VIERTER TEIL

UNDERCOVER

EINS

 

Petra Waitl musterte ihr Gegenüber auf dem Bildschirm besorgt. Inzwischen sah man Evelyne Wide die Strapazen der Gefangenschaft deutlich an. Die Wangen der Fernsehreporterin wirkten eingefallen, die Lippen waren aufgesprungen, und die Augen glänzten wie im Fieber.

»Es ist die Hölle!«, berichtete sie. »Einige Piraten vergreifen sich immer wieder an weiblichen Passagieren. Viele von uns trauen sich nicht mehr aus ihrer Kabine. Ich versuche, meine Rationen so weit zu strecken, dass ich mich nur noch jeden zweiten Tag an der Essensausgabe anstellen muss. Aber lange halte ich das nicht durch. Wenn uns nicht bald geholfen wird, gibt es hier eine Katastrophe.«

Gerne hätte Petra ihr berichtet, dass die Geiselhaft nicht mehr lange dauern würde. In Berlin tagten die Krisenstäbe jedoch, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Daher konnte sie Evelyne im Moment nur gut zureden. Wagner hatte ihr zwar erklärt, sie würden bald zu tun bekommen, ihr aber nichts Näheres mitgeteilt. Und selbst wenn sie etwas gewusst hätte, wäre es zu gefährlich gewesen, Evelyne zu informieren. Jedes unbedachte Wort und ein darauffolgendes Verhör konnten die gesamte Aktion gefährden.

»Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich bin nur für den Kontakt mit Ihnen zuständig. Um etwas für Sie und die anderen Geiseln zu erreichen, müssen wir so viel wie möglich über die Zustände auf der Lady erfahren. Jede Information kann wichtig sein«, beschwor sie die Reporterin.

Evelyne nickte, ohne Petras Worte wirklich zu begreifen. Dafür war ihre Angst zu groß. Sie berichtete jedoch alles, was sie in Erfahrung gebracht hatte. »Es befinden sich etwa einhundert Piraten an Bord. Ihr Anführer ist ein gewisser Hanif, ein durchtriebener Kerl. Er lässt Einzelne, die er im Verdacht hat, falsche Angaben gemacht zu haben, immer wieder verhören. Auch hat er einige Passagiere, die er für besonders wichtig hält, aussortieren und in einem Extraraum einsperren lassen, darunter alle an Bord befindlichen Politiker. Ich kann leider nicht sagen, um wie viele Menschen es sich handelt, da uns jeder Kontakt untereinander verboten ist und wir sofort Schläge bekommen, wenn wir während des Wartens an der Essensausgabe miteinander reden.« Evelyne streckte sich und stöhnte auf, denn beim letzten Mal hatte sie einen Kolbenhieb abbekommen, der ihr immer noch wehtat.

»Wir tun alles, was uns möglich ist!«, versprach Petra und unterbrach die Verbindung.

Während sie mit verkniffener Miene eine Leitung nach Berlin zu ihrer vorgesetzten Stelle schaltete, um dem zuständigen Referenten des Kanzleramtsministers Bericht zu erstatten, hoffte sie auf eine Entscheidung zu Gunsten der Geiseln. Sie erhielt jedoch nur die Aufforderung, weitere Informationen einzuholen. Das tat sie dann auch, kaum dass ihr Gesprächspartner sich verabschiedet hatte. Noch während sie sich durch verschiedene Server und Dateien wühlte, kehrte Henriette zurück. Der missmutige Gesichtsausdruck, den sie die letzten Tage über gezeigt hatte, war verschwunden, sie lächelte sogar ein wenig.

Verwundert sah Petra sie an. »Was ist denn jetzt passiert?«

Henriettes Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Einer der jungen Offiziere im Camp hat sich für einen großen Judocrack gehalten und mich zu einem kleinen Wettkampf aufgefordert.«

»Und jetzt?«, fragte Petra.

»Jetzt hat er blaue Flecken, weil er so oft auf den Boden geknallt ist.«

»Schade, dass du mir nichts gesagt hast. Ich wäre gerne dabei gewesen. Hier gibt es doch sonst keine Abwechslung!« Petra seufzte und wies dann mit dem Kinn auf den Bildschirm. »Ich habe wieder mit Evelyne gesprochen. Die Bedingungen an Bord der Lady sind katastrophal. Wir müssen etwas unternehmen.«

»Das sagt unser großer Guru schon seit zwei Tagen, aber es geschieht trotzdem nichts!« Henriette zischte wie eine gereizte Schlange und stellte dann die Frage, die sie am meisten interessierte. »Hattest du Kontakt mit Torsten?«

Petra nickte. »Er ist mit drei Begleitern auf dem Weg nach Laasqoray und wird voraussichtlich morgen im Lauf des Tages dort eintreffen. Zu Beginn ihrer Reise hatten sie Probleme mit einigen Milizionären, aber seitdem läuft es, wenn man das bei den dortigen Straßenverhältnissen sagen kann. Die normale Bevölkerung traut sich nicht an bewaffnete Männer in einem mit einem MG ausgerüsteten Geländewagen heran, und die Milizen, die dort umherstreifen, halten sie für Abgesandte eines Warlords aus einer südlicher gelegenen Gegend, die … einen Moment …«, Petra blickte kurz auf ihren Bildschirm und klickte eine Seite im Internet an, »die ›Galmudug‹ heißt. Dieser Omar Schmitt hat die entsprechenden Unterlagen gefälscht.«

»Schade, dass der Mann nach Somalia gegangen ist. Er wäre eine gute Ergänzung für unser Team.« Henriette holte sich einen der Rollhocker heran, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und setzte sich neben Petra.

»Du hast gesagt, die Lage auf der Lady wäre schlecht. Können wir denn überhaupt nichts für die Geiseln tun?«

»Ich wollte mich in den Bordcomputer einhacken, aber den haben die Piraten ausgeschaltet. Ich kann nur auf ein paar nachrangige Geräte zugreifen und den Funk überwachen. Die Kerle schicken ihre Befehle allerdings anscheinend mit der Post.« Petra klang genervt, denn sie hatte alles getan, um sich virtuell auf dem Schiff einzuschleichen, doch solchen Versuchen hatten die Entführer einen Riegel vorgeschoben.

»Und was ist mit dem Ersatzcomputer? Haben die Piraten den auch abgeschaltet?«, wollte Henriette wissen.

»Die zweite Anlage ist während des normalen Bordbetriebs nicht online, und sie lässt sich nur durch einen Befehl über den Hauptcomputer oder per Hand einschalten. Beide Möglichkeiten habe ich nicht.«

»Um wirklich etwas unternehmen zu können, müssten wir also an Bord gehen.«

»Henriette, du hast wieder einmal vollkommen recht«, klang da Hans Borcharts Stimme auf. Doch als sie sich umdrehten, sahen die beiden Frauen einen dunkelhäutigen Mann mit grauen Haaren vor sich, der in einem Wickelrock und einem zerrissenen Hemd sowie einem um Schulter und Hüften geschlungenen Tuch steckte. Sein linkes Bein endete knapp vor dem Fußknöchel, und ihm fehlte auch die rechte Hand. Dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis Henriette und Petra begriffen, dass sie tatsächlich Hans vor sich sahen.

Er stützte sich auf eine alte, wuchtig aussehende Holzkrücke und humpelte näher. Als die beiden Frauen in sein Gesicht blickten, stellten sie fest, dass er Kontaktlinsen von brauner Farbe trug.

»Gut siehst du aus!«, rief Petra bewundernd.

Hans grinste zufrieden. »Unsere französischen Kollegen haben mir dabei geholfen. Ich soll nach Laasqoray gehen und mich mit Torsten treffen. Vielleicht können wir dort etwas für die Soldaten des beim Angriff auf die Caroline zerstörten Bootes tun. Die Piraten haben einige von ihnen an Land gebracht.«

»Woher weißt du das schon wieder?«, wunderte Petra sich.

»Von unserem hiesigen Kontaktmann aus Somaliland. Die Brüder haben Spione bei unseren speziellen Kunden. Von einem von ihnen habe ich erfahren, dass es der Trupp von Henriettes Bruder bis nach Somaliland geschafft hat. Sie haben nur drei Verletzte zu beklagen. Bei einem ist zwar noch nicht ganz sicher, ob er durchkommt, aber die Ärzte sind zuversichtlich. Außerdem haben die Franzosen die Fregatte Surcouf losgeschickt, um unsere Leute zu holen. Unsere eigenen Pötte dürfen sich ja wegen des Ultimatums der angeblichen Freiheitshelden von Somalia nicht mehr in die Gegend wagen.«

Hans genoss es offensichtlich, endlich einmal mehr zu wissen, als Petra mit ihren Computern hatte herausfinden können.

Allerdings hatte er jetzt Henriette am Hals, die alles über ihren Bruder erfahren wollte. »Also kommt er bald nach Djibouti«, schloss sie aus seinen Worten.

Die Unsicherheit über Dietrichs Schicksal hatte sie bedrückt, und als sie nun hörte, dass es ihm gut ging, fiel ihr ein Felsbrocken vom Herzen.

Hans verzog das Gesicht. »Nur die Verletzten und ein Soldat, der sich um sie kümmern soll, sind auf dem Weg hierher. Dein Bruder und fünf weitere Soldaten bleiben in Somaliland. Für die Hilfe, die sie erhalten haben, mussten sie den dortigen Militärs versprechen, sie bei ihrer Gegenoffensive zu unterstützen.«

»Aber dürfen sie sich denn einmischen?«, fragte Petra. »Es liegt doch ein UNO-Boykott über ganz Somalia!«

»Was offensichtlich niemanden daran hindert, kräftig Waffen und Söldner hineinzuschmuggeln«, erklärte Hans. »Henriettes Bruder hat mehrere moderne Maschinenpistolen vom Typ Cobray M-11/9 bei den Feindmilizen erbeutet. Da die Amis die gewiss nicht selbst geliefert haben, müssen sie auf krummen Wegen ins Land gekommen sein.«

Noch während Hans dies berichtete, flitzten Petras Finger über die Tastatur. »Hier ist etwas«, rief sie nach ein paar Sekunden und zeigte auf eine Zeile. »Die USA haben die Cobray-MPs palästinensischen Polizeikräften zur Verfügung gestellt. Wenn ich die Zahlen hier richtig interpretiere, wurden etwa anderthalbmal so viele Maschinenpistolen geliefert, wie die Palästinenserpolizei Köpfe zählt.«

»Die überzähligen sind wohl Richtung Somalia gewandert«, schloss Henriette daraus.

»Nicht nur, aber zum Teil. So viel zur Wirksamkeit des Waffenembargos! Pritschenwagen und Geländefahrzeuge fallen gar nicht erst darunter, obwohl man sie mit schweren MGs und Granatwerfern ausstatten kann.«

Während Petras kurzem Vortrag ließ Henriette Hans nicht aus den Augen. Er grinste ihr spitzbübisch zu, und so fragte sie ihn, wie er nach Laasqoray kommen wolle.

»Unsere Freunde von der Grande Nation nehmen mich auf dem U-Boot Émeraude mit und schicken mich zusammen mit einem eigenen Agenten etwa achtzig Kilometer östlich von Laasqoray an Land.«

»Und die achtzig Kilometer humpelst du dann mit deiner Krücke durch den heißen Wüstensand«, stichelte Henriette.

Hans schüttelte den Kopf. »Die Franzosen haben mir versprochen, mich dort hinzubringen. Sonst könnte ich nicht alles schleppen, was ich mitnehmen soll.«

»Und was wirst du mitschleppen?«, fragte Petra.

»Einiges an Ausrüstung für Torsten wie eine moderne Funkanlage, eine MP5 mit entsprechender Munition, ein paar kleine Bomben und ähnliche Scherzartikel mehr.«

»Und wie bist du selbst ausgerüstet?«, bohrte Henriette weiter.

Hans griff in das Tuch, das er um sich geschlungen hatte, und brachte eine alte Beretta-Pistole mit hölzernen Griffschalen zum Vorschein. Die Waffe sah aus, als hätte sie bereits als Hammer gedient. Doch die beiden Frauen kannten Hans gut genug, um zu wissen, dass er die Pistole selbst präpariert hatte und diese ausgezeichnet funktionierte.

»Das ist aber noch nicht alles!« Hans steckte die Pistole wieder weg und hob seine Krücke. Mit zwei kurzen Drehungen schraubte er das untere Ende ab und zeigte auf die Mündungsöffnung, die zum Vorschein gekommen war.

»Das ist eine in die Krücke eingebaute Tula Dragunov SVD, ein halbautomatisches Scharfschützengewehr. Ich habe gestern schon trainiert, einarmig damit zu schießen. Wie ihr seht, bin ich ein harter Brocken für die Piraten. Außerdem habe ich noch ein paar Handgranaten dabei, die nicht als solche zu erkennen sind.«

Obwohl Hans den Auftrag, der vor ihm lag, nicht auf die leichte Schulter nahm, war er froh, sich trotz seiner Behinderungen als vollwertiges Mitglied des Teams erweisen zu können.

Henriette gönnte es ihm, auch wenn es sie wurmte, dass sie noch immer in Djibouti festsaß, während ihre beiden männlichen Kollegen bereits in Aktion waren oder es bald sein würden.

»Ich werde doch kündigen«, fauchte sie leise.

Über Hans’ Gesicht huschte ein Grinsen. »Aber doch hoffentlich nicht vor deinem Einsatz!«

»Meinem Einsatz?« Henriettes Kopf ruckte herum, und sie starrte ihn fragend an.

Hans hob lachend die Arme. »Ich habe keine Ahnung, worum es geht! Unser großer Guru meinte vorhin nur, dass er die letzten Vorbereitungen treffen würde, damit ihr beide ebenfalls eingreifen könnt.«

»Wir beide?« Henriettes Stimme klang schrill. Wenn Wagner Petra mitschicken wollte, war es mit Sicherheit kein Job, der mit Torstens und Hans’ Aufgaben zu vergleichen war.

»Wahrscheinlich schickt er uns wieder nach Hause, damit wir an unseren eigenen Computern Daten herausfiltern und außerdem die Hütte fertig einrichten können«, mutmaßte sie.

»Also, ich hätte nichts dagegen«, erklärte Petra, der die Hitze immer mehr auf den Geist ging, und sah sich von Henriettes zornblitzenden Augen buchstäblich durchbohrt.

ZWEI

 

Sayyida empfand nichts als Ärger. Dabei waren all ihre Pläne erfolgreich in die Tat umgesetzt worden, und sie verfügte mit der Beute auf der Caroline über genügend Waffen, um den Kampf im Norden Somalias zu ihren Gunsten entscheiden zu können. Außerdem hielt sie mit den Passagieren und Besatzungsmitgliedern des Kreuzfahrtschiffs mehr und vor allem wichtigere Geiseln in der Hand, als es je einem anderen Warlord an der Küste gelungen war. Doch ausgerechnet von ihrer Schwester Sahar zu hören, dass ihr Handeln schlecht sei, hätte sie nicht erwartet.

»Du vergisst, dass ich alles auf den Rat und die Anweisungen unseres Vaters hin getan habe«, antwortete sie scharf.

Sahar sah sie mit traurigen Augen an. »Unser Vater hätte einen seiner Unteranführer damit beauftragen sollen und nicht dich. Du bist nur eine Frau!«

Sayyida fand es beschämend, sich verteidigen zu müssen. »Sag mir, Schwester, weshalb sollte eine Frau nicht ebenso Krieger befehligen können wie ein Mann? Außerdem ging es nicht anders. Hätte Vater, wie von dir gefordert, einen seiner Männer zum Anführer unserer Truppen gemacht, so würde dieser sich irgendwann zu seinem Nachfolger aufschwingen. Doch nach dem Geblütsrecht steht die Herrschaft über unsere Sippe nur meinem Sohn zu! Ich tue das alles nur für ihn!«

Doch Sahar gab nicht auf. »Vater hätte nach dem Tod deines Mannes einen neuen Anführer eurer Krieger bestimmen und dich mit ihm verheiraten sollen. Ob nun Nabil Ruh Atufs Sohn der neue Stammesführer wird oder ein Sohn, den du deinem zweiten Mann geboren hättest, bleibt sich doch gleich.« Sahar verstand nicht, wie eine Frau sich in Dinge einmischen konnte, die ihrem Geschlecht versagt waren. Doch Sayyida hatte schon als Kind ein rebellisches Wesen an den Tag gelegt und war nicht zuletzt deswegen der Liebling ihres Vaters gewesen.

Auch jetzt schnaubte ihre Schwester nur verächtlich und wechselte unvermittelt das Thema. »Wann kommt dein Mann aus Riad zurück?«

»Abdullah Abu Na’im pflegt uns nicht mitzuteilen, wohin er geht und wann er kommt«, antwortete Sahar gelassen.

»Ich habe ihm erklärt, dass er heute hier sein soll, und ich lasse mich nicht gerne versetzen!«, fauchte Sayyida.

»Beruhige dich doch, Schwester. Wenn Abdullah Abu Na’im heute nicht kommt, so kommt er eben morgen.«

»Ich habe die Lady of the Sea nicht mit dem Hubschrauber verlassen, um hier vergeblich auf deinen Mann zu warten. Was macht er überhaupt in Riad? Ich brauche ihn hier! Er soll für mich mit den Deutschen verhandeln.«

»Deswegen – so habe ich wenigstens gehört – wollte er auch nach Riad fliegen. Er muss mit einem der Prinzen reden, denn er braucht die Erlaubnis des Königs, wenn er den Vermittler spielen soll.«

Sahar verstand weder die Absichten ihrer Schwester noch deren Ungeduld. Für sie war das Leben, das sie selbst führte, das Maß aller Dinge. Solange sie der Mutter ihres Mannes gehorchte und er selbst in regelmäßigen Abständen zu ihr kam, konnte sie ihrer Meinung nach zufrieden sein. Gefahr für Leben und Leib, Hunger und materielle Not musste sie auf diese Weise nicht befürchten.

Da jede der Schwestern ihren eigenen Gedanken nachhing, versandete das Gespräch. Bald aber hielt Sayyida es nicht mehr aus. »Ich hoffe, dein Mann kann mit den Deutschen in meinem Namen verhandeln. Es wird sich auch für ihn lohnen. Ein Fünftel des Lösegelds erhält er, ein weiteres Fünftel die Familien meiner Krieger und eines die mit uns verbündeten Sippen. Mit dem Rest …«

»… wirst du Waffen kaufen, mit denen du noch mehr Sippen der Dulbahante, Warsangeli, Majerten und Isaaq bedrohen und unterwerfen kannst«, unterbrach Sahar sie bitter.

Auf Sayyidas Lippen trat ein selbstzufriedenes Lächeln. »Die Dulbahante und Warsangeli brauche ich nicht mehr zu unterwerfen, denn sie gehorchen mir bereits. Als letzter Anführer hat sich Diya Baqi Majid mir angeschlossen. Auch die ersten Sippen der Majerten stehen auf unserer Seite. Jetzt sind wir stark genug, um die Isaaq zu unterwerfen. Wir haben sie inzwischen mehr als fünfzig Meilen zurückgedrängt und ihnen ihre heilige Stadt Maydh abgenommen, in der ihr angeblicher Stammvater begraben liegen soll. Schon bald werden wir auf Berbera vorstoßen. Sobald diese Stadt in unserer Hand ist, sind die Isaaq geschlagen.«

Sahar sah sie seufzend an. »Ich weiß nicht, was in dir vorgegangen ist, Schwester. Du hast zwar den Leib einer Frau, doch deinem Kopf entspringen Gedanken, wie sie nicht einmal Männer denken. Uns Dulbahante ist es stets nur um die Freiheit unseres Stammes gegangen. Wir wollten niemals andere beherrschen.«

»Das verstehst du nicht!«, fuhr Sayyida sie an. »Unser Stamm ist zu schwach, um sich allein zwischen Majerten, Warsangeli und Isaaq behaupten zu können. Wir benötigen ein Bündnis mit allen, die wir auf unsere Seite ziehen können, und den Rest müssen wir mit eiserner Faust niederringen. Nur mit militärischer Macht und äußerster Strenge wird es uns möglich sein, ein somalisches Sultanat zu errichten und zu halten.«

»Nennst du dich deswegen nicht einfach Sayyida, sondern Sultana Sayyida?«, fragte ihre Schwester mit bitterem Spott.

