DRITTER TEIL
DIE FORDERUNG
EINS
Sie befand sich im oberen Panoramasaal der Lady of the Sea, um sich mit den drei Männern zu beraten, die für ihre Pläne am wichtigsten waren. Zu ihrer Rechten saß ihr Vater Wafal Saifullah, einer der Clanältesten und der religiöse Führer ihres Stammes. Er hielt ein Glas Tee in der Hand, den ihm ein verängstigter Ober zubereitet hatte, und kaute in aller Bedächtigkeit Kat. Ihm gegenüber hatte Abdullah Abu Na’im, der saudi-arabische Ehemann ihrer Schwester Sahar, Platz genommen. Abdullahs Unterstützung war ihr wichtig, aber Sayyida lag noch mehr an dem dritten Mann, der zusammen mit ihrem Vater und ihrem Schwager von einem Hubschrauber an Bord abgesetzt worden war.
Diya Baqi Majid hatte einst als Pirat angefangen, war aber mittlerweile zu einem der mächtigsten Warlords in der umstrittenen Provinz Sanaag aufgestiegen. Nun verfügte er über eine gut gedrillte Privatmiliz von mehr als zweitausend Mann, die er mit den erzielten Lösegeldern ausrüsten und bezahlen konnte. Vor allem aber war er ein Angehöriger des Stammes der Warsangeli und fühlte sich weder Somaliland noch der schwachen puntländischen Zentralregierung in Garoowe verpflichtet. Zwar gefielen ihm ihre Aktionen nicht besonders, dennoch war er gekommen, um mit ihr oder, besser gesagt, mit ihrem Vater zu verhandeln, denn sein Stolz verbot es ihm, eine Frau als gleichrangig anzusehen.
»Ich bin bereit, mir deine Vorschläge anzuhören, Wafal Saifullah. Doch ich bestehe darauf, dass Laasqoray und das dort liegende Containerschiff mir übergeben werden. Außerdem verlange ich die Hälfte des Lösegelds, das du für dieses Schiff hier und dessen Passagiere erhältst«, erklärte er eben mit Nachdruck.
Sayyida nahm nicht an, dass der Mann wusste, was die Caroline geladen hatte, und selbst dann wäre sie keineswegs bereit gewesen, ihm auch nur ein Stück der Fracht auszuliefern. Mit den Waffen und Fahrzeugen an Bord des Frachters würde Diya Baqi Majid das Übergewicht erhalten und ihre Milizen verdrängen.
Obwohl sie wusste, dass der Mann es hasste, wenn sie anstelle ihres Vaters das Wort ergriff, sprach sie ihn an. »Du verlangst Unmögliches! Laasqoray ist in unserer Hand, und so wird es auch bleiben. Wir brauchen einen Hafen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Du kannst ihn später haben, wenn Boosaaso und Berbera an uns gefallen sind.«
Diya Baqi Majid unterbrach sie rüde. »Boosaaso steht mir ebenfalls zu!«
Sayyida hätte ihn gerne daran erinnert, dass er sich auf ihrem Schiff und damit auch in ihrer Hand befand, doch sie hatte vor diesem Treffen ihren Onkel als Geisel stellen müssen. Riskierte sie dessen Leben, würde sie sich die eigene Sippe zum Feind machen.
»Über die Verteilung der Städte können wir später reden. Zuerst ist es notwendig, ein Bündnis zu schließen. Wenn du uns unterstützt, wirst du das Oberhaupt der Warsangeli und Gouverneur der Provinz Sanaag werden. Entscheidest du dich jedoch gegen uns, so gibt es andere Clanführer unter den Warsangeli, die unseren Vorschlägen positiv gegenüberstehen.«
Sayyida sah, wie das Gesicht des Warlords dunkel anlief. In ihm stieg die Wut hoch bei der Vorstellung, ihr Juniorpartner zu werden. Doch er kannte den Ruf ihrer Milizen, und ihm war klar, dass diese ihre Überfälle jederzeit auch auf sein Gebiet ausdehnen konnten. Er wusste genauso gut wie sie, dass sie bereits einen großen Teil ihres Stammes, der Dulbahante, durch eine gut dosierte Mischung aus Gewalt, Drohungen und Versprechungen davon überzeugt hatte, sich ihr anzuschließen. Wenn sie wollte, konnte sie zehntausend Krieger in den Kampf schicken.
»Was ist?«, fragte sie, als Diya Baqi Majid nicht sofort antwortete.
Dieser blickte ihren Vater an, der dem Gespräch ohne sichtbare Regung folgte. »Spricht deine Tochter in deinem Sinn, Ehrwürdiger?«
»Meine Tochter spricht, als wäre sie mein Mund«, erklärte der alte Herr mit sanfter Stimme. »Es ist mein fester Wille, die Unordnung und den Unfrieden in unserem Volk zu beseitigen. Dazu ist es nötig, jene zu vernichten, die sich diesem Ziel entgegenstellen, und die anderen mit fester, strenger Hand zu leiten.«
»Und wo bleibe ich bei dieser strengen und festen Hand?«, fragte der Warlord misstrauisch.
»Du wärst die rechte Hand meines Vaters in der Provinz Sanaag«, antwortete Sayyida. »Er wird der erste Sultan der Somalis sein. Um dieses Ziel zu erreichen, hat mein Vater diese beiden Schiffe erobern lassen.«
Es schmerzte die Frau, ihre eigenen Verdienste, die die ihres Vaters bei weitem übertrafen, nicht herausstreichen zu dürfen, doch weder Diya Baqi Majid noch die anderen Anführer würden eine Frau als Oberhaupt anerkennen.
»Aber warum gerade diese beiden Schiffe?«, fragte der Warlord verwundert. »Dieses hier, das kann ich ja verstehen. Damit hat dein Vater mehr als zweitausend Geiseln in seine Hand gebracht und seinen Ruf unter den Somalis vermehrt. Doch was er mit dem kleinen Frachter will, kann ich nicht begreifen.«
Zum Glück!, fuhr es Sayyida durch den Kopf. Wüsste der Mann von den deutschen Waffen, würde er versuchen, sich zum Sultan eines möglichst großen Teils von Somalia aufzuschwingen.
»Die Kaperung der Caroline sollte die fremden Kriegsschiffe vor unseren Küsten von unserem eigentlichen Ziel ablenken. Außerdem konnten wir damit Abdullah Abu Na’im einen Gefallen tun. Er ist von dieser Reederei beleidigt worden.« Es ist immer gut, darauf hinweisen zu können, dass man einflussreiche Freunde hat, dachte Sayyida und verneigte sich in Richtung ihres Schwagers.
Diya Baqi Majid blickte den Saudi neugierig an. »Bist du ein Verwandter des ehrwürdigen Wafal Saifullah oder sein Verbündeter?«
»Beides«, erklärte Abdullah Abu Na’im. »Eine meiner Ehefrauen ist Wafal Saifullahs Tochter. Ich bin in der Lage, ihm über Freunde erfahrene Krieger zur Verfügung zu stellen, die den Kampfwert seiner Streitmacht um ein Vielfaches steigern werden. Mit ihrer Hilfe wird er das Sultanat Somalia errichten und halten.«
»Und was ist dein Preis?«, wollte der Warlord wissen.
Der Saudi lächelte ihn freundlich an. »Der Handel mit meiner Heimat wird durch meine Hand gehen, und keiner von jenen, die auf unserer Seite stehen, wird dabei zu kurz kommen. Allahs Gaben müssen gerecht verteilt werden.«
Damit war die Sachlage für Diya Baqi Majid klar. Wafal Saifullah wollte die Macht in Somalia mit Unterstützung von Saudi-Arabien ergreifen. Doch dies musste sich im Geheimen abspielen, da das Reich nicht in den Verdacht geraten wollte, mit Piraten zu paktieren. Über verdeckte Kanäle aber würden Geld, Waffen und Freischärler nach Somalia gelangen und den alten Mann und seine Tochter immer mächtiger werden lassen.
Der Warlord fragte sich, ob er zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch in der Lage war, sich gegen Wafal Saifullahs Milizen zu behaupten. Selbst wenn es ihm gelänge, sie vorerst zurückzuschlagen, würde es ihm nicht helfen, da Wafal Saifullahs Freischärler auf die Unterstützung der Dulbahante und einiger Warsangeli-Gruppen bauen konnten. Da war es besser, sich erst einmal mit ihnen zu verbünden und zu versuchen, in ihrem Schatten ebenfalls mächtiger zu werden.
Er winkte dem deutschen Kellner, ihm ein Glas Wasser zu bringen, und trank es bedächtig, während er nach der richtigen Formulierung suchte. »Um unserem Volk Frieden zu schenken, bin ich bereit, deine Oberherrschaft anzuerkennen, ehrwürdiger Wafal Saifullah.« Damit verbeugte er sich vor dem alten Mann und überlegte dabei, welchen Preis er für seine Parteinahme fordern konnte.
Sayyida stellte zufrieden fest, dass der Warlord sich unterwarf, und klatschte in die Hände. Sofort eilte eine ihrer Leibwächterinnen mit umgehängter Cobray M-11 auf sie zu.
»Du befiehlst, Herrin?«
»Bring den deutschen Kapitän und den Funker auf die Brücke. Es wird Zeit, den Ungläubigen unsere Forderungen zu übermitteln!«
ZWEI
Seine Hoffnung, die Person auf dem Gang würde an seinem Gefängnis vorübergehen, erfüllte sich jedoch nicht. Starr vor Angst hörte er, wie eine Chipkarte eingesteckt wurde, und sah dann die Tür aufgehen. Vor ihm standen zwei Piraten mit angeschlagenen Maschinenpistolen, und der Wink mit ihren Waffen war eindeutig. Ganswig stolperte nach draußen, erhielt einen Kolbenhieb und wurde wie ein Stück Vieh den Gang entlang zum Aufzug getrieben. Kurz darauf stießen ihn die Piraten auf die Brücke, wo die schreckliche Frau auf ihn wartete, die einen seiner Sicherheitsleute hatte töten lassen.
Sie sah nicht aus wie ein blutrünstiges Scheusal, sondern wirkte mit ihrer braunen Haut und dem ebenmäßigen Gesicht mit den nachtdunklen Augen sogar anziehend. Wahrscheinlich hatte sein Erster Offizier nur die Frau angestarrt und deren Begleiter völlig außer Acht gelassen, dachte Ganswig bitter.
Sayyida ließ dem Kapitän einige Augenblicke Zeit, sie zu mustern, und deutete dann auf den Funker, der bereits vor seiner Anlage saß. »Du wirst jetzt die Erklärung verlesen, die ich dir gebe. Nur ein falsches Wort, und du bist tot!«
Auf ihren Wink hin versetzte einer ihrer Männer Ganswig einen Stoß, der ihn an die Funkanlage taumeln ließ. Ein anderer reichte ihm ein Blatt Papier, auf dem ihre Forderungen auf Englisch aufgelistet waren. Ganswig las sie kurz durch und schauderte. All das, was die Anführerin der Piraten hier androhte, würde sie auch in die Tat umsetzen. Davon war er überzeugt.
»Geh auf Sendung!«, befahl Sayyida dem Funker.
Dieser gehorchte verängstigt. Auf ein mahnendes Hüsteln der Piratin hin ergriff Kapitän Ganswig das Mikrophon, musste aber zweimal ansetzen, bevor er ein Wort herausbrachte.
»Hier spricht Daniel Ganswig, der Kapitän der Lady of the Sea. Ich rufe die deutsche Regierung! Mein Schiff ist von somalischen Freiheitshelden in Gewahrsam genommen worden. Diese Helden verlangen nun Folgendes:
1. Die deutsche Regierung wird jeden Versuch unterlassen, dieses Schiff oder den Frachter Caroline mit Gewalt zu erobern.
2. Die deutsche Regierung wird jede Unterstützung der rebellischen Separatistenhunde des sogenannten Somalilands sofort und für alle Zeiten einstellen.
3. Als Ersatz für die Schäden, die deutsche Kriegsschiffe und Soldaten in Somalia und seinen Hoheitsgewässern angerichtet haben, wird Deutschland den somalischen Freiheitshelden eine Entschädigung von einhundert Millionen Dollar zahlen.
4. Für die Freilassung des Kreuzfahrtschiffs Lady of the Sea wird …«
In dem Augenblick erscholl der Erkennungston des Handys an Sayyidas Gürtel und brachte den Kapitän aus dem Konzept. Aus den Augenwinkeln sah er, wie das Gesicht der Piratin zu einer Maske des Zorns erstarrte. Sie sagte jedoch nichts, sondern hörte nur zu. Als sie das Handy vom Ohr nahm, ließ sie sich ein Stück Papier reichen und beschrieb es mit fliegenden Fingern.
»Mach weiter!«, sagte sie dabei leise, aber mit einem scharfen Unterton, der Ganswig das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er blickte wieder auf sein Blatt, nannte noch einmal den dritten Punkt der Forderungen und kam dann erst zu der Lösegeldforderung für sein eigenes Schiff samt den Passagieren und der Besatzung.
»4. Für die Freilassung des Kreuzfahrtschiffs Lady of the Sea wird die deutsche Regierung den somalischen Freiheitshelden eine Entschädigung in Höhe von fünfhundert Millionen Dollar bezahlen.
5. Die deutsche Regierung wird alle Kriegsschiffe aus dem Golf von Aden und dem Indischen Ozean abziehen.
Sollten diese Bedingungen nicht umgehend erfüllt werden, übernehmen die somalischen Freiheitshelden keine Garantie für das Leben der an Bord der Lady of the Sea befindlichen Personen.«
Ganswig glaubte, er sei fertig, aber da schob ihm einer von Sayyidas Männern den Zettel hin, den diese eben beschrieben hatte. Er hatte Mühe, die Buchstaben zu entziffern, las dann aber deutlich vor, was darauf stand.
»Die deutsche Regierung wird die somalischen Freiheitshelden, die bei dem abgewehrten Versuch, die Caroline zu erobern, in ihre Hände gefallen sind, umgehend freigeben und nach Laasqoray bringen lassen. Sollte dies von jetzt an in drei Stunden nicht geschehen sein, wird jede halbe Stunde ein Mann der Besatzung der Lady of the Sea erschossen.«
DREI
»Ich kann Ihnen den Funkspruch noch einmal vorspielen«, bot Jensen an. »Ganswig von der Lady klingt nicht so, als würde es sich um einen Scherz handeln. Vielmehr scheint er unter riesigem Druck zu stehen.«
»Das würde ich an seiner Stelle auch. Verdammt, wie sollen wir in drei Stunden entscheiden, ob die Kerle, die wir aus dem Wasser gefischt haben, freigelassen werden sollen oder nicht? Los, Jensen, nehmen Sie Kontakt zur Basis in Djibouti auf und geben Sie den Funkspruch weiter. Die sollen sich beeilen. Diese Schurken sind in der Lage, ihre Drohung wahrzumachen. Bei über siebenhundert Besatzungsmitgliedern auf der Lady sind das ein Haufen halbe Stunden, in denen sie jemand erschießen können.«
Noch während Diezmann seine Anweisung gab, stellte Jensen die Verbindung zur Kommandozentrale in Djibouti her und überspielte Ganswigs Ansprache, obwohl die starken Empfangsantennen der Basis diese bereits empfangen haben mussten. Doch wie er wusste, war der militärische Stab in der Hafenstadt froh, die Einschätzungen der Leute vor Ort zu erhalten.
Diezmann wurmte das zu spät zurückbeorderte Kommandounternehmen der Sondereinheit immer noch, aber als er darauf zu sprechen kam, wurde er von dem Verbindungsoffizier in der Zentrale abgewimmelt.
»Wir haben den Befehl in dem Augenblick weitergegeben, in dem wir ihn erhalten haben. Also suchen Sie die Schuld nicht bei unserer Dienststelle. Außerdem ist die Sache im Augenblick belanglos. Wir müssen beschließen, wie wir auf diese Erpressung reagieren sollen.«
»Wir sollten verhandeln und die gefangenen Piraten nicht eher freilassen, bevor man uns von Tarow und dessen Leute übergeben hat«, schlug Diezmann vor.
»Das übernehmen wir! Sie bleiben vor Ort. Wie lange brauchen Sie längstens nach Laasqoray?«
»Mindestens eine Stunde. Allerdings gibt es dort keinen richtigen Hafen, sondern nur eine Reede. Wir müssten die Kerle in Boote umladen und an Land bringen. Das benötigt Zeit. Also sollten sich die maßgeblichen Herrschaften ein wenig beeilen. Sachsen, Ende.«
Diezmann stieß die Luft aus den Lungen und drehte sich zu seinem Stellvertreter um. »Bringen Sie uns zwanzig Meilen näher an Land und bereiten Sie alles vor, damit wir die Piraten so schnell wie möglich ausladen können.«
»Aber der Befehl lautet, vor Ort zu bleiben«, wandte der Erste Offizier ein.
»Wenn wir die zwanzig Meilen fahren, sind wir deutlich näher vor Ort als jetzt«, gab Diezmann zurück. »So wie ich das Spiel kenne, wird wieder alles auf den letzten Drücker entschieden. Dann ist es gut, wenn wir schneller in Laasqoray sind. Oder wollen Sie, dass das ebenso in die Hose geht wie bei von Tarow?«
Darauf wusste sein Stellvertreter nichts zu antworten. Mit bellender Stimme erteilte er seine Befehle, und während die Sachsen Fahrt aufnahm, ärgerte er sich nicht weniger als sein Kapitän, weil sie vor den Piraten kuschen mussten.
VIER
»Das nächste Mal fliege ich auf eigene Kosten mit einer Linienmaschine«, schimpfte sie, als das Flugzeug wieder einmal abrupt absackte und sich erst etliche Meter tiefer wieder fing.
»Was sollen wir eigentlich in Somalia?«, fragte Henriette, die insgeheim hoffte, sich dort Torsten Renk anschließen zu können.
»Ich habe noch keine genauen Anweisungen erhalten«, gab Wagner zu. »Es hieß lediglich, wir sollen uns so rasch wie möglich auf den Weg machen.«
»Die Zeit hätte ich besser zu Hause am Computer verbracht«, warf Petra bissig ein. »In dieser Klapperschaukel kann ich meinen Laptop nicht einschalten, weil die Chips sonst Polka tanzen.«
»Sie werden in Djibouti einen Raum bekommen, in dem Sie arbeiten können.« Wagner fühlte sich von ihrem andauernden Meckern genervt, ärgerte sich aber noch viel mehr über den mangelnden Kommunikationsfluss mit seinen neuen Ansprechpartnern im Kanzleramtsministerium. Die Anweisung, mit seinem gesamten Team nach Somalia zu fliegen, hielt er für ausgemachten Unsinn. Weder Petra Waitl noch Hans Borchart waren für Aktionen vor Ort geeignet. Statt in einem unbequemen Flugzeug Däumchen zu drehen, hätte Petra in Deutschland wertvolle Arbeit am Computer leisten können.
Wagner grummelte immer noch vor sich hin, als die Tür des Cockpits aufging und der Funker der Maschine den Kopf hereinstreckte. »Herr Major, eben ist eine Nachricht für Sie gekommen!«
»Bin schon unterwegs.« Wagner stand auf und ging nach vorne. Als er nach einigen Minuten zurückkam, war er so bleich, dass die drei ihn besorgt anstarrten.
