins Fleisch schneidet!« Kapitän Diezmann sprach mehr zu sich, doch Jensen schien dies als Befehl zu verstehen und informierte die beiden Hubschrauber. Sekunden später leuchteten die Feuerschwänze mehrerer Raketen auf und schossen auf die vier Piratenboote zu. Die vier Explosionen klangen fast wie eine. Danach schwammen Trümmer, Leichen und wenige Überlebende im Wasser.

»Erledigt, Kapitän. Wir können die Reste aufsammeln«, meldete der Erste Offizier.

»Gut!« Diezmann atmete tief durch und suchte dann den Blick seines Stellvertreters. »Übernehmen Sie das. Aber passen Sie auf! Fanatiker kämpfen bis zum letzten Atemzug.«

»Keine Sorge, Herr Kapitän. Mit den Kerlen werden wir schon fertig«, versicherte der Erste Offizier und verließ die Brücke, um seine Mannschaft zusammenzurufen.

Während die beiden entkommenen Boote des Kommandounternehmens an Backbord anlegten und die ersten Verletzten an Bord gebracht wurden, bestieg der Erste Offizier mit seinen Begleitern an Steuerbord ein Boot und fuhr los. Fünf Minuten später erreichten sie die Stelle, an der die Piratenboote zerstört worden waren. Einer seiner Männer, der Arabisch konnte, ergriff das Megaphon und erklärte den im Wasser schwimmenden Somalis, dass sie sich umgehend zu ergeben hätten.

»Wenn auch nur ein Schuss fällt oder ein Messer gezogen wird, drehen wir ab und lassen euch elend ersaufen«, drohte er, während die ersten Piraten bereits in ihre Richtung schwammen.

»Die sterben auch nicht gerne«, meinte er zu seinem Vorgesetzten und streckte dem ersten Piraten den Lauf seines G36 entgegen.

»Sei ja brav, mein Guter, sonst kriege ich einen Krampf im Zeigefinger. Und jetzt komm an Bord!« Dann sprach er auf Deutsch weiter. »Ich hoffe, wir haben genug Kabelbinder dabei, denn da kommen mindestens dreißig Kerle auf uns zu. Fast genau so viele treiben verletzt oder tot im Wasser.«

»Die holen wir zuletzt heraus«, erklärte der Erste Offizier und funkte die Sachsen an, noch zwei weitere Boote zu schicken.

An Bord der Fregatte wurde Diezmann unterdessen die Liste mit den Namen der geretteten KSK-Männer gereicht. Von den vierzig Mann an Bord der beiden aufgenommenen Boote war zwar niemand ums Leben gekommen, doch beinahe die Hälfte hatte Verletzungen davongetragen, und sechs der Verwundeten befanden sich in kritischem Zustand.

»Befehl ans Krankenrevier: Sie sollen sich zuerst um unsere Leute kümmern und dann erst um verletzte Piraten! Wir haben schon genug Männer verloren.«

»Boot zwei hat einen Raketentreffer erhalten und ist explodiert. Wenn es Überlebende gab, sind diese jetzt in den Händen der Piraten«, erklärte einer der unverletzt gebliebenen KSK-Soldaten. »Vom Major wissen wir nur, dass er uns den Weg freigekämpft hat. Ohne ihn hätten die Schufte uns erwischt. Aber ob sein Boot entkommen konnte, weiß ich nicht.« Der Mann wischte sich über die Augen, die sich mit einem Mal feucht anfühlten, und bat dann, nach seinen Kameraden schauen zu dürfen.

»Tun Sie das«, antwortete Diezmann und setzte sich auf seinen Stuhl. »Dreißig Vermisste, und das nur, weil so ein Sesselpupser an höherer Stelle den Befehl zum Abbruch der Aktion zu spät gegeben hat. Der Teufel soll diesen Idioten holen!«

»Solche Typen werden meist weggelobt und auf einen Platz hochbefördert, an dem sie noch mehr Unsinn anstellen können«, warf der Funker ein. Dann zuckte er zusammen und starrte auf seinen Bildschirm, auf dem eben ein einzelner Buchstabe aufleuchtete.

»Herr Kapitän! Eben ist von Tarows Rufzeichen gesendet worden. Der Major lebt!«

Diezmann riss es herum. »Was?« Dann sah auch er das große T auf dem Bildschirm und fühlte, wie seine Hoffnung zurückkehrte.

»Von Tarow lebt, und er befindet sich in Freiheit, sonst hätte er das Signal Q gesendet. Leute, holt diese verdammten Piraten an Bord und sperrt sie ein. Ich will die Sachsen und die Helikopter so rasch wie möglich einsatzbereit wissen.«