»Ich habe diesen Namen angenommen, damit die Männer wissen, dass ich die rechte Hand unseres Vaters und meines Sohnes bin. Du magst vielleicht zufrieden sein, hier in diesem prachtvollen Haus zu leben.« Sayyida wies auf den Plasmabildschirm mit eingebautem Blue-ray-Player, den weichen Diwan, auf dem sich unzählige Kissen türmten, und das Tischchen mit kostbaren Elfenbeineinlagen. »Ich habe selbst während meiner Ehe niemals vor Männern gekuscht und werde dies auch jetzt nicht tun. Doch um mir Achtung zu verschaffen, muss ich härter sein als der härteste Mann. Wenn ich nur die geringste Schwäche zeige, werden die Unteranführer unseres Vaters diesen auffordern, einen der ihren als seinen Nachfolger einzusetzen und mich – genau, wie du vorhin gesagt hast – mit diesem zu verheiraten. Das werde ich niemals zulassen.«

»Du bist verrückt! Verrückt!«, rief Sahar aus und drehte Sayyida den Rücken zu.

Beide begriffen, dass es zwischen ihnen keine Gemeinsamkeit mehr gab, und so atmete die jüngere Schwester auf, als eine Dienerin hereinkam und berichtete, dass Abdullah Abu Na’im von seiner Reise zurückgekehrt sei und Sayyida zu sprechen wünsche.

DREI

 

Als Sayyida auf die Terrasse hinaustrat, wo ihr Schwager sie erwartete, nahm sie sich einen Augenblick Zeit, das Haus zu betrachten. Das Gebäude war einstöckig, dicke Wände hielten die Hitze fern. Nach außen gab es kaum ein Fenster. Doch der mit Palmen bewachsene Innenhof, in den die Dienerin sie führte, wurde von Schatten spendenden Arkaden eingefasst, unter denen sich große Glastüren nach außen öffneten. Ein kleiner Brunnen in der Mitte des Innenhofs erfrischte die Luft, und auf der gegenüberliegenden Seite ruhte die zweite Ehefrau ihres Gastgebers, von einem großen Schirm vor den Strahlen der Sonne geschützt, nackt auf einer Liege.

Bei Sayyidas Anblick verzog sie verächtlich die Lippen. Als Araberin aus einem einflussreichen Stamm fühlte sie sich weit über die dunkelhäutige Somali erhaben. Daher machte sie auch keine Anstalten, sich zurückzuziehen, als diese auf einem Kissen Platz nahm.

Abdullah Abu Na’im wollte jedoch das, was er Sayyida zu berichten hatte, nicht an andere Ohren dringen lassen und klatschte in die Hände. »Geh ins Haus, Tahira.«

Mehr sagte er nicht, doch sein Tonfall ließ die Frau ohne jeden Widerspruch gehorchen. Auf ihrem Weg zur Tür ging sie so nahe an ihrem Mann vorbei, dass sie mit der Hüfte sein Gewand streifte.

»Du kommst doch heute Abend zu mir, mein Gebieter?«, fragte sie mit zuckersüßer Stimme, während ihre Gedanken sich überschlugen. Was mochte er mit der Schwester der dritten Frau zu besprechen haben? Diese war Witwe und attraktiv. Also war es möglich, dass Abdullah Abu Na’im sich überlegte, sie als vierte Frau ins Haus zu nehmen. Dann würde sie gegen zwei Schwestern stehen, und das war nicht gerade nach ihrem Geschmack.

»Ich werde kommen«, versprach ihr Ehemann, dem Tahira die liebste seiner Gemahlinnen war. Ihr oder seinen anderen Frauen Geheimnisse anzuvertrauen, war er jedoch nicht bereit. Nur seine Mutter erfuhr alles, was er plante, und hatte ihm schon den einen oder anderen guten Rat gegeben, darunter auch den, es bei der einen Somali als Ehefrau zu belassen.

Zudem war Sayyida in seinen Augen keine Frau, sondern ein eher unheimliches Wesen. Sie bot ihm jedoch die Möglichkeit, mehr Einfluss zu gewinnen und gute Geschäfte zu machen. Außerdem, sagte er sich, konnte er durchaus dafür sorgen, dass einmal ein Sohn, den Sayyidas Schwester Sahar ihm gebar, anstelle des kleinen Sayyid Ruh Atuf der neue Anführer des Stammes und erster wahrer Sultan von Somalia werden würde.

Er ließ sich seine Absichten jedoch nicht anmerken, sondern tat so, als wäre er ein Händler, den nur der Gewinn interessierte, den er mit Sayyidas Hilfe erzielen konnte.

»Ich habe in Riad mit mehreren Prinzen gesprochen«, berichtete er. »Der König ist einverstanden, dass ich zwischen den Freiheitshelden Somalias und der deutschen Regierung vermittle. Zu diesem Zweck werde ich noch heute nach Berlin fliegen.«

»Sehr gut! Vergiss bei den Verhandlungen nicht, dass ein Fünftel der erzielten Summe in deine Truhe fließt. Du würdest dir nur selbst schaden, wenn du zu wenig herausschlägst.«

»Das weiß ich«, sagte Abdullah Abu Na’im mit einem sanften Lächeln.

Insgeheim aber nahm er sich vor, die deutsche Regierung davon zu überzeugen, ihm ein Viertel oder ein Drittel des Geldes auszuzahlen, das sie von Sayyidas ursprünglicher Forderung herunterhandeln konnte. Zwar durfte er seine Schwägerin mit keiner geringen Summe abfinden, aber er wollte sie auch nicht zu mächtig werden lassen. Nur wenn er weiterhin Einfluss auf sie behielt, würde er seine eigenen Pläne in die Tat umsetzen können.

Sie sah ihn auffordernd an. »Ich brauche so viel Geld wie möglich! Daher werde ich diejenigen Geiseln, die besonders wichtig oder reich sind, dazu zwingen, Lösegeld für sich selbst zu zahlen. Das darf die Regierung der Deutschen aber nicht erfahren.«

»Das ist ein guter Schachzug!« Abdullah Abu Na’im lächelte noch immer, obwohl er Sayyida am liebsten den Hals umgedreht hätte. Mit solchen spontanen Einfällen machte sie ihm das Verhandeln schwer.

»Die Deutschen können einen Teil des Lösegelds auch in Waffen zahlen«, fuhr seine Schwägerin fort. »Wichtig wären vor allem ein paar Kampfflugzeuge. Sobald ich eine Luftwaffe aufbauen kann, sind unsere Feinde am Ende. Weder Somaliland noch die Milizen im Süden haben etwas Vergleichbares. Geben die Deutschen mir mehrere davon und dazu ein paar Kampfhubschrauber, bin ich bereit, meine Geldforderungen zu reduzieren.«

Gegen seinen Willen musste Abdullah Abu Na’im die Frau bewundern. Sie hatte einen klugen Kopf, der jeden Mann ausgezeichnet hätte. Doch um sich wirklich durchsetzen zu können, saß dieser Kopf auf dem falschen Körper.

»Waffen und Kampfflugzeuge wären gewiss nicht schlecht. Allerdings befürchte ich, dass die Machthaber in Somaliland die äthiopische Armee zu Hilfe rufen werden, wenn du Flugzeuge einsetzt.« Diesen Einwand schob Abdullah Abu Na’im vor, um Sayyida nicht zu verärgern.

Seine Schwägerin winkte ab. »Die Äthiopier sind mit sich selbst beschäftigt. Ihr Grenzkonflikt mit Eritrea kann jeden Augenblick wieder ausbrechen, und die Zentralregierung muss sich überdies mit Aufständen in den Regionen Afar, Oromo und Somali herumschlagen. Ich brauche das Geld der Deutschen nicht zuletzt, um unsere Freunde dort zu unterstützen.«

»Ich sehe, du hast alles ausgezeichnet geplant!« Nun schwang leichter Ärger in Abdullah Abu Na’ims Stimme mit. Gleichgültig, wie er es anfing – Sayyida war ihm stets einen Schritt voraus. Wenn er sie überflügeln wollte, würde er sie in eine Falle locken und töten müssen. Vorerst aber konnte er sie als Werkzeug benützen, um die Macht in Somalia zu erringen. Was danach kam, lag in Allahs Hand.

VIER

 

Auf den Satellitenaufnahmen hatte Laasqoray gewirkt, als wäre ein Bombenteppich auf die Stadt niedergegangen. Von den meisten Häusern hatten nur noch Mauern gestanden, und am Strand und in dem kleinen Hafen war kein einziges Schiff zu sehen gewesen. Schon bei Torstens letztem Aufenthalt in dieser Gegend war ihm aufgefallen, dass diese Aufnahmen veraltet waren. Dieser Eindruck wurde jetzt bestätigt. Als sich ihr Jeep der Straßensperre näherte, an der die hiesigen Milizen kontrollierten, wer die Stadt betreten oder sie verlassen wollte, war deutlich zu erkennen, dass die Kriegsschäden zum größten Teil beseitigt worden waren. Auch schwamm nicht nur die Caroline in den Gewässern vor Laasqoray, sondern auch eine ganze Menge kleinerer Schiffe einschließlich einiger Küstenfrachter und hölzerner Dhaus. Hier wird kräftig Ware umgeschlagen, dachte er, und darunter dürften etliche Waffen für die Piraten sein.

Omar Schmitt lenkte den Wagen zum Kontrollposten, an dem mehrere Kat kauende Freischärler in khakifarbigen Uniformen standen, und hielt vor ihnen an. Bevor einer der Männer etwas sagen konnte, streckte er ihnen einen zusammengefalteten Zettel hin, der aus ihm und seinen Männern Habirgedir-Söldner machte und aus dem mehrere äthiopische Fünfzigbirrscheine herausragten.

Der junge Offizier starrte beides an, ergriff es dann und reichte den Zettel ohne das Geld wieder zurück. »Weiterfahren!«

»Allah sei mit dir!« Omar tippte kurz an sein ausgebeultes rotes Barett und ließ den Wagen anrollen. Er machte nicht den Fehler, schneller zu fahren als ein gemächlich zu Fuß gehender Mann, und zeigte dabei auf einige der größten und am besten restaurierten Gebäude. Für die Freischärler an dem Kontrollposten wirkte er wie ein Provinzler, der aus einem Dorf mit Hütten und Zelten kam und zum ersten Mal eine richtige Stadt vor sich sah.

Torsten hatte bei der Straßensperre die Augen niederschlagen müssen, sah sich nun aber sorgfältig um. »Die Kerle haben hier einiges auf die Beine gestellt«, sagte er mit widerwilliger Anerkennung.

»Nachdem sie uns vor über einem Jahr von hier vertrieben hatten, war Zeit genug für sie, sich hier einzurichten. Trotzdem ist es seltsam, dass ausgerechnet Laasqoray so aufgeblüht ist. Die Stadt hat heute mindestens doppelt so viele Einwohner wie früher, und neben den Warsangeli, die hier zu Hause sind, sind ungewöhnlich viele Milizionäre mit dem Stammesabzeichen der Dulbahante hier unterwegs.« Omar Schmitt verzog das Gesicht. Ein Bündnis der beiden Nachbarstämme, deren Gebiet bis vor wenigen Jahren noch die östlichen Provinzen Somalilands gebildet hatte, verhieß nichts Gutes.

»Es sieht aus, als würde jemand alle Daroud-Stämme hier im Norden vereinigen wollen. Nun, offiziell darf ich es nicht sagen, aber meinetwegen könnten die ihren eigenen Staat aufmachen. Aber sie gehen weit über ihr Gebiet hinaus und verjagen unsere Leute aus dem Grenzland. Wenn uns nicht bald etwas einfällt, knallt es in Nordsomalia bald ganz gewaltig.«

Torsten kannte die Verhältnisse aus seinen Unterhaltungen mit Omar besser als die Herrschaften in Berlin, die sich ein sehr einseitig gefärbtes Bild gemacht hatten und zu sehr in Gut- und Böse-Kategorien dachten. Wirklich gut waren in diesem Land nur wenige, und richtig böse auch nur eine Minderheit. Die überwiegende Masse duckte sich und hoffte, dass der aufziehende Sturm an ihnen vorüberging.

Unterdessen bog Omar in eine Seitengasse ein. Tamid und der zweite Somali stiegen aus dem langsam fahrenden Wagen und verschwanden im Menschengewühl. Als Torsten ihnen überrascht nachblickte, warnte Omar ihn leise. »Vorsicht! Keine Neugier zeigen.«

Torsten nickte und blieb auf der Rückbank sitzen, bis Omar den Wagen vor einer Herberge abstellte und auf die Hupe drückte. Sofort kam ein junger Mann heraus und redete eifrig auf Omar ein. Dieser antwortete scheinbar gereizt und startete den Motor. Die Gesten des anderen wurden heftiger, und er wies mehrmals auf das Gebäude. Dann eilte er zu einem Tor, das mit seinem frischen blauen Anstrich von der sandfarbenen Wand abstach, und öffnete es. Omar, der bereits den Rückwärtsgang eingelegt hatte, schaltete jetzt in den ersten Gang und fuhr langsam durch das Tor in einen Innenhof, in dem bereits mehrere Autos standen, darunter zwei recht neue Geländewagen. Ein Bursche, der kaum älter als fünfzehn Jahre alt sein konnte, saß auf einer umgedrehten Getränkekiste, hielt die unvermeidliche Kalaschnikow in der Hand und grinste ihnen entgegen.

»Kannst du Arabisch?«, fragte Omar den Hoteldiener, der ihnen gefolgt war, da Torsten des Somalischen nicht mächtig war. Der nickte und wechselte etwas stockend in diese Sprache über. »Rais wird Auto bewachen. Kostet nicht viel. Ist aber besser. Werden immer wieder Autos geklaut!«

Bei diesen Worten wechselten Torsten und Omar einen beredten Blick. Bei ihrem letzten Vorstoß in diese Gegend hatten auch sie einen Wagen an sich gebracht. Zu hören, dass dies öfter geschah, erleichterte sie, denn es wäre nicht in ihrem Sinne gewesen, wenn man Spione aus Somaliland verdächtigt hätte.

»Ich bin schon einmal vor ein paar Jahren hier gewesen. Aber damals war die Stadt stark verödet, und es gab kaum Autos. Die Fischer fuhren nur noch selten aufs Meer hinaus, und die Fischfabrik stand leer«, sagte Omar, um den jungen Mann zum Reden zu bewegen.

Dieser begann sofort zu erzählen. »Schlechte Zeit damals! Viel Krieg zwischen Puntland und Somaliland. Wir jetzt eigener Staat. Wir wollen nichts mehr wissen von Punt- und Somaliländern. Laasqoray ist Hauptstadt des Sultanats. Wichtiger als Laascaanood, Badhan oder Cheerigaabo.«

»Gehört die Stadt zum Machtbereich von Diya Baqi Majid, dem größten Kriegsherrn der Warsangeli?«, fragte Omar weiter.

Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf. »Der ist im Süden in Hadaaftimo und im Westen in Maydh. Aber auch er erkennt Kadi Wafal Saifullah als Oberhaupt an. Das ist guter Mann! Bringt Frieden und sorgt dafür, dass Puntland und Somaliland uns in Ruhe lassen.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es so auch bleibt. Mit den Puntländern wollen wir nämlich nichts zu tun haben!« Omar gab sich ganz als Habirgedir-Söldner, der in diese Gegend gekommen war, um sich den hiesigen Milizen anzuschließen. Zusammen mit Torsten folgte er dem Hoteldiener, blieb aber am Eingang des Hotels noch einmal stehen und drehte sich zu dem Jungen mit der Kalaschnikow um.

»Pass gut auf unseren Wagen auf. Wenn auch nur eine Patrone fehlt, bekommst du es mit mir zu tun.« Dabei klopfte er auf sein Sturmgewehr und ging dann weiter. In der Kammer, die als Rezeption diente, trugen er und Torsten sich unter den Phantasienamen ein, die in den gefälschten Papieren standen. Dann bestellten sie ihr Abendessen, eine große Kanne Kaffee und Katblätter und ließen sich von dem Angestellten zu ihrem Zimmer führen.

Dort angekommen wartete Omar, bis der Hoteldiener gegangen war, und wollte etwas sagen. Torsten hob jedoch warnend die Hand und begann, das Zimmer zu durchsuchen. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen, denn hinter einer an der Wand stehenden Truhe entdeckte er ein kleines Mikrophon, dessen Kabel im Mauerwerk verschwand. Torsten überlistete es mit einem Handtuch, das er so zwischen die Truhe und die Wand stopfte, dass es das Mikrophon verdeckte.

»So, jetzt können wir uns unterhalten, allerdings piano. Wenn wir zu laut sind, können die Brüder uns trotzdem hören.«

»Glauben Sie, wir werden bereits überwacht?«, wisperte Omar besorgt.

Torsten schüttelte den Kopf. »Jetzt noch nicht. Die Hotelangestellten müssen erst weitermelden, dass Fremde gekommen sind. Danach werden sie es sicher versuchen. Ich schätze, das machen sie mit allen, die in die Stadt kommen. Bei den Verhältnissen in diesem Land muss es hier von Spionen nur so wimmeln.«

»Aber was sollen wir tun? Wenn es hier in der Kammer die ganze Zeit ruhig bleibt, werden die Kerle ebenfalls misstrauisch«, fragte Omar nervös.

»Wenn wir die Kammer verlassen, müssen wir das Handtuch ohnehin wegnehmen. Auch sollten wir das in unregelmäßigen Abständen tun und uns über unverfängliche Themen unterhalten.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach Torstens Vortrag. Omar schnappte sich sein Sturmgewehr und rief erst dann: »Herein!«

Der Angestellte trat ein und brachte ein Tablett mit einer dampfenden Kupferkanne, zwei Tassen, einem Stapel Fladenbrot und einer Schüssel mit einer Art Eintopf. Außerdem befand sich eine kleine Kupferschale mit getrockneten Katblättern auf dem Tablett.

»Hier ist das Abendessen. Mag es euch munden!«, sagte er.

Torsten spürte, dass dem Burschen an einem kleinen Trinkgeld gelegen war, und zog ein paar Scheine hervor. Es handelte sich um Somali-Schillinge, auf die in Arabisch die Aufschrift »Islamische Republik Galmudug« aufgestempelt worden war. Obwohl die Banknoten nur ein paar Cent wert waren, steckte der Mann sie mit einem zufriedenen Grinsen ein und verließ das Zimmer.

»So, jetzt haben wir endlich unsere Ruhe«, erklärte Omar und schenkte die beiden Tassen voll.

Torsten schlich auf leisen Sohlen zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Niemand stand draußen. Entweder waren die Angestellten des Hotels nicht vom hiesigen Geheimdienst vereinnahmt worden, oder sie verließen sich auf die Abhöranlagen.

Nachdem Torsten die Tür wieder geschlossen hatte, nahm er eines der Fladenbrote, strich etwas von dem Eintopf darauf und rollte es zu einer länglichen Wurst zusammen. »In meinem Job habe ich gelernt, dass man essen und schlafen sollte, wenn man Zeit dazu hat«, sagte er und biss das erste Stück von dem Fladenbrot ab. Es schmeckte überraschend gut. Auch der Kaffee war keiner von der schlechtesten Sorte.