»Ist etwas passiert, Herr Major?« In ihrer Anspannung fiel Henriette wieder in militärische Gepflogenheiten zurück.
Wagner blieb vor ihr stehen und atmete tief durch. »Es tut mir leid, Frau von Tarow. Ich habe soeben erfahren, dass es vor der somalischen Küste Probleme gegeben hat. Ihr Bruder Dietrich ist mit vier Booten und siebzig Mann losgefahren, um die entführte Caroline zu befreien …«
»Aber die Aktion ist doch abgeblasen worden!«, rief Henriette aus.
»Leider zu spät! Irgendjemand in der Übermittlungskette hat den Zeitunterschied zwischen Deutschland und Somalia nicht berücksichtigt. Daher kam der Befehl zum Abbruch erst, als die Aktion bereits angelaufen war. Beim Rückzugsgefecht mit den Piraten sind nur zwei Boote entkommen. Das Ihres Bruders war leider nicht dabei.«
»Nein!« Henriettes Lippen zitterten, und sie presste krampfhaft die Hände zusammen. In Bruchteilen von Sekunden lief ihr Leben vor ihrem inneren Auge ab, und sie erinnerte sich an so vieles, was sie ihrem ältesten Bruder zu verdanken hatte. Dietrich war immer für sie da gewesen und hatte sie gegen jeden verteidigt, der sie wegen ihrer halbphilippinischen Herkunft auch nur schief angesehen hatte.
»Es gibt aber Hoffnung«, fuhr Wagner fort. »Die Sachsen hat ein Funksignal Ihres Bruders aufgefangen. Möglicherweise lebt er noch und ist in Freiheit. Eine Aufklärungsdrohne, die von der Sachsen gestartet worden ist, hat jedoch nur einige Ausrüstungsgegenstände vom Boot Ihres Bruders entdeckt, die mehrere Kilometer vor der Küste im Meer trieben. Niemand vermag zu sagen, ob der Funkspruch nach der Landung an der somalischen Küste abgesetzt worden ist oder …« Den Rest ließ Wagner ungesagt.
Henriette schüttelte den Kopf. »Dietrich lebt und ist frei! Wenn er in fremder Gewalt wäre, hätte er die Sachsen um Unterstützung gebeten.«
»Das klingt logisch«, mischte sich Petra ein, öffnete ihre Riesentasche und holte ihren Laptop heraus.
Wagner sah sie verwundert an. »Was wollen Sie tun?«
»Ich schalte eine Verbindung zu Torsten. Vielleicht findet er etwas über Henriettes Bruder heraus.«
»Auch wenn die Chips Polka tanzen?«
»Wenn sie das tun, besorge ich mir einen neuen Laptop, und zwar auf Kosten der Bundeswehr. Sie hätte uns auch ein besseres Flugzeug organisieren können!«
Petra fauchte kurz in Richtung Pilotenkanzel, obwohl die Männer dort am wenigsten für die unbequeme Reise konnten, und schaltete ihr Gerät an.
Henriette beugte sich zu ihr hinüber und las die Informationen mit, die Petra aus verschiedenen Computersystemen herausholte. Eine Zeit lang schimpfte ihre Kollegin leise über das Kompetenzgerangel zwischen dem Kanzleramts- und dem Verteidigungsministerium, dem auch der Befehl für den rechtzeitigen Abbruch der Kommandoaktion zum Opfer gefallen war. Als die Forderungen der »Freiheitshelden von Somalia« auf dem Bildschirm erschienen, verschlug es ihr erst einmal die Sprache.
Das Ausmaß der Drohungen erschien auch Henriette so erschreckend, dass sie für ein paar Augenblicke sogar die Sorgen um ihren Bruder vergaß.
»Wollten Sie nicht Renk anrufen?«, fragte Wagner, der das Gefühl hatte, Petra würde nur im Internet surfen.
Die Computerspezialistin maß ihn mit einem tadelnden Blick. »Ich muss Torsten schließlich Informationen liefern können. Schätze, er hat dort, wo er sich jetzt aufhält, nicht einmal CNN zur Verfügung. Da wir gerade beim Fernsehen sind: Einer unserer heimischen Sender bringt eben einen Sonderbericht über die Kaperung der Lady of the Sea. Es scheint, als hätten die Brüder eine Reporterin vor Ort. Seht euch das an!«
FÜNF
»Meine sehr geehrten Damen und Herren. Hier meldet sich Evelyne Wide von Bord der Lady of the Sea. Wie Sie bereits wissen, ist das Schiff vorgestern beinahe in Sichtweite der Malediven von somalischen Piraten gekapert worden. Dabei handelt es sich um eine bislang unbekannte Gruppierung, die sich die Freiheitshelden von Somalia nennt. Sie haben eine Kollision ihres Segelboots mit der Lady of the Sea provoziert und sind als angebliche Schiffbrüchige an Bord genommen worden. Nachdem die Gruppe das Schiff mit Drohungen und der Ermordung eines Besatzungsmitglieds in ihre Gewalt gebracht hat, sind in rascher Folge weitere Boote aufgetaucht, sodass sich jetzt mindestens einhundert Piraten auf dem Schiff befinden. Außerdem haben die Piraten mit Hubschraubern Verstärkung erhalten. Ich habe mehrfach Rotorgeräusche gehört.«
Evelyne unterbrach ihren Bericht, duckte sich, als hätte sie Angst, bemerkt zu werden, und fuhr etwas leiser fort. »Die Lage an Bord ist sehr angespannt. Wie ich von anderen Passagieren erfahren konnte, haben die Piraten inzwischen alle Männer des Sicherheitsdienstes exekutiert. Außerdem wurde der Teil der Mannschaft, der nicht dringend für den Betrieb der Maschinen und die Steuerung benötigt wird, auf den unteren Decks eingesperrt. Soweit ich es den Drohungen der Piraten entnehmen konnte, erhalten die Leute kaum Wasser und Verpflegung. Auch für uns Passagiere gibt es nur kaltes Essen in geringer Menge. Wasser erhalten wir lediglich einen Liter pro Tag. Die Zuleitungen zu den Kabinen sind ebenso abgeschaltet worden wie die Klimaanlage. Außerdem dürfen wir uns auf dem Schiff nicht mehr frei bewegen. Die Verhältnisse sind grauenhaft, und wir bitten die Reederei der Lady of the Sea, alles zu tun, um uns zu retten.«
Mit diesen Worten schloss die Reporterin und schaltete ihren Laptop ab. Ich bin gut gewesen, dachte sie und öffnete zur Belohnung eine der Coladosen, die sich im mittlerweile abgeschalteten Kühlschrank befanden. Die Flüssigkeit war lauwarm, aber sie trank, ohne abzusetzen. Mit dem Liter Mineralwasser, den die Piraten jedem Passagier zubilligten, kam sie bei der Hitze nicht aus.
SECHS
»Wachwechsel!«, rief er seinen Männern zu. Die beiden, die Leutnant Grapengeter schleppten, setzten die Trage aufatmend ab. Zwei andere Männer entledigten sich ihrer Rucksäcke und eilten nach vorne, um die beiden Soldaten abzulösen, die vor ihnen sicherten. Diese mussten sich nun um Grapengeter kümmern, während die anderen beiden sich die Rucksäcke aufluden.
»Können wir nicht endlich einen Funkspruch losschicken, damit wir abgeholt werden?«, fragte Fahrner missmutig.
Dietrich drehte sich verärgert zu ihm um. »Gerne! Aber nur dann, wenn Sie eine Möglichkeit kennen, die uns die Somalis so lange vom Hals hält, bis die Hubschrauber uns aufgenommen haben. Noch sind wir zu nahe an Laasqoray. Sollten die Kerle dort unseren Funkspruch auffangen, wimmelt es hier innerhalb kürzester Zeit von Freischärlern. Die Hubschrauber müssten uns freischießen und würden selbst unter Feuer geraten. Nein, Fahrner, wenn wir zu früh funken, geraten wir in Teufels Küche. Also spielen wir weiterhin toter Mann und können nur hoffen, dass die Somalis auf unseren Trick mit dem Boot hereingefallen sind. Wenn die glauben, wir wären mehrere Kilometer vor der Küste abgesoffen, werden sie uns nicht im Land suchen. Und jetzt weiter! Solange wir in Küstennähe sind, kann uns jeder Ziegenhirte auf zehn Kilometer Entfernung sehen.«
Die Männer stöhnten zwar, aber sie begriffen, in welcher Gefahr sie schwebten, und marschierten weiter. Dietrich achtete darauf, dass der Trupp jede Deckungsmöglichkeit ausnützte, die die karge Landschaft ihnen bot. Leider fehlten ihnen die passenden Tarnanzüge. Da ihr Operationsplan nur den Einsatz auf See vorgesehen hatte, war niemand auf die Idee gekommen, sie zur Sicherheit auch für eine Aktion an Land auszurüsten. Insbesondere die dicken Uniformen waren in der hier herrschenden Hitze fehl am Platz. Die Männer schwitzten heftig, und das war fatal in einem Land, in dem es nur wenige, von ihren Besitzern gut verteidigte Brunnen gab. Seine Männer in Unterhemden herumlaufen zu lassen, wagte er jedoch nicht, da die sengende Sonne jedes unbedeckte Stück Haut verbrannte. Medikamente, mit denen sie einen Sonnenbrand hätten behandeln können, fehlten ihnen ebenfalls.
»Fürchten Sie nicht, dass wir uns im Gebirge verlaufen?«, fragte einer der Männer an der Trage.
Dietrich schüttelte den Kopf. »Zu unserem Glück besitze ich noch meinen Kompass. Außerdem zieht sich der Gebirgszug in die Richtung, in die wir gehen müssen.«
Der Mann sah ihn erstaunt an. »Was ist denn Ihr Ziel?«
»Wir gehen nach Westen. Dort finden wir sicher einen Platz, an dem uns der Hubschrauber abholen kann, oder aber …« Er machte eine kurze Pause und sah seine Männer grinsend an. »Oder wir marschieren so lange in diese Richtung, bis wir auf Freunde stoßen.«
»Gibt es die in diesem Land überhaupt?«
»Nach etwa vierzig Kilometern müssten wir auf die ersten Vorposten von Somaliland stoßen. Da wir dort Verbindungsleute haben, werden die Brüder uns nicht gleich für Feinde halten.«
»Hoffen wir es!« Der Mann wirkte im ersten Augenblick erleichtert, wischte sich dann aber den Schweiß von der Stirn und starrte nach vorne. »Vierzig Kilometer bei der Hitze und ohne Wasser sind aber verdammt lang.«
»Vielleicht treffen wir unterwegs auf eine Kneipe, in der es kühles Bier gibt.« Obwohl er immer wieder in die Bewusstlosigkeit hinüberdämmerte, versuchte Leutnant Grapengeter, Optimismus zu verbreiten.
Dietrich winkte ihm dankbar zu und beschloss, das restliche Wasser in seiner Feldflasche für den jungen Mann zu reservieren. Die vierzig Kilometer, die sie bis zu den Grenzen Somalilands bewältigen mussten, hoffte er auch ohne Trinken durchzuhalten.
SIEBEN
Aber das alles waren harmlose Probleme gegen das, was ihr nun entgegenkam. Es handelte sich um ein ähnliches Fahrzeug wie das ihre und war mit vier Männern besetzt, von denen drei mit ihren Gewehren in ihre Richtung zielten. Zwar konnte Jamanah die Hoheitszeichen an den Seiten des Wagens nicht erkennen, doch es handelte sich mit Sicherheit nicht um Somalis aus ihrem Stamm, sondern um Warsangeli oder Majerten.
Sie war sich der Gefahr bewusst, in der sie nun schwebte. Wenn sie nicht riskieren wollte, erschossen oder vergewaltigt zu werden, musste sie sich etwas einfallen lassen. Daher hob sie den Arm und winkte den Männern zu. Die vertrauliche Geste schien deren Misstrauen zu besänftigen, denn die Läufe der Waffen senkten sich, und der Fahrer hielt seinen Geländewagen an.
»Sie halten mich für einen der ihren«, sagte Jamanah leise zu sich selbst. Das lag wohl an der Soldatenkleidung, die sie trug. Da die Tarnfleckenuniformen aller Milizen einander ähnlich sahen und deren Mitglieder einander oft nur anhand der aufgenähten Symbole erkennen konnten, bot ihr dies eine Chance.
Einer der Milizionäre rief etwas, das sie nicht verstand.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie mit vor Aufregung zu heller Stimme.
»Wie kommst du hierher, Kleiner?«
»Mit diesem Ding da!« Da Jamanah gleichzeitig über einen großen Stein fuhr, wurde ihr das Lenkrad aus der Hand gerissen, und der Wagen schwang scharf nach rechts. Mit einem Fluch brachte sie ihn wieder unter Kontrolle und hörte die Männer lachen. Dann aber merkte sie, dass der Zwischenfall ihr eine unerwartete Chance bot. Durch den Schwenk konnten die anderen ihren rechten Arm nicht mehr sehen. Vorsichtig griff sie nach unten, packte den Griff einer erbeuteten Cobray M-11 und löste die Sicherung. Dann wartete sie, bis sie den anderen Wagen fast erreicht hatte. In dem Augenblick drückte sie aufs Gas und feuerte gleichzeitig das gesamte Magazin auf die Männer ab.
Zwei Milizionäre sanken zusammen, bevor sie begriffen, was geschah. Ein weiterer gab noch ein paar Schüsse auf sie ab, verfehlte sie aber. Der letzte Freischärler duckte sich hinter einen seiner getroffenen Kameraden und zielte auf sie. Doch ehe er den Abzug seiner MP drücken konnte, explodierte die Munition in seinem Fahrzeug, und es gab einen Feuerball.
Der Knall ließ Jamanahs Ohren beinahe taub werden. Gleichzeitig packte sie die Angst. Diesen Krach hatten bestimmt auch andere Milizionäre gehört, und die würden sich gewiss nicht freuen, dass sie deren Kameraden getötet hatte. Ein Teil von ihr fragte sich, ob dies wirklich nötig gewesen war. Vielleicht hätte sie auch mit den Männern reden können. Was war, wenn es sich um Feinde der Sultana Sayyida gehandelt hatte, also um Verbündete?
Mit einem Mal war sie unendlich traurig. Offensichtlich war sie nicht zur Rächerin geboren. Doch sie war die Letzte ihrer Sippe, und sie wollte nicht mit dem Wissen weiterleben, dass die Mörder ihrer Familie ihrer Strafe entgingen. Gleichzeitig wurde das Gefühl in ihr stärker, eine aus der Art geschlagene Frau zu sein, die sich nicht in die Rolle schickte, die Allah ihr zugedacht hatte.
ACHT
»Irgendwann werden wir diese Mordbrenner erwischen und sie für alles bezahlen lassen«, erklärte Omar Schmitt, als sie mit einem in Laasqoray entwendeten Geländewagen an einem zerstörten Dorf vorbeifuhren.
Ein paar Kilometer weiter sah Torsten, wie somaliländische Soldaten das Gelände verminten.
»Wie wollt ihr diese Kerle bekämpfen, wenn ihr euch hinter Minen einsperrt?«, fragte er.
Omar Schmitt lachte kurz auf. »Es gibt Wege durch die Minenfelder, die nur wir kennen. Sollten diese Schurken weitere Dörfer angreifen, werden sie nicht über den Minengürtel hinauskommen. Wenn sie dann fliehen, folgen wir ihnen über die freien Korridore und fassen sie am Wickel.«
»Na, dafür wünsche ich euch viel Glück.« Torstens Begeisterung für seinen Auftrag in Somaliland hatte inzwischen mehr als einen starken Dämpfer erhalten. Die Situation in dieser Weltgegend war trotz seiner Erfahrungen in Afghanistan so verwirrend, dass er sich nur mühsam zurechtfand. Den Politikern und Militärs zu Hause, die in klimatisierten Räumen ihre Pläne machten, wünschte er einen mehrwöchigen Aufenthalt in dem Land, damit sie endlich begriffen, was sich hier wirklich tat. Vor Ort würden sie in fünf Minuten mehr lernen als daheim aus ihren ganzen schlauen Papieren.
Die Straße, die sie nun erreichten, wurde besser instand gehalten als die Pisten im östlichen Teil der Provinz Sanaag, und so konnte Omar Schmitt aufs Gas treten. »Heute Abend sind wir in Xagal. Dort werden wir mit Al Huseyin zusammentreffen und können besprechen, wie wir weiter vorgehen«, erklärte er zufrieden.
Torsten stieß die Luft aus. »Vor allem aber kann ich wieder Kontakt mit meiner Dienststelle aufnehmen und Informationen erhalten. Mal sehen, ob es Neues über die Lady of the Sea gibt. Ich kann noch immer nicht fassen, dass es den Piraten gelungen sein soll, dieses Schiff zu kapern. Immerhin ist es mit den modernsten Geräten ausgestattet und hat eigene Sicherheitsleute an Bord.«
»Die Piraten haben dort genauso überraschend zugeschlagen wie die Todesschwadronen bei uns. Allerdings können sie es in unserem Bereich nicht ohne die heimliche Zustimmung der Warsangeli und Dulbahante tun. Doch wenn wir gegen diese Stämme Krieg führen, mischen sich die Majerten ebenso ein wie die islamische Al-Shabaab.«
»Könnt ihr die Gegend nicht aus der Luft überwachen?«, fragte Torsten.
»Womit denn? Die beiden alten Transportmaschinen, die wir besitzen, holen die Kerle mit Raketen vom Himmel, die ein einzelner Mann tragen und abschießen kann. Und unser einziges Kampfflugzeug ist eine uralte MIG-17 – und die ist defekt.«
Torsten spürte eine mit Mutlosigkeit gepaarte Müdigkeit, die Omar Schmitt niederdrückte. Offensichtlich hatte der Mann damit zu kämpfen, dass seine Möglichkeiten einfach nicht ausreichten, um seinem Land zum Frieden zu verhelfen.
»Vielleicht wird es besser, wenn wir einige Dutzend Leute im Antiterrorkampf ausgebildet haben«, versuchte er Schmitt Mut zu machen.
Der Halbsomali nickte mit verkniffener Miene. »Das hoffe ich auch. Allerdings bräuchten wir dafür Zeit. Stattdessen müssen wir uns mit diesen verdammten Piraten herumschlagen. Ich hoffe nur, die Kerle merken nicht, was die Caroline wirklich geladen hat. Sonst hilft uns auch die beste Antiterroreinheit nichts mehr.«
»Wir kriegen das Schiff, Schmitt, und wenn wir beide uns allein auf die Socken machen müssen. Doch vorher sollte die Lady of the Sea freikommen. Wenn es auf dem Kreuzfahrtschiff zu einem Blutbad kommt, kann sich die Regierung in Deutschland einen Grabstein bestellen und einbuddeln.«
NEUN
Torsten sah nach vorne und krauste die Stirn. Vier Soldaten standen dort, drei von ihnen nur teilweise in Uniform, aber jeder mit einem Sturmgewehr in der Hand. Drei schlugen die Waffen auf den langsam heranrollenden Wagen an, während der vierte Warnschüsse in die Luft abgab.
»Ihre Freunde sind ja arg nervös«, sagte Torsten zu seinem Begleiter.
»Die Grenze ist unsicher. Da müssen die Männer wachsam sein. Halten Sie die Hände ruhig. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas passiert.« Dann hob Omar Schmitt die rechte Hand und winkte den Soldaten zu. »Wir sind Freunde!«
»Stehen bleiben!«, herrschte ihn der Uniformierte an, den seine Rangabzeichen als Sergeanten auswiesen.
Omar Schmitt stoppte den Wagen zwanzig Meter vor der Hütte und wartete, bis zwei der Männer herangekommen waren. »Ich bin Oberst Omar Salil von der Ersten Brigade der Nationalgarde, und das hier ist Oberstleutnant Torsten Renk aus Deutschland. Wir kommen gerade von einer Feinderkundung zurück.«
»Das kann jeder sagen. Steigen Sie aus und heben Sie die Hände. Wird’s bald!« Ein kräftiger Stoß mit dem Lauf seiner Kalaschnikow verlieh der Forderung des Soldaten den nötigen Nachdruck.
»Ich sagte, ich bin Oberst Salil«, erwiderte Omar Schmitt grollend. »Die Parole ist Nasiye! Also lassen Sie uns durch!«
»Raus, sonst knallt es!« Der Soldat krümmte den Zeigefinger.
»Der Kerl meint es ernst«, raunte Torsten seinem Begleiter zu und stieg mit betont hochgehaltenen Händen aus dem Wagen. Auch Omar Schmitt verließ jetzt den Wagen, zog dabei jedoch ein Gesicht, als wollte er die Soldaten am liebsten roh verspeisen.
Die Männer zwangen sie, sich gegen den Wagen zu lehnen, und durchsuchten sie. Geldbeutel, Schlüssel und was sie sonst noch bei sich hatten, wanderten in die Taschen der Soldaten. Dann plünderten sie auch noch ihr Fahrzeug und nahmen Torstens Tasche mit dem Laptop an sich. Torsten stieß einen wütenden Fluch aus, hielt aber angesichts der auf seinen Rücken zeigenden Gewehre still. Omar Schmitt hingegen wurde laut.
»Das sind wichtige Unterlagen, die dringend nach Xagal gebracht werden müssen! General Mahsin lässt euch an die Wand stellen, wenn diesen Sachen etwas passiert!«
Obwohl er einen weiteren schmerzhaften Hieb erhielt, schienen seine Worte Eindruck zu machen. Die vier Kerle unterhielten sich leise miteinander, ohne ihre Gefangenen dabei aus den Augen zu lassen, und kamen schließlich zu einer Entscheidung.
»Hände auf den Rücken«, schnauzte der Sergeant Torsten und Omar Schmitt an. Zwei Soldaten traten auf sie zu und fesselten sie. Dann trieb man sie auf den Rücksitz des Geländewagens und knallte Omar Schmitt die Tasche mit dem Laptop auf die Oberschenkel. Während sich ein Soldat ans Steuer setzte, nahm der Sergeant auf dem Beifahrersitz Platz.
»Wenn ihr nur mit den Wimpern zucken solltet, erschieße ich euch, und die Sache hat sich erledigt!«
ZEHN
Seine Begleiter atmeten auf. Da klang ein leiser Warnruf von weiter oben auf. Einer der beiden Männer, die als Aufklärer vorausgegangen waren, winkte heftig und rannte dann auf sie zu.
»Wir haben Kamelreiter entdeckt«, meldete er, als er bei Dietrich angelangt war. »Es sind mindestens zehn und alle bewaffnet!«
Der letzte Hinweis war eigentlich überflüssig, dachte Dietrich. In diesem Land gehörte ein Gewehr zu den üblichen Ausrüstungsgegenständen eines Mannes, ähnlich wie in Deutschland das Handy. »Sind es normale Hirten oder Milizionäre?«
Diese Frage war nicht leicht zu beantworten, da einzelne Uniformjacken oder -hosen auch in die Hände von Zivilpersonen geraten waren und andererseits nicht wenige Freischärler ihre Alltagskleidung trugen. Trotzdem war der Soldat sich sicher.
»Es sind Milizionäre! Sie tragen ausnahmslos Tarnuniformen und scheinen etwas oder jemanden zu suchen.«
»Dann sollten wir uns verstecken.« Dietrich winkte seinen Männern, ihm zu folgen, und lief auf einen großen Felsen zu, der ihnen Deckung versprach. Die anderen kamen hinter ihm her und machten ihre Waffen schussfertig.
»Verbergt euch! Geschossen wird nur auf mein Kommando«, befahl Dietrich.
Er hoffte, die Fremden würden an ihnen vorbeireiten, ohne sie zu bemerken. Auch wenn er sich und seinem Trupp gute Chancen gegen zehn Milizionäre ausrechnete, so würde der Schusswechsel jeder Person in weitem Umkreis verraten, dass sich Eindringlinge oder Flüchtlinge hier befanden. Ob man sie dann noch rechtzeitig mit einem Hubschrauber holen könnte oder sie nach Somaliland entkommen konnten, war höchst zweifelhaft.
»Wo ist Fahrner?«, fragte er den Mann, der die Reiter gemeldet hatte.
»Der wollte die Kerle weiter beobachten.«
»Hoffen wir, dass er auf seine Deckung achtet«, sagte Dietrich und schaute nach vorn.
Die Kamelreiter bildeten eine weit auseinandergezogene Linie mit dem vordersten Reiter etwa hundert Meter vor der Hauptgruppe. Gut einen halben Kilometer hinter dem Trupp ritten zwei Männer als Nachhut. Diese blickten sich immer wieder um und hielten die Gewehre schussbereit.
»Das sind keine heurigen Hasen«, raunte Dietrich seinen Männern zu. »Seid still!«
Im nächsten Augenblick erklang weiter oben das Geräusch eines fallenden Steines, und für einen Moment war das Bein eines Mannes zwischen den Felsen zu sehen.
Die Reiter reagierten sofort. Während zwei die Stelle unter Feuer nahmen, ließen die anderen ihre Kamele knien und sprangen aus den Sätteln.
»Das war Fahrner, dieser Idiot!«, stieß einer der Männer aus.
Dietrich war zwar der gleichen Meinung, raunzte ihn aber leise an. »Maul halten! Oder willst du, dass die Kerle uns zu früh entdecken? Zwei Mann bleiben bei den Verwundeten. Die anderen drei kommen mit mir!«
Voller Wut, weil ihm nichts anderes übrigblieb, als zu kämpfen, wollte Dietrich dem in Bedrängnis geratenen Fahrner zu Hilfe eilen.
Da hielt Grapengeters Stimme ihn zurück. »Vielleicht sind es Freunde! Wir sind doch bald in Somaliland.«
»Für Freunde ist mir die Begrüßung der Kerle etwas zu bleihaltig.« Trotz dieser bissigen Worte überlegte Dietrich, ob er nicht doch versuchen sollte, Kontakt zu den Fremden aufzunehmen. Doch welche Sprache verstanden sie? Er kannte keines der hier gebräuchlichen Idiome. Schließlich versuchte er es in einem primitiven Englisch.
»Hello! We are friends. No shooting!«
Die Antwort bestand aus einem Kugelhagel in seine Richtung. Dietrich warf sich zur Seite und drückte den Abzugbügel seiner MP5 durch. Gleichzeitig begannen seine Männer zu schießen, und Fahrner schleuderte zwei Handgranaten auf die Feinde, die sich bereits nahe an ihn herangearbeitet hatten.
Auf so viel Widerstand waren die Freischärler nicht gefasst gewesen. Als zwei von ihnen getroffen liegen blieben, wichen die anderen zurück und versuchten, ihre Kamele zu erreichen.
»Kommt! Wir müssen die Viecher kriegen. Sonst sind wir im Eimer!«, schrie Dietrich und rannte los. Zwei Männer folgten ihm, während Fahrner von oben herabkletterte und dabei auf die Milizionäre schoss.
Diese hatten ihre Kamele fast erreicht und feuerten, als die Verfolger aus dem Felsgewirr auftauchten. Dietrich duckte sich, als mehrere Geschosse knapp über ihn hinwegpfiffen, schoss dann selbst und sah einen Mann, der bereits auf seinem Kamel saß, zusammenzucken. Dennoch blieb der Reiter im Sattel und trieb sein Tier an, das mit einer für die Deutschen erstaunlichen Geschwindigkeit verschwand. Auch den restlichen Freischärlern, die das erste Gefecht überlebt hatten, gelang es, auf die Kamele zu steigen und die Zügel der übrigen Tiere an sich zu raffen, sodass diese nicht in die Hände der Feinde fallen konnten.
Dietrich und seine Soldaten schossen noch ein paar Kugeln auf die Kerle ab, sahen sie aber ohne Ausnahme in der Ferne entschwinden.
»So ein Mist!«, schimpfte Dietrich, rot vor Wut. »Fahrner, ich könnte Sie in der Luft zerreißen. Warum konnten Sie nicht aufpassen?«
Der Soldat stand wie ein Häuflein Elend vor ihm. »Es tut mir leid. Mein rechtes Bein war eingeschlafen, und ich wollte es nur ein wenig bewegen. Dabei bin ich gegen diesen elenden Stein gestoßen.«
»Sie haben uns kräftig in die Scheiße geritten. Spätestens heute Abend wird es hier von Feinden wimmeln. Also müssen wir zusehen, dass wir bis dorthin noch ein paar Kilometer hinter uns bringen, und dann die Sachsen rufen!« Dietrich wollte zu dem Felsen zurück, um sein Gepäck zu holen, da hörte er aus der Ferne Motorengeräusche, die langsam näher kamen.
»Ich glaube, den Hubschrauber können wir vergessen!«, knurrte er und lud seine Waffe neu.
ELF
Während sie die Landschaft aufmerksam musterte, um einen Platz zu finden, an dem sie ihr störrisches Gefährt wenden konnte, musste sie daran denken, wie viel Glück sie bis jetzt gehabt hatte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass in der Grenzregion zwischen den Isaaq und den Warsangeli eine Unmenge Minen ausgelegt worden waren. Leicht hätte sie auf eine davon fahren und sterben können.
Bei dem Gedanken war sie kurz davor, den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß in Richtung Heimat zu gehen. Doch noch während sie darüber nachdachte, hörte sie in nicht allzu großer Entfernung Schüsse krachen. Sie unterschied ohne Mühe zwei Arten von Waffen. Die einen klangen ähnlich wie ihre Kalaschnikow. Die anderen hingegen feuerten in einem schnelleren Takt, der sie an die Maschinenpistolen erinnerte, mit denen Sultana Sayyidas Mordbrenner ihr Dorf überfallen und ihre Familie und ihre Freunde getötet hatten.
Unwillkürlich neigte sich ihre Sympathie den Männern mit den langsamer schießenden Waffen zu. Gleichzeitig fragte sie sich, was sie tun sollte. Am sinnvollsten erschien es ihr, den Wagen zu drehen und den Ort des Kampfes so weit wie möglich zu umfahren. Aber wenn die eine Partei Freunde waren und die anderen Feinde, so war es ihre Pflicht, zu Gunsten jener einzugreifen. Sie besaß fünf Feuerwaffen, die alle geladen waren, und zudem den großen Wagen. Vielleicht konnte das den Ausschlag geben. Den Gedanken, selbst bei dieser Schießerei umzukommen, schob sie von sich. Allah hatte ihr Leben erhalten, während alle anderen gestorben waren, und das musste seinen Grund haben.
Mit diesem Gedanken schaltete sie in einen schnelleren Gang. Da sie vergaß, die Kupplung zu treten, krachte es fürchterlich. Dann aber ruckte der Wagen, und sie fuhr mit der höchsten Geschwindigkeit, die sie sich zutraute, auf die Stelle zu, an der das Feuergefecht stattfand.
Nach einer Weile ließ der Gefechtslärm nach und verstummte dann ganz. Die letzten Schüsse, die sie vernahm, waren jene aus den Maschinenpistolen, die sie so hasste.
Jamanah erreichte eine Anhöhe und bewältigte diese problemlos. Als sie über die Kuppe fuhr, sah sie in der Ferne einige Kamelreiter, die sich hastig davonmachten und dabei mehrere unberittene Kamele mit sich führten. Sie fühlte Tränen der Enttäuschung in sich aufsteigen. Sowohl die Richtung, in die diese Reiter verschwanden, als auch deren Kleidung deuteten nicht auf Leute ihres Stammes hin, sondern eher auf Milizionäre des Warsangeli-Anführers Diya Baqi Majid. Bei den Männern, mit denen sie vor einigen Stunden aneinandergeraten war, musste es sich ebenfalls um dessen Leute gehandelt haben. Nun wurde ihr klar, dass sie sich auf deren Territorium befand, und sie schalt sich, weil sie nicht eher daran gedacht hatte.
Eine Bewegung zwischen den Felsen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Angespannt richtete sie ihre Kalaschnikow darauf, schoss aber noch nicht. Da tauchte auf einmal ein Mann vor ihr auf und fuchtelte mit den Armen. Im ersten Impuls stieg Jamanah auf die Bremse, wollte dann aber wieder Gas geben und den Mann überfahren. Da hechtete von der Seite ein anderer Mann auf ihren Wagen zu, riss die Tür auf und richtete den Lauf einer Maschinenpistole auf ihren Kopf. Dabei sagte er etwas, das sie nicht verstand. Seine Geste jedoch war eindeutig.
Für einen Augenblick schwankte Jamanah, ob sie gehorchen und den Wagen anhalten oder weiterfahren und sich erschießen lassen sollte. Der Wunsch, weiterzuleben, den sie seit jenen schrecklichen Stunden nur noch schwach gespürt hatte, erwachte zu ihrer eigenen Überraschung nun mit aller Macht. Sie trat auf die Bremse, kuppelte den Gang aus und hob die Arme. Gleichzeitig verfluchte sie sich wegen ihrer Schwäche und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Obwohl ihr Blick getrübt war, erkannte Jamanah, dass sie es nicht mit Einheimischen zu tun hatte. Dafür sahen Waffen und Uniformen zu neu aus, und sie waren alle gleich gekleidet. Auch trugen die Männer Gürtel mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen und Helme, die die hellen, von der Sonne geröteten Gesichter beschatteten. Von solchen Leuten, sagte Jamanah sich, hatte sie wohl keine Gnade zu erwarten. Daher wollte sie nach ihrer Waffe greifen, um kämpfend zu sterben.
ZWÖLF
Nun bedauerte er es, auf der Fahrerseite zugegriffen zu haben, denn die Waffen des Jungen lagen auf dem Beifahrersitz, und an die kam dieser auf jeden Fall schneller als er. Um ihrer Sicherheit willen würde er seinen Gefangenen erschießen müssen, falls dieser versuchte, nach einer der MPs zu greifen.
»Fahrner! Machen Sie die Beifahrertür auf und holen Sie die Waffen heraus«, befahl er dem Soldaten und hielt die Mündung seiner MP5 gegen die Schläfe des jungen Burschen gepresst.
»Mach keinen Unsinn, Kleiner. Ich werde dich schon nicht fressen«, sagte er auf Englisch. Dem fragenden Blick seines Gefangenen nach zu urteilen, verstand dieser ihn nicht.
Dietrich griff um den Burschen herum, um dessen rechten Arm zu packen, und bemerkte dabei den ängstlichen Ausdruck auf dessen Gesicht. Mit einem Lächeln, das beruhigend wirken sollte, schüttelte er den Kopf. »Wir fressen dich wirklich nicht.«
»So, da bin ich!« Fahrner riss die Beifahrertür auf und griff nach den Waffen.
Als sich der Körper seines Gefangenen anspannte, zerrte Dietrich von Tarow ihn aus dem Wagen heraus. »So gefällst du mir schon besser. Die Spielzeuge dort sind nichts für kleine Jungs!«
»Was sollen wir mit dem Kerl machen?« Fahrner hatte Jamanahs Kalaschnikow und die vier Cobray M-11 an sich gebracht und zeigte sie dem Major. »Was sagen Sie zu dieser Ausrüstung? Eine uralte Knarre und modernste amerikanische MPs. Der Kleine hält sich anscheinend für eine ganze Armee!«
Dabei starrte er den Gefangenen an, der noch ein paar Zentimeter größer war als er. Er selbst maß mit nackten Sohlen einen Meter sechsundachtzig und war nach dem Zweimeterriesen von Tarow der Zweitgrößte in der Kompanie.
Auch Dietrich wunderte sich über die Statur seines Gefangenen, noch mehr aber über das hübsche, zart geschnittene Gesicht und die von langen schwarzen Wimpern beschatteten dunklen Augen. Ein Verdacht stieg in ihm auf, und ohne nachzudenken, griff er Jamanah an die Brust. Noch während er eines der kleinen Hügelchen mit den Fingern ertastete, riss die junge Frau ihr Knie hoch und traf ihn dort, wo es am meisten wehtut.
Er klappte keuchend zusammen, sah dabei aus den Augenwinkeln, wie Fahrner und ein anderer Soldat auf seine Gefangene anlegten, und hob die Hand.
»Nicht schießen, ihr Idioten!«, presste er mühsam hervor und zwang sich unter Aufbringung aller Willenskraft wieder in die Senkrechte. »Tut mir leid, dass ich dir an die Brust gefasst habe, aber musstest du mir deswegen gleich in die Klöten treten? Eine schlichte Ohrfeige hätte es doch auch getan.«
»Hä?«, sagte Fahrner und sah alles andere als intelligent aus.
»Wir haben keinen Gefangenen gemacht, sondern eine Gefangene. Also benehmt euch!«, erklärte Dietrich scharf.
Nun nahm er den Geländewagen unter die Lupe und wunderte sich, dass die Treibstoffanzeige fast auf null stand, obwohl auf der Ladepritsche mehrere Kanister standen, die, als er daran rüttelte, voll zu sein schienen.
»Fahrner, tanken Sie den Kasten nach. Die anderen holen Grapengeter und die restlichen Verwundeten. Seht zu, dass ihr alle auf der Ladepritsche unterkommt. Mit diesem Ding müssten wir Somaliland erreichen.«
Froh, dieser unwirtlichen und gefährlichen Gegend entkommen zu können, schleppten seine Leute die Trage mit dem schwerverletzten Leutnant und ihre Ausrüstung heran, luden alles auf den Wagen und schwangen sich auf die Ladepritsche.
Dietrich reichte ihnen Jamanahs Waffen und sah dann die junge Frau auffordernd an. »Es dürfte auch für dich zu gefährlich sein, hier zurückzubleiben. Daher solltest du mit uns kommen.« Weil Jamanah nicht sofort reagierte, schob er sie auf die Beifahrertür zu. Zwar machte sie eine abwehrende Geste, stieg aber dann doch ein.
Sie wollte sich schon hinter den Fahrersitz schwingen und den Motor anlassen. Dietrich aber schoss um den Wagen herum und hechtete hinein. »So haben wir nicht gewettet, Schwester! Jetzt fahre ich, verstanden?«
Natürlich verstand sie ihn nicht, dachte er bedauernd und wünschte sich, ihre Sprache wenigstens rudimentär zu beherrschen. Vorerst würden Gesten und Handzeichen ausreichen müssen, um ihr zu erklären, was er von ihr wollte. Zu seiner Erleichterung kehrte sie auf den Beifahrersitz zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte durch die Windschutzscheibe. Dietrich löste die Bremse, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Nachdem er den Wagen gewendet hatte und durch das zerklüftete Gebiet Richtung Nordosten fuhr, beschäftigten seine Gedanken sich mehr mit der jungen Frau an seiner Seite als mit dem misslungenen Kommandounternehmen.