»Der kommt wahrscheinlich aus Kenia«, mutmaßte Omar, während er sich ebenfalls ein Fladenbrot belegte und es zusammenrollte.

»Warum sind wir beim letzten Mal nicht auf die gleiche Weise nach Laasqoray gekommen, sondern mussten einen Eselskarren nehmen?«, wollte Torsten jetzt wissen.

»Wir hatten nicht die Zeit, alles vorzubereiten. Außerdem musste es schnell gehen, und wir wollten auch nicht länger hierbleiben, sondern uns nur zur Caroline durchschlagen und mit dem Frachter abdampfen.«

Es war nicht zu übersehen, dass sich Omar immer noch über das Scheitern der KSK-Mission ärgerte. Und auch Torsten wurde bei dem Gedanken an den Befehlswirrwarr, der damals geherrscht hatte, wütend. »Wären wir jene Nacht vor Ort geblieben, hätten wir die vorbereitete Falle bemerkt und Major von Tarow warnen können. So aber ist er mit seinen armen Hunden voll in die Scheiße getappt!« Dann kniff er die Augen zusammen. »Wissen Sie, Schmitt, was mich am meisten wundert?«

Der Halbsomali schüttelte den Kopf.

»Ich frage mich, weshalb die Piraten eine Befreiungsaktion erwartet haben. Wir Deutschen sind eigentlich nicht für schnelle Entschlüsse bekannt.«

»Wahrscheinlich haben sie die Container unter die Lupe genommen und dachten, wir würden wegen der brisanten Ladung der Caroline rasch handeln«, gab Omar zurück.

Obwohl seine Worte schlüssig klangen, bezweifelte Torsten diese Version. Er hatte jedoch nicht die Zeit, sich länger mit diesem Rätsel zu befassen. Während sie weiteraßen, besprachen sie die nächsten Schritte. Dann holte Torsten seinen Laptop heraus, um Verbindung mit Petra aufzunehmen.

Seine Kollegin schien im Stress zu sein, denn sie haspelte ihre Informationen atemlos herunter und erklärte, dass Hans Borchart bald Kontakt mit ihm aufnehmen werde. Noch bevor Torsten fragen konnte, wie sein Kollege in diese Gegend gelangen wollte, unterbrach sie die Leitung und ließ ihn mit vielen Fragezeichen zurück.

FÜNF

 

Jamanah hockte in einer Ecke des kleinen Zeltes und beobachtete den fremden Anführer, der seine Maschinenpistole zerlegte und reinigte. Der Geruch von Waffenöl erfüllte die Luft und erinnerte sie daran, dass ihr Sturmgewehr ebenfalls gepflegt werden musste. Sie war jedoch nicht so tief in die Geheimnisse der Waffe eingeweiht, dass sie sich getraut hätte, die Kalaschnikow auseinanderzunehmen. Daher wartete sie, bis Dietrich seine MP wieder zusammengebaut hatte, und schob ihm ihr Gewehr vorsichtig hin. »Sidhi, kannst du mir zeigen, wie ich sie reinigen muss?«, fragte sie in der Hoffnung, er werde ihre Gesten verstehen.

Tatsächlich nahm Dietrich die Waffe an sich, zerlegte sie in ihre Einzelteile und widmete sich als Erstes dem Schloss. Er säuberte die Kalaschnikow und ölte sie so flink ein, dass Jamanah den einzelnen Handgriffen nicht mehr zu folgen vermochte. Um die Waffe auch selbst versorgen zu können, bat sie den Mann, langsamer zu machen.

Dietrich begriff zuerst nicht, was sie wollte, doch als sie pantomimisch vorführte, wie sie selbst eine Waffe zerlegte, lächelte er. »Lass mich das erst fertig machen. Danach zeige ich dir genau, was du zu tun hast.«

Obwohl Jamanah seine Worte nicht verstand, las sie deren Sinn an seiner Mimik ab. Inzwischen hatte sie sich an das in ihren Augen arg breitflächige Gesicht gewöhnt und ebenso an die hellen Geisteraugen, die so durchdringend blicken konnten, als sähen sie ihr bis auf den Grund des Herzens.

Er war der größte Mann, der ihr je begegnet war, und der einzige, der sie noch um die Breite einer Hand überragte. Sein Körper war muskulös und strotzte vor Kraft. Sie hatte selbst gesehen, wie er eines der schweren Maschinengewehre mit einer Hand aufgehoben und wieder schussfertig gemacht hatte. Außerdem war er ein großer Anführer, dem sogar General Mahsin Achtung zollte.

Sie wusste trotzdem nicht, warum sie ihm weiterhin folgte. War es, weil seine Nähe ihr Schutz vor Belästigungen durch andere Männer bot? Oder war es, weil sie mehr über ihn erfahren wollte? Es reizte sie, hinter das Geheimnis zu kommen, warum er so anders war als die Männer ihres Volkes. Natürlich gab es auch sanfte Männer unter ihren Leuten. Doch kein Somali hätte sich so weit herabgelassen, selbst zur Essensausgabe zu gehen und ihr das Essen mitzubringen.

Die Europäer sind schon seltsame Menschen, sagte sie sich, während sie zusah, wie er die Kalaschnikow wieder zusammenbaute und sie dann ganz langsam und mit vielen erklärenden Gesten von neuem zerlegte.

Als die Waffe wieder funktionstüchtig vor ihr lag, versuchte Jamanah es selbst. Er half ihr und berührte dabei einmal ihre Hände. Sie zuckte zurück, schalt sich dann eine Närrin und versuchte trotz ihrer Anspannung zu lächeln. Es war wichtig, dass sie lernte, mit ihrer Waffe umzugehen, denn ihr Herz schrie nach Rache. Außerdem empfand sie Hass auf jene, die ihrem Volk das Heiligtum in Maydh weggenommen hatten. Als sie noch klein gewesen war, hatte ihre Familie zweimal eine Pilgerreise an das Grab Isaaqs, des Ahnherrn ihres Volkes, unternommen und dort gebetet. Zu wissen, dass nun Warsangeli dort herrschten, war schmerzhaft. Obwohl sie nur eine Frau war, wollte sie alles tun, um die heilige Stadt zu befreien.

Dietrich musterte sie und schüttelte den Kopf. »Ich würde einiges dafür geben, wenn ich deine Gedanken lesen könnte.«

Mit einer entschiedenen Geste klopfte Jamanah gegen ihr vor Waffenöl glänzendes Sturmgewehr und richtete es nach Osten. »Wir werden die Warsangeli verjagen und Maydh zurückerobern«, rief sie kämpferisch.

Die Begriffe Maydh und Warsangeli kannte Dietrich bereits, und den Rest ihres Satzes konnte er ihren Gesten entnehmen. Wie es aussah, wollte das Mädchen kämpfen. Dabei war sie, wie er von Captain Ikrum erfahren hatte, noch keine achtzehn Jahre alt und hatte niemals eine militärische Ausbildung erhalten.

»Du wirst brav hierbleiben und warten«, erklärte er ihr. Aber er hatte das Gefühl, dass seine Worte auch dann, wenn sie sie verstanden hätte, durch das eine Ohr hinein- und durch das andere wieder hinausgegangen wären.

SECHS

 

Die Entfernung zwischen dem Aufmarschgebiet bei Raguuda und Maydh entsprach etwa achtzig Kilometern, schätzte Dietrich anhand der Karte, die er von General Mahsin erhalten hatte. Der erste Teil der Strecke bis Mulaax war noch leicht zu bewältigen. Dahinter aber begannen die Minensperren, mit denen Diya Baqi Majids Milizen einen Gegenangriff verhindern wollten.

»Das wird eine haarige Sache«, meinte Dietrich zu Fahrner, der nach Leutnant Grapengeters Ausfall sein Stellvertreter geworden war.

»Aber wir sind doch auch bis hierher durchgekommen«, erklärte der Soldat.

»Wir haben ein schönes Stück der Minenfelder abgekürzt, weil wir aus den Bergen gekommen sind, und das Gebiet dort ist noch nicht vermint. Doch in Richtung Westen hat Diya Baqi Majid geklotzt. Sie haben ja die Slalomfahrt noch im Gedächtnis, die wir zwischen Xiis und Mulaax hinlegen mussten. Zwischen Xiis und Maydh wird das noch viel schlimmer werden.«

»Keine Sorge, Herr Major! Das schaffen wir schon. Außerdem müssen wir ja nicht kämpfen, sondern nur Pfadfinder für unsere Freunde spielen.« Fahrner grinste, als wäre das Vorhaben nur ein einziger großer Scherz.

Dietrich verzog das Gesicht. »Sie sollten wissen, Fahrner, dass gerade die Pfadfinder an der Spitze eines Heeres marschieren und daher zumeist als Erste in Kampfhandlungen verwickelt werden. Ich würde die Sache lieber allein durchziehen, aber ich glaube nicht, dass ich die einheimischen Soldaten so schnell anlernen kann, dass sie mir zur Hand gehen können. Dafür sprechen zu wenige von ihnen Englisch.«

»Und wir für ihren Geschmack zu wenig Somalisch. Aber wir kriegen das trotzdem hin. Im Gegensatz zu den armen Kerlen hier haben wir Helme und schussfeste Jacken. Wir werden darin zwar schwitzen wie die Sau, haben aber eine bessere Chance, durchzukommen. Außerdem können wir zurückschießen, wenn es knallt, und seien Sie versichert, Herr Major, wir werden treffen. Es wird mir sogar doppelten Spaß machen, wenn ich an unsere Kameraden von Boot zwei denke.«

Dietrich nickte nachdenklich. Obwohl die Disziplin einem Soldaten verbot, auch nur an Rache zu denken, brachte er die Bilder des explodierenden Nachbarboots nicht mehr aus dem Kopf. Die Piraten hatten sogar noch auf die im Wasser treibenden Männer geschossen. Auch deswegen hatte er sich dazu entschlossen, für Mahsins Männer einen Weg durch die Minen zu suchen.

»Wir werden drei Tage brauchen, vielleicht auch vier. Sehen Sie zu, dass Sie genug Wasser und Nahrungsmittel für uns alle auftreiben können, und teilen Sie es in sechs Portionen auf.«

»Und was ist mit ihr?« Fahrner wies auf Jamanah, die mit der Kalaschnikow in der Armbeuge in ihrer Ecke saß und ihrem Mienenspiel zufolge an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit zu weilen schien.

»Sie muss hierbleiben«, erklärte Dietrich.

Mit diesem Ausruf brachte er Fahrner zum Lachen. »Das glauben Sie doch selber nicht, Herr Major. Die Wilde hat einen Narren an Ihnen gefressen. Jede Wette, die kommt mit!«

»Ich will keine abwertenden Äußerungen über irgendeinen der Einheimischen hören, Fahrner. Die Menschen hier haben ihren eigenen Stolz, und wir sollten uns hier nicht wie Kolonialherren aufführen!«

Dietrich war laut geworden und hatte damit auch Jamanah aufgeschreckt. Sie erkannte jedoch rasch, dass nicht sie gescholten worden war, sondern der andere Europäer. Trotzdem achtete sie jetzt mehr auf die beiden Männer. Wie es aussah, machte Taro, wie sie den Major nannte, weil ihr dieses Wort besser über die Lippen ging als Dietrich, sich Sorgen. Das war gut, denn als Anführer musste er alles bedenken, was geschehen konnte. Auch deswegen fühlte sie sich in seiner Gegenwart sicher. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Dietrich achtete nicht auf sie, sondern erteilte seine letzten Anweisungen. »Wir brauchen mehrere hundert Stäbe, die wir in die Erde stecken können, um den Weg zu markieren. Ich hoffe, die Somaliländer sind dabei, sie zu organisieren.«

»Sie tun ihr Bestes, Herr Major. Nur ist es mit Holz in dieser Gegend nicht so einfach. Ikrum hat uns mehrere Dosen Farbe besorgt, damit wir Steine oder auch den Boden markieren können. Sie haben auch einige Stecken gemacht. Aber die sind eher kurz geraten!« Fahrner deutete die Länge seines Unterarmes an.

»Hauptsache, wir können den Weg kennzeichnen. Sind unsere beiden Sprengstoffwarngeräte fertig?«

»Die haben wir auf anderthalb Meter lange Stangen montiert und können sie wie normale Minensuchgeräte verwenden.«

Dietrich nickte zufrieden. »Sehr gut! Was ist mit unserer internen Kommunikation?«

»Wir haben zwei defekte Geräte gegen die intakten unserer Verletzten ausgetauscht und die Sendeleistung auf das absolute Minimum eingestellt. Bei einer Entfernung von fünfzig Metern ist Schluss.« So ganz war Fahrner mit dieser Lösung nicht einverstanden, doch Dietrich nickte zustimmend.

»Wir müssen eben zusammenbleiben. Da wir ohnehin nur zu sechst sind, dürfte das kein Problem sein. Und jetzt sehen Sie zu, dass alles in Schwung kommt. In einer Stunde brechen wir auf, und wir werden erst wieder hierher zurückkommen, wenn unser Job gemacht ist.«

»Glauben Sie, dass man uns deswegen in Deutschland vor ein Militärgericht stellen wird? Immerhin verstoßen wir mit dieser Aktion gegen das Waffenembargo und etliche andere UNO-Vorschriften.«

Dietrich winkte ab. »Wenn Sie sich deswegen Sorgen machen, sollten Sie lieber bei unseren Verletzten bleiben!«

»Natürlich bin ich dabei! Aber ich würde es halt gerne wissen.«

Dietrich zuckte mit den Achseln. »Wenn es dazu kommt, nehme ich das Ganze auf mich. Ihr seid nur meinen Befehlen gefolgt in der festen Überzeugung, ich würde im Rahmen meiner Vorschriften handeln.«

»So war das nicht gemeint, Herr Major«, wandte Fahrner ein. »Wenn die uns dafür eins auf den Deckel geben wollen, dann sollen sie es tun.«

»Ich lasse keinen meiner Männer für etwas bestrafen, was ich ganz allein zu verantworten habe«, antwortete Dietrich schnaubend. »Und jetzt machen Sie sich an die Arbeit! Und vergessen Sie das Wasser und das Essen nicht. Ich glaube nämlich nicht, dass wir unterwegs an einem plätschernden Bächlein rasten können und uns dabei gebratene Tauben in den Mund fliegen.«

Damit brachte er Fahrner zum Lachen. Immer noch schmunzelnd verließ dieser das Zelt, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.

Auch Dietrich schulterte seine Ausrüstung und trat ins Freie. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jamanah ihm mit katzenhaften Bewegungen folgte. Trotz ihrer Größe ist sie eine sehr anmutige Frau, sagte er sich. Aber sie bereitete ihm eine Menge Kopfzerbrechen.

Er rief Captain Ikrum zu sich. »Können Sie Jamanah sagen, dass sie hier im Lager warten soll?«

Der Somali nickte und redete dann eifrig auf das Mädchen ein. Zuletzt wurde er laut, gab aber schließlich auf. »Es tut mir leid, Major von Tarow. Doch dieses renitente Mädchen will unbedingt mit Ihnen kommen und sagt, es hätte keinen Sinn, sie daran zu hindern.«

»Störrisches Ding!«, fluchte Dietrich und überlegte, was er tun sollte. Die einzige Möglichkeit wäre, sie hier im Lager festzubinden, und dagegen würde sie sich wahrscheinlich mit Händen und Füßen wehren.

Er musterte sie finster und wandte sich wieder an Ikrum. »Also gut, Captain. Ich nehme sie mit. Aber nur auf ihre eigene Verantwortung! Erklären Sie ihr, dass sie immer in meiner Nähe bleiben muss und jeden Wink von mir augenblicklich zu befolgen hat!«

Ikrum hoffte, Jamanah doch noch davon zu überzeugen, auf dieses gefährliche Abenteuer zu verzichten. Doch statt einer Antwort stellte sie sich direkt neben Dietrich und sah diesen mit unternehmungslustig funkelnden Augen an. An deiner Seite, besagte ihr Blick, kann mir nichts passieren.

Dietrich hätte gerne darauf verzichtet, sich bei seiner Aktion auch noch um Jamanah kümmern zu müssen, sah aber keine Chance, ihr dieses Vorhaben auszureden. »Haben Sie ihr gesagt, dass sie mir unbedingt gehorchen muss? Wenn sie eine Mine lostritt, geht es nicht nur ihr schlecht, sondern auch uns. Dann wird der Feind gewarnt! Ich habe keine Lust, uns einen Weg durch ein Minenfeld zu suchen, wenn mir die MG-Garben um die Ohren fliegen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu dem Platz, an dem sich die fünf ihm verbliebenen Soldaten bereits versammelt hatten. Die Männer waren dabei, ihre Vorräte aufzuteilen, als Jamanah zu ihnen trat und interessiert zusah.

Fahrner grinste. »Sie werden das Mädchen wirklich nicht mehr los, Herr Major.«

»Ich müsste ihr schon ins Bein schießen, damit sie zurückbleibt«, knurrte Dietrich.

»Wenn sie mitkommt, kann sie auch was tragen!« Fahrner verschwand und kehrte kurz darauf mit dem Rucksack eines der Verwundeten zurück. Diesen packte er so voll, dass selbst ein Mann unter der Last gekeucht hätte. Doch als er Jamanah mit Gesten klarmachte, dass sie den Rucksack schultern sollte, tat sie es bereitwillig und blickte dann Dietrich an, als hoffe sie auf Lob.

Mit einer resignierenden Geste sah Fahrner Dietrich an. »Es war ein letzter Versuch, sie davon abzubringen, mit uns zu gehen. Aber sie ist offensichtlich sehr anhänglich.«

Dietrich nahm sein eigenes Gepäck und schritt auf den Pritschenwagen zu, mit dem sie gekommen waren. Da die ersten Kilometer frei von Minen waren, konnten sie diese Strecke mit dem Auto zurücklegen. Als er einstieg, nahm Jamanah wie selbstverständlich auf dem Beifahrersitz Platz, während die fünf Soldaten auf die Ladepritsche stiegen. Sie lächelte, als läge ein gemütlicher Ausflug vor ihnen, kein Job, bei dem sie sich nicht den geringsten Fehler leisten durften.

Vier als Militärtransporter umgebaute Lastwagen biblischen Alters folgten ihnen, jeder mit zwanzig Somalis besetzt, die sie während der Aktion beschützen sollten. Dietrich wäre es zwar lieber gewesen, wenn er und seine Männer den Job allein hätten erledigen können, doch General Mahsin hatte darauf bestanden, dass seine Leute sie begleiteten.

SIEBEN

 

Bei Mulaax trafen Dietrich von Tarow und seine Begleiter auf den letzten Vorposten. Von diesem erfuhren sie, dass sich kein feindlicher Soldat hatte sehen lassen. Einige ihrer Männer hatten bereits begonnen, mit primitiven Mitteln die ersten Minen zu suchen und auszugraben.

Captain Ikrum, der den Trupp begleitete, redete mit ihnen und drehte sich anschließend zu Dietrich um. »Wir deaktivieren die Minen und bringen sie nach Süden, um sie für unseren eigenen Minengürtel zu verwenden.«

Dietrichs Achtung vor den in verschlissenen Uniformen steckenden Einheimischen stieg. Minen auszugraben, zu deaktivieren und woanders wieder einzusetzen war etwas, das er selbst nur im äußersten Notfall tun würde und bestimmt nicht ohne Verwendung modernster Hilfsmittel. Es gehörten Nerven wie Drahtseile dazu und wohl auch ein gehöriges Vertrauen in Allah, Minen mit der Hand zu suchen und mit einem Stückchen Eisendraht den Sicherungsbolzen zu ersetzen.