Jamanah wusste nicht, was sie von dem Ganzen halten sollte. Ein Somali hätte sie für den Stoß in seine empfindlichsten Teile umgebracht. Doch der Mann, der jetzt den Wagen steuerte, war anders als ihre Landsleute. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so groß und dabei so breit gebaut war. Auch wirkte er auf sie trotz aller Lässigkeit wie ein zum Sprung bereiter Löwe. Sie hatte es mit einem gefährlichen Feind zu tun, dem sie wie ein zahmes Schaf in die Falle gelaufen war. Sie machte sich Vorwürfe, denn gerade hier im Grenzgebiet hätte sie besonders vorsichtig sein müssen.
Zu ihrer Verzweiflung kam noch ein körperlicher Schmerz in ihrem Unterleib hinzu. Ihr Vorsatz, sich nichts anmerken zu lassen, hielt nicht lange, da das Stechen schließlich so stark wurde, dass sie aufstöhnte.
Der Mann sah kurz zu ihr herüber, besorgt, wie sie zu ihrer Verwunderung bemerkte. Gleichzeitig klopfte einer der Soldaten, die sich hinten auf der Ladefläche befanden, gegen das Blech des Fahrerhauses. »Herr Major, nichts gegen Ihren Fahrstil, aber sollen die Grenzgebiete nicht vermint sein?«
Daran hatte Dietrich in seiner Erleichterung, ein passendes Fahrzeug gefunden zu haben, nicht gedacht. Er bremste ab und hielt den Wagen im Schatten einer Felswand an.
»Mit dieser Warnung haben Sie Ihren Schnitzer von vorhin wenigstens zum Teil wettgemacht, Fahrner. Wir haben doch zwei moderne Sprengstoffwarngeräte dabei, mit denen wir auf der Caroline nach versteckten Sprengfallen suchen sollten. Befestigt die Dinger rechts und links an der vorderen Stoßstange. Ich sehe inzwischen nach Grapengeter. Wenn es ihm zu schlecht geht, rufe ich doch einen Helikopter.«
»Dann brauchen wir das Gerät nicht an den Wagen zu schrauben«, wandte Fahrner ein.
»Ich fahre lieber zweigleisig«, antwortete Dietrich, der die junge Frau nicht aus den Augen ließ. Gerade öffnete sie vorsichtig die Beifahrertür und schlüpfte hinaus. Mit wenigen langen Schritten war er bei ihr.
»Halt, Schwester. Ich möchte nicht, dass du uns abhandenkommst und deine Freunde holst.«
Das Ziehen im Unterleib war mittlerweile so stark, dass Jamanah mit den Tränen kämpfte. Verzweifelt überlegte sie, wie sie dem Mann erklären konnte, dass sie einen Augenblick allein sein wollte. Schließlich hockte sie sich hin und hoffte, dass er diese Geste verstand.
Dietrich kniff die Augen zusammen und sah sich um. Etwa fünfzig Meter entfernt entdeckte er ein paar Felsbrocken, die groß genug waren, damit ein Mensch sich dahinter verbergen konnte. Kurz entschlossen fasste er seine Gefangene am Arm und zog sie dorthin. Dann zeigte er auf die Felsen und bedeutete der Frau, dass sie sich dahinter verbergen könnte.
»Keine Angst, wir lassen dich in Ruhe. Aber du wirst nicht verschwinden! Verstanden?« Damit drehte er sich um und setzte sich ein Stück entfernt auf einen kleineren Felsen.
Jamanah spürte seine Wachsamkeit. Sie würde keine Chance haben, wegzulaufen. Doch zunächst einmal forderte ihr Körper sein Recht. So rasch sie konnte, verschwand sie hinter dem größten Felsen und zog ihre Hose herab. An ihren Schenkeln klebte Blut. Zuerst erschrak sie, dann aber atmete sie erleichtert auf. Ihr Mond war zurückgekehrt. Damit war das Schlimmste, was ihr hätte geschehen können, nämlich von den Mördern ihrer Familie geschwängert worden zu sein, nicht eingetreten. Allerdings warf das neue Probleme auf. Sie hatte weder Tücher noch trockenes Gras, um sich eine Binde zu machen.
Schließlich zog sie ihre Jacke und ihr Hemd aus, riss einen der Hemdsärmel mit Hilfe ihrer Zähne ab und verwendete diesen als Binde. Nachdem sie sich erleichtert und wieder angezogen hatte, fühlte sie sich besser. Mit einem Lächeln, das Dietrich nicht zu deuten wusste, kam sie hinter dem Felsen vor und ging wieder zu dem Pritschenwagen zurück.
Da sie die Jacke nur über die Schulter gelegt hatte, sah Dietrich das Hemd mit dem abgerissenen Ärmel und kratzte sich im Genick. Frauen waren doch seltsame Geschöpfe, dachte er und sagte sich, dass er sich weniger um seine Gefangene als vielmehr um die verletzten Männer seines Trupps kümmern sollte.
Grapengeter und die beiden weniger stark blessierten Soldaten waren so gut versorgt worden, wie es unter diesen Umständen möglich war. Trotzdem überlegte Dietrich erneut, den Hubschrauber zu alarmieren. Er ging davon aus, dass sie weit genug von den Stützpunkten der Piraten entfernt waren, um einen kurzen Funkspruch wagen zu können.
Er nahm sein Funkhandy zur Hand und drückte die Taste, die ihn mit der Sachsen verbinden sollte. Es dauerte keine drei Sekunden, da hörte er eine aufgeregte Stimme.
»Von Tarow, sind Sie es?«
»Höchstpersönlich. Wir sind inzwischen ein ganzes Stück westlich von Laasqoray in der Nähe eines ziemlich hohen Berges. Vor etwa zwei Kilometern haben wir einen Weg gequert, der aus den Bergen heraus zur Küste zu führen scheint.«
»Der Berg müsste der Shimbiris sein und die Straße die von Cheerigaabo nach Maydh. Von Maydh führt die Küstenstraße nach Westen. Etwa sechzig Kilometer hinter Maydh liegt bei Raguuda der erste Vorposten der Republik Somaliland.«
»Sie rattern die Daten herunter wie ein Lexikon«, sagte Dietrich leicht genervt. »Anstatt der Fahranweisung wäre uns ein Hubschrauber lieber.«
»Negativ! Wir können Ihnen keinen schicken, Herr Major.«
»Wir haben Verwundete, die dringend ins Krankenrevier gehören.«
Der Funker der Sachsen stieß ein bitteres Lachen aus. »Wir würden Ihnen wirklich gerne einen Hubschrauber schicken. Aber es gibt Probleme. Die Piraten haben das Kreuzfahrtschiff Lady of the Sea gekapert und drohen damit, Passagiere zu erschießen, wenn wir uns der somalischen Küste nähern. Tut mir leid, Herr Major. Sie werden sich auf eigene Faust durchschlagen müssen. Maydh müssen Sie im weiten Bogen umgehen. Die Stadt gehört mittlerweile zum Einflussgebiet des Warlords Diya Baqi Majid, und der wird mit den Piraten in Verbindung gebracht.«
»Danke für die Warnung. Wenigstens Sie haben sich die Mühe gemacht, uns zu helfen. Von Tarow Ende!« Dietrich schaltete das Funkgerät ab und sah seine Männer ernst an. »Wir kriegen keinen Hubschrauber, sondern sollen uns nach Somaliland durchschlagen. Also kontrolliert mal unsere Vorräte und vor allem den Diesel im Tank. Wenn der nicht reicht, sehen wir alt aus.«
»Scheiße! Was denken diese Arschlöcher sich eigentlich?«, fuhr Fahrner auf.
»Sicher mehr als Sie«, konterte Dietrich gelassen. »Die Piraten haben ein Kreuzfahrtschiff in ihre Gewalt gebracht und drohen damit, die Passagiere zu erschießen, wenn unsere Leute irgendetwas unternehmen. Unter diesen Umständen ist es klar, dass sie uns nicht helfen können. Und jetzt quatscht nicht länger, sondern seht zu, dass ihr auf der Plattform Verteidigungsstellung einnehmt. Es kann sein, dass uns ein paar blaue Bohnen um die Ohren fliegen, wenn wir auf die falschen Leute treffen.«
Dietrich trieb seine Männer an, alles zu kontrollieren. Dank Jamanahs Beute verfügten sie nun über genug Vorräte, auch wenn sie die Aufschrift auf den Dosen nicht lesen konnten. Allerdings drohte das Wasser knapp zu werden. Dietrich teilte den größten Teil den Verwundeten zu, reichte seiner Gefangenen eine Plastikflasche aus ihren eigenen Vorräten und trank selbst einen kleinen Schluck. Dabei musste er sich zwingen, die Flasche nicht auf einen Sitz zu leeren. Den Männern ging es nicht anders, und zwei von ihnen ließen sich dazu hinreißen, alles auszutrinken.
»Also, Leute, wir haben etwa zwanzig Kilometer bis zur Küste und dann im Höchstfall noch hundertzehn bis Somaliland. Dort werden wir Unterstützung erhalten.«
»Hundertdreißig Kilometer? Auf einer deutschen Autobahn hätten wir das in einer Stunde hinter uns«, sagte Fahrner seufzend.
»Vor allem kämen wir unterwegs zu einem Rasthof und könnten ein kühles Bier trinken – bis auf unseren Major. Als Fahrer kriegt der nur Wasser!« Trotz seiner Verletzung vermochte Leutnant Grapengeter noch Witze zu machen.
Dietrich legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn lächelnd an. »Wenn Sie wieder auf dem Damm sind, Leutnant, dann trinken wir beide gemeinsam einen über den Durst!«
»Das machen wir, Herr Major, das machen wir!« Grapengeter schloss die Augen und stellte sich diese Szene vor, während Dietrich noch einmal um den Wagen herumging. Da alles in Ordnung schien, forderte er Jamanah zum Einsteigen auf und setzte sich wieder hinter das Steuer. Wenigstens hatte er jetzt ein Ziel, sagte er sich, auch wenn er den Weg nur nach den fernmündlichen Anweisungen des Bordfunkers der Sachsen suchen konnte.
DREIZEHN
Der Sergeant, der Torsten und Omar Schmitt gefangen genommen hatte, befahl seinem Fahrer, den Geländewagen abzustellen. Während der Soldat die beiden mit seiner Kalaschnikow in Schach hielt, betrat sein Vorgesetzter das Militärzelt und kehrte kurz darauf mit einem Offizier zurück.
Sowohl Torsten wie auch Omar Schmitt atmeten auf, als sie Al Huseyin erkannten. Dieser musterte sie kurz und grinste. »Na, glücklich zurückgekommen? Allerdings sehen Sie etwas mitgenommen aus. Nun, wir können mit unseren Grenzposten zufrieden sein. Die halten jeden fest, der ihnen nicht geheuer ist. Ich werde den Sergeanten und seine Männer belobigen.«
»Bevor Sie das tun, könnten Sie Befehl geben, uns die Fesseln abzunehmen!« Torsten ärgerte sich zunehmend über die Selbstgefälligkeit des Mannes, der seinen Spaß daran zu haben schien, dass sein Vorgesetzter und er wie Verbrecher hierhergeschafft worden waren.
»Aber selbstverständlich!« Al Huseyin gab einem Soldaten einen Wink. Dieser trat hinter Torsten und nestelte umständlich an dem Knoten herum, mit dem der Strick gesichert war.
Mittlerweile hatte der Sergeant begriffen, dass seine Gefangenen keine Feinde und Spione waren, sondern hochangesehene Leute der eigenen Seite. Daher wich er immer weiter zu seinem Wagen zurück, schwang sich plötzlich hinter das Steuer und rief seinem Untergebenen zu, ebenfalls einzusteigen, was dieser sogleich tat.
Als der Motor aufheulte, drehte Torsten sich um und stieß einen Fluch aus. »Verdammt, der Kerl verschwindet mit meiner ganzen Ausrüstung.«
»Stehen bleiben!«, rief Al Huseyin dem Sergeanten nach, doch der drückte noch mehr aufs Gas. Das Geld, das er Torsten und Omar abgenommen hatte, war mehr, als er in sechs Jahren an Sold erhielt. Außerdem wollte er den übrigen Besitz der beiden Männer zu Geld machen und so ein reicher Mann werden.
Torsten streifte die restlichen Fesseln ab und rannte im ersten Impuls dem Geländewagen nach. Er merkte jedoch rasch, dass er keine Chance hatte, ihn einzuholen. Noch während er sich nach einem anderen Fahrzeug umsah, mit dem er den Kerlen folgen konnte, ließ Al Huseyin sich ein Gewehr reichen, legte an und feuerte.
Der flüchtige Sergeant wurde wie von einem heftigen Schlag nach vorne geschleudert und kam auf dem Lenkrad zu liegen. Gleichzeitig geriet der Wagen von der Piste ab und raste in ein Gestrüpp. Dort erst gelang es dem Beifahrer, den Schlüssel zu ziehen und so den Motor abzuwürgen.
»Jetzt können Sie Ihre Sachen holen, Renk. Sie haben sicher einiges mit Ihrer vorgesetzten Dienststelle zu besprechen. Der Einsatz in Laasqoray soll ja fürchterlich schiefgegangen sein.«
Der Mann freut sich regelrecht, dass wir Europäer von seinen Landsleuten eines auf die Nuss bekommen haben, fuhr es Torsten durch den Kopf. Er sagte jedoch nichts, sondern ging zu dem Wagen. Dort zogen gerade zwei Soldaten den Sergeanten und dessen Begleiter heraus.
»Er lebt noch«, rief einer der Männer Al Huseyin zu.
»Bringt ihn zur deutschen Ärztin. Wenn die ihn wieder zusammengeflickt hat, wird er seine Strafe erhalten!« Damit war für Al Huseyin die Sache erledigt, und er wandte sich Omar Schmitt zu. »Was gibt es Neues?«
Schmitt zeigte auf das Zelt. »Gehen wir hinein. Drinnen erzähle ich Ihnen alles, was ich erfahren habe. Vorher würde ich gerne etwas trinken – und Sie sicher auch, Renk.«
»Das können Sie laut sagen!« Torsten nahm seine Tasche mit dem Laptop und der restlichen Ausrüstung und folgte den beiden Somalis ins Zelt. Als er eintrat, hatte Omar Schmitt bereits mit seinem Bericht begonnen.
»Die Piratengruppe, mit der wir es zu tun haben, richtet sich gemütlich in Laasqoray ein. Viele der zerstörten Häuser in der Stadt sind wiederaufgebaut worden, und ich habe mehr als einhundert Milizionäre dort gezählt. Es sind zumeist Warsangeli, aber ich habe auch Dulbahante und Majerten unter ihnen gesehen. Es scheint, als wolle jemand diese Stämme vereinigen. Übrigens ist deren Ausrüstung ausgezeichnet. Alle Milizionäre tragen Uniform, und die meisten besitzen eine Cobray M-11. Wie solche Maschinenpistolen in die Hände dieser Männer geraten konnten, ist mir ein Rätsel. Auch die restliche Bewaffnung ist der unserer Soldaten überlegen. Zudem verfügen die Kerle über erstaunlich viele Geländewagen, von denen nicht wenige neu sind. Allerdings kauen die Männer zu viel Kat, denn sie haben nicht einmal gemerkt, wie ich ihnen diesen Kasten geklaut habe.«
Al Huseyin lachte auf. »Deren Gesichter hätte ich sehen mögen, als sie gemerkt haben, dass ihr Wagen weg ist. Aber dennoch gefällt mir nicht, was Sie zu berichten haben, Oberst Omar. Wir haben inzwischen einen Streifen von vierzig Meilen an der Grenze evakuiert, aber wir müssen dieses Land unbedingt halten, sonst besteht die Gefahr, dass sich die Warsangeli und Dulbahante dort einnisten und die Brunnen und Weideflächen für sich beanspruchen. Immerhin hat Diya Baqi Majid, der Anführer der Warsangeli von Hadaaftimo, unsere Truppen aus Maydh vertrieben.«
»Ich bin sicher, dass der Kerl mit den Piraten von Laasqoray unter einer Decke steckt«, gab Omar Schmitt erregt zurück.
»Wir haben keinerlei Informationen, dass er zu den Banditen gehört, die unsere Grenzgebiete verwüsten«, wandte Al Huseyin ein. »Immerhin sind auch Warsangeli-Dörfer angegriffen worden.«
»Trotzdem müssen wir Diya Baqi Majid von unserem Gebiet fernhalten. Ist bereits etwas in dieser Richtung unternommen worden?«, fragte Omar Schmitt.
Al Huseyin holte eine Karte hervor und deutete auf den Grenzstreifen. »Wir haben damit begonnen, dieses Gebiet hier zu verminen. Im Süden sind die Minengürtel bereits fertig. Jetzt müssen wir noch die Straßen und Wege im Norden sichern. Kommen dann die Feinde, geraten sie auf die Minen, und es macht puff!«
»Schränken Sie damit Ihre eigenen Möglichkeiten zu Gegenschlägen nicht zu stark ein?«, fragte Torsten.
Al Huseyins Lächeln verriet, dass er den Deutschen nicht ernst nahm. »Natürlich haben wir in den Minengürteln Korridore gelassen, über die wir unsere Offensiven durchführen können.«
Torsten nickte zufrieden. »Also können wir mit einem kleinen Trupp drüben einsickern. Wie es aussieht, muss ich nämlich bald zurück in diese Gegend.«
»Wollen Sie einen zweiten Versuch unternehmen, die Caroline zurückzuholen?«, fragte Al Huseyin spöttisch.
»Vielleicht«, antwortete Torsten gedehnt. Er wusste selbst nicht, warum er eine so starke Abneigung gegen diesen Mann entwickelt hatte, doch keinesfalls wollte er von der Lady of the Sea erzählen. Dabei war Al Huseyin ebenso ein Verbündeter wie Omar Schmitt. Wahrscheinlich nahm ihn nur die arrogante Art, mit der der Major ihn und den Deutschsomali behandelte, gegen den Mann ein.
VIERZEHN
Die Frau musterte ihn fragend und trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie hier tun, und ich will es auch nicht wissen. Aber wenn Sie eine Möglichkeit sehen, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, bitte ich Sie, der Welt die unerträglichen Zustände in diesem Lager zu übermitteln. Ich bin die einzige Ärztin hier für weit über zehntausend Menschen, von denen viele verletzt oder krank sind. Meine Medikamente sind längst aufgebraucht, und es fehlt an Nahrungsmitteln. Wenn uns nicht geholfen wird, werden viele der Flüchtlinge hier im Lager sterben. Bitte helfen Sie mir, damit die Welt aufwacht und endlich eingreift.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte Torsten ungeduldig, weil die Frau ihn daran hinderte, mit Petra und Wagner Kontakt aufzunehmen.
»Entschuldigen Sie, ich habe vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Anja Kainz. Ich bin Ärztin und seit einem guten halben Jahr in diesem Land.«
»Ich werde sehen, ob ich etwas für Sie tun kann. Aber jetzt bitte ich Sie, mich allein zu lassen.« Torsten wies fordernd auf den Zelteingang. Die Frau machte Anstalten, zu gehen, drehte sich dann aber noch einmal um.
»Sind Sie Waffenhändler?« Es klang so, als wollte sie ihn für all das Leid verantwortlich machen, das sich um sie herum abspielte.
»Hätte ich Ihnen dann versprochen, ein paar Leuten an entsprechender Stelle von Ihren Problemen zu berichten?«, fragte Torsten gereizt.
Der gescheiterte Einsatz bei Laasqoray und die Entführung der Lady of the Sea belasteten ihn ebenso wie die Tatsache, dass er seinem eigentlichen Auftrag, zusammen mit Omar Schmitt eine schlagkräftige Antiterroreinheit aufzubauen, noch um keinen Deut nähergekommen war. Außerdem musste er erfahren, was Petra Neues zu berichten wusste.
Dr. Kainz musterte ihn durchdringend. Eine tiefe Falte zwischen ihren Augenbrauen zeigte an, wie erschöpft und verzweifelt sie sein musste.
Nun empfand Torsten Gewissensbisse, sie so unfreundlich abgefertigt zu haben. »Ich werde Ihnen helfen, versprochen.«
Ein Lächeln begleitete seine Worte und ließ die Ärztin mutiger werden. »Wer oder was sind Sie?«
»Sie haben eben gesagt, dass Sie das nicht wissen wollen. Dabei sollten wir es belassen. Auf jeden Fall bin ich niemand, der den armen Menschen dort draußen ein Leid zufügen will.«
Die Falte zwischen Dr. Kainz’ Augenbrauen wurde noch tiefer. »Ihretwegen ist vorhin ein Mann niedergeschossen worden.«
»Hätte Major Al Huseyin ihn nicht aufgehalten, wäre er mit meinem Geld und dem Gepäck verschwunden, und ich hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt, der Außenwelt Ihre Bitte zu übermitteln.« Torsten lächelte noch immer, doch nun fehlte jede Wärme darin.
Die Niederlage von General Iqbal und die steten Überfälle aus dem Nichts, gegen die es keinen Schutz zu geben schien, begannen an der Moral der Armee von Somaliland zu zehren, sonst hätte der Sergeant nicht versucht, mit seiner Beute zu entkommen. Dagegen musste bald etwas unternommen werden. Auch aus diesem Grund komplimentierte Torsten die Ärztin endgültig aus dem Zelt, verschnürte den Eingang und zog den Laptop aus der Tasche.
Da es keinen Stuhl gab, setzte er sich mit untergeschlagenen Beinen auf eine Decke und nahm das Gerät auf den Schoß. Kaum hatte er es angeschaltet, da erschien auch schon Petras Kopf auf dem Bildschirm. Sie schwitzte stark und wirkte erschöpft, aber auch erleichtert. »Torsten, endlich! Wir dachten schon, es hätte dich erwischt.«
»Unkraut vergeht nicht! Ich hatte während der letzten Stunden ein paar Probleme. Jetzt befinde ich mich in der Ortschaft Xagal, besser gesagt am Rande eines Flüchtlingslagers, in dem verheerende Zustände herrschen.« Da er Dr. Kainz versprochen hatte, ihre Bitte um Hilfe weiterzugeben, berichtete er Petra, was er von der Ärztin erfahren hatte. »Es wäre lieb von dir, wenn du diese Meldung an die entsprechenden Stellen weitergeben könntest. Aber jetzt zu unseren Aufgaben. Was gibt es Neues?«
»Einiges. Zum einen sind wir alle nach Djibouti gebracht worden, um näher vor Ort zu sein.«
»Ihr seid hier in Ostafrika?«, unterbrach Torsten sie. »Hat Henriette so lange gebohrt, bis unser großer Guru nachgegeben hat?«
»Nichts dergleichen. Wir sind geschickt worden, um dich zu unterstützen. Aber weiter im Text. Wir haben Informationen über Dietrich von Tarow. Er und seine Leute befinden sich auf dem Weg nach Berbera. Wir werden sie dort von einem neutralen Schiff abholen lassen.«
»Das ist eine gute Nachricht. Henriette wird erleichtert sein.«
»Natürlich bin ich das«, meldete sich jetzt Dietrichs Schwester. »Allerdings wäre es mir lieber, sie könnten den Trupp mit Hubschraubern abholen. Aber das trauen sie sich wegen der Drohungen der Piraten nicht.«
»Ich werde mich um deinen Bruder und seine Leute kümmern«, bot Torsten an.
Doch da schob Franz Xaver Wagner die beiden Frauen beiseite. »Negativ, Renk! Dietrich von Tarow fällt nicht in Ihr Aufgabengebiet. Sie werden sich umgehend wieder in das Piratengebiet aufmachen und auf die Lady of the Sea warten. Nach Frau Waitls Berechnungen müsste sie in zwei Tagen bei Laasqoray eintreffen. Zwar glaubt dies niemand außer uns, aber bis jetzt hat Frau Waitl sich selten geirrt.«
»Eigentlich nie! Und wenn, dann war es mein Computer«, kommentierte Petra bissig.
Torsten ging nicht darauf ein. »Wenn ich nach Laasqoray zurückkehren soll, benötige ich eine bessere Ausrüstung.«
»Die befindet sich an Bord der Caroline. Doch die können wir nicht zurückholen, solange die Piraten die Lady of the Sea in ihrer Gewalt haben. Frau Waitl wird Ihnen erklären, wer sich alles an Bord dieses schwimmenden Luxushotels aufhält.« Wagner räumte den Platz vor dem Laptop und ließ Petra wieder an ihren Platz.
Diese stöhnte und wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von der Stirn. »Langsam bereue ich es, bei diesem Verein angefangen zu haben. Weißt du, wo die uns untergebracht haben? In einem Zelt bei unserer Basis in Djibouti! Es ist wahnsinnig laut hier und so heiß wie in einer Sauna. Außerdem ist die Verpflegung grauenhaft. Es gibt nicht einmal einen Pizzadienst. Wenn Hans nicht unter der Hand ein paar Schlafsäcke besorgt hätte, müssten wir auf dem nackten Boden schlafen. Allerdings frage ich mich, ob das nicht besser wäre, denn die Schlafsäcke sind für Arktisexpeditionen gemacht. Ich schwitze fürchterlich darin. Hans kann kaum genug Wasser für uns besorgen. Es läuft oben rein und überall wieder heraus, so als wenn ich keine Poren, sondern Wasserhähne in der Haut hätte!«
Torsten ließ Petra schimpfen. Das war besser, als sie zu unterbrechen und sich dann anhören zu müssen, was für ein gefühlloser Stoffel er sei.
Schließlich hatte Petra sich ihren Frust von der Seele geredet und kam zu dem, was sie Torsten mitteilen sollte. »Unser großer Guru hat ja schon gesagt, dass sich etliche Hochkaräter an Bord der Lady befinden. Genau genommen handelt es sich um vier Bundestagsabgeordnete mit Ehefrauen – beziehungsweise einmal mit Ehemann – und einigen Kindern. Dazu kommen zwei Dutzend Regional- und Lokalpolitiker samt Anhang sowie ein Haufen Promis, Halbpromis und Viertelpromis wie dein früherer Kumpel Sven Kunath. Außerdem sind etliche gewichtige Großunternehmer und -unternehmerinnen auf dem Kahn. Die allein sind mehr als fünfeinhalb Milliarden Euro schwer. Der Star unter ihnen ist Margarete Dometer mit einem geschätzten Privatvermögen von gut zwei Milliarden. Du kannst dir also denken, dass in Deutschland der Teufel los ist. Die Regierung schwankt zwischen dem Einsatz der GSG 9 und der Erfüllung aller gestellten Forderungen, scheint aber noch weit von einer Entscheidung entfernt.
Stattdessen sollen wir nun die Kastanien aus dem Feuer holen. Zwar hat keiner eine Ahnung, wie das gehen soll, aber ich hoffe, dass unserem Guru bald etwas einfällt. Lange bleibe ich unter diesen Umständen nicht in dieser Gegend, sondern kündige.« Petra wischte sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte.
Dann aber grinste sie Torsten an. »Wenn ihr nicht aufpasst, seid ihr Henriette und mich bald los. Sie fühlt sich arg unterbeschäftigt, und ich …«
»Ich bin unterbeschäftigt«, fiel ihr Henriette ins Wort. »Zu Hause könnte ich wenigstens noch unser Hauptquartier einrichten. Hier sitze ich nur herum und tauge höchstens dazu, Petra eine neue Flasche Wasser zu besorgen.«
»Keine Sorge! Sie kommen schon noch zu Ihrem Einsatz, und dann werden Sie sich in dieses gemütliche Zelt hier zurückwünschen.« Wagner war die Beschwerden und Klagen der beiden Frauen im Team allmählich leid. Doch als er in sich hineinhorchte, spürte er den gleichen Ärger wie Petra und Henriette. Sein neuer Vorgesetzter im Kanzleramt hatte ihm in einem Anfall von Panik den Befehl erteilt, mit allen Leuten hierherzukommen und alles für die Befreiung der Lady of the Sea vorzubereiten. Seitdem aber hatten sie keine einzige Anweisung mehr erhalten, und daher war Wagner kurz davor, auf eigene Faust zu handeln. Nun schob er sich wieder vor den Bildschirm und forderte Torsten auf, so rasch wie möglich nach Laasqoray aufzubrechen.
»Kann sein, dass wir uns dort treffen«, sagte er noch und überließ dann Petra das Feld, die Torsten die neuesten Daten zu den beiden Schiffsüberfällen übermitteln sollte.
FÜNFZEHN
In Gedanken legte Evelyne sich bereits ihre nächste Reportage zurecht, die sie nach dem Essen absenden wollte. Zu ihrer Erleichterung waren ihr die Piraten noch nicht auf die Schliche gekommen, und so rieb sie sich trotz ihrer Angst die Hände. Schließlich würde die Tatsache, dass sie als einzige Reporterin live von Bord des gekaperten Schiffes berichten konnte, ihren Marktwert steigern.
Endlich rückte die Schlange weiter. Als Evelyne nicht sofort reagierte, versetzte ihr jemand einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie drehte sich um und sah den Bundestagsabgeordneten Dunkhase hinter sich. Mit dem Vorsatz, dem Mann den Schlag publizistisch heimzuzahlen, ging sie zwei Schritte, bis ihre Nase beinahe den Rücken von Maggie Dometer berührte. Die korpulente Frau klammerte sich mit beiden Händen an Sven Kunath und bemühte sich, keinen der Piraten anzusehen, die die auf die Essensausgabe wartenden Menschen überwachten.
Evelyne empfand beim Anblick des Paares Neid. Auch sie hätte sich eine Schulter gewünscht, an die sie sich lehnen könnte. Doch der Erste Offizier Stefan Magnus, mit dem sie eine leidenschaftliche Stunde verbracht hatte, war zusammen mit der restlichen Mannschaft in einen Laderaum im Unterdeck gesperrt worden und durfte nur heraus, um den Kapitän auf der Brücke abzulösen.
Ein weiterer Stoß machte sie darauf aufmerksam, dass die Schlange vor ihr wieder zwei Schritte weitergewandert war. Langsam hasste Evelyne diesen Dunkhase. Unter Stress offenbarte der Kerl seine schlechtesten Charaktereigenschaften. Und so was will unseren Staat regieren!, dachte sie und beschloss, die Situation in ihrem kleinen Bericht nicht nur zu erwähnen, sondern auch aufzubauschen.
Um nicht nur an den Trottel hinter sich zu denken, musterte sie die Piraten um sich herum. Es handelte sich zumeist um junge Burschen, die aussahen, als bekämen sie nicht genug zu essen. Evelyne wusste, dass sie oben auf dem Promenadendeck für sich kochten und die Lebensmittel auf dem Schiff nicht anrührten, als wären diese vergiftet oder verseucht. Bekleidet waren die Kerle mit einem Räuberzivil aus eigenen, oftmals zerrissenen Hosen oder Wickelröcken und Klamotten, die sie in den bordeigenen Boutiquen erbeutet hatten. Unter anderen Umständen hätte man sie mit ihren Polohemden und T-Shirts mit dem Emblem der Lady of the Sea für bordeigene Hilfskräfte halten können.
Die Waffen in den Händen der Burschen ließen jedoch keinen Zweifel an ihren Absichten, und ihre durch das ewige Kauen von Kat glasigen Augen erinnerten Evelyne daran, dass man die Kerle am besten nicht ansprach und ihnen in allem gehorchte. Einem Passagier, der zornig geworden war, hatten sie mit dem Kolben eines Sturmgewehrs die Zähne ausgeschlagen. Das Risiko wollte sie nicht eingehen.
»Geh endlich weiter, du doofe Kuh!« Diesmal beließ es der Bundestagsabgeordnete bei einem verbalen Rüffel. Das machte ihn Evelyne aber auch nicht sympathischer.
Auch dem Staufener Ehepaar Weigelt und Herrn Erlmann, die hinter Dunkhase standen, passte der Ton des Mannes nicht. »Ein wenig höflicher könnten Sie schon sein«, wies der Exmajor den Abgeordneten zurecht.
Jürgen Weigelt tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Unter Helmut Kohl wäre so einer nicht einmal zum Plakatekleben eingeteilt, geschweige denn für den Bundestag aufgestellt worden«, raunte er seiner Ehefrau zu.
»Sie, das ist eine Beleidigung!«, fuhr Dunkhase auf und wollte auf den alten Herrn losgehen. Er blieb jedoch sofort stehen, als ihm einer der Piraten den Lauf seines Gewehrs unter die Nase hielt.
»Not speaking!«, herrschte der ihn an und versetzte ihm einen Hieb gegen die Brust.
Evelyne bemühte sich gar nicht erst, ihre Schadenfreude zu verbergen. Seit sich das Schiff in der Gewalt der Piraten befand, herrschte an Bord demokratische Gleichheit unter den Passagieren, ganz gleich, ob es sich um Politiker handelte, die sich selbst übermäßig wichtig nahmen, um millionenschwere Wirtschaftsbosse oder die Gewinnerin eines Preisausschreibens einer Frauenzeitschrift. »In Gottes und in der Piraten Hand sind alle Menschen gleich«, murmelte sie und sah sich nun selbst dem Piraten gegenüber, der den Bundestagsabgeordneten geschlagen hatte.
Bevor der Mann etwas sagen konnte, senkte sie den Kopf und nahm eine unterwürfige Haltung ein. Der Kerl grunzte nur und lehnte sich wieder gegen die Wand.
Langsam ging es weiter. In der Eingangstür zur Küche stand ein Tisch mit viereckigen Kastenbroten, Thunfischdosen und Mineralwasserflaschen. Unter den wachsamen Augen eines Piraten mühte sich ein Koch mit einem kleinen Taschenmesser ab, die Brote in gleich große Teile zu zerschneiden. Jeder Passagier, der an dem Tisch vorbeiging, erhielt ein halbes Brot, eine Dose Thunfisch und eine Wasserflasche als Ration für den ganzen Tag. Bei etwa zweitausend Passagieren dauerte die Essensausgabe mehrere Stunden, und das war von den Piraten so gewollt. Ihre Gefangenen sollten begreifen, dass sie in ihrer Gewalt waren und ihr Leben von ihrer Willkür abhing.
Als Evelyne den Tisch erreichte, schob ihr der Koch ihre Ration zu, während andere Köche und deren Gehilfen dafür sorgten, dass der Nachschub nicht ausging. Zusätzlich zu den Nahrungsmitteln erhielt Evelyne noch einen Zettel, auf dem in schlechtem Englisch stand, dass alle Passagiere sich anschließend in der im Achterdeck gelegenen Lobby einfinden und sich registrieren lassen mussten.
Wie sie die Kerle kannte, hieß dies noch einmal stundenlanges Anstehen, gepaart mit der Angst, wegen irgendeiner Bagatelle ausgesondert und erschossen zu werden. Ganz in Gedanken versunken hatte Evelyne nicht aufgepasst, und so schob sich Dunkhase samt seiner Sippe auf dem Weg zum Achterdeck an ihr vorbei.
Evelyne folgte ihm und unterdrückte ihren Ärger mit dem Gedanken, dass er ihr auf diese Weise keine Rippenstöße mehr versetzen konnte. Da gerade keiner der Piraten zu sehen war, wagte sie es sogar, ein paar Worte zu sprechen.
»Ach, Herr Bundestagsabgeordneter, darf ich mich vorstellen? Ich bin Evelyne Wide, Reporterin bei einem Fernsehsender und einigen überregionalen Zeitungen.«
»Sie sind Reporterin?«, würgte er hervor.
Sie musste lachen, als sie sah, wie die Gesichtszüge des Mannes entgleisten.
»Ich bin die Wide, die die angeblichen Dienstfahrten Ihres Bundestagskollegen Seigerschmidt aufgedeckt hat«, setzte Evelyne mit einem Lächeln hinzu, das an ein Krokodil kurz vor dem Zuschnappen erinnerte.
Zu einer Antwort kam Dunkhase nicht mehr, denn nun erwarteten sie mehrere Piraten, die genau darauf achteten, dass die Passagiere nicht miteinander sprachen.
Wie Evelyne befürchtet hatte, dauerte es auch diesmal endlos. Dabei knurrte ihr Magen, und die Zunge klebte langsam an ihrem Gaumen fest. Schließlich wurde der Bundestagsabgeordnete in die Lobby eingelassen. Seine Frau und die beiden halbwüchsigen Kinder drängten hinterher, um nicht allein warten zu müssen.
Evelyne bedauerte es, nicht Mäuschen spielen zu können. Würde der Herr Abgeordnete versuchen, seinen Rang auszuspielen, um eine bessere Behandlung zu erhalten, auch auf die Gefahr hin, dann als besondere Geisel zu gelten? Oder würde er sich für einen harmlosen Passagier ausgeben, der mit seiner Familie zufällig auf dieses Schiff geraten war?
Der Politiker blieb eine Weile in dem Raum, und mehrmals hörte Evelyne laute Stimmen, ohne etwas verstehen zu können. Als die Tür geöffnet wurde, trieben zwei Piraten Dunkhase mit vorgehaltenen Waffen vor sich her, während seine weinende Frau und die Kinder in eine andere Richtung geschafft wurden.
Noch während die Reporterin ihnen nachblickte, packte ein Pirat sie bei der Schulter und stieß sie in die mit weißen Ledersesseln möblierte Lobby. Zur rechten Hand erstreckte sich auf fast zwanzig Meter Länge die Bar, in der es fast jedes alkoholische Getränk der Welt gegeben hatte. Die langen Regale waren jedoch leer und die drei Barkeeper verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Pirat hinter dem Tresen und notierte etwas in ein DIN-A4-Heft. Drei Piraten sorgten mit ihren Waffen dafür, dass keiner der Passagiere vergaß, wer hier das Sagen hatte.
Schließlich hob der Mann den Kopf. »Name!«, schnauzte er sie an.
Evelyne erschrak, konnte es aber nach außen verbergen. Wenn sie ihren Namen nannte, bestand Gefahr, dass die Kerle sie als diejenige erkannten, die vom Schiff berichtet hatte. Gab sie jedoch einen falschen an, würde dies in dem Augenblick auffliegen, in dem die Piraten ihre Aufzeichnungen mit der bordeigenen Datenbank verglichen. Jetzt nimm dich nicht so wichtig, zu glauben, du wärst auch hier am Horn von Afrika ein Begriff, verspottete sie sich selbst und lächelte den Piraten an. »Ich heiße Evelyne Wide!« Wohl zum ersten Mal seit Jahren sprach sie ihren Nachnamen wieder deutsch und nicht anglisiert als Waid aus.