»Ihre Leute sind wirklich gut«, lobte er und fragte dann, ob sie ihn bis zu der Stelle bringen konnten, an der die Minen ausgelegt waren.

»Natürlich!« Captain Ikrum rief mehrere Männer zu sich. Zwei von ihnen waren hager und hatten faltige Gesichter, die drei anderen wirkten fast noch wie Schulbuben. Als der Offizier ihnen erklärte, sie sollten die Deutschen zu den Minen bringen, verzogen sie in unbewusster Abwehr die Lippen. Bis jetzt waren sie die Helden ihrer Einheit gewesen und überzeugt, die Minen selbst beseitigen zu können.

Dies sagten sie Ikrum auch, doch der schüttelte ärgerlich den Kopf. »Natürlich könnt ihr das. Aber es dauert zu lange! General Mahsin will Maydh so rasch wie möglich befreien. Die Warsangeli und ihre Dulbahante-Söldner sollen das Grab unseres Stammvaters nicht länger schänden.«

»Und du glaubst, diese Europäer finden die Minen eher als wir?«, fragte einer der älteren Soldaten skeptisch.

»Immerhin haben sie den Minengürtel mit ihrem Fahrzeug durchquert, ohne eine Sprengung auszulösen. Könnt ihr das auch?«, schnauzte Ikrum sie an.

»Nein! Wie machen die das?«

»Sie haben Geräte, die ihnen die Minen anzeigen. Und jetzt los! Oder braucht ihr einen Befehl des Generals persönlich?«

Die Männer begriffen, dass es besser war zu gehorchen und gingen zu Dietrich hinüber. Einer erklärte den Deutschen mit Gesten, ihm zu folgen.

Dietrich nahm eines der an einer Stange befestigten Warngeräte an sich, während Fahrner nach dem zweiten griff.

»Wir schalten die Geräte gleich ein. Es könnte ja sein, dass unsere Freunde eine Mine vergessen haben«, befahl Dietrich und setzte sich an die Spitze des kleinen Trupps.

Noch verzichteten sie darauf, ihre internen Kommunikationsgeräte einzuschalten. Eine Stunde verging und dann eine zweite. Dietrich schätzte die zurückgelegte Strecke auf etwa acht Kilometer, als sein Warngerät zu piepsen begann.

»Achtung, da ist eine!«, rief er den anderen zu und versuchte, die Mine genauer zu lokalisieren. Er fand sie so nahe an der Straße, dass sie bei den Erschütterungen, die ein Fahrzeug verursachte, hochgehen würde. Diese Mine war den einheimischen Minenräumern offensichtlich entgangen.

Einer der älteren Männer, der anscheinend der Anführer der Gruppe war, schimpfte zuerst mit den anderen und kniete sich dann behutsam neben die Mine. Während er diese vorsichtig ausgrub, versetzte Fahrner Dietrich einen Stoß.

»Wir sollten weitergehen. Sonst fliegen uns, wenn das Ding hochgeht, die Därme des Burschen an den Kopf!«

An der Warnung fand Dietrich nichts auszusetzen, nur an der Ausdrucksweise. Er sagte jedoch nichts, sondern winkte Jamanah mitzukommen und schritt angespannt weiter. Hinter ihnen blieb alles ruhig, und kurz darauf gesellte sich der Somali, über alle Falten im Gesicht lächelnd, wieder zu ihnen.

Kurz darauf erreichten sie das Ende des geräumten Weges, und beide Warngeräte schlugen an. Dietrich befahl Jamanah, stehen zu bleiben, und suchte die Mine. Sie lag mitten auf dem Weg unter einem großen Stein vergraben, den zu entfernen die Vorsicht verbot. Da genug Platz war, markierte Dietrich einen Weg um die Mine herum. Diese würde, sobald die Sache hier erledigt war, gesprengt werden müssen.

Zunächst lagen die Minen noch einzeln und konnten leicht umgangen werden. In einem kleinen Hohlweg brauchten sie jedoch die Fähigkeiten der einheimischen Minenräumer. Während diese den Sprengsatz mit aller Sorgfalt ausgruben, kratzte Fahrner sich im Nacken.

»Als wir hier durchgefahren sind, war das Ding noch nicht da. Wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern.«

»Vielleicht sind wir so über sie drübergefahren, dass sie nicht gezündet hat«, wandte einer der anderen Deutschen ein.

Dietrich schüttelte den Kopf. »Nein, das Ei wurde erst später gelegt. Wahrscheinlich sind wir während unserer Fahrt beobachtet worden, und unsere Freunde wollten das Schlupfloch stopfen. Auf alle Fälle müssen wir scharf aufpassen. Wer auch immer uns gesehen hat, kann sich hier noch herumtreiben.«

»Wenn wir schießen, alarmieren wir den Gegner. Er weiß dann, dass sich hier etwas tut«, gab Fahrner zu bedenken.

»Sobald wir seinen ersten Vorposten erreichen, erfährt er es ohnehin. Ich schätze, die letzten fünfhundert Meter werden uns am meisten Bauchschmerzen bereiten. Ich kann mir Schöneres vorstellen, als unter Beschuss einen Weg durch die Minen suchen zu müssen!« Dietrich zeigte kurz die Zähne, sah, dass die Mine beseitigt war, und winkte seinen Männern, weiterzugehen.

ACHT

 

Das französische U-Boot Émeraude tauchte etwa zehn Kilometer vor der Küste aus der Tiefe des Meeres auf, blieb aber mit dem Rumpf unter Wasser, um den Radargeräten der Piraten kein erkennbares Ziel zu bieten. Die folgende Aktion fand in einer Geschwindigkeit statt, die Hans Borchart überraschte. Kaum war die Turmluke geöffnet, sprangen vier Froschmänner hinaus, nahmen das Paket mit dem Schlauchboot entgegen und öffneten die Ventile der Druckbehälter, sodass die Luft einströmen konnte. Im Gegensatz zu den Booten, mit denen Dietrich von Tarow und seine Männer beinahe ins Verderben gefahren wären, war dieses nur halb so lang und bot gerade den beiden Männern, die an Land geschafft werden sollten, und fünf Matrosen Platz. Diese waren bewaffnet und befestigten zusätzlich ein MG am Bug.

Ein leichter Klaps auf die Schulter erinnerte Hans daran, dass er an der Reihe war, in das Schlauchboot zu steigen. Der Mann, für den diese Aktion in erster Linie durchgeführt wurde, folgte ihm auf den Fuß. Es handelte sich um einen Soldaten, dessen Vater Fremdenlegionär gewesen war und dessen Mutter eine Issa aus Djibouti war. Obwohl keiner seiner Ahnen jemals seine Füße in der Seine oder der Loire gewaschen hatte, fühlte er sich ganz als Franzose. Er war dunkelhäutig genug, um in Somalia nicht aufzufallen. Auch sprach er ausgezeichnet die Landessprache und hatte in Boosaaso und anderen Küstenstädten genügend Freunde, die ihn für ein paar diskret überreichte Geldscheine unterstützten.

Hans hatte sich mit dem Mann während der Tauchfahrt der Émeraude unterhalten und einige Tipps bekommen, wie er sich an Land verhalten sollte. Nun hockten sie beide eng aneinandergekauert in der Mitte des Bootes, das von seinem Mutterschiff ablegte und mit einem elektrisch angetriebenen Motor auf die Küste zuhielt.

»Es kann sein, dass wir die letzten hundert oder zweihundert Meter schwimmen und unsere Ausrüstung mit einem Seil an Land ziehen müssen. Ich hoffe, Sie können ohne Hand und Fuß schwimmen?«, sagte der Franzose, den Hans nur unter dem Namen Jabir kannte.

Hans grinste, obwohl der andere dies in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Ich werde schon nicht untergehen! Allerdings hoffe ich, dass ich bald weiterreisen kann. Ich muss so rasch wie möglich meinen Kollegen in Laasqoray treffen.«

»Sprechen Sie nicht darüber! Je weniger ich weiß, umso weniger kann ich darüber erzählen, wenn sich … äh, liebe Freunde um mich kümmern sollten.« Jabir lachte leise und steckte sich eine Zigarette an.

»Was ist, wenn jemand die Flamme des Feuerzeugs oder die brennende Zigarette sieht?«, flüsterte Hans besorgt.

»Keine Sorge. Wir liegen so tief im Boot, dass uns niemand von außen sehen kann.« Jabir blies eine Rauchwolke in Hans’ Richtung und amüsierte sich, als dieser hustete.

»Geräusche«, fuhr er fort, »sind viel gefährlicher! Ihr Husten kann man auf dem offenen Meer mehr als einen Kilometer weit hören. Näher an Land wird es jedoch von der Brandung übertönt. Trotzdem sollten wir leise und sehr schnell sein, wenn wir an Land kommen. Auf dem ersten Stück werde ich Sie stützen. Mit Ihrer Krücke kommen Sie da nur schlecht voran. Allerdings sind Sie auf diese Weise ausgezeichnet getarnt. Selbst der misstrauischste Pirat wird einen Krüppel niemals für einen deutschen Spion halten. Sie müssen sich nur entsprechend verhalten. Können Sie überhaupt Somali?«

Hans schüttelte den Kopf und erinnerte sich dann, dass sein Gegenüber die Geste nicht sehen konnte. »Nein! Nur ein paar Sätze, die ich zum Betteln brauche. Allerdings kann ich halbwegs Arabisch.«

»Mich interessiert mehr Ihr somalischer Wortschatz. Los, sprechen Sie ein paar Sätze!«, forderte Jabir ihn auf.

»Ehrenwerter Herr, eine milde Gabe. Allah wird es dir im Paradies vergelten. Meine Dame, bitte eine milde Gabe für einen Mann, der seine Gliedmaßen im Kampf gegen die Ungläubigen geopfert hat. Mächtiger Krieger, bedenke auch du, dass Elend und Not dein Kismet sein könnten, und gib mir, wie dir gegeben werden soll! Und dann natürlich noch: Allah möge es dir segnen und danken!« Hans schwitzte, denn diese Sätze waren nicht unbedingt für eine mitteleuropäische Zunge gedacht.

Jabir war trotzdem zufrieden mit ihm und verbesserte nur hie und da seine Aussprache. »Sie sollten immer ein paar arabische Brocken mit einfließen lassen, dann wirken Sie authentischer«, erklärte er noch.

Als der Bootsführer ihnen mitteilte, dass sie sich dem Ufer näherten, schwiegen sie.

Zwei Soldaten hielten den Strand mit Nachtsichtgläsern unter Beobachtung. »Niemand zu sehen«, flüsterten sie, während das Boot sich nun langsamer durch die auflaufenden Wellen schob. Der Elektroantrieb war so leise, dass nur jemand, der direkt am Ufer stand, die Schraubengeräusche vernehmen könnte.

»Gleich laufen wir auf«, warnte der Bootsführer.

Die Soldaten packten die Ausrüstungsgegenstände, die an Land gebracht werden sollten, und sprangen in dem Augenblick, in dem das Schlauchboot Bodenkontakt bekam, von Bord.

Auch Jabir und Hans verließen das Boot. Schwimmen mussten sie zu Hans’ Erleichterung nicht. Allerdings tat er sich trotz seiner Krücke und der Hilfe des Franzosen schwer, an Land zu stapfen, da ihm das wegfließende Wasser immer wieder den Boden unter dem gesunden Bein fortschwemmte.

Endlich war es geschafft, doch auch der sandige Strand bereitete Hans Schwierigkeiten. Zwei Soldaten sahen sich kurz an, packten ihn dann unter den Achseln und trugen ihn zu einer Stelle, von der aus er mit seiner Krücke besser vorankommen konnte. Dann liefen sie lautlos wie Schatten zum Strand zurück und erschienen kurz darauf mit Jabir und der Ausrüstung.

»Macht es gut!«, flüsterte ihnen einer der Matrosen noch zu, bevor sie wieder in Richtung Boot verschwanden. Kurz darauf schoben die Männer es in tieferes Wasser, kletterten hinein und starteten den Antrieb. Wenig später kündete nichts mehr davon, dass hier Fremde an Land gegangen waren.

Jabir versetzte Hans einen Klaps. »Wie viel Ihrer Sachen können Sie selbst tragen?«

»Alles«, antwortete Hans leise. »Das ist auch besser, falls wir getrennt werden sollten.«

»Sie denken mit.« Mit einem zufriedenen Lachen schob Jabir Hans den schmutzigen Beutel zu, in dem dessen Ausrüstung versteckt war, und schnallte sich selbst einen zwar abgegriffenen, aber modernen Rucksack auf den Rücken.

Dabei schüttelte er den Kopf. »Mich wundert, dass ihr Deutschen immer noch denkt, in Afrika leben Wilde, die gerade das Feuer entdeckt haben. Sie hätten ruhig einen Rucksack verwenden können. Hier wäre das keinem aufgefallen. Aber des Menschen Wille ist eben sein Himmelreich.«

Hans hängte sich den Beutel so über die Schulter, dass er ihm beim Krückengehen nicht im Weg war, und humpelte los.

»Vorsicht, Kamerad! Der Weg ist nicht besonders eben. Ich möchte nicht, dass Sie auf die Nase fallen und sich etwas brechen. Sonst müsste ich Sie in den nächsten Ort schleppen, und das würde eine verdammt hohe Anforderung an mein Mitleid stellen.«

Da in diesem Moment der Mond zwischen den Wolken hervorlugte, konnte Hans sehen, dass Jabir grinste. Dem Franzosen schien das Ganze einen Heidenspaß zu machen. Er selbst aber war so nervös, dass ihm die Finger zitterten, mit denen er seine Krücke umklammerte.

NEUN

 

Nachdem Hans aufgebrochen war, lief Henriette immer wieder nervös durch das Militärlager von Djibouti, meist auf dem Weg zwischen ihrem Zelt und der Kantine der Marinesoldaten. Nie zuvor hatte sie sich so überflüssig gefühlt wie in diesen Tagen, die sich dehnten und klebrig waren wie Spinnenseide. Die beiden Männer aus Wagners Team waren im Einsatz, Petra verließ kaum ihren Computer, und Wagner eilte von einem Meeting zum anderen. Nur sie hockte nutzlos herum, wenn sie nicht gerade ihre Kollegin mit Ess- und Trinkbarem versorgte.

Gerade betrat sie ihre gemeinsame Unterkunft mit einer aufgewärmten Fertigpizza und stellte sie auf den Tisch. Eine Flasche Cola, auf die Petra trotz der sengenden Hitze nicht verzichten wollte, und eine mit Wasser folgten.

»Der Tisch ist gedeckt«, erklärte sie und reckte den Hals, um einen Blick auf den Bildschirm erhaschen zu können.

Petra stand gerade mit Evelyne Wide in Kontakt. Die Reporterin sah schmutzig und verzweifelt aus und flüsterte so, dass Petra den Lautsprecher auf volle Leistung stellen musste, um sie zu verstehen.

»Die Lage wird von Stunde zu Stunde unerträglicher«, klagte Evelyne Wide. »Seit anderthalb Tagen haben die Piraten die Wasserversorgung nicht mehr angestellt. Außerdem bekommen wir nur noch unregelmäßig zu essen. Die Vergewaltigungen dauern an. Gestern bin ich ein paar Kerlen nur ganz knapp entkommen. Übrigens sind die Schufte immer noch dabei, Leute auszusondern und an Land zu bringen. Zu den Betroffenen gehören einige Schiffsoffiziere, die drei Bundestagsabgeordneten und der Ehemann der Abgeordneten Blauert. Sie selbst ist mit ihren Kindern noch an Bord, ebenso Maggie Dometer, was mich wundert, weil die Frau ja millionenschwer ist. Dafür haben sie aus mir unverständlichen Gründen den ehemaligen NVA-Offizier Erlmann weggebracht. Ich habe Angst, dass sie mich ebenfalls verschleppen, wenn sie herausfinden, wer ich bin.«

»Was können wir ihr berichten?«, fragte Henriette ihre Kollegin, als Evelyne Wide eine Pause einlegte.

Petra klopfte wie wild auf ihre Tasten ein und lächelte dann Henriette an. »Auf jeden Fall wird Evelyne sich gleich waschen und einen Vorrat an Trinkwasser anlegen können. Ich habe die Versorgungsleitung zu ihrer Kabine wieder aktivieren können.«

»Das heißt, du kannst auf einzelne Bereiche der Lady zugreifen? Gestern hast du doch gesagt, du hättest keine Möglichkeit dazu«, rief Henriette erstaunt.

Petra nickte. »Die Piraten haben die Wasserversorgung auf Stand-by geschaltet, daher konnte ich mich da einklinken. Aber um mehr in Gang zu setzen, müsste ich an Bord sein.«

»Das sind Sie schneller, als Sie sich vorstellen können«, hörten sie Wagners Stimme hinter ihnen aufklingen. Bevor sie nachfragen konnten, wies er Petra an, die Verbindung mit Evelyne Wide zu unterbrechen.

»Sie darf nicht erfahren, was ich euch zu sagen habe«, erklärte er, als der Bildschirm dunkel wurde. »Vorhin habe ich noch einmal mit Berlin telefoniert. Die Kanzlerin war selbst am Apparat und hat mir freie Hand gegeben, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Leuten an Bord der Lady of the Sea zu helfen.«

»Den Befehl erhalten wir täglich neu, aber wir sitzen trotzdem immer noch hier herum«, antwortete Henriette bissig.

»Jetzt tut sich tatsächlich etwas. Wir haben aus Deutschland ein elektronisches Teil erhalten, das auf der Lady of the Sea eingebaut werden muss. Mit dem Ding kann man die Schiffssteuerung überbrücken und die Lady von einem externen Computer aus beherrschen. Das ist eine diffizile Angelegenheit, die ich nur einer Person zutraue, nämlich Ihnen, Frau Waitl!«

Während Petra nicht wusste, ob sie sich über das Lob freuen oder die Zumutung zurückweisen sollte, sich an Bord des Kreuzfahrtschiffes zu schleichen, zählte Henriette langsam rückwärts und beschloss, bei null zu explodieren. Wenn jetzt auch noch Petra auf eine Mission geschickt wurde und sie nicht, hatte sie bei diesem Verein nichts mehr zu suchen.

Sie war gerade bei fünf angelangt, als Wagner sich lächelnd zu ihr umdrehte, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Jetzt können Sie beweisen, was Sie wert sind, Frau von Tarow. Sie werden mit Frau Waitl gehen und sie sowohl bei ihrer Arbeit unterstützen als auch beschützen. Das ist ein Job, den ich nicht einmal Renk zutraue, und der ist zu vielem fähig.«

»Endlich!«, jubelte Henriette, während Petra ein entsetztes »Oh Gott!« entfuhr. Eine solche Aktion war alles andere als nach ihrem Geschmack.

»Und wie sollen wir an Bord kommen? Werden wir mit einem U-Boot hingebracht?«, wollte Henriette wissen.

Wagner verzog das Gesicht. »Das wäre mir am liebsten. Aber unsere Erkundungsdrohnen haben herausgefunden, dass die Piraten die See vor Laasqoray scharf unter Beobachtung halten. Außerdem haben sie über diffuse Kanäle modernes Equipment erhalten und auch Männer, die es bedienen können. Die Aktion muss absolut im Verborgenen ablaufen. Kein Pirat darf ahnen, dass Sie beide sich an Bord schleichen. Sonst würden die Geiseln es sofort ausbaden müssen.«

»Wollen Sie uns vielleicht hinbeamen wie in einem Science-Fiction-Film?« Henriettes Stimme klang ätzend, denn sie sah schon wieder Hindernisse vor sich, die einen Einsatz womöglich verhindern konnten.

»Wäre die Technik vorhanden, würde ich nicht Sie beide, sondern einige Kompanien der KSK hinversetzen. Da dies aber nicht geht, werden Sie Ihr ureigenes Element benützen«, antwortete ihr Vorgesetzter.