»Deine Arbeit?«, fragte der andere weiter.
»Ich bin Angestellte«, erklärte Evelyne freundlich.
»Mann?«
»Nein, ich bin eine Frau«, verstand Evelyne ihn absichtlich falsch.
»Du …«, der Pirat suchte nach einem entsprechenden Begriff, »verheiratet?«
»Nein!« Evelynes Lächeln minderte sich um keinen Deut, obwohl sie vor Angst fast verging. Dabei half ihr die Disziplin, die sie sich in den beinahe zehn Jahren ihres Reporterlebens angeeignet hatte. Ihr größter Vorteil jedoch war die Meinung der Piraten über Frauen. Obwohl die Männer Sayyidas Befehlen gehorchten, sahen sie in ihr nur die Helferin ihres Vaters und ihres Sohnes, der noch zu jung war, sie anzuführen. Deshalb war Sayyida etwas Besonderes und mit keinem anderen weiblichen Wesen zu vergleichen, am wenigsten mit einer schwächlichen Deutschen, die bereits zusammenzuckte, wenn man nur mit den Fingern schnippte.
Evelyne fand sich daher schneller entlassen, als sie befürchtet hatte, und strebte mit ihrer Tagesration ihrer Kabine zu. Als Erstes trank sie dort einen Schluck Wasser. Dann riss sie die Thunfischdose auf und aß den öligen Fisch mangels Besteck mit den Fingern. Die leere Dose warf sie auf ihren überquellenden Papierkorb und wollte dann die Hände in ihrem Badezimmer waschen. Doch als sie den Hahn aufdrehte, erinnerte sie sich daran, dass die Wasserversorgung an Bord nur für eine Viertelstunde am Abend eingeschaltet wurde, damit die Toiletten durchgespült werden konnten. Ärgerlich leckte sie die Finger ab und rieb sie mit einem nicht mehr ganz sauberen Handtuch trocken.
Als sie anschließend den Laptop aufklappte, tröstete sie sich damit, dass ihr auch dieser Tag genug Stoff für eine gute Reportage bot.
SECHZEHN
»Das sind ja Bedingungen!«, stöhnte Petra, während die Journalistin berichtete, wie die Passagiere behandelt wurden. Als ihr der Bericht über die Prügel und Demütigungen der Menschen an Bord zu viel wurde, rettete sie sich in ihren schrägen Humor. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich am Tag nur etwas Brot und eine Dose Thunfisch bekommen würde und den öligen Fisch dann auch noch mit den Fingern essen müsste, wird mir schlecht.«
Henriettes Gedanken liefen in eine andere Richtung. »Was meinst du, können wir mit der Reporterin an Bord Kontakt aufnehmen?«
»Das ist kein Problem. Die E-Mail-Adresse kriege ich leicht heraus.« Petra klickte sich in die Datenbanken des Fernsehsenders und mehrerer überregionaler Zeitungen ein und suchte dort nach Informationen. Nach einer Weile sah sie vom Bildschirm auf.
»Die Wide gehört zur Abteilung Klatsch und Tratsch, geht allerdings Risiken ein. Ich glaube, sie könnte uns helfen, Informationen zu sammeln. Dummerweise hat sie seit der Kaperung der Lady mehrere hundert E-Mails erhalten. Also müssen wir dafür Sorge tragen, dass unsere Nachricht nicht im Spamordner verschwindet.«
»Du machst das schon«, sagte Henriette mit einem unternehmungslustigen Lächeln.
»Ich gestalte die Betreffzeile auf ihrem Gerät rot und blinkend, dann schaut sie mit Sicherheit nach. Was soll ich ihr schreiben? Am besten machst du das! Du kennst dich bei Außeneinsätzen besser aus als ich.« Petra räumte großzügig den Platz vor dem Laptop und sah zu, wie ihre Kollegin ihre Fragen in knappen Worten formulierte.
Nachdem Henriette den Text noch einmal gelesen hatte und ihr nichts mehr einfiel, was wichtig sein könnte, schickte sie die Mail ab. Sie drehte sich zu Petra: »Und was machen wir jetzt?«
»Erst einmal auf Hans warten und schauen, ob er etwas Nahrhaftes aufgetrieben hat. Ich habe Hunger. Außerdem könnte ich einen Kaffee brauchen. Meine kleinen grauen Zellen schlafen bald ein.« Petra nahm eine Mineralwasserflasche, trank sie leer, ohne einmal abzusetzen, und schüttelte sich wieder. »Puh, das Wasser ist ja beinahe so warm wie Suppe. Noch ein paar Grad mehr, und ich könnte mir eine Brühe machen.«
»Brühe wäre gar nicht so schlecht. Die ersetzt den Salzverlust beim Schwitzen«, erklärte Henriette.
»Aber dafür ist es viel zu heiß. Ich ziehe ein isotonisches Getränk vor.«
»Dann muss wohl entweder unser Guru den Leuten hier im Camp klarmachen, dass sie für unsere Versorgung zuständig sind, oder wir schicken Hans in die Stadt in der Hoffnung, dass er dort einen Supermarkt auftreibt, in dem er alles kaufen kann, was wir brauchen.«
Auch Henriette sehnte sich nach einem kühlen Schluck Wasser oder Eistee. Sie unterdrückte diesen Drang jedoch und konzentrierte sich wieder auf ihren Job. »Wir sollten versuchen, mehr über die Piraten herauszufinden. Gibt es Nachrichten von unserer Dienststelle?«
»Es gab eine weitere Pressekonferenz, auf der die Kanzlerin wieder einmal erklärt hat, es werde alles Menschenmögliche getan, um das Leben der Passagiere und der Besatzungsmitglieder auf der Lady zu schützen. Langsam könnte sie auch einen Papagei zu den Journalisten schicken, dann hätte sie mehr Zeit, sich um die Sache zu kümmern.«
Petra war die immer gleichen Bekenntnisse der Politiker leid, weil diese im Grunde nur eines aussagten, nämlich wie ahnungs- und hilflos sie waren. »Hier kommt gerade eine neue Meldung. Ein Sprecher des Bundeskanzleramts hat erklärt, dass es gelungen sei, den saudi-arabischen Geschäftsmann Abdullah Abu Na’im als Vermittler zu gewinnen. Dieser habe als Schwiegersohn eines somalischen Clanältesten und hohen religiösen Führers gute Verbindungen in das Land und könnte unter Umständen den Kontakt zu den Entführern herstellen.«
Henriette sprang wie elektrisiert auf. »Sagtest du Abdullah Abu Na’im? Aber das ist doch der, den wir in Verdacht haben, er könnte an der Entführung der Caroline beteiligt gewesen sein!«
»Ebender«, antwortete Petra lächelnd. »Weißt du was? Langsam formt sich ein Bild. Ich wette eine Pizza Gigante bei unserem neuen Italiener gegen ein Stück trockenes Brot, dass unser Freund Abdullah auch bei der Entführung der Lady of the Sea die Finger im Spiel hat.«
»Ich werde nicht gegen dich wetten. Und es nervt mich zunehmend, dass wir nach Djibouti geschickt worden sind. Wir sitzen hier genauso nutzlos herum wie zu Hause. Dabei muss es doch eine Möglichkeit geben, ins Geschehen einzugreifen.«
»Die gibt es, Frau von Tarow!« Wagner kam herein. Seine Zivilkleidung hatte er mit einer braungelben Tarnuniform mit dem Rangabzeichen eines Majors vertauscht. Als er die fragenden Blicke der beiden Frauen sah, lächelte er zufrieden. »Da wir uns unter Militärs bewegen, muss ich mich anpassen, um ernst genommen zu werden. Einem Zivilisten erzählen die Kommissköpfe nämlich gar nichts!«
»Und was haben Sie herausgefunden?«, fragte Henriette gespannt.
»Es gibt Pläne, die beiden Schiffe mit Gewalt zu befreien. Allerdings hat die Kanzlerin das vorerst verboten. Also haben die Herrschaften im Kanzleramtsministerium gemeint, unser Haufen sollte etwas tun – und das werden wir auch!« Wagner klang ausgesprochen unternehmungslustig. »Als Erstes müssen wir irgendwie Verbindung mit der Lady of the Sea aufnehmen«, erklärte er.
»Das haben wir bereits in die Wege geleitet. Es gibt an Bord doch diese Fernsehjournalistin, die immer wieder Livereportagen sendet.« Henriette war anzumerken, dass sie sich ein Lob erhoffte.
»Meinen Sie Evelyne Wide? Die liegt unserer obersten Führung schwer im Magen. Am liebsten würde man ihr den Mund stopfen, da ihre Reportagen die öffentliche Meinung in einer Weise beeinflussen, die nicht gern gesehen wird. Vor allem streicht sie die Hilflosigkeit unserer Regierung richtig fett heraus. Dabei wäre auch jede andere Staatsmacht der Welt in einer solchen Situation überfordert, es sei denn, sie löst die Sache mit einem Blutbad. Die Lady soll ebenso wie die Caroline vermint worden sein. Wenn da etwas passiert, gibt es Hunderte von Toten. Das kann keine Regierung riskieren. Ohne Hilfe von innen geht daher gar nichts – und die zustande zu bringen wird Ihre Aufgabe sein, meine Damen. Herr Borchart wird inzwischen versuchen, Kontakt mit Renk aufzunehmen und ihn zu treffen. Unser Star braucht noch einige Ausrüstungsgegenstände, um richtig eingreifen zu können.«
Petra und Henriette spürten, dass Wagner wieder in seinem Element war. In einer Situation, in der weder Politiker noch Militärs weiterwussten, waren seine Erfahrung und die Fähigkeiten seines Teams gefragt. Trotzdem sahen sie eine Menge Schwierigkeiten auf sich zukommen.
»Wie soll Hans Borchart sich unter den Eingeborenen bewegen? Mit seinen Hand- und Beinprothesen fällt er doch überall auf«, gab Petra zu bedenken.
»Da wird er sich etwas einfallen lassen müssen.« Wagner wirkte ganz so, als wüsste er mehr darüber.
»Dürfen wir vielleicht erfahren, was geplant ist?«, fragte Henriette zornig.
»Natürlich, alles zu seiner Zeit!« Wagner grinste, während er zu einer Wasserflasche griff, diese öffnete und trank. Als er sie wieder absetzte, verzog er das Gesicht. »Zu Hause haben sie uns sofort einen Kühlschrank besorgt. Aber hier müssen wir das Zeug pisswarm trinken. Entschuldigung, ich meine natürlich übertemperiert.«
Da quiekte Petra auf. »Wir haben eine Antwort!«
In dem Augenblick war das kleine Wortgefecht vergessen, und alle starrten auf den Bildschirm. Evelyne Wide hatte nur drei Worte gemailt: »Wer sind Sie?« Der Kontakt war hergestellt, und jetzt ging es darum, das Beste daraus zu machen.
SIEBZEHN
»Ich habe Angst«, flüsterte sie Sven zu und sah sich im nächsten Moment erschrocken um. Doch der nächststehende Pirat kaute auf seinen Katblättern herum und schien angenehmen Träumen nachzuhängen. Wahrscheinlich zählt er in Gedanken bereits die Geldscheine, die er als Beuteanteil bekommt, fuhr es Maggie durch den Kopf.
Auch Sven machte sich Gedanken. Zwar glaubte er nicht, so viel wert zu sein, dass die Piraten ihn wie einige andere aus der Masse der übrigen Passagiere herausholen würden, trotzdem spürte er einen harten Klumpen im Magen. Obwohl er ein bekannter Fußballspieler gewesen war, hatte er nie zu den ganz Großen seines Metiers gehört und in der Bundesliga nur bei nachrangigen Mannschaften gespielt. Im Grunde bin ich gescheitert, sagte er sich. Sein durch Fußballspielen verdientes Geld hatte er durch verfehlte Spekulationen seines Vermögensberaters verloren und musste nun froh sein, wenn er sich ein paar Euros bei Fernsehsendungen oder Auftritten in der Provinz verdiente.
Auch auf der Lady of the Sea war er nicht als zahlender Passagier mitgefahren, sondern sollte zum Gaudium der Zuschauer zeigen, dass er einen Fußball mehrere hundert Mal mit dem Kopf oder den Füßen jonglieren konnte, ohne dass dieser zu Boden fiel. Wirkliche Verantwortung hatte er – außer auf dem Fußballplatz – in seinem ganzen Leben noch nicht übernehmen müssen. Nun aber klammerte sich eine zitternde Frau an ihn, als sei er ihr einziger Halt auf der Welt.
»Eintreten, vorwärts!« Einer der Piraten versetzte ihm einen Stoß in den Rücken. Bevor der Kerl auch Maggie schlagen konnte, schob Sven sie vor sich und nahm den zweiten Schlag mit einem leisen Stöhnen hin.
Maggie drehte sich zu ihm um und sah ihn dankbar an. Das entschädigte ihn für die Schmerzen, und er zwang sich jenes geschäftsmäßige Lächeln auf, das er vor der Kamera zeigen musste, selbst wenn ihm Vogelspinnen über den Arm und den Rücken liefen. Schließlich war es sein Job, in solchen Situationen den Helden zu spielen.
Als sie die Lobby betraten, die bis auf einen Mann hinter der Bar und drei bewaffnete Wächter leer war, hatte er sich so weit in der Gewalt, dass er alles, was um ihn herum geschah, als einen – wenn auch bösartigen Scherz – ansehen konnte.
»Salem aleikum«, grüßte er die Piraten frei nach Karl May.
Der Mann hinter der Theke sah auf und schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen. »Wer bist du?«
»Kunath, um es genau zu sagen, Sven Kunath.«
»Was machst du?«
»Im Moment stehe ich hier. Ich sehe, ihr habt die ganze Bar ausgeräumt. Habt ihr nicht irgendwo ein kleines Fläschchen Bier übrig? Allerdings hätte ich es gerne gut gekühlt.«
Bislang hatte der Pirat Passagiere erlebt, die entweder vor Angst geschlottert hatten oder in ihrer Wut ausfallend geworden waren. Doch ein Mann, der ihn nach einem kühlen Bier fragte, war ihm noch nicht untergekommen.
»Beruf«, erklärte er und überlegte, ob er seine Kumpane auffordern sollte, den übermütigen Deutschen ein wenig zurechtzustutzen. Der lehnte sich gerade gegen die Barumrandung und deutete mit der Rechten auf seine Füße.
»Ich war Fußballspieler! Bundesliga!«
Das Gesicht des Somali entspannte sich, und zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln. »Mein Name ist Hanif. Ich spiele auch Fußball mit meinen Kameraden im Camp. Ich will sehen, ob ich besser bin als du.«
»Gern! Machen wir es hier oder oben auf dem Promenadendeck? Aber wenn ich gewinne, kriege ich eine Flasche Bier, verstanden?«
Der andere nickte. »Wir spielen hier. Wenn du gewinnst, bekommst du dein Bier.«
Dann wandte er sich an einen seiner Kumpane und forderte ihn auf, einen Ball zu holen. Bis dies geschehen war, unterhielt er sich mit Sven Kunath über Fußball und wusste dabei erstaunlich gut über die englische Premier League und auch über die Bundesliga Bescheid.
»Kennst du Ballack?«, fragte er.
Sven nickte. »Ich habe ein paarmal gegen ihn gespielt. Einmal hat er keinen Stich gegen mich gemacht, mich dafür aber beim nächsten Mal zweimal getunnelt. Verloren haben wir aber jedes Mal.«
Maggie war auf einmal ganz nebensächlich. Nur einmal zeigte Hanif auf sie und fragte: »Wer ist sie?«
»Meine Managerin und meine Freundin!« Sven zwinkerte dem Somali dabei feixend zu.
Hanif machte eine entsprechende Eintragung in sein Buch, legte den Stift aber beiseite, als sein Gefährte mit dem Ball kam. Sie räumten gemeinsam die Sessel weg, dann begann das Spiel.
Der Somali war flink, das merkte Sven sofort. Dennoch gelang es ihm dank seiner Erfahrung, ihn gleich zu Beginn auszuspielen und den Ball zwischen zwei Sesseln, die das Tor markierten, zu versenken. Da er Hanif bei Laune halten wollte, tat er bei dessen Gegenangriff, als würde er stolpern, und ermöglichte ihm den Ausgleich.
Die erste Partie gewann Hanif mit fünf zu drei und grinste dabei vor Freude. Sven tat so, als wäre er bereits außer Puste, und stemmte sich auf den Knien ab. »Ihr Afrikaner habt ein ausgezeichnetes Gespür für den Ball. Da ist es kein Wunder, dass so viele von euch bei uns in Europa spielen und die großen Stars sind.«
Bisher hatte Hanif diese afrikanischen Spieler als Verräter bezeichnet, die zur Unterhaltung der Ungläubigen beitrugen. Als er sich jetzt mit Sven unterhielt und dabei erfuhr, welche Summen diese in Europa erhielten, wünschte er sich, zu ihnen zu gehören und mit dem Geld, das es dort zu verdienen gab, seinen Stamm unterstützen zu können. Das wäre ihm lieber gewesen, als dieses Schiff zu befehligen und seine Hände in Blut tauchen zu müssen.
Sie begannen ein zweites Spiel, das Sven den Somali ebenfalls gewinnen ließ. Zuletzt hob er die Hände. »Du bist heute einfach zu gut für mich. Aber ich möchte Revanche!«
»Wir werden sehen«, antwortete Hanif, der übergangslos wieder in die Rolle als Anführer seiner Stammesmiliz schlüpfte. Bevor er Sven und Maggie wegschickte, langte er jedoch nach unten und brachte eine gekühlte Flasche Bier zum Vorschein.
»Hier, nimm!«
Sven ergriff sie und steckte sie unter sein Hemd. »Danke!« Dann nahm er Maggies Hand und verließ mit ihr die Lobby. Draußen warteten noch etliche Passagiere, die von Minute zu Minute ängstlicher geworden waren. »Die zwei haben sie aber lange drinbehalten. Und hast du die klatschenden Geräusche gehört? Die sind sicher geschlagen worden«, raunte die Bundestagsabgeordnete Blauert ihrem Mann zu und wagte es kaum, einzutreten, als einer der Piraten sie dazu aufforderte.
Maggie und Sven kehrten in die Kabine zurück. Dort setzte sich die Frau erst einmal auf ihr seit Tagen nicht mehr gemachtes Bett und sah ihren Begleiter kopfschüttelnd an. »Ich begreife es noch nicht! Der Kerl hat dich ja fast wie einen Freund behandelt und von mir nichts mehr wissen wollen.«
»Das war ja auch der Sinn der Sache. Ich wollte Hanif von dir ablenken. Als ich merkte, dass er auf Fußball anspringt, war das ganz leicht.« Sven schwieg kurz und holte die Bierflasche unter seinem Hemd hervor.
»War ganz schön eisig auf den Rippen«, sagte er grinsend, wurde dann aber ungewöhnlich ernst. »An diesem Hanif kann man sehen, dass die Welt nicht einfach nur gut und böse ist. Unter anderen Vorbedingungen wäre er wahrscheinlich ein ganz patenter Kerl geworden.«
»Er ist ein Bandit, genau wie die anderen! Hast du nicht gehört, dass ein Deck tiefer zwei Frauen, die zusammen reisen, von diesen Schuften vergewaltigt worden sind? Wenn du nicht bei mir wärst, wären sie auch schon zu mir in die Kabine gekommen!«
Maggie brach in Tränen aus, und es kostete Sven einige Mühe, sie wieder zu beruhigen. Danach öffnete er die Bierflasche, goss den Inhalt in zwei Gläser, die er während der letzten Wasserzuteilung ausgewaschen hatte, und stieß mit ihr an.
»Auf uns beide und darauf, dass wir die Sache hier gut überstehen!«
ACHTZEHN
Jamanah wusste noch immer nicht, was sie von den Fremden halten sollte. Vor allem der Anführer verunsicherte sie. Obwohl sie seine Gefangene war, nahm er Rücksicht auf sie. Wenn sie Pause machten, ließ er sie allein, sodass sie ihre körperlichen Verrichtungen in aller Ruhe erledigen konnte. Dabei hätte sie mit Leichtigkeit fliehen können. In einer unbekannten Gegend und ohne Waffen erschien ihr das jedoch als zu gefährlich. Wenn sie an die Falschen geriet, würden diese ihr Gewalt antun und sie dann an die Araber drüben auf der Halbinsel verkaufen. Da erschien es ihr besser, bei den Fremden zu bleiben, zumal sich die Männer in eine Richtung bewegten, in der Teile ihres Stammes lebten. Dort würde sie hoffentlich eine Möglichkeit finden, sicher nach Hause zurückzukehren. Bei dem Gedanken erinnerte sie sich daran, dass ihre Heimat derzeit im Niemandsland lag und sich ihre Stammesverwandten mit anderen Flüchtlingen in dem Lager bei Xagal drängten. Dort war der einzige Ort, an dem sie Zuflucht finden konnte.
Erneut erklang ein schrilles Fiepen, und der Mann am Steuer riss den Wagen herum. Ein weiteres Geräusch ließ ihn sofort wieder gegensteuern, und dann fuhr er so langsam, wie der Wagen es gerade noch zuließ, zwischen den beiden Stellen hindurch, an denen die Warngeräte Minen ausgemacht hatten.
Zu Beginn hatte Jamanah den Sinn dieses Pfeifens und Fiepens nicht verstanden. Mittlerweile aber hatte sie begriffen, dass es etwas mit den Minen zu tun haben musste, und ihr wurde klar, wie viel Glück sie bei ihrer Fahrt gehabt hatte. Sie hätte jederzeit auf eine Mine stoßen und sterben können. Und sterben, so viel wusste sie jetzt, wollte sie nicht.
»Ich habe Hunger!«, sagte sie langsam und deutlich. Der Mann verstand inzwischen diesen Satz in ihrer Sprache und griff mit einer Hand in die Tasche seiner Uniformjacke. Er brachte einen länglichen, in knisterndes Papier gehüllten Gegenstand zum Vorschein.
»Hier! Aber vorher aufreißen«, erklärte Dietrich, weil seine Gefangene bei ihrer letzten Essenspause beinahe die Hülle mitgegessen hätte. Aus Erfahrung klug geworden, entfernte sie nun die Plastikhaut. Etwas zögernd steckte sie den Energieriegel in den Mund und kaute dann mit dem Ausdruck höchsten Entzückens darauf herum.
Sie ist verdammt hübsch, fuhr es Dietrich durch den Kopf. Bis jetzt hatten Frauen ihn wenig interessiert. Bei jenen, die in der Bundeswehr dienten, hatte er sich angewöhnt, sie als geschlechtslose Kameraden zu betrachten, und mit Zivilistinnen hatte er nichts anzufangen gewusst. Er versuchte sich damit herauszureden, dass Jamanah diesen exotischen Reiz besaß und ihm vor allem durch ihre Größe imponierte. Sie musste auf blanken Sohlen mindestens einen Meter neunzig messen und überragte damit alle Frauen, denen er bislang begegnet war.
Jetzt schalte dein Gehirn wieder ein, schimpfte er mit sich selbst. Im Grunde ist sie nichts anderes als ein kleines Wesen, das du irgendwo gefunden hast und um das du dich kümmern musst. Spätestens in ein oder zwei Tagen trennen sich ihre und deine Wege, und du wirst sie bald darauf vergessen haben.
Während er noch grübelte, griff Jamanah ins Steuer und riss es herum. Jetzt erst drang das Pfeifen des Minenwarngeräts in sein Bewusstsein, und er begriff, dass er sie beinahe alle ins Verderben gesteuert hätte.
»Danke«, sagte er zu Jamanah und nahm sich vor, besser aufzupassen.
NEUNZEHN
Ein junger Offizier kam ihnen ein Stück entgegen und salutierte. »Captain Ikrum. Sie sind sicher die Überlebenden der deutschen Einheit, die den Schuften in Laasqoray eingeheizt hat!«
Der freundliche Empfang erleichterte Dietrich. Er wusste zu wenig über Somalia, um über die politische Lage informiert zu sein. Von seinen Vorgesetzten hatte er nur erfahren, dass sie mit der befreiten Caroline nach Westen zum Hafen von Berbera fahren sollten.
»Major von Tarow«, stellte er sich vor. »Wenn Sie uns Ihren Arzt zur Verfügung stellen könnten, wären wir Ihnen dankbar. Wir haben Verwundete.«
»Ich bringe Sie zu unserem Hauptquartier. Dort finden Sie einen Arzt. Allerdings wird General Mahsin mit Ihnen sprechen wollen. Wir haben Sie schon eine ganze Zeit beobachtet und uns gewundert, dass Sie den Minen ausweichen konnten. Die bereiten uns derzeit arge Zahnschmerzen. Aber kommen Sie! Sie wollen Ihre Leute sicher rasch in ärztliche Obhut geben.«
Ikrum ging um den Wagen herum und quetschte sich neben Jamanah in die Fahrerkabine. Diese rückte mehr auf den Deutschen zu und kämpfte gegen die aufsteigende Panik, weil sie sich zwischen zwei Männern eingezwängt fand.
»Ab hier können Sie unbesorgt fahren. Hier haben wir bereits alle Minen entfernt«, erklärte Ikrum.
Die Löcher allerdings gelassen, fuhr es Dietrich durch den Kopf, denn vor ihm lag eine Achsen-und-Stoßdämpfer-Teststrecke, die es in sich hatte.
Als sie nach wenigen Kilometern Raguuda erreichten, atmete er auf. Der kleine Ort hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Hunderte von Soldaten bewegten sich zwischen den kleinen Zelten oder hockten auf dem Boden und reinigten ihre Gewehre. Ein etwas größeres Zelt trug einen aufgemalten Roten Halbmond, der es als Lazarett kennzeichnete. Auf einen Ruf des Captains eilten mehrere Sanitäter und ein Arzt heraus. Dieser sah sich die drei Verletzten kurz an und befahl dann seinen Helfern, sie ins Hospitalzelt zu bringen.
Dietrich gab einem der Soldaten einen Wink. »Sie bleiben bei Grapengeter und den anderen Verwundeten. Informieren Sie mich sofort, wenn ihr Zustand sich ändert.«
Der Mann nickte und folgte dem Arzt. Unterdessen waren auch die übrigen Männer von der Ladefläche gestiegen und dehnten ihre Muskeln. Alle wirkten erleichtert, dass sie es bis hierher geschafft hatten. Auch er war froh darüber, obwohl ihm der misslungene Angriff auf die Caroline und der Verlust der dort gefallenen Kameraden noch immer schwer auf der Seele lagen.
Er verließ den Wagen, drehte sich um und blickte Jamanah an, die auf dem Beifahrersitz saß und sich nicht rührte. Waren die Leute, zu denen sie gekommen waren, etwa Feinde von ihr oder ihrem Stamm?, fragte Dietrich sich. Wenn das so war, durfte er sie nicht einfach hier zurücklassen. Mit dem Gefühl, sich eine Verantwortung aufgeladen zu haben, die ihn zusätzlich belastete, forderte er sie zum Aussteigen auf.
»Keine Angst! Ich sorge schon dafür, dass dich keiner frisst«, setzte er hinzu, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht verstand.
Jamanah sah die Geste des fremden Anführers, zögerte aber. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn sie sich jetzt wieder selbst hinters Steuer setzen und den Weg nach Xagal hätte suchen können. Da ihr nichts anderes übrigzubleiben schien, als zu gehorchen, stieg sie aus und gesellte sich unbewusst zu dem hünenhaften Fremden.
Unterdessen kam Ikrum zurück, der seinen Kommandeur über die Ankömmlinge informiert hatte. »Der General würde gerne mit Ihnen sprechen, Major. Ihn interessiert brennend, auf welche Weise Sie den Minen ausweichen konnten.«
Die Frage erinnerte Dietrich an die Minenwarngeräte, die noch immer vorne an Jamanahs Wagen befestigt waren. Mit einer Handbewegung deutete er seinen Männern an, dass sie diese entfernen sollten, und folgte Ikrum zu einem etwas abseits gelegenen Zelt. Da Jamanah nicht wusste, was sie tun sollte, ging sie mit ihm.
General Mahsin saß auf einem Klappstuhl hinter einem einfachen Tisch, auf dem eine Karte der Region lag. Als Dietrich eintrat, wies er einen Soldaten an, einen weiteren Klappstuhl für den Gast zu bringen, und musterte den Deutschen mit einer gewissen Anspannung. »Ich freue mich, dass Sie unbeschadet bis hierher durchgekommen sind. Es wird nicht leicht gewesen sein, denn dieser elende Hund Diya Baqi Majid hat einen großen Teil seiner Leute bei Maydh zusammengezogen.«
»Wir haben Maydh umgangen und sind erst danach auf die Küstenstraße gestoßen. Das war etwa hier!« Dietrich zeigte auf ein auf der Karte eingezeichnetes Flussbett, das jedoch ausgetrocknet war. Dem war er mit dem Wagen gefolgt und hatte auf diese Weise die Küstenstraße erreichen können.
»Und was haben Sie hinter Maydh gesehen?«
»Wenig. Wir haben die Küstenstraße gemieden und uns an den Ausläufern des Gebirges entlangbewegt«, erklärte Dietrich.
»Mit dem Wagen?« General Mahsin klang ungläubig, denn die von Dietrich genannte Strecke war selbst für einen Geländewagen nicht zu bewältigen.
»Nein, da mussten wir noch zu Fuß gehen. Auf den Wagen und seine Besitzerin sind wir …«, Dietrich versuchte, die Karte zu lesen, und zeigte dann auf eine Stelle, »etwa hier gestoßen. Von da sind wir so weitergefahren.« Sein Zeigefinger fuhr über die Karte und blieb auf dem Namen Raguuda stehen.
»Sie sagen Besitzerin? Das ist eine Frau? Wer ist sie?«, fragte der General und betrachtete Jamanah misstrauisch.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie hat uns ihren Wagen zur Verfügung gestellt, damit wir schneller vorwärtskommen konnten. Ach ja, kurz vorher sind wir auf eine Kamelpatrouille gestoßen und haben diese verscheucht.«
»Wir haben die Schüsse gehört«, erklärte Mahsin, ohne seinen Blick von Jamanah zu lösen. Es schien ihm kaum glaublich, dass es sich bei ihr um eine Frau handeln sollte. Obwohl er nicht gerade klein war, ragte sie, als er aufstand, noch einmal um eine Handbreite über ihn hinaus.
»Wer bist du?«, schnauzte er sie in seiner Muttersprache an.
»Ich bin Jamanah aus Afduuga«, antwortete die junge Frau. »Die Blutsäufer haben die meisten Bewohner unseres Dorfes umgebracht. Nur wenige kamen mit dem Leben davon.«
»Afduuga?« Der General überlegte kurz. »Die Leute sind doch nach Xagal evakuiert worden. Was machst du hier, und woher hast du das Auto? Das hast du sicher irgendwo gestohlen!«
Jamanah schüttelte empört den Kopf. »Ich habe den Wagen nicht gestohlen, sondern von den Blutsäufern erbeutet. Ich konnte die Männer überraschen und mit meinem Gewehr erschießen.«
»Du willst schießen können?« Mahsin begann zuerst zu lachen, hob dann aber die Hand, als wolle er Jamanah schlagen.
Dietrich hielt es für an der Zeit, einzugreifen. »Was ist mit dem Mädchen? Was sagt sie?«
Der General drehte sich mit spöttischer Miene zu ihm um. »Sie behauptet, mehrere Männer getötet und dabei das Auto erbeutet zu haben. Außerdem will sie schießen können.«
»Nun, das ist doch leicht zu beweisen. Sie haben doch sicher einen Schießstand.« Eigentlich könnte es mir gleich sein, was mit diesem seltsamen Mädchen passiert, dachte Dietrich. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, ihr beizustehen.
Nach kurzem Zögern nickte der General. »Sie soll uns zeigen, wie gut sie schießen kann.« Er wandte sich wieder an Jamanah. »Du wirst jetzt schießen. Kannst du es nicht, lasse ich dich wegen deiner Lügen auspeitschen!«
Jamanah nickte, trat auf Dietrich zu und versuchte ihm zu erklären, dass sie ihre Kalaschnikow bräuchte.
Da der Major nicht wusste, welche Waffe sie meinte, rief er einen seiner Männer herein und forderte ihn auf, alle Waffen zu bringen, die sie bei Jamanah gefunden hatten.
Als der Major die vier modernen Cobray M-11 sah, nahm er eine davon in die Hand und sah dann Dietrich an. »Wie kommt das Mädchen an diese Waffen?«
»Wahrscheinlich hat sie sie mit dem Wagen erbeutet. Auf alle Fälle ist es interessant, zu wissen, dass es diese Dinger hier in größerer Zahl gibt. Irgendjemand unterläuft das Waffenembargo und liefert das neueste Kriegsgerät.«
Unterdessen hatte Jamanah ihre Kalaschnikow an sich genommen, überprüfte das Magazin und wandte sich mit einer auffordernden Geste an den General. »Ich bin bereit!«
Mahsin knurrte, verließ dann aber das Zelt und deutete auf mehrere kleine Felsen, die etwa hundert Schritt entfernt standen. »Wenn du einen davon triffst, will ich dir glauben.«
Während er einen Schritt zurücktrat, als hätte er Angst, sie könnte versehentlich ihn treffen, hob Jamanah die Waffe, zielte und feuerte den ersten Schuss ab. Bei dem kleinsten Felsen stob eine kleine Splitterwolke auf.
Der General keuchte überrascht, doch da schoss Jamanah erneut und traf den Felsen ein zweites Mal. Als auch der nächste Schuss ein Treffer war, hob Dietrich die Hand. »Ich glaube, das reicht!«
Insgeheim war er nun froh, dass es ihm und seinen Männern gelungen war, Jamanah zu überraschen. Wäre das Mädchen gewarnt gewesen, hätte es einen Schusswechsel und wahrscheinlich Verletzte gegeben. Der Gedanke, dass er in dem Fall vielleicht sogar Jamanah mit eigener Hand erschossen hätte, ließ seine Knie weich werden.
Tief durchatmend klopfte er ihr auf die Schulter. »Gut gemacht! Ich hätte nicht besser schießen können.«
Obwohl Jamanah ihn nicht verstehen konnte, begriff sie, dass das ein Lob war, und lächelte ihn an.
Der General brummte ärgerlich. »Dem Kerl, der diesem Mädchen das Schießen beigebracht hat, sollte man das Fell gerben. Wo kämen wir hin, wenn auch noch die Frauen in den Krieg ziehen würden? Die ganze Disziplin wäre beim Teufel. Na ja, wenigstens hat sie sich damit die Peitsche erspart. Ihre Waffen werden jedoch konfisziert.« Da er am Ende in den gebräuchlichen Dialekt des Somalischen übergegangen war, hörte Jamanah, was er vorhatte, und wurde zornig.
»Dieses Auto und die Waffen sind meine Beute, mit allem, was noch auf dem Wagen geladen ist. Ich fordere es für mich!«
»Du hast gar nichts zu fordern«, fuhr Mahsin sie an.
Dietrich bemerkte den beginnenden Streit und griff ein. »Was gibt es, General?«
Mahsin blies verächtlich die Luft durch die Nase. »Das Mädchen meint, der Wagen und die MPs wären seine Beute. Doch was will es damit? Es soll froh sein, wenn wir ihm das alte Sturmgewehr lassen. Die anderen Waffen brauchen wir für den Krieg!«
»Trotzdem können Sie ihr nicht einfach alles wegnehmen.« Dietrich wollte nicht, dass Jamanah seinetwegen einen Schaden erlitt, und redete mit Engelszungen auf General Mahsin ein, ihr wenigstens eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Der Somali brachte mehrere Einwände, nickte aber zuletzt. »Also gut, sie bekommt etwas. Aber nur Ihnen zuliebe! Dafür müssen Sie mir aber einen Gefallen tun.«
»Wenn es in meiner Macht steht, gerne«, sagte Dietrich.
»Es steht in Ihrer Macht. Captain Ikrum hat mir erzählt, dass Sie mit dem Wagen durch das Minenfeld der Warsangeli-Milizen gekommen sind. Diese verdammten Hunde haben vor ein paar Wochen Maydh besetzt. Wir müssen diese Stadt unter allen Umständen zurückgewinnen, Major! Sie ist das Symbol unseres Stammes, unsere heilige Stätte. Sie in der Hand des Feindes zu wissen, ist ein Schlag ins Gesicht unseres Volkes. Aber der verdammte Minengürtel davor macht es uns unmöglich, einen Angriff zu starten. Wir würden bei dem Versuch so große Verluste erleiden, dass Diya Baqi Majids Männer uns zurückschlagen können. Aber wenn wir eine weitere Niederlage erleiden, erlischt der Kampfgeist unserer Armee, und wir müssen die Provinzen Sanaag, Togdheer und Sool aufgeben. Das wäre mehr als die Hälfte unseres Stammesgebiets!«
Die Stimme des Generals klang beschwörend, und Dietrich verstand, was den Mann bewegte. Die politische Führung seines Landes hatte die gesamte Verantwortung für den weiteren Bestand Somalilands auf ihn abgewälzt. Scheiterte er, würde sein Name für immer mit dem Niedergang seines Volkes verbunden sein.
Doch wog ein gewisses Verständnis für Mahsins Motive es auf, sich ohne Befehl oder Erlaubnis aktiv an den Kämpfen in Somalia zu beteiligen?, fragte Dietrich sich. Nun fand er es doppelt ärgerlich, dass seine Vorgesetzten es unterlassen hatten, ihn über die hiesigen Zustände zu informieren. Wenn er sich jetzt falsch entschied …
Er dachte diesen Gedanken nicht zu Ende, sondern sah Jamanah an. Den Worten Mahsins zufolge war ihr Dorf von den Feinden jenseits der Grenzen überfallen und der größte Teil der Bewohner ermordet worden. Sie selbst hatte man mit den Überlebenden in ein Flüchtlingslager im Binnenland geschickt. Er wusste nicht, aus welchen Gründen sie diesen Ort wieder verlassen hatte, um ins Grenzgebiet zurückzukehren. Eines aber konnte er mit hundertprozentiger Sicherheit sagen: Ohne sie hätten er und seine Leute es niemals bis zu General Mahsins Truppen geschafft. Wenn Leutnant Grapengeter am Leben blieb, so war dies ebenso ihr Verdienst wie die Tatsache, dass sie auf ihrer Flucht keine weiteren Verluste erlitten hatten.