Da Henriette keine besonders intelligente Miene aufsetzte, wies Wagner mit dem Daumen nach oben. »Ich meine die Luft. Sie beide werden mit einem Fallschirm abspringen und in der Nähe der Lady im Wasser landen. Sie, Frau von Tarow, haben die nötige Ausbildung für dieses Manöver. Da dies bei Frau Waitl nicht der Fall ist, werden Sie einen Tandemsprung machen. Zu diesem Zweck werden Sie beide mit einem kleinen Transportflugzeug mit Flüstermotor zu Ihrem Einsatzort gebracht.

Die Piraten werden wahrscheinlich annehmen, es käme eine der Aufklärungsdrohnen, die von den Amerikanern, den Franzosen und uns immer wieder losgeschickt werden. Allerdings müssen Sie bei Nacht abspringen, und das geht nur, wenn es so dunkel ist, dass Ihr Fallschirm nicht vom Schiff oder Land aus gesehen werden kann. Ihre Ausrüstung tragen Sie in einem wasserdichten Behälter mit sich. Dieser wird in die Hülle eines kleinen Schlauchboots eingewickelt, das sich beim Kontakt mit dem Wasser selbst aufbläst. Es verfügt über einen elektrischen Antrieb, den Sie auch als Tauchscooter verwenden können, wenn es notwendig sein sollte. Sobald Sie im Wasser gelandet sind, schwimmen Sie zu Ihrem Boot, steigen hinein und fahren zur Lady

»Und wissen Sie auch schon, wie wir an Bord kommen, oder sollen wir die Piraten freundlich bitten, uns ein Seil herabzulassen?«

»Auch darüber haben wir uns Gedanken gemacht!«, wies Wagner sie zurecht. »Es gibt am Heck eine Notluke, die vom Computersystem unabhängig ist und mit einem Funkbefehl von außen geöffnet werden kann. Dort werden Sie das Schiff auf traditionelle Weise mit einem Hakenseil entern. Der Haken ist aus Kunststoff und macht kaum Geräusche, wenn Sie ihn in die offene Luke werfen. Wie es drinnen weitergeht, entnehmen Sie gleich den Schiffsplänen, die hoffentlich schon als E-Mail-Anhang gesendet worden sind. Frau Waitl, sehen Sie nach und drucken Sie die Blätter aus. Anschließend sollten Sie die ebenfalls beigefügte Computersimulation des Schiffes ablaufen lassen, damit Sie das Innere des Schiffes auch visuell in sich aufnehmen können. Am besten wäre es, wenn Sie die Pläne auswendig lernen. Sie haben nur dann eine Chance, den Piraten ein Schnippchen zu schlagen, wenn Sie sich an Bord so gut auskennen wie in Ihrer Westentasche. Gelingt Ihnen das nicht, schicken die da oben mich umgehend in den Ruhestand.«

»Und das wollen wir Ihnen doch nicht antun«, spottete Henriette und drehte sich zu Petra um. Die saß bereits wieder am Bildschirm und rief die Pläne des Kreuzfahrtschiffs auf.

ZEHN

 

Als die drei Piraten auf sie zukamen, drängte Maggie Dometer sich enger an Sven Kunath und sah diesen ängstlich an. Sven schob sich vor sie und versuchte zu lächeln. Mit Aggressivität, das wusste er bereits, war bei den Kerlen nichts auszurichten.

»Wollen Frau!«, sagte einer der Männer grinsend in schlechtem Englisch und wollte Sven beiseiteschieben.

Dieser blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Nicht gut! Wir müssen zu Hanif. Er will uns sehen.« Es war die einzige Ausrede, die ihm einfiel. Da Hanif ihn schon mehrmals auf das Promenadendeck hatte rufen lassen, um mit ihm und ein paar anderen Piraten Fußball zu spielen, hoffte er, die drei Kerle würden ihm glauben.

Die drei sahen sich an und schienen zu schwanken. Während einer auf Maggie zeigte und nicht bereit schien, auf sein Vorhaben zu verzichten, zogen sich die beiden anderen ein wenig zurück. Schließlich packte einer von ihnen den dritten Mann an der Schulter und sagte etwas in seiner Muttersprache. Sven konnte nur »Hanif« heraushören. Wie es aussah, hatte dieser Mann genug Ansehen, dass allein sein Name die Kerle zum Einlenken bewegte. Sie kehrten um und kletterten auf ein anderes Deck hinab.

Maggie sah den ehemaligen Fußballstar bewundernd an. »Sven, das hast du ausgezeichnet gemacht. Ich bin beinahe gestorben vor Angst, diese Kerle würden mich in die nächste freie Kabine zerren.«

»Wahrscheinlich suchen sie sich gerade ein anderes Opfer«, antwortete Sven düster. Dann atmete er tief durch und bleckte die Zähne. »So kann es nicht weitergehen! Die Zustände an Bord sind nicht mehr zu ertragen. Komm, wir sehen zu, dass wir Hanif finden. Er ist doch der Anführer hier. Also soll er dafür sorgen, dass seine Leute sich anständig benehmen.«

Sven wusste, dass er Maggie auf Dauer nicht schützen konnte. Daher fasste er nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Als sie auf einen Piraten trafen, sprach Sven ihn an, noch bevor dieser ihnen seine MP unter die Nase halten konnte. »Wir müssen zu Hanif. Verstehst du? Hanif!«

Der Mann verstand zwar kein Englisch, aber der Name machte Eindruck auf ihn, und er wies nach hinten.

Sven ging weiter, ohne Maggie loszulassen, und wurde schließlich von einem jüngeren Piraten, der zu den wenigen gehörte, die richtige Uniformen trugen, zu Kapitän Ganswigs Kabine geführt.

Hanif saß auf einem bequemen Sessel und spielte mit seiner Pistole. Als er Sven und Maggie sah, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Heute kein Fußball«, sagte er mit einem gewissen Bedauern. »Wir kommen gleich ans Ziel.«

»Ich bin nicht wegen des Fußballs gekommen!« Sven musste sich räuspern, weil seine Stimmbänder wie ausgedörrt schienen. »Es geht um die Frauen. Immer wieder werden welche vergewaltigt. Das ist nicht gut.«

Hanif zuckte mit den Achseln. »Was soll ich tun? Meine eigenen Leute habe ich im Griff, aber mehr als zwei Drittel der Männer gehören zu Milizen, die mit uns verbündet sind. Sie machen mit, weil sie Beute wollen. Leider gehören in deren Augen auch Frauen dazu. Wollte ich ihnen verbieten, sich an ihnen zu vergreifen, würde es hier zu einer üblen Schießerei kommen.« Dann musterte er Maggie und begriff den Grund, aus dem die beiden zu ihm gekommen waren.

»Ist sie vergewaltigt worden?«, fragte er.

Sven schüttelte den Kopf. »Noch nicht! Ich konnte ein paar Kerle davon abbringen, indem ich sagte, Sie hätten nach mir geschickt.«

»Gute Ausrede!« Hanif lächelte geschmeichelt, nahm ein Stück Papier und schrieb ein paar Zeilen darauf. Dann reichte er es Sven.

»Gib es der Frau. Wenn meine Männer sie belästigen, soll sie es ihnen vorzeigen. Dann wird ihr nichts geschehen.«

»Können die Leute alle lesen?«, wunderte Sven sich, denn die Piraten, die in besseren Lumpen an Bord gekommen waren und sich danach ausgiebig im bordeigenen Shop bedient hatten, sahen nicht gerade so aus, als hätten sie in ihrer Jugend eine Schule besucht. Nur Hanifs uniformierte Begleiter sprachen zumindest ein rudimentäres Englisch, und von denen hatte sich bisher keiner aus eigenem Antrieb an den Geiseln vergriffen.

Hanif lachte leise auf. »Die wenigsten. Doch der Zettel zeigt ihnen, dass die Frau wichtig ist und ihr nichts geschehen darf. Aber jetzt muss ich euch auffordern, in eure Kabine zurückzukehren. Das Schiff wirft bald Anker, und dann kommen weitere Leute an Bord.«

Oder werden von Bord geschafft, verriet Hanifs Miene. Trotzdem blieb Sven stehen. »Es ist noch etwas anderes: Wir bekommen nicht genug zu essen. Noch schlimmer ist es mit dem Trinkwasser. Mit einer Flasche Wasser, die teilweise zwei Tage lang reichen muss, kommen wir bei der hier herrschenden Hitze nicht aus. Bitte schalten Sie wenigstens die Klimaanlage wieder ein.«

»Das ist unmöglich«, erklärte Hanif kalt. »Auf einen von uns kommen zwanzig von euch. Wir müssen euch schwach halten, um euch beherrschen zu können. Außerdem darf die Computeranlage des Schiffes nicht eingeschaltet werden, damit sie nicht von der Reederei oder den deutschen Behörden benutzt werden kann, um Informationen einzuholen.« Dann aber wurde der Pirat wieder zugänglicher und griff nach hinten.

»Hier! Für euch beide«, sagte er und stellte einen Sechserpack Wasserflaschen und eine große Schachtel mit Keksen auf den Tisch. »Nehmt es und jetzt geht!«

Sven begriff, dass er nicht mehr erreichen konnte, und nahm die Sachen an sich. »Danke«, sagte er zu Hanif und schämte sich gleichzeitig, weil mehr als zweitausend Leute an Bord schlechter dran waren als Maggie und er.

Als er zur Tür ging, drehte er sich noch einmal zu Hanif um. Der Somali hielt wieder seine Pistole in der Hand und schien seine ungebetenen Besucher bereits vergessen zu haben. Auf dem weiteren Weg konnten Maggie und Sven einen kurzen Blick nach draußen werfen. Die Lady of the Sea näherte sich in langsamer Fahrt einer Küste, hinter der sonnendurchglühte Berge in den Himmel ragten.

Etwa drei Kilometer entfernt entdeckten sie einen kleinen, vor Anker liegenden Containerfrachter, der so aussah, als wäre er gleich ihnen in die Hände der Piraten gefallen.

ELF

 

Um Abdullah Abu Na’ims Lippen spielte ein verstehendes Lächeln. Insgeheim aber spottete er über die Bundeskanzlerin, die ihm gegenübersaß und in den letzten Tagen um mindestens zehn Jahre gealtert war.

»Sie bringen keine guten Nachrichten, Herr Na’im«, sagte sie eben.

Der Saudi hob bedauernd die Hände. »Ich hätte Ihnen gerne eine bessere Botschaft überbracht, Euer Exzellenz. Leider aber befinden sich die Geiseln an Bord der Lady of the Sea in keiner beneidenswerten Lage. Sie werden, wie ich erfahren habe, sehr schlecht versorgt, weil die Piraten sie möglichst schwach halten wollen, um sie besser kontrollieren zu können. Es befinden sich lange nicht so viele Somalis wie Gefangene an Bord. Würde es dem Kapitän gelingen, die männlichen Besatzungsmitglieder zu einem Aufstand zu bewegen, gäbe es ein Blutbad. Daher tun die Piraten alles, um solch eine Situation von vornherein zu verhindern.«

»Ich habe auch von Vergewaltigungen gehört«, sagte die Kanzlerin voller Abscheu, während ihr Gegenüber die Narren auf der Lady of the Sea verfluchte, denen es nicht gelang, die Übertragungen von Bord des Schiffes zu unterbinden.

»Davon weiß ich nichts«, behauptete er. »Allerdings stehe ich nicht direkt mit den Piraten in Kontakt, sondern mit dem ehrenwerten Kadi Wafal Saifullah, meinem Schwiegervater. Dieser kann auch nicht persönlich mit den Piraten verhandeln, sondern muss Mittelsmänner in Anspruch nehmen. Das dauert leider seine Zeit. Für die armen Menschen an Bord, die so schrecklich leiden müssen, ist das natürlich fatal.«

Die Kanzlerin nickte unwillkürlich. Dann raffte sie sich auf und blickte Abdullah Abu Na’im ins Gesicht. »Wir sind bereit, Lösegeld für die Lady of the Sea zu zahlen und für die Menschen, die sich darauf befinden. Die Summen, die von den Piraten verlangt werden, sind jedoch illusorisch. Zehn Millionen sind das Äußerste!«

Bei diesen Worten klang die Kanzlerin so entschlossen, dass Sayyidas Abgesandter sich auf lange und harte Verhandlungen einstellte. Da war es vielleicht doch ganz gut, wenn die Bereitschaft der deutschen Regierung, möglichst bald einzulenken, durch Informationen über die schlechte Behandlung der Geiseln verstärkt wurde. »Ich wage nicht, dieses Angebot weiterzuleiten«, sagte er deshalb mit leiser Stimme. »Die Freiheitshelden Somalias würden mit Sicherheit Geiseln erschießen, um zu beweisen, wie ernst es ihnen mit ihren Forderungen ist. Schließlich geht es dieser Gruppierung nicht nur um Geld!«

»Politische Zugeständnisse kann Deutschland nicht machen.« Die Kanzlerin fühlte sich wie an einem Bratspieß, der über einem immer heißer lodernden Feuer gedreht wurde. Die Öffentlichkeit verlangte von ihr ein rasches Ende der Geiselnahme. Daher war sie bereit, ihr Angebot notfalls zu verdoppeln und zu verdreifachen. Doch die Forderung nach über einer halben Milliarde Euro konnte sie nicht erfüllen.

Abdullah Abu Na’im genoss die Situation. Noch sträubte sich die Deutsche, aber wenn die Bilder von erschossenen Matrosen und Passagieren durch die Weltpresse gingen, würde sie kapitulieren müssen.

»Den Freiheitshelden Somalias sind ihre politischen Forderungen womöglich noch wichtiger als das Geld. Selbst meinem Schwiegervater ist bekannt, dass Deutschland den Rebellen in Somaliland Waffen geliefert hat, mit denen die Isaaq auch seinen Stamm bekämpft haben. Deshalb ist die Forderung auch so hoch. Mein Schwiegervater verlangt eine Wiedergutmachung für die Schäden, die seinen Leuten durch deutsche Waffen zugefügt worden sind, und die anderen Stammesältesten der Dulbahante empfinden das ebenso. Auch muss ich die Vertrauensleute entschädigen, die mich in meinen Verhandlungen unterstützen, und zuletzt kommen natürlich die Forderungen der Piraten selbst.«

Das klingt ganz danach, als würde sehr viel Geld in undurchsichtigen Kanälen verschwinden, dachte die Kanzlerin, und sie überlegte, ob sie versuchen sollte, Abdullahs Schwiegervater und die anderen Stammesanführer zu bestechen. Doch auch dafür brauchte sie den Saudi, und der würde eine nicht unbeträchtliche Summe als Lohn für seine Bemühungen verlangen.

»Ich muss Sie bitten, den Piraten mitzuteilen, dass ihre derzeitigen Forderungen nicht annehmbar sind. Auch bestehe ich darauf, dass die Geiseln an Bord der Lady of the Sea anständig behandelt und versorgt werden und die Vergewaltigungen aufhören. Sollte dies nicht geschehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Befehl zu erteilen, das Schiff mit Gewalt zu befreien!« Die Bundeskanzlerin versuchte, Stärke zu zeigen, obwohl sie wusste, dass sie kaum die Möglichkeit hatte, ihre Drohungen in die Tat umzusetzen. Ein ähnlicher Angriff wie der auf die Caroline würde in einem Blutbad und damit in einem politischen Desaster enden.

Dies war Abdullah Abu Na’im genauso bewusst wie ihr, daher nahm er ihre Worte nicht ernst. Es war jedoch klar, dass die deutsche Regierung im Augenblick zu keinen weiteren Zugeständnissen bereit war und erst durch die Umstände zum Nachgeben gezwungen werden musste. Dafür würden die Krieger seiner Schwägerin schon sorgen. Mit dem Gefühl, am Ende doch Sieger zu bleiben, verabschiedete er sich von der Kanzlerin und kehrte in sein Hotel zurück. Dort führte er als Erstes ein längeres Handygespräch mit seinem Schwiegervater und wies ihn darauf hin, dass die deutsche Regierung augenscheinlich eine Informationsquelle auf der Lady of the Sea besaß.

Vielleicht, sagte er zu sich selbst, sollte man diese nicht so schnell versiegen lassen. Dramatische Appelle von Betroffenen würden den Widerstand der Deutschen schneller aushöhlen als alle Drohungen der Welt.

Während Abdullah Abu Na’im sich bereits auf der Gewinnerstraße sah, starrte die Bundeskanzlerin auf das Telefon auf ihrem Schreibtisch und streckte zögernd die Hand danach aus. Als sie die eingespeicherte Nummer ihres persönlichen Referenten anwählte, zitterten ihre Finger. Ihre Stimme klang jedoch fest, als sie den Befehl gab, Wagner und seinem Team von nun an völlig freie Hand zu lassen.

Ob dies zu einem Erfolg führen würde, stand in den Sternen. Doch alles war besser, als machtlos darauf zu warten, was die Piraten sich als Nächstes einfallen lassen würden.

ZWÖLF

 

Schüsse weckten Torsten, und er griff in einer Reflexbewegung zu seiner Schweizer Sphinx. Erst dann erkannte er, dass er sich allein im Zimmer befand und auch niemand auf ihn schoss. Trotzdem blieb er misstrauisch. Omar Schmitt war seit zwei Stunden unterwegs, um sich mit Gewährsleuten zu treffen, und mochte in eine Falle geraten sein.

Da draußen immer noch geschossen wurde, schlich Torsten vorsichtig zum Fenster. Es war zwar klein, und er konnte nur einen wenige Meter breiten Ausschnitt der Straße erkennen, doch was er sah, genügte. Die ganze Stadt schien außer Rand und Band zu sein. Warsangeli und Dulbahante, die bisher nicht mehr geeint hatte als der Wille, sich weder von den Isaaq in Somaliland noch von den Majerten aus Puntland beherrschen lassen zu wollen, tanzten gemeinsam auf den Straßen und feuerten Freudenschüsse ab.

Torsten hielt es nicht mehr in seinem Zimmer. Er warf sich die einheimische Kleidung über und sah kurz prüfend an sich herab. Dann steckte er die Sphinx AT2000 in das improvisierte Schulterhalfter und verließ das Hotel. Auf der Straße winkten ihm wildfremde Leute zu. Frauen und Kinder mischten sich schreiend und tanzend in die Menge, und alles floss wie ein träger Strom in Richtung Hafen.

Dort angekommen, sah Torsten, was die Freudentänze ausgelöst hatte. Ein schneeweißer Traum von einem Schiff näherte sich langsam der Küste und warf etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt Anker. Dutzende Boote lösten sich vom Strand und fuhren ihm entgegen. Für einen Augenblick überlegte Torsten, ob er einfach auf eines der Boote steigen und mitfahren sollte. Aber das erschien ihm dann doch zu riskant.

Mit etwas Mühe gelang es ihm, sich bis zum Ufer durchzukämpfen. Nun hatte er freie Sicht auf die Lady of the Sea und sah, dass ein großes Schlauchboot von ihr ablegte. Darin befanden sich sechs Piraten, teils in Uniform, teils in Räuberzivil, und eine Gruppe von Männern und Frauen, die in der Mitte des Bootes kauerten.

Während Torsten die Arme hochwarf und einigen Kerlen, die ihn und andere umarmten, lachend auf die Schulter klopfte, arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren. Petra hatte bereits gemutmaßt, dass die Piraten die wichtigsten Geiseln vom Schiff holen und an Land bringen würden. Dies hier waren womöglich die ersten. Nun galt es, sie zu zählen und festzustellen, wohin man sie brachte.