Er sagte sich, dass er sich am besten revanchieren konnte, wenn er mithalf, ihre Heimat wiederzugewinnen. Daher wandte er sich an Mahsin. »Also gut, ich bin dabei! Allerdings möchte ich, dass meine verletzten Männer nach Berbera gebracht werden. Ich bleibe bei Ihnen und suche für Ihre Leute einen Weg durch die Minen.«
»Ich danke Ihnen!« Mahsin ergriff seine Hand und schüttelte sie. Dann wies der General auf Jamanah. »Ich habe derzeit nicht die Möglichkeit, das Mädchen in das Flüchtlingslager von Xagal zurückbringen zu lassen. Sie können es vorerst behalten.«
Dietrich gefiel der verächtliche Tonfall nicht, in dem Mahsin über Jamanah redete. Andererseits war es für sie wahrscheinlich besser, wenn sie in seiner Nähe blieb. Dann aber verdrängte er Jamanah wieder aus seinen Gedanken und sprach mit dem General den geplanten Angriff durch. Dieser brachte noch einen weiteren Punkt vor, um Dietrich die Zusammenarbeit schmackhaft zu machen.
»Wenn wir Maydh eingenommen haben, sind wir in der Lage, kurz darauf bis Laasqoray vorzustoßen. Die dortigen Milizen haben einige Ihrer Leute gefangen genommen und werden diese als wichtige Geiseln in der Stadt einsperren. Wenn alles gut geht, werden wir sie befreien!«
Das, sagte Dietrich sich, war wahrlich ein Grund, hierzubleiben. Um aber die gefangenen Männer von Boot zwei befreien zu können, benötigte er nicht nur die Unterstützung der hiesigen Somalis. Er musste auch die ihm verbliebenen Männer fragen, wer von ihnen bereit war, mitzumachen. Die anderen würde er zusammen mit den Verletzten evakuieren lassen. Doch vorher brauchte er etwas zu essen, denn Trockennahrung machte auf die Dauer nicht satt. Auch Jamanah schien hungrig zu sein, denn sie sah sich unruhig um, während ihr Magen hörbar knurrte.
ZWANZIG
Nachdem ihr erster Versuch, nach Laasqoray zu gelangen, unter dem Mangel an Wasser, Nahrung und Ausrüstung gelitten hatte, wollte Omar Schmitt diesmal kein Risiko eingehen. Das hieß allerdings auch, dass sie sich nicht auf den üblichen Wegen durch das Land des Feindes bewegen durften. Aus diesem Grund hatte er mit Al Huseyin zusammen eine Route ausgearbeitet, auf der sie das Gebirge umgehen und sich der Stadt von Süden her nähern konnten.
Den Weg kannten Omar Schmitt und die beiden Männer, die ihn und Torsten Renk begleiten würden, zur Genüge. Aber sie durften ihn nicht in der Uniform von Soldaten aus Somaliland antreten. Daher hatten sie sich als Stammesmilizionäre getarnt, wie sie zu Hunderten in den Warsangeli- und Dulbahante-Gebieten umherstreiften. Torsten Renk steckte in einer Art Räuberzivil, das aus einer verwaschenen Militärhose in Tarnfarben sowie aus einem einstmals weißen, kragenlosen Hemd bestand, das er über der Hose trug. Ein rotes Tuch als Gürtel, ein weiteres um den Kopf und dazu eine uralte Baseballmütze vervollständigten sein Kostüm. Bewaffnet war er neben seiner im Gürtel versteckten Sphinx AT2000 mit einem italienischen Beretta-Karabiner und einem unterarmlangen Krummdolch. Da Omar ihm Gesicht und Hände mit einer dunklen Paste eingerieben hatte, sah er zumindest auf den ersten Blick wie ein Einheimischer aus.
»Sie sollten den Leuten, denen wir begegnen, nicht ins Gesicht schauen. So helle Augen wie Sie hat in dieser Gegend keiner«, wies Al Huseyin Torsten in spöttischem Tonfall an, als der Trupp in den Wagen stieg.
Torsten ging nicht auf die Bemerkung ein, sondern überprüfte das Maschinengewehr. Nach einigen Zielübungen, bei denen der Lauf auch kurz auf Al Huseyin zeigte, nickte er zufrieden. »Das Ding ist zwar nicht gerade das modernste, dafür aber robust. Mit dem können wir uns einiger Neugiernasen erwehren.«
»Können Sie mit dem MG umgehen?«, fragte Omar Schmitt.
»Natürlich! Immerhin war ich bei der kämpfenden Truppe im Sudan und in Afghanistan, bevor ich zu den Schlapphüten gesteckt worden bin.« Torsten war gut gestimmt, denn nach der zermürbenden Warterei und einigen herben Rückschlägen tat sich endlich etwas.
»Dann sollten Sie es übernehmen. Meine Leute sind nicht so geübt darin«, sagte Omar Schmitt, der froh darüber war, dass weder Al Huseyin noch der Untergebene, der neben ihm stand, Deutsch sprachen. Die beiden hätten ihm vehement widersprochen, denn für sie war ein Somali grundsätzlich ein guter Krieger. Bei dieser Aktion galt es jedoch, die Stärken jedes Einzelnen auszunützen. Deshalb war ihm ein in Afghanistan erprobter Soldat am MG lieber als jemand, der nur gelegentlich zur Übung damit geschossen hatte.
»Sie sollten aufbrechen«, erklärte Al Huseyin, »sonst erwischt Sie die Nacht noch mitten in einem Minenfeld. Ich glaube nicht, dass Sie dort ruhig schlafen werden.«
Torsten ärgerte sich gegen seinen Willen erneut über die Überheblichkeit des Mannes. Irgendwann, sagte er sich, würde er eine Stecknadel nehmen und diesen aufgeblasenen Ballon zum Platzen bringen. Doch das hatte Zeit. Jetzt galt es erst einmal, nach Laasqoray zu kommen und zu erkunden, wie die Lady of the Sea befreit werden konnte.
Omar Schmitt setzte sich hinter das Steuer und winkte einem seiner Männer, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, während Torsten sich mit dem anderen Somali die Rückbank teilte. Nach einer flapsigen Bemerkung zu Al Huseyin, die mehr dazu diente, seine Anspannung zu verbergen, ließ Omar Schmitt den Motor an und fuhr los.
Die erste Strecke legten sie auf eigenem Gebiet zurück, und ihr vorerst einziger Feind waren die schlechten Straßen. Teilweise mussten sie die Betten ausgetrockneter Bäche benutzen und benötigten mehrmals die Seilwinde des Geländewagens, um sich wieder herauszuziehen. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit pendelte sich bei weniger als dreißig Kilometer in der Stunde ein. Bei dem Tempo, schätzte Torsten, würden sie Laasqoray erst erreichen, wenn die Lösegeldverhandlungen mit den Piraten bereits abgeschlossen waren.
»Geht es nicht schneller?«, fragte er Omar Schmitt.
Der schüttelte mit verkniffener Miene den Kopf. »Nicht wenn wir so unauffällig wie möglich nach Laasqoray gelangen wollen. Die Dulbahante und Warsangeli, durch deren Gebiet wir fahren, machen mit Spionen kurzen Prozess.«
»Das ist mir klar, Oberst. Aber muss ich mich darüber freuen, dass wir so langsam sind?«
Omar Schmitt lachte kurz auf. »Natürlich nicht! Doch wer in diesem Land überleben will, muss sich gut überlegen, wohin er seinen nächsten Schritt setzt. Ein Fehltritt, und es macht bum!«
»Wann werden wir das Minenfeld erreichen?«
»Wir müssten bald dort sein.«
»Hoffentlich bemerken wir es auch früh genug, und nicht erst, wenn uns bereits Flügelchen wachsen und wir in den himmlischen Chor eingereiht werden!«, gab Torsten bissig zurück.
»Keine Angst, Renk. Wir haben eine Karte, in der die Wege durch die Minenfelder verzeichnet sind. Wenn wir hindurch sind, werden wir sie allerdings verbrennen müssen, damit sie nicht durch einen dummen Zufall in die Hände unserer Feinde gerät. Oder ziehen Sie es vor, das Papier nach alter Agentensitte zu verspeisen?«
Torsten betrachtete die Karte, die Tamid, wie der Soldat auf dem Beifahrersitz hieß, eben ausbreitete, und lachte. »Das wäre eine zu große Portion. Aber was machen wir, wenn wir uns auf demselben Weg zurückziehen müssen?«
»Das sollten wir um jeden Preis vermeiden. Wir müssen die Karte vernichten. Wenn diese elenden Mordbrenner sie in die Hände bekommen, würden sie weitere Gebiete unseres Landes verheeren und einen Flüchtlingsstrom auslösen, der Hunderttausende mit sich reißen wird. Das wäre das Ende von Somaliland.«
Omar Schmitt war die Angst um sein Land anzumerken. Mit der Ruhe und der Sicherheit, die die Minenfelder Somaliland gewährten, wäre es dann vorbei, und das Land würde in den gleichen Teufelsstrudel geraten wie der Rest von Somalia. Doch ehe er etwas sagen konnte, vernahmen sie Schüsse.
»Dort drüben ist etwas im Gang«, rief Omar und hielt auf die Stelle zu.
Torsten erhob sich, um mehr zu sehen, und machte das MG schussbereit. Dabei erregte eine dunkle Rauchfahne seine Aufmerksamkeit.
»Dort vorne brennt es!«, rief Omar Schmitt und drückte so aufs Gas, dass der Wagen auf dem unebenen Gelände wild hin und her schaukelte. Doch keiner seiner Passagiere beschwerte sich. Alle starrten auf die Bodenwelle, in der nun ein in Flammen stehender Geländewagen in Sicht kam. Drei Soldaten mit dem Emblem Somalilands auf der Schulter lagen starr um ihn herum.
Mit einem Fluch bremste Omar ab und hielt in der Nähe des brennenden Autos an. »Das war eines unserer Minenleger-Teams! Jemand hat es angegriffen und die Leute umgebracht.«
»Hatten die Männer eine Karte mit den Minen bei sich?«, fragte Torsten.
»Ja, wenn auch nur für das Gebiet, in dem sie die Minen legen sollten. Doch selbst das ist fatal, denn unsere Feinde wissen jetzt, wie sie an dieser Stelle durchkommen können.« Omar befahl Tamid, sich um die Soldaten zu kümmern, auch wenn er kaum Hoffnung hatte, noch Leben in ihnen zu finden.
Er blickte angestrengt nach Norden. »Sehen Sie die Radspuren, Renk? Das waren mindestens drei schwere Geländewagen. Wie es aussieht, haben die Kerle noch nicht genug Unheil angerichtet, sondern wollen auf unsere restlichen Minenleger losgehen. Wir müssen den armen Hunden helfen. Gegen diese Mörderbande haben sie einzeln keine Chance.«
Omar wartete gerade noch ab, bis sein Beifahrer zurückkam und meldete, dass alle Männer tot seien und die Ausrüstung gestohlen oder zerstört sei. Dann folgte er den Spuren der Angreifer.
Torsten überlegte, ob er Einwände erheben sollte. Immerhin wollten sie nach Laasqoray fahren und sich nicht mit anderen Milizen herumschlagen. Dann aber dachte er an die Männer, die den Minengürtel legen sollten. Auch wenn sie durch die Schüsse gewarnt worden waren, hatten sie mit ihren altersschwachen Jeeps keine Chance gegen die modernen Fahrzeuge ihrer Gegner. Außerdem, so rief er sich ins Gedächtnis, war er hierhergeschickt worden, um den Menschen in Somaliland zu helfen, sich gegen solche Banden zu behaupten.
»Geht es nicht ein bisschen schneller? Die Kerle entkommen uns sonst«, forderte er Omar auf. Dieser nickte verbissen und schaltete in einen höheren Gang.
Torsten hob das Fernglas an die Augen und suchte den Horizont ab. Einen guten Kilometer voraus entdeckte er einen leichten Geländewagen, der in hohem Tempo über die Steppe raste. Drei schwere Fahrzeuge folgten ihm und holten mehr und mehr auf. Dabei versuchten sie, den Verfolgten in die Zange zu nehmen.
»Etwas mehr nach rechts«, befahl Torsten Omar und leitete diesen so, dass sie ein Stück des Weges abkürzen konnten.
»Hoffentlich halten unsere Männer durch, bis wir sie erreicht haben«, stöhnte der Mann neben ihm.
»Dann müssen wir noch schneller werden!« Omar trat jetzt das Gaspedal voll durch und verwandelte den Wagen in einen Gummiball.
»Hoffentlich halten die Stoßdämpfer und Achsen das aus«, warnte Torsten.
Omar lachte grimmig. »Keine Sorge, das tun sie! Ich habe mir ein robustes Gefährt ausgesucht. Da mache ich mir mehr Sorgen um unsere Leute, denn deren Kasten hält dieses Tempo nicht lange durch.« Es war, als hätte er das Unglück herbeigerufen, denn der verfolgte Wagen brach auf einmal nach rechts aus und überschlug sich mehrmals.
»Scheiße!«, schrie Omar auf Deutsch und raste auf die drei Geländewagen zu, die sich jetzt bei dem verunglückten Gefährt sammelten. Sie konnten allerdings nicht verhindern, dass die Kerle von ihren Fahrzeugen aus auf die verletzten oder bereits toten Somaliland-Soldaten schossen. Zuletzt rollte einer eine Handgranate unter den auf dem Kopf liegenden Jeep, und noch während diese explodierte, fuhren die Angreifer johlend los.
Einer der Schurken entdeckte nun den sich nähernden Geländewagen und gab mit einer kurzen Salve aus seinem Sturmgewehr Alarm. Alle drei Fahrer wendeten ihre Autos und rasten auf ihren Verfolger zu.
»Das wird haarig werden«, stöhnte Omar und steuerte nach links, um nicht in die Zange genommen zu werden. Ihre Gegner vollzogen ebenfalls eine Richtungsänderung und schwärmten aus, um ihnen von drei Seiten den Weg zu verlegen.
»Wir müssen es mit ihnen aufnehmen. Wenn wir wenden, verlieren wir zu viel Zeit und haben sie im Nacken.« Seinen Worten zum Trotz zwang Omar den Wagen in eine langgestreckte Linkskurve. Drüben begann das erste MG zu feuern, doch die Geschossgarbe strich weit an ihrem Fahrzeug vorbei.
Torsten fixierte den vordersten Angreifer und richtete das MG darauf aus. Doch als er den Abzugsbügel zog, verließen nur ein paar Geschosse den Lauf. Dann klemmte das Schloss.
»Wir haben Ladehemmung!«, schrie er wütend auf und hämmerte mit der Faust gegen die Waffe, um die Patrone zu lösen. Der neben ihm sitzende Soldat feuerte sein Sturmgewehr ab, doch gegen drei schwere MGs war dies ein ungleiches Duell.
Omar riss den Wagen erneut herum und raste in Richtung Osten. Für ihre Verfolger sah es so aus, als hätte er die Nerven verloren.
»Schau auf die Karte! Schau auf die Karte!«, schrie er Tamid an, während er auf einen bereits fertig ausgelegten Teil des Minengürtels zufuhr.
»Mehr nach links. Wir müssen direkt an diesem Felsen dort vorne vorbei!« Tamids Stimme zitterte vor Angst. Dennoch versuchte er, Omar trotz der hohen Geschwindigkeit des Wagens durch den Minengürtel zu leiten.
Auf ihrem Weg kamen sie ziemlich nahe am äußersten Verfolgerfahrzeug vorbei. Diesmal zielten die Kerle besser. Torsten zog den Kopf ein, als die Geschosse knapp über seinem Scheitel dahinsurrten, und er hörte, wie es zweimal ins Blech einschlug. Doch der Wagen fuhr noch immer. Omar verwandelte ihn nun in einen Haken schlagenden Hasen, um den ersten Minen zu entgehen. Er wagte nicht, die Geschwindigkeit zu verringern.
Erneut zogen Leuchtspurgeschosse über ihren Wagen hinweg, und jede Salve kam näher. Dann knallte es fürchterlich.
Als Torsten sich umdrehte, sah er, wie der vorderste Wagen ihrer Verfolger durch die Luft geschleudert wurde und dann so hart auf den Boden aufschlug, dass drei weitere Minen explodierten.
Der Mann neben Torsten stieß einen Jubelruf aus. Dadurch überhörte Omar beinahe Tamids Anweisung, scharf rechts zu fahren, und lenkte den Wagen gefährlich knapp an einer vergrabenen Mine vorbei, die jedoch nicht explodierte. Durch das Rütteln hatte sich die verklemmte Patrone im MG gelöst, und Torsten gelang es nun, sie zu entfernen und den Munitionsgurt neu einzulegen. Als er diesmal durchlud und feuerte, funktionierte die Waffe. Seine Salve traf den nächsten Wagen. Der fuhr weiter geradeaus, als sei nichts geschehen. Doch nach dreißig, vierzig Metern traf auch er auf eine Mine und wurde in Stücke gerissen.
»Jetzt haben wir nur noch einen am Hals«, murmelte Torsten.
»Oder auch nicht. Der Kerl will Fersengeld geben! Aber er darf uns nicht entkommen.« Omar wendete den Wagen in mehreren verwinkelten Kurven, die ihm sein Kartenleser vorgab, und machte sich an die Verfolgung. Da der andere nicht wagte, mitten im Minengebiet schnell zu fahren, holten sie trotz ihres schlingernden Kurses rasch auf. Torsten zielte auf den Wagen und gab drei kurze Feuerstöße ab.
Zuerst glaubte er, das Ziel verfehlt zu haben, doch da flogen die Einzelteile eines Hinterreifens davon, und das Gefährt neigte sich zur Seite.
»Gut gemacht! Vielleicht erwischen wir die Kerle jetzt lebend!« Omar wollte Gefangene machen, die er zum nächsten eigenen Stützpunkt zurückbringen konnte, und hatte dabei ganz vergessen, dass sie auf einer geheimen Mission waren. Noch während er sich die Fragen überlegte, die er den Kerlen stellen wollte, fuhr auch der andere Wagen auf eine Mine. Es knallte noch einmal kräftig, dann war nur noch das Brummen ihres Motors zu vernehmen.
»Schade! Ich hätte so gerne einen der Schurken verhört.« Omar seufzte kurz und wurde dann so langsam, wie es angesichts der Minen um sie herum angebracht war.
»Vielleicht gibt es einen, der nur verletzt ist«, wandte Torsten ein.
»Wollen Sie hingehen und riskieren, dass die anderen Minen um das Wrack herum auch noch explodieren?«, fragte Omar ihn ätzend. »Ich nicht! Ich gebe Al Huseyin Bescheid. Vielleicht kann sich ein Minenräumkommando um die Reste dort kümmern. Wir sehen zu, dass wir aus dem Feld herauskommen, und checken dann unser Fahrzeug. Ist es noch in Ordnung, fahren wir nach Laasqoray. Oder haben Sie etwas dagegen?«
Torsten schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich bestimmt nicht!«
Dabei kämpfte er mit dem Gefühl, dass dieses Scharmützel nicht das einzige bleiben würde, das er während seines Aufenthalts in Somalia ausfechten musste.