Daher bewegte er sich zu der Stelle hin, an der das Schlauchboot anlanden würde, bis er in der ersten Reihe stand. Zwei Piraten sprangen ans Ufer und befahlen den Gefangenen in bruchstückhaftem Englisch, das Boot zu verlassen. Weitere Bewaffnete kamen hinzu und bedrohten die Geiseln mit Gewehren und Pistolen. Ein Mann in arabischer Kleidung filmte die Szene, ein anderer stellte den Zuschauern Fragen.

Plötzlich hielt er Torsten das Mikrophon vor die Nase. »Und was sagst du dazu?«

Zum Glück sprach er Arabisch, sodass Torsten ihn verstand. »Ein großer Sieg über die Ungläubigen!«, stieß er hervor und versuchte dabei den südarabischen Dialekt nachzuahmen, wie er im Jemen und in den angrenzenden Gebieten Saudi-Arabiens gesprochen wurde.

»Hast du nicht Angst, dass die Völker des Westens nach dieser Entführung einen neuen Krieg gegen die Gläubigen des Islam beginnen könnten?«, fragte der Reporter weiter. Wie es aussah, war er bei weitem nicht so begeistert wie die Menge um ihn herum.

Torsten schüttelte den Kopf. »Diese Hunde haben den Krieg längst begonnen. Doch mit Allahs Hilfe werden wir ihn siegreich beenden!«

Der Reporter starrte ihn kurz an und ging dann weiter, um den Nächsten zu interviewen.

Inzwischen befanden sich alle Gefangenen an Land. Torsten zählte achtzehn Personen, von denen er fünfzehn bereits aus dem Fernsehen oder aus Zeitungen kannte. Die drei männlichen Bundestagsabgeordneten gehörten dazu, ebenso ein paar Landespolitiker und einige hohe Tiere aus der Wirtschaft und dem Kulturleben. Obwohl sich bei der Gruppe auch fünf weibliche Geiseln befanden, fehlten zwei Frauen, die er unter ihnen erwartet hatte. Die eine war Evelyne Wide, eine in Deutschland recht bekannte Reporterin, mit der Petra bis vor kurzem noch Kontakt hatte halten können, und die andere Maggie Dometer, die wohl reichste Frau an Bord. Sein Jugendfreund Sven Kunath war ebenfalls nicht darunter. Aber der hatte den Höhepunkt seiner Karriere längst überschritten und wurde von den Piraten wohl als nicht wichtig genug eingestuft, um in ein gesondertes Gefängnis gesperrt zu werden.

Noch während sich seine Gedanken mit dem ehemaligen Fußballstar beschäftigten, folgte Torsten dem Zug der Gefangenen durch die Stadt. Da nahezu jeder Einwohner zuschauen wollte, wurde erbittert um die besten Plätze gerungen, und Torsten bekam etliche Stöße mit dem Ellbogen ab. Allerdings teilte er auch kräftig aus und konnte so in der Nähe der Wachen bleiben, die die Geiseln umringten wie Hütehunde ihre Schafe.

Manche bewarfen die Geiseln mit Steinen und Erdbrocken. Torsten sah einige der gefangenen Frauen weinen. Die Männer zogen die Köpfe ein und hoben die Hände vors Gesicht, um sich zu schützen.

Ein Kerl tat sich besonders hervor und feuerte einen Regen von Staub und Dreck auf die eingeschüchterten Deutschen ab. Torsten war nicht wenig erschrocken, als er Tamid erkannte, einen der beiden Isaaq, die ihn und Omar Schmitt hierher begleitet hatten. Gerade als Torsten sich fragte, ob der Kerl die Seite gewechselt hatte, stand dieser für den Bruchteil einer Sekunde vor ihm und zwinkerte ihm zu. Dann hüpfte er mit wahren Bocksprüngen um die Gefangenen herum und verspottete sie.

Die Wachen lachten über ihn und ließen ihn gewähren. Zuletzt tanzte er vor ihnen her und deklamierte ein altes Gedicht, in dem der Heldenmut der Somalis und ihre Bereitschaft gepriesen wurden, sich gegen alle Fremden zu behaupten.

Die Piraten brachten ihre Geiseln in eine leere Halle in der Nähe der Fischfabrik, deren Fenster nicht einmal für ein Kind groß genug waren, und ließen den Bewohnern von Laasqoray noch ein paar Minuten Zeit, die Gefangenen zu verspotten. Danach gaben sie Schüsse an die Decke ab und scheuchten die Leute wieder hinaus. Torsten sah noch, wie sie Tamid dazu zwangen, mehrere große Plastikeimer in die Halle zu bringen, in die die Gefangenen ihre Notdurft verrichten sollten, dann schloss sich das eiserne Tor, und er stand inmitten der aufgeputschten Menge auf der Straße.

DREIZEHN

 

Wagner sah so entschlossen aus, dass es Henriette in den Fingerspitzen kribbelte. »Wir haben jetzt das endgültige Okay bekommen«, sagte er. »Ab jetzt handeln Sie nach eigenem Ermessen. Geben Sie das auch an Renk durch, Frau Waitl. Danach machen Sie sich für den Einsatz fertig.«

Petra nickte unglücklich, stellte eine verschlüsselte E-Mail für Torsten zusammen und schickte sie ab.

Zweifelnd blickte sie zu Wagner auf. »Glauben Sie nicht, dass wir erst noch weitere Informationen sammeln sollten, bevor wir uns auf den Weg machen?«

»Den Rest können Sie sich an Bord der Lady besorgen. Jetzt haben wir keine Zeit mehr dafür. Jede Stunde, die wir vergeuden, kann den Tod von Geiseln bedeuten. Wir haben es hier nicht mit Hollywoodpiraten zu tun, sondern mit Banditen, die über Leichen gehen.«

Wagner war laut geworden. Dabei konnte er Petra gut verstehen. Immerhin war sie nie für einen Außeneinsatz ausgebildet worden. Aber sie war nun einmal die einzige Person, die an Bord der Lady etwas ausrichten konnte.

Henriette trat auf Petra zu und legte den rechten Arm um sie. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir und werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.«

»Außerdem sind Renk und Borchart in der Nähe und können euch im Notfall unterstützen«, erklärte Wagner in dem Bemühen, Petras Besorgnis zu zerstreuen.

»Ich habe keine Angst«, behauptete die Computerspezialistin alles andere als wahrheitsgemäß. »Aber ich bin noch nie mit einem Fallschirm abgesprungen – und dann auch noch ins Wasser! Ich kann zwar schwimmen, aber …«

»Kein Aber!«, unterbrach Wagner sie. »Sie schaffen das! Und jetzt machen Sie sich fertig. Die Maschine wartet bereits. Sie müssen spätestens um Mitternacht über der Absprungstelle sein. Sonst haben Sie nicht genug Zeit, an Bord zu gehen und sich ein Versteck zu suchen. Haben Sie sich die Pläne der Lady eingeprägt?«

Die beiden Frauen nickten. Vor allem Henriette hatte sich so intensiv mit dem Innenleben der Lady of the Sea beschäftigt, dass sie, wenn sie die Augen schloss, die Korridore und Kabinen des Schiffes vor sich sah. Dennoch steckte sie eine verschlüsselte SD-Card, deren Informationen sie für Aktionen auf dem Schiff benutzen wollte, mit den Plänen und anderen Informationen in ihren Brustbeutel.

»Wir machen das schon, Herr Wagner«, erklärte sie und warf Petra einen aufmunternden Blick zu. »Bist du so weit?«

Petra schaltete den Laptop ab und schob ihn in die Hülle. »Ich hoffe, dem Kasten passiert unterwegs nichts. Ich habe keinen Ersatz dabei. Wenn er im Meer versinkt …«

»Das wird er nicht«, beruhigte Henriette sie. »Außerdem habe ich mir ein kleines Notebook besorgt, in der Art, wie Torsten eins hat. Das Ding ist zwar nicht größer als ein Taschenbuch, kann aber über Satellit empfangen. Wenn Not am Mann ist, musst du eben damit auskommen.«

»Woher haben Sie das Gerät?«, fragte Wagner verblüfft.

Henriette sah ihn lächelnd an. »Von einem Luftwaffenpiloten, der diese Woche abgelöst wird. Wir haben unsere Ausbildung zusammen absolviert, und da konnte er die Bitte, mir dieses Ding zu überlassen, nicht abschlagen.«

»Die Kosten dafür stellen Sie dem Ministerium in Rechnung. Wir können schließlich nichts dafür, wenn unsere Ausrüstung nicht vollständig geliefert worden ist.« Wagner ärgerte sich, hatte er doch für die geplante Aktion etliche Klinken putzen müssen und dennoch nicht alles bekommen, was sie dringend benötigten.

»Auf geht’s«, sagte er und stapfte los. Henriette und Petra sahen sich kurz an, hoben ihre Ausrüstung auf und folgten ihrem Chef ins Freie.

Ein Geländewagen brachte sie zum Flugfeld, auf dem eine Do 228 NG für sie bereitstand. Zwei Soldaten halfen ihnen in das Flugzeug, wirkten aber ein wenig überrascht, als sie hörten, dass die zierliche Halbphilippinerin Henriette und die dickliche Petra mit dem Fallschirm abspringen würden, und nicht Wagner, dem der harte Brocken auf fünf Meilen gegen den Wind anzusehen war.

VIERZEHN

 

Die Maschine flog in mittlerer Höhe ostwärts. Zuerst sprach niemand ein Wort. Henriette und die beiden Soldaten überprüften noch einmal die Fallschirme und das Ausrüstungspaket. Nach einer Weile reichte einer den beiden Frauen je einen gefütterten, mit einer Gummihaut überzogenen Overall.

»Die werden Sie brauchen«, erklärte er. »Sie müssen aus größerer Höhe abspringen, und da ist es auch hier in Afrika saukalt. Die Dinger sind so gemacht, dass Sie damit schwimmen können.«

»Aber was ist, wenn das Schlauchboot weit von uns entfernt landet?«, fragte Petra mit dünner Stimme.

»Das kann nicht passieren. Der Packen mit dem Boot ist durch eine Leine mit Ihnen verbunden. Sie müssen nur aufpassen, dass Sie nicht schneller fallen als Ihr Gepäck. Sonst knallt das Ding Ihnen beim Landen auf den Kopf!« Der Mann grinste, als hätte er einen guten Witz erzählt, und half Petra in den um die Taille arg knapp sitzenden Overall hinein.

Henriette brauchte keine Hilfe. Sie zog die Gummisocken über die Schuhe, ebenso die wasserdichte Kappe und die Handschuhe. Dann folgte eine Schutzbrille, die auch als Taucherbrille verwendet werden konnte.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Beiden Frauen wurde ein Beutel mit der persönlichen Ausrüstung umgeschnallt. Dann folgten die beiden Fallschirme. Der große Hauptschirm kam auf Henriettes Rücken, während der Ersatzfallschirm auf Petras Brust befestigt wurde. Zuletzt wurden sie mit einfach zu lösenden Schnappverbindungen miteinander verbunden, und einer der Männer hakte die Leine des Ausrüstungspakets an Henriettes Gürtel fest.

»Das Ding hier«, sagte er und klopfte leicht auf den Packen, »hat zwei kleine Bremsfallschirme, die mit dieser Taste zu öffnen sind. Das Ganze geht per Funk, aber mit einem so schwachen Signal, dass selbst der misstrauischste Pirat auf der Lady nichts mitbekommt.«

»Wie kommen wir eigentlich in die Nähe des Schiffes? Wenn wir vom Wind abgetrieben werden …«

»Müssen Sie eben ein bisschen weiter paddeln«, unterbrach der Soldat sie lächelnd. Der Blick, mit dem er seinen Kameraden streifte, verriet jedoch, dass er sich fragte, wieso man zwei Frauen, von denen eine auch noch übergewichtig war und ungelenk wirkte, auf eine solch gefährliche Aktion schickte.

Henriette beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern konzentrierte sich auf den bevorstehenden Absprung. Es war nicht ihr erster, und sie hatte auch schon einige Tandemsprünge absolviert. Allerdings war sie noch nie in finsterer Nacht und mit Zusatzgepäck belastet gesprungen. In diesem Augenblick zweifelte auch sie daran, dass sie die Lady of the Sea erkennen und in deren Nähe landen konnten.

Wagners Rechte legte sich schwer auf ihre Schulter und ließ sie zusammenzucken. »Es ist bald so weit«, sagte er mit belegter Stimme. »Passen Sie gut auf sich und auf Frau Waitl auf. Ich würde euch beiden das Ganze nicht zumuten, wenn es nicht nötig wäre.«

»Keine Sorge, Herr Wagner. Wie sagt Torsten immer? ›Unkraut vergeht nicht!‹ Irgendwie werden wir die Sache schon schaukeln.« Henriette bemühte sich, optimistischer zu klingen, als sie sich fühlte.

In einem Anfall von Mutlosigkeit fragte sie sich, was Petra und sie gegen einen Haufen zu allem entschlossener Piraten ausrichten konnten. Selbst zusammen mit Torsten wären ihre Chancen verteufelt gering gewesen. Wahrscheinlich war dieser Einsatz nur eine Geste der Regierung, um hinterher sagen zu können: Wir haben alles getan, was wir konnten. Doch leider hatten wir keinen Erfolg …

Mit einer heftigen Bewegung des Kopfes schüttelte Henriette ihre Zweifel ab und sah Wagner an. »Gibt es eine Möglichkeit, die Position des Schiffes während des Sprungs auszumachen, oder müssen wir auf gut Glück runter?«

Statt ihres Chefs antwortete einer der beiden Soldaten. »Wir lassen Sie genau über der Stelle heraus, an der das Schiff zuletzt lokalisiert wurde, berechnen dabei die Windrichtung und die Windstärke mit ein. Passen Sie aber auf, dass Sie nicht auf dem Promenadendeck der Lady landen. Dort braten die Piraten, den Fotos der Aufklärungsdrohnen nach zu urteilen, ihre Hammel. Sie wollen sicher nicht mitgegrillt werden.«

Jetzt musste sogar Petra trotz ihrer Angst kichern. »So schnell will ich auch wieder nicht abnehmen. Aber …«

»Gleich geht’s los!« Der Mann öffnete eine Seitenluke, und sie blickten in eine samtweiche Schwärze hinaus, in der die Sterne wie winzige Glühwürmchen leuchteten. Als Henriette schräg nach unten sah, lag das Land wie eine diffuse, dunkle Masse schräg unter ihr, während das Meer eigenartig hell schimmerte. Wie sie die Lady of the Sea hier ausmachen sollte, entzog sich ihrer Kenntnis.

»Dort unten ist sie«, hörte sie einen der Soldaten sagen und folgte der Bewegung seiner Hand.

Mitten auf dem Meer war ein rötliches Glühen zu erkennen. Noch während Henriette sich fragte, was das zu bedeuten hatte, klopfte ihr der Mann auf die Schulter.

»Sie haben Glück! Unsere Freunde da unten feiern eine Deckparty mit Lagerfeuer. Das gibt Ihnen einen sicheren Anhaltspunkt. Und jetzt nehmen Sie Ihre Plätze ein. Sobald wir das Ausrüstungspaket abwerfen, müssen Sie springen. Sonst reißt das Ding Sie mit sich, und Sie kommen in Teufels Küche!«

»Keine Sorge«, sagte Henriette mit vor Aufregung heiserer Stimme. Während Petra und sie sich an den Rand der offenen Luke stellten, ließ sie den kleinen Lichtpunkt, der ihr Ziel darstellte, nicht aus den Augen.

»Jetzt!«

Henriette sah, wie der Mann den Packen aus dem Flugzeug warf, schob Petra vor sich her und sprang. Zunächst wirbelten sie durch die Luft und gerieten in Gefahr, sich in der Leine des Ausrüstungspakets zu verfangen. Mit äußerster Konzentration gelang es Henriette, ihren Fall zu stabilisieren. Während des Absprungs hatte sie das kleine Licht auf der Lady aus den Augen verloren und suchte jetzt wieder danach. Es dauerte eine Weile, dann entdeckte sie es und steuerte darauf zu.

Irgendwann hörte sie Petra etwas rufen, konnte sie aber nicht verstehen. Zu ihrer Erleichterung nahm ihre Kollegin die Haltung ein, die sie ihr gezeigt hatte, und zappelte nicht so herum wie einer der Männer, mit denen sie den Tandemsprung trainiert hatte.

Die Mahnung ihres ersten Flugausbilders kam ihr in den Sinn: Wenn du einen bestimmten Punkt anpeilen willst, musst du ihn genau im Auge behalten! Willst du aber in einem gewissen Abstand von etwas landen, darfst du nicht darauf starren. Du steuerst sonst gnadenlos darauf zu und verfehlst dein eigentliches Ziel.

Henriette zwang sich, das Feuer nur noch aus den Augenwinkeln heraus zu betrachten, und suchte nach der Stelle, an der sie wassern wollte. Doch das war nicht einfach. Die Klappe, durch die sie in die Lady eindringen wollten, lag am Heck. In dieser Dunkelheit vermochte sie nicht zu erkennen, wo Bug und Heck lagen. Sie konnte noch nicht einmal die Umrisse des Schiffes ausmachen. Wenn sie Pech hatten, landeten sie auf der entgegengesetzten Seite und mussten um das ganze Schiff herumpaddeln.

»Jetzt konzentrier dich!«, rief sie sich selbst zur Ordnung. Der Bug eines ankernden Schiffes zeigt meist auf Land zu, und dessen Küstensaum konnte sie erkennen.

Mit einem Fiepen in ihrem Ohr erinnerte der Höhenmesser sie daran, dass sie den Fallschirm öffnen musste. Henriette zählte bis fünf und zog die Reißleine. Aufatmend spürte sie, wie der Fallschirm sich öffnete und ihr Sturz nach einem kurzen, heftigen Ruck in ein sanftes Gleiten überging. Nun löste sie die beiden Bremsfallschirme ihres Ausrüstungspakets aus und richtete dann den Blick wieder auf die Stelle, an der sie landen wollte.

Die Meeresoberfläche kam rasch näher. Henriette hörte das Ausrüstungspaket aufs Wasser klatschen und steuerte ihren Fall so, dass sie nicht darauf landeten. Im nächsten Moment tauchten Petra und sie ins Wasser. Mit einer Bewegung löste sie die Verbindungen zwischen ihnen, hielt aber ihre Kollegin fest.

»Kannst du alleine schwimmen, oder muss ich dir helfen?«, fragte sie gerade so laut, wie sie es zu verantworten können glaubte.

Petra spuckte Wasser. »Wo ist das Boot?«

Henriette zupfte an der Leine, die sie mit der Ausrüstung verband, und schwamm auf sie zu. Ihre Kollegin folgte ihr planschend wie ein junger Welpe.

Als Henriette das Schlauchboot erreichte, kroch sie an Bord und hielt nach ihrer Freundin Ausschau.

»Da bin ich«, hörte sie Petra neben der wulstigen Bordwand keuchen. Sie streckte ihr die Hand entgegen und zerrte sie ins Boot. Danach fühlten sich beide so ausgelaugt, dass sie einige Minuten brauchten, um wieder zu Atem zu kommen.

Henriette raffte sich als Erste auf und begann, den Fallschirm ins Boot zu ziehen.

Da Petra sie nur als Schattenriss erkennen konnte, fragte sie immer noch heftig atmend: »Was machst du da?«

»Hilf mir! Dann geht es schneller.« Henriette hätte sich Licht gewünscht, doch das wäre zu gefährlich gewesen.

Ihre Kollegin schüttelte verwundert den Kopf. »Was willst du mit dem Fallschirm? Den können wir doch nicht mitnehmen.«

»Wir müssen!«, antwortete Henriette. »Oder willst du, dass er von der Strömung an Land geschwemmt wird und alle Piraten wissen, dass jemand heimlich und bei Nacht in dieser Gegend abgesprungen ist?«

»Natürlich nicht! Aber das heißt, wir müssen die gesamte Ausrüstung auf die Lady schaffen, einschließlich des Gummiboots.«

»So ist es! Ich habe mir auch schon ein Versteck für die Sachen ausgesucht. So, der Fallschirm ist geborgen! Jetzt können wir losfahren.« Henriette versuchte, das nasse Kunststofftuch, das nun fast das ganze Boot einnahm, so weit zur Seite zu schieben, dass sie den Elektroantrieb starten konnte. Da sie Petra dabei unter dem Fallschirm begrub, maulte diese ein wenig, hielt aber auf Henriettes scharfe Warnung hin den Mund.

Diese lauschte auf das leise Geräusch des Elektromotors und schaltete den Vorwärtsgang ein. Doch als sie auf die Lady zuhalten wollte, entdeckte sie das Schiff nicht. Erschrocken stoppte sie den Antrieb und sah sich um. Da war kein Lichtpunkt mehr zu sehen.

»Scheiße«, flüsterte sie und sah sich schon bis zum Morgen nach dem Kreuzfahrtschiff suchen.

»Was ist los?«, fragte Petra verwundert.

»Ich sehe die Lady nicht. Dabei hat das Feuer an Deck vorhin noch gebrannt«, antwortete Henriette. Im nächsten Moment schüttelte sie leise lachend den Kopf. »Bin ich blöd! Das Feuer war ja auf dem Promenadendeck. Von oben konnte man es gut sehen, aber jetzt wird es von den Aufbauten des Schiffes verdeckt. Trotzdem müsste es einen leichten Widerschein am Himmel erzeugen!«

Da sie nun wusste, wonach sie suchen musste, entdeckte sie das leichte Flimmern auf Anhieb und konnte nun auch die Umrisse des großen Schiffes gegen den nur leicht helleren Hintergrund des Meeres ausmachen.

Sie waren näher an der Lady, als Henriette erwartet hatte. Es mochten etwa sechshundert Meter sein, und sie zweifelte daran, dass sie tatsächlich unbemerkt geblieben waren. Mit der Vorstellung, dass die Piraten bereits auf dem Schiff in Stellung gingen, um sie abzufangen, schaltete sie den Antrieb an und drehte an dem kleinen Handrad, das aus Platzgründen anstelle einer Ruderpinne als Steuer diente.

Ein Flitzer war das Schlauchboot nicht gerade, doch der Elektromotor war kaum zu vernehmen. Auch die Schraube war so geformt, dass sie möglichst wenig Lärm machte. Es gelang Henriette, fast bis unter das Heck der Lady zu kommen. Dort schaltete sie den Antrieb ab und griff zum Paddel.

Als Petra das andere Paddel nehmen wollte, hielt sie sie auf und raunte ihr »Tu’s nicht!« ins Ohr. Sie durfte nicht riskieren, dass ihre unsportliche Freundin das Paddel zu stark ins Wasser klatschte.

Sie hatten noch etwa fünfzig Meter bis zu der Luke zurückzulegen, doch die Strömung stand gegen sie, und so wurde es für Henriette neben der körperlichen Anstrengung auch eine Nervenprobe, weil sie sich ihrem Ziel mit der Geschwindigkeit einer gemütlich kriechenden Schnecke näherten.

Endlich ragte der Rumpf der Lady of the Sea dicht vor ihnen auf. Petra öffnete den Beutel mit ihrer Ausrüstung und zog das kleine Funkgerät heraus, mit dem sie die Torverriegelung steuern konnte.

»Soll ich?«, wisperte sie Henriette zu.

»Ja«, kam es ebenso leise zurück.

Petra tastete mit dem Daumen nach dem Knopf und strahlte den vorprogrammierten Code ab.

Einige Sekunden lang tat sich über ihnen nichts, dann ertönte ein Geräusch, das an ein Schmatzen erinnerte, und etwa drei Meter über ihnen schwang ein etwa ein mal ein Meter großes Luk auf.

Jetzt kam der schwierigste Teil, nämlich ein Hakenseil so in der Luke zu befestigen, dass sie hinaufklettern konnten. Zwar hatte Henriette in Djibouti eine Zeit lang mit einem solchen Ding trainiert, doch als sie den Haken in die Hand nahm und ein entsprechend langes Stück Seil abmaß, hatte sie das Gefühl, alles wieder verlernt zu haben. Mit zusammengebissenen Zähnen schwang sie den Kunststoffhaken im Kreis und ließ ihn dann los. Er schoss fast gerade in die Höhe, neigte sich im Bogen über das Luk und schlug mit einem leichten Geräusch drinnen auf.

Henriette wartete einen Augenblick, um sicherzustellen, dass niemand auf sie aufmerksam geworden war. Schließlich zog sie an dem Seil und betete, dass der Haken irgendwo hängen blieb. Ein kaum hörbares Klacken ertönte, und das Seil straffte sich. Henriette amtete erleichtert auf, hielt aber sofort die Luft an, weil sie vor dem Geräusch erschrak. Dann befestigte sie das andere Ende des Seils am Boot, damit dieses nicht abtreiben konnte, und zog Petra so nahe an sich heran, dass ihr Mund deren Ohr berührte. »Ich gehe als Erste«, raunte sie.

Petra sah nach oben und schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich nicht. So hoch kann ich nicht klettern!«

»Keine Sorge, ich kriege dich schon nach oben.« Henriette suchte nach einer Leine, schlang sie Petra unter den Achseln durch und verknotete sie vor ihrer Brust. Das andere Ende befestigte sie an ihrem Gürtel. Erst als sie sich ihr Kampfmesser in den Stiefel schieben wollte, fiel ihr auf, dass sie und Petra noch immer die unförmigen Overalls trugen. Sie hier draußen auszuziehen erschien ihr jedoch zu riskant. Daher klemmte sie sich den Messergriff zwischen die Zähne und kletterte nach oben.

Nach ein paar kräftigen Armzügen hatte sie die Luke erreicht. Sie lauschte kurz und schwang sich, als sie nichts hörte, lautlos hinein. Innen war es so dunkel wie in einer Neumondnacht, doch als sie ihre Umgebung tastend erkundete, merkte sie rasch, dass sie sich in einer kleinen, höchstens zwei auf drei Meter großen Kammer befand. Was vor der massiven Tür los war, die diesen Raum versperrte, konnte sie nicht feststellen. Im schlimmsten Fall lag dort ein Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Piraten auf der Lauer, die nur darauf warteten, dass die Tür aufging. Henriette hoffte allerdings, es sei nur ein leerer Wartungsgang, der weiter vorne in einen der Maschinenräume mündete.

Ein Zupfen an dem Seil, das sie mit Petra verband, erinnerte sie an ihre Kollegin. Da sie ihr nicht zurufen konnte, dass sie sie jetzt hochziehen würde, zupfte sie ebenfalls kurz und begann, das Seil einzuholen. In den nächsten Minuten verfluchte sie jede einzelne Pizza, jeden Muffin und jeden Hamburger, die Petra in den letzten zehn Jahren verspeist hatte.

Diese versuchte zwar mitzuhelfen, aber für Henriettes Gefühl hing sie wie ein mit Sand gefüllter Sack am Seil. Zuletzt klammerte sich die Computerspezialistin erschöpft an den unteren Rand der Luke, ohne sich hochziehen zu können. Erst als Henriette sie unter den Armen packte und ein letztes Mal mit ganzer Kraft zog, rutschte sie ins Innere des Schiffes und blieb nach Luft ringend liegen.

»Versuch bitte, leiser zu atmen!«, flüsterte Henriette ihr zu. »Du hörst dich an wie ein blasender Wal.«

»Ich kündige – und zwar auf der Stelle«, stöhnte Petra.

»Abgelehnt! Komm jetzt, wir müssen unser Zeug hochziehen.« Henriette packte die andere Leine und holte das Paket mit der Ausrüstung herauf. Als sie den Fallschirm nach oben zog, kämpfte Petra sich mühsam auf die Beine und half mit. Zuletzt kam das Schlauchboot an die Reihe. Beide befürchteten schon, es könnte zu breit sein und sie würden die Luft herauslassen müssen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Piraten das Zischen hörten. Doch dann stellten sie fest, dass Wagner offenkundig auch daran gedacht hatte. Sie mussten das Boot nur leicht schräg stellen und dann in die Kammer ziehen. Nun wurde es schlagartig so eng, dass sie sich kaum noch rühren konnten.

Henriette wollte sich noch einmal bis zur Luke durchquetschen, um diese zu schließen, doch Petra hielt sie auf. »Das geht nicht mit der Hand! Ich muss den Mechanismus per Funksteuerung auslösen.« Bei diesen Worten drückte sie auf den Knopf, und die Luke schwang fast geräuschlos zu.

»Endlich«, stöhnte Henriette und lehnte das Schlauchboot so hoch an die Wand, dass es die Decke berührte. Auf diese Weise bekamen sie und Petra wieder etwas Luft. Dann holte sie die Taschenlampe aus dem Ausrüstungspaket und schaltete sie ein. Nun konnten sie die grau gestrichenen Wände und die niedrige Decke der kleinen Kammer erkennen.

Henriette fand einen Lichtschalter und streckte bereits die Hand danach aus, zog sie aber rasch wieder zurück. »Lieber nicht! Vielleicht wird dadurch auch das Licht auf dem Wartungsgang eingeschaltet. Wenn das die falschen Leute bemerken, könnte es für uns unangenehm werden.«

»Einen Moment!« Zitternd vor Anspannung holte Petra ihren Laptop aus dem Sicherheitsbeutel und klappte ihn auf. »Gleich werden wir sehen, ob das Ding den Fallschirmsprung überstanden hat«, flüsterte sie.

Nicht nur ihr fiel ein großer Stein vom Herzen, als der Bildschirm aufleuchtete und die Eingangsmaske erschien. Während Petras Finger über die Tasten flitzten, nahm Henriette eine Wasserflasche aus ihrem Gepäck, öffnete sie und trank.

»Haben wir auch Cola?«, fragte ihre Kollegin.

Henriette schüttelte den Kopf und reichte ihr die gut halbvolle Flasche. »Hier! Hoffentlich können wir uns bald Ersatz besorgen. Unsere Vorräte reichen nicht länger als zwei Tage.«

»Mit meinem Lappy finde ich alles auf diesem Schiff!« Da der Teil der Aktion, den Petra am meisten gefürchtet hatte, hinter ihnen lag, bekam sie Oberwasser. Kurz darauf drückte sie einen Knopf, und eine blau eingefärbte Lampe begann zu leuchten.

»Die ist nur für hier«, erklärte sie und stellte eine Satellitenverbindung zu Wagner her, um ihm mitzuteilen, dass sie glücklich an Bord der Lady gelangt waren.

FÜNFZEHN

 

Dietrich von Tarow blieb stehen und drehte sich zu Fahrner um. Im Licht der blau abgedunkelten Lampe auf seinem Helm konnte er seinen Untergebenen grinsen sehen.

»Bis jetzt haben die Kerle uns nicht entdeckt, Herr Major!«

Das war hauptsächlich ein Verdienst der Speziallampen, die extra für den Einsatz bei Nacht in Feindesnähe entwickelt worden waren. Deren Licht verlor sich schon nach wenigen Metern, sodass der Träger keine weithin sichtbare Zielscheibe für den Feind bildete. Zwar konnten sie selbst auch nur ihre nächste Umgebung wahrnehmen, doch das war allemal besser, als sich mühsam vorantasten zu müssen.

»Wie viele, meinen Sie, sind es?«, fragte Fahrner jetzt.

Mit verkniffener Miene blickte Dietrich zu den Ruinen des Ortes hinüber. Bevor Diya Baqi Majids Warsangeli-Milizen das Dorf Xiis überrannt hatten, war es von Isaaq bewohnt gewesen. Diese waren mittlerweile vertrieben oder umgebracht worden, die wenigen noch unzerstörten Häuser beherbergten einen Vorposten der feindlichen Milizen.

»Schwer zu sagen«, antwortete er. »Dafür müssen wir schon näher heran. Passen Sie aber auf, dass Sie auf keine Mine treten.«

»So nahe an ihrem eigenen Quartier haben die Kerle keine gelegt. Hatten wohl Angst, sie würden sich beim Pissen selbst hochjagen!«

»Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Ich hätte zumindest einzelne Minen ausgelegt.« Dietrich hoffte, dass sein Begleiter sich den Ratschlag zu Herzen nahm. Da hörte er dicht hinter sich ein Geräusch und schnellte herum. Gleichzeitig griff er zum Kampfmesser. Bevor er jedoch zustoßen konnte, sah er weiße Zähne blitzen, und dann tauchte im Schein seiner abgedunkelten Lampe Jamanahs unnatürlich blau schimmerndes Gesicht auf. Sie winkte ihm lächelnd zu. Ihn aber packte die Wut, und er hätte am liebsten ein Donnerwetter losgelassen.

»Bist du verrückt?«, fauchte er sie an. »Ich hatte schon mein Kampfmesser in der Hand. Hätte ich dich nicht rechtzeitig erkannt, hätte ich dich abgestochen!«

Für einen Augenblick verdüsterte sich ihre Miene, dann grinste sie erneut und zeigte mit einer Hand zu den Ruinen von Xiis hinüber. Die andere hielt sie ihm so vors Gesicht, dass drei Finger zu sehen waren.

Zunächst begriff Dietrich ihre Geste nicht, doch als sie mehrfach auf Xiis zeigte und »Warsangeli« flüsterte, dämmerte es ihm. »Willst du sagen, da drüben sind nur drei Männer?«

»Drei Männer!« Jamanah nickte heftig. So viel Deutsch hatte sie mittlerweile gelernt.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Dietrich.

Jamanah deutete auf sich, machte dann das Zeichen heimlichen Schleichens und legte dabei eine Hand ans Ohr und die andere über die Augen.

»Wenn es stimmt, ist das Mädchen recht brauchbar«, erklärte Fahrner, der ebenfalls auf den Trichter gekommen war.

»Sie ist vollkommen verrückt«, stöhnte Dietrich. »Die Kerle hätten sie entdecken und erschießen können. Oder einer von uns hätte sie umgebracht.«

»Ich glaube, Sie unterschätzen Jamanah, Herr Major. Die ist uns ganz ohne Lampe so dicht auf den Pelz gerückt, dass sie uns hätte abmurksen können. Ich hoffe, sie ist kein Prototyp der Freischärler da drüben. Sonst wird die Sache haarig werden. Aber was machen wir jetzt? Erledigen wir die Angelegenheit selbst, oder schicken wir die Somalis vor?«

Dietrich dachte nach. Sie waren nicht in diese Weltgegend gekommen, um sich in die internen Kämpfe einzumischen. Andererseits waren die Kerle drüben Verbündete der Piraten, die die Caroline und die Lady of the Sea gekapert hatten, und damit automatisch Feinde. Doch nicht allein das gab den Ausschlag.

»Wenn wir die Sache selbst erledigen, wissen wir, dass es richtig gemacht wird. Ich glaube nicht, dass Mahsins und Ikrums Leute eine ähnliche Ausbildung genossen haben wie wir!« Dietrich nickte seinem Untergebenen kurz zu und schaltete die Lampe auf seinem Helm aus, damit sie zwischen den Häusern nicht zu Zielscheiben wurden. Im Dorf mussten ihnen die Restlichtverstärker ihrer Nachtsichtbrillen genügen.

»Schade, dass wir sie nicht fragen können, wo sie die Burschen entdeckt hat«, sagte Fahrner, während er sein Kampfmesser halb aus der Scheide zog, um zu prüfen, ob es locker genug saß.

Als hätte Jamanah ihn verstanden, zeigte diese auf zwei Häuser am Rand von Xiis, die sich in einem besseren Zustand zu befinden schienen als der Rest. Mit Gesten deutete sie an, dass sich in dem einen zwei und in dem anderen ein Freischärler aufhielt.

»Sehr gut, Mädchen, danke!« Dietrich klopfte ihr auf die Schulter, und nur der Nacht war es zu verdanken, dass er nicht sehen konnte, wie sie bei seiner lobenden Geste errötete. Dann wandte er sich Fahrner zu und wies ihn an voranzugehen.

»Du bleibst hier und wartest auf uns«, erklärte er Jamanah mit Gesten, dann folgte er Fahrner, der in der Deckung eines Busches angehalten hatte und mit seiner MP die Umgebung sicherte.

SECHZEHN

 

Kurze Zeit später erreichten Fahrner und der Major das erste der beiden Häuser, auf die Jamanah gewiesen hatte, und verständigten sich kurz mit Gesten. Dietrich hielt es für das Beste, zuerst den einzelnen Freischärler auszuschalten, damit der Mann ihnen nicht in die Quere kam. Auf seinen Wink hin schlich Fahrner zur Tür und öffnete sie. Er vernahm ein leises Schnarchen, dann zeigte die Nachtsichtbrille ihm eine Gestalt, die zusammengerollt auf einer Matte schlief.

Fahrner zog sein Messer, schlich zu dem Mann und hielt ihm mit der freien Hand den Mund zu. Gleichzeitig stieß er ihm die Klinge zwischen die Rippen. Der andere starb, ohne noch einmal zu erwachen. Trotzdem wartete der Deutsche, bis er sicher sein konnte, dass der Freischärler tot war. Er verließ die Hütte und zeigte dem Major draußen den erhobenen Daumen.

»Erledigt«, flüsterte er und schlich zu der anderen Hütte. Als er das Ohr gegen die Tür legte, hörte er, dass die beiden Männer darin sich unterhielten.

»Das wird nicht so leicht«, meinte er leise zu Dietrich.

Der nickte und zog sein Kampfmesser. Bevor er etwas unternahm, überprüfte er, ob die Tür nach innen aufging. Denn dann hätten sie buchstäblich mit der Tür ins Haus fallen können. Doch zu seiner Enttäuschung ging sie nach außen auf, und so mussten sie sich etwas anderes ausdenken. Dietrich befahl Fahrner mit einer Handbewegung, ein wenig zurückzutreten, und klopfte leise gegen die Tür.

Sofort erstarb das Gespräch, und eine fragende Stimme klang auf. Dietrich klopfte erneut und begann zu stöhnen.

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Freischärler trat mit einem Sturmgewehr im Anschlag ins Freie. Dietrich stieß ihn Fahrner in die Arme und hechtete in die Hütte. Dabei prallte er gegen den anderen Freischärler und schlug ihm die Kalaschnikow aus der Hand. Gleichzeitig stieß er mit dem Messer zu und spürte, wie der andere erschlaffte.

»Brauchen Sie Hilfe, Herr Major?«, hörte er Fahrner fragen, der seinen Mann ebenfalls getötet hatte.

»Die Sache ist erledigt! Jetzt müssen wir nur noch General Mahsin Bescheid geben, dass seine Leute vorrücken können!«

Da sie den Vorposten eingenommen hatten, schaltete Dietrich seine Lampe wieder ein und sah sich um. Auf einem halbhohen Kupfertisch in der Ecke entdeckte er mehrere Papiere und nahm sie zur Hand. Die meisten waren mit arabischen Schriftzeichen, aber in somalischer Sprache beschrieben, die für ihn ein Buch mit sieben Siegeln war.

»Das müssen sich Ikrum und Mahsin ansehen«, erklärte er und deutete dann auf eine Art Landkarte, die von einem bestimmten Symbol förmlich übersät schien. Dietrich sah sie sich genauer an und reichte sie anschließend an Fahrner weiter.

»Nehmen Sie dasselbe an wie ich?«, fragte er.

Fahrner lachte hart auf. »Das ist der Plan, nach dem unsere Freunde ihre Minen gelegt haben. Dieses Stück hier haben wir bereits ausgeräuchert. Das sind gute Nachrichten für den General und seine Leute!« Er zeigte auf die Strecke von Mulaax nach Xiis und deutete dann auf das letzte Stück Weges nach Maydh. »Hier sind nur noch ein paar einzelne Minen verlegt. Wenn Mahsin will, kann er ohne weitere Verzögerung bis Maydh vorrücken.«

»Dann sollten wir uns beeilen«, sagte Dietrich und wollte die Karte wieder an sich nehmen. In dem Augenblick hörte er ein Geräusch. Er drehte sich um und blickte in die Mündung einer Maschinenpistole.

SIEBZEHN

 

Jamanah hatte sich fest vorgenommen, an dieser Stelle sitzen zu bleiben und zu warten, bis die Männer wieder zurückkehrten. Dieser Entschluss hielt jedoch keine drei Minuten. Dann wurde sie unruhig und ertappte sich dabei, wie sie sich langsam und immer wieder Deckung suchend auf das Dorf zuarbeitete. Irgendwann sah sie Dietrich und Fahrner als dunkle Umrisse neben der etwas helleren Wand einer Hütte stehen und verfolgte mit den Augen, wie Fahrner einen Freischärler, der zur Tür herauskam, lautlos tötete und Dietrich in die Hütte hineinhechtete. Auch er schien sein Opfer gefunden zu haben, denn es blieb alles ruhig, und kurz darauf hörte sie die beiden Deutschen miteinander reden.

Offenbar war alles gut gegangen. Jamanah atmete erleichtert auf und wollte wieder zu der Stelle zurückkehren, an der Dietrich sie zurückgelassen hatte. Da nahm sie eine Bewegung im Dorf wahr. Kurz darauf sah sie den Schatten eines Mannes vor der hellen Wand der Hütte auftauchen. Er schien zu lauschen, nahm dann seine Waffe von der Schulter und trat durch die offene Tür.

In dem Moment rannte Jamanah wie von der Sehne geschnellt los. Schießen durfte sie nicht, um nicht die in Maydh stationierten Feinde zu warnen. Daher zog sie ihren Krummdolch, verlangsamte kurz vor der Hütte ihre Schritte und bewegte sich nun so lautlos wie eine Maus.

Als sie die Tür erreicht hatte, sah sie den Rücken des Milizionärs direkt vor sich. Dieser stand breitbeinig vor den beiden Deutschen und hielt sie mit seiner MP in Schach. Dietrich sah dennoch so aus, als wolle er auf den anderen losgehen. Um zu verhindern, dass er einen Fehler beging, hob Jamanah kurz die rechte Hand, machte noch einen Schritt nach vorne und zog dem Freischärler ihren Dolch durch die Kehle.

Der Mann stand einen Augenblick still und versuchte noch, den Zeigefinger zu krümmen. Doch da war Dietrich bei ihm, entriss ihm die Waffe und stieß ihn gegen die Wand. Dort sank er in sich zusammen und blieb regungslos liegen.

Dietrich atmete auf und sah Jamanah lächelnd an. »Danke!«

Doch die junge Frau empfand nichts als Scham. Sie hatte den Deutschen erklärt, es befänden sich nur drei Feinde im Ort, dabei waren es vier gewesen. Mit dem Gefühl, Dietrich damit nicht nur in Gefahr gebracht, sondern auch schwer enttäuscht zu haben, setzte sie sich auf den Boden und fing an zu schluchzen. Gleichzeitig bat sie ihn stockend um Verzeihung.

»Was hat sie denn jetzt schon wieder?«, fragte Fahrner kopfschüttelnd.

»Ist es für dich leicht, einen Menschen zu töten?«, fuhr Dietrich ihn an.

Fahrner sah ihn verwundert an. »Aber der Kerl ist doch nicht der erste Freischärler, den sie umgelegt hat!«

»Bis jetzt hat sie wahrscheinlich noch keinen mit dem Messer töten müssen.« Ohne sich weiter um seinen Untergebenen zu kümmern, hob Dietrich den Dolch auf, den Jamanah fallen gelassen hatte, säuberte ihn und reichte ihn ihr. Dabei hielt er ihre Hände fest und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Du hast uns eben das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen!«

Obwohl Jamanah nicht verstand, was er sagte, erkannte sie, dass er nicht zornig auf sie war. Trotzdem entschuldigte sie sich wortreich und hörte erst auf, als er ihr sanft die Hand auf den Mund legte.

»Ist ja schon gut«, sagte er und suchte in seinen Taschen nach einem Schokoladenriegel.

»Ich habe noch einen«, erklärte Fahrner, als Dietrich keinen fand. »Allmählich sollte man uns Nachschub schicken. Mit was sollen wir sie sonst noch bezahlen?«

Er rief Jamanah ein »Gut gemacht« zu, reichte ihr den Schokoladenriegel und wandte sich zur Tür. »Nachdem die Kleine sich eben verzählt hat, schaue ich nach, ob noch so ein Bruder draußen rumläuft!«

Jamanah sah ihm nach, als er verschwand, und wandte sich an Dietrich. »Warum Kleine? Ich doch größer als er!«

»Das ist seine Art von Humor«, erklärte Dietrich und forderte sie auf, ihren Schokoladenriegel zu essen.

Kurz darauf kam Fahrner wieder herein. »Draußen ist alles in Ordnung«, sagte er und begann die Hütte, die drei Toten und die Leiche im Nebenhaus zu durchsuchen.

»Will mir nur ein kleines Souvenir mitnehmen«, erklärte er Dietrich, der ihn misstrauisch beäugte.

Dieser winkte ab und wandte sich an Jamanah. »Kannst du General Mahsin und Captain Ikrum hierherbringen?« Er begleitete seine Worte mit den entsprechenden Gesten und war erleichtert, als Jamanah eifrig nickte und dann eilig davonlief.

»Die hat einen Narren an Ihnen gefressen, Herr Major«, sagte Fahrner, während er den Besitz der Toten auf dem dreibeinigen Kupfertisch ausbreitete.

»Sie ist ein armes Ding, das keine Heimat mehr hat.« Dietrich zeigte auf die Sachen des Milizionärs, den sie getötet hatte. »Das solltest du für Jamanah übriglassen. Die Menschen hier haben einen eigenen Ehrenkodex, und sie wird das als ihre persönliche Beute ansehen.«

»Passen Sie auf, sonst werden Sie noch zu ihrer persönlichen Beute, Herr Major«, spottete Fahrner. Dann suchte er sich drei Kleinigkeiten aus und steckte sie in die Tasche. »Die lege ich zu Hause in eine Schublade und sehe sie mir gelegentlich an, um mich an diesen Einsatz zu erinnern.«

Dietrich ließ ihn machen und trat an die Tür. Stimmen und Geräusche verrieten ihm, dass General Mahsins Männer näher kamen. Kurz darauf entdeckte er Ikrum. Unbewusst hielt er Ausschau nach Jamanah und sah diese hinter Ikrums Vorhut gehen. Sie wirkte angespannt, als sie auf ihn zutrat und vor ihm niederkniete. Erneut redete sie auf ihn ein, und diesmal hatte Dietrich mit Captain Ikrum jemand, der ihm ihre Worte übersetzen konnte.

»Das Mädchen bittet Sie um Verzeihung, weil es nicht richtig aufgepasst hat und Sie dadurch in Gefahr geraten sind!«

Dietrich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr nichts zu verzeihen, außer dass ich nicht selbst aufgepasst habe. Jamanah hingegen hat ihren Fehler – wenn man es so sehen will – selbst bereinigt und den Mann getötet, den wir übersehen haben.«

Ikrum sah die Toten und fragte mit ungläubiger Miene: »Hat sie wirklich Messerarbeit geleistet?«

»Kalt wie ein Eisberg in der Antarktis, wenn Sie so etwas kennen«, erklärte Fahrner grinsend und erntete dafür einen spöttischen Blick des Somali.

»Ich habe drei Jahre in Ägypten studiert! Außerdem gibt es sogar hier in diesem Land Fernsehen. Television Somaliland sendet jeden Tag acht Stunden und berichtet dabei nicht nur über Stammeskriege, sondern auch über die Welt.«

Dietrich freute sich, dass Fahrners Überheblichkeit einen Dämpfer erhalten hatte, und reichte Ikrum den erbeuteten Minenplan. »Können Sie damit etwas anfangen?«

Der Captain richtete den Kegel seiner Taschenlampe auf die Karte und stieß einen überraschten Ruf aus. »Damit können wir noch heute Nacht ohne Probleme bis Maydh durchbrechen. Morgen früh werden wir die Stadt stürmen und Diya Baqi Majids Warsangeli zum Teufel jagen.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg!« An der Schlacht wollte Dietrich nicht teilnehmen, auch wenn Fahrner ein wenig enttäuscht wirkte. Doch auch sein Untergebener musste lernen, dass sie nur dann töten durften, wenn es keine andere Option gab. Sie hatten sich General Mahsin gegenüber verpflichtet, ihm den Weg bis Maydh zu öffnen, und das war geschehen. Nun lag es an den Isaaq, etwas aus dieser Möglichkeit zu machen.

»Ich muss weiter! Meine Leute haben noch zwei Minen zu beseitigen, aber die finden wir mit diesem Plan auch ohne Ihre Hilfe. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für die Unterstützung, die Sie uns geleistet haben.« Captain Ikrum berührte sein ausgewaschenes Barett mit zwei Fingern und schritt davon.

Fahrner schnallte seine Feldflasche ab und schüttelte sie, um zu sehen, wie viel noch darin war. »Ein kühles Bier wäre mir zwar lieber als diese lauwarme Brühe, aber man muss sich an das halten, was man hat«, meinte er und sah den abmarschierenden somaliländischen Soldaten nach. »Wenn die Brüder jetzt keinen Scheiß machen, kriegen die Piraten und ihre Freunde bald kräftig eins auf die Mütze!«

»Hoffentlich.« Dietrich atmete tief durch und beschloss, sich ein ruhiges Plätzchen zum Schlafen zu suchen.

Doch noch war Fahrner nicht fertig. »Wissen Sie, was mich wundert, Herr Major?«

»Nein, was?«

»Wir sind während unserer Flucht doch auch hier vorbeigekommen. Aber keiner der Freischärler hat auf uns geschossen!«

»Sie hatten wahrscheinlich Angst, es darauf ankommen zu lassen. Das Maschinengewehr hätte die Mauern der Hütten durchschlagen. Zudem dürften sie gehofft haben, dass sie uns leichter loswerden, wenn sie uns durch das Minenfeld fahren lassen.«

»Da haben wir ihnen wohl einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Selbst schuld, kann man da nur sagen. Aber jetzt sollten wir eine Mütze voll Schlaf nehmen, Herr Major. Wenn das Feuerwerk morgen früh beginnt, werden wir nicht mehr dazu kommen.«

»Gelegentlich haben sogar Sie Geistesblitze, Fahrner«, antwortete Dietrich lachend und begrüßte die anderen vier Soldaten seiner Kompanie, die ein wenig neidisch waren, weil sie ausgerechnet an diesem Teil der Aktion nicht hatten teilnehmen können.

»Was tun wir, wenn Maydh eingenommen worden ist, Herr Major?«, fragte einer.

Dietrich zuckte mit den Achseln. »Dann werden wir wahrscheinlich nach Berbera fahren und auf ein Taxi warten, das uns abholt. Oder seid ihr so scharf darauf, bei Mahsins Truppen zu bleiben?«

»Wir denken an unsere Kameraden in Laasqoray, Herr Major, und würden dieses Land ungern ohne sie verlassen.« Fahrner sprach damit das Problem an, das auch Dietrich beschäftigte. Allerdings wusste der Major, dass zwischen Maydh und Laasqoray fast einhundert Kilometer auf einer schlechten Straße lagen, die zumindest teilweise vermint war. General Mahsin würde nur dann auf Laasqoray vorrücken, wenn es ihm gelang, seine Flanke gegen das Gebirge zu schützen, insbesondere gegen die Warsangeli-Milizen, die oben in Cheerigaabo lagen und ihm jederzeit in den Rücken fallen konnten.

Über all das wollte Dietrich in dieser Nacht nicht mehr nachdenken. Er nahm sich eine der Decken, die in der Hütte lagen, suchte sich einen Platz an einer Hauswand und rollte sich dort zusammen. Bereits im Halbschlaf, merkte er, dass irgendetwas gegen seine Füße stieß, öffnete noch einmal die Augen und sah Jamanah, die sich dort in eine Decke wickelte. Es freute ihn, dass sie ihm so vertraute, und mit diesem Gedanken schlief er ein.

ACHTZEHN

 

Als Torsten Renk in sein Hotelzimmer zurückkehrte, tanzten die Leute noch immer auf den Straßen von Laasqoray. Da Omar Schmitt immer noch nicht zurückgekehrt war, setzte er sich mit dem Rücken zur Wand auf das Bett und dachte nach. Leicht würde es nicht werden, an diesem Ort etwas zu unternehmen. Wenn er versuchte, die in der Stadt eingesperrten Geiseln zu befreien, würden die Piraten sich an ihren Gefangenen auf der Lady vergreifen. Genauso aber hatte jeder Versuch, das Schiff zurückzuholen, fatale Auswirkungen auf die Gefangenen in Laasqoray.

Nicht zuletzt dieses Dilemmas wegen hoffte Torsten darauf, dass die Verhandlungen der deutschen Regierung und der Reederei mit den Piraten erfolgreich verlaufen würden. Doch wenn dies nicht der Fall war, musste er eingreifen, auch wenn die Folgen nicht absehbar waren.

Ein Geräusch an der Tür schreckte ihn auf. Gleich darauf trommelte jemand im Takt dagegen. Torsten musste grinsen, als er die Melodie von »Hänschen klein« erkannte.

»Sie können hereinkommen!«, rief er, nahm aber sicherheitshalber die Sphinx AT2000 zur Hand.

Omar Schmitt trat hastig ein und schloss die Tür hinter sich. »Das war ein erfolgreicher Abend, meinen Sie nicht auch?«

»Etwas leiser!«, warnte Torsten ihn und wies mit der Hand zu der Truhe, die das Mikro der Abhöranlage verbarg.

»Entschuldigung! Aber ich hatte mich zu sehr darüber gefreut, dass wir erfahren konnten, wo die prominenten Geiseln hingebracht worden sind. Außerdem ist es Tamid gelungen, sich bei den Bewachern lieb Kind zu machen. Sie haben ihn als Faktotum behalten. Auf diese Weise hat er sowohl Kontakt zu den Piraten wie zu den Geiseln.«

»Die werden ihm nach dem Tanz, den er vor ihnen aufgeführt hat, sicher nicht vertrauen«, wandte Torsten ein.

»Sollen sie auch nicht, sonst würden sie Tamid gefährden. Aber da er etwas Deutsch versteht, kann er sie belauschen. Wichtiger ist allerdings, dass er mitbekommt, was sich die Piraten erzählen.«

»Ich hoffe, Tamid enttäuscht Sie nicht.« Torsten hatte den hasserfüllten Auftritt des jungen Mannes nicht vergessen.

»Ganz gewiss nicht«, antwortete Omar lächelnd. »Tamid ist mein bester Mann! Doch das darf Al Huseyin nicht hören. Der ist einfach zu sehr Soldat, um andere Rollen spielen zu können. Tamid aber kann in viele Masken schlüpfen.«

»Okay! Jetzt werde ich kurz mit Petra Kontakt aufnehmen und meine Kollegin fragen, was es Neues gibt. Hoffentlich jammert sie mir nicht wieder die Ohren voll, wie entsetzlich heiß es in Djibouti ist und wie schlecht das Essen! Danach sollten wir das Tuch wieder vom Mikrophon wegnehmen und uns über ein paar belanglose Dinge unterhalten, damit die Lauscher an der Wand auch auf ihre Kosten kommen.« Torsten holte den Beutel mit dem Notebook unter seiner Kleidung hervor und zog das Gerät heraus. Als die Verbindung stand, kniff er verwundert die Augen zusammen.

Petra kauerte dicht neben Henriette auf einem kunststoffbeschichteten Fußboden zwischen einem großen Paket und einem aufgeblasenen Schlauchboot. »Grüß dich, großer Krieger«, begann sie, bevor er ein Wort sagen konnte.

»Hi, Petra! Wohin hat es dich denn verschlagen?«, fragte Torsten erstaunt.

»Das errätst du nie!« Nach diesen Worten hob Petra ihren Laptop, sodass ihr Gesicht aus dem Bildschirm wanderte und eine Art Plakette oder Aufkleber darauf erschien.

Torsten hielt den Atem an, als er die Aufschrift Lady of the Sea las. »Wie kommt ihr dahin?«

»Das war eine äußerst unangenehme Angelegenheit. Deswegen bin ich auch nur noch pro forma beim Team. Innerlich habe ich schon gekündigt!«

Da Torsten nichts auf das Gejammer seiner Kollegin gab, fragte er, ob sie sonst noch etwas Neues wüsste.

Petra nickte. »Hans ist auf dem Weg zu dir, um dir ein paar Sachen zu bringen. Henriette und ich werden uns, wenn wir uns wieder erholt haben, hier ein wenig umschauen und dann zusehen, welche Maulwurfsarbeit wir leisten können. Deswegen sollten wir in der nächsten Zeit auch enger in Kontakt bleiben als bisher. Es kann sein, dass sich hier auf dem Schiff kurzfristig etwas tut, und dann bist du gefragt.«

»Gern! Mir wird allmählich langweilig.« Torsten brachte es so trocken hervor, dass Petra zu kichern begann.

»Die Langeweile wird dir bald vergehen. Wir haben grünes Licht für jegliche Aktion bekommen. Selbst wenn wir die halbe Stadt da drüben abfackeln, um die Gefangenen zu befreien, ist das von oben gedeckt. Ich überspiele dir jetzt die neuesten Daten auf deinen Laptop, und dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Wir haben noch viel zu tun.«

Petra drückte einige Tasten, und nach kurzer Zeit erschien auf Torstens Gerät die Nachricht, dass Daten empfangen worden wären.

»Also dann, Superheld! Mach’s gut!«, verabschiedete sie sich und schaltete die Verbindung ab, bevor er eine passende Antwort geben konnte.

Stattdessen zupfte Omar Schmitt ihn am Ärmel. »War das eben nicht zu gefährlich, so offen zu senden? Die Piraten sind verdammt gut ausgerüstet, und sie haben ausländische Helfer.«

»Die Dinger hier laufen über Satellit. Das Programm dafür und die Verschlüsselung hat Petra höchstpersönlich erstellt. Wenn jemand dahinterkommen will, muss er ein Genie sein.«

Noch während er es sagte, rief Torsten die erste Datei auf und geriet in ein Interview der Bundeskanzlerin, die an die Entführer der Lady of the Sea appellierte, die Geiseln und das Schiff freizugeben.

»Damit wird sie nichts bewirken«, kritisierte Omar den Auftritt. »Die Piraten werden es als Schwäche ansehen und noch unverschämter werden. Diese Schurken erkennen nur eines an, und das ist nackte Gewalt.«

»Ich habe aber keine Lust, mich auszuziehen«, konterte Torsten.

Omar sah ihn zuerst irritiert an und begann dann zu lachen. »Sie möchte ich wahrlich nicht zum Feind haben, Renk.«

»Ich mich auch nicht! Aber etwas ganz anderes: Reden Sie im Schlaf?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Omar.

»Sehr gut! Dann kann ich das Abhörmikro wieder freilegen, damit die Kerle, wenn sie ein Ohr auf uns haben, unser Schnarchen hören können.«

Während Torsten das vor das Mikro gestopfte Handtuch entfernte, galten seine Gedanken mehr Henriette und Petra als seiner Situation, und er fragte sich, was die beiden auf der Lady of the Sea erreichen wollten.