6. KAPITEL
In den folgenden Tagen und Wochen stellte sich heraus, dass Carins Befürchtungen, Sean könnte erneut versuchen, sie zu verführen, unbegründet waren. Er erwies sich als perfekter Gentleman. Liz schaute häufig vorbei, und Carin und Sean gingen dann meist auswärts essen oder machten lange Spaziergänge, um das Liebespaar allein zu lassen.
Das Cottage war tatsächlich völlig ausgebrannt, doch glücklicherweise waren die einzigen persönlichen Dinge, die Sean durch den Brand verloren hatte, nur Kleidungsstücke. Nach sorgfältigen Untersuchungen hatte man festgestellt, dass ein Funke, der vom vermutlich noch leicht glimmenden Feuer im Kamin übergesprungen war, den Brand verursacht haben musste.
Was Sean betraf, so schien er keine Eile mehr zu haben, Carin zu verführen. Stattdessen zog er es vor, ihre nur allzu verräterischen Reaktionen auf seine Zärtlichkeiten zu genießen. Dieses Spiel schien ihm immer wieder Spaß zu machen.
Eines Abends gelang es Liz, John zu einer Fahrt mit dem Wagen zu überreden. Anfangs zögerte er, doch als Liz ihm versicherte, sie habe schon seit Jahren den Führerschein und noch nie einen Unfall gehabt, willigte er schließlich ein.
“Na, also”, meinte Sean, nachdem die beiden gegangen waren. “Das ist das Beste, was er machen konnte. John hat sich schon viel zu lange hier im Haus verkrochen.”
Carins Bruder hatte es mit Hilfe seiner Krücken zwar geschafft, auch im Hof umherzugehen, doch auf dem unebenen Boden war dies äußerst schwierig, sodass er tatsächlich einmal gestürzt war. Glücklicherweise hatte er sich dabei nicht verletzt, aber die Lust, draußen herumzuhumpeln, war ihm von da an gründlich vergangen.
An diesem Abend war Carin zum ersten Mal mit Sean allein im Haus. “Vielleicht sollten wir auch ausgehen?”, schlug sie zaghaft vor.
“Das halte ich für keine gute Idee.” Sean lächelte breit, jedoch ohne Humor. “Du hast Angst, mit mir allein zu sein, nicht wahr? Aber da wir uns beide voneinander angezogen fühlen, ist das ziemlich albern, findest du nicht?”
“Nein, das finde ich nicht!”, erwiderte Carin barsch. “In der Nacht, als dein Cottage brannte, habe ich eben den Kopf verloren, das gebe ich zu. Aber das war das erste und das letzte Mal, dass mir so etwas passierte. Ich lasse mich nicht benutzen.”
Sean wurde plötzlich ernst. “Du glaubst wohl, Josies Untreue hätte meinen Charakter verdorben?” Er atmete tief durch. “Ich glaube, ich sollte dir die ganze Geschichte erzählen. Vielleicht kannst du mich dann besser verstehen.”
Carin sah überrascht auf. “Was gibt es denn noch zu erzählen?”
Er ging vom Fenster weg und setzte sich auf einen Stuhl. “Wir hatten eine Schwester, Bruce und ich”, begann er. “Wusstest du das?”
“Nein, du hast sie nie zuvor erwähnt.”
“Aus gutem Grund”, erwiderte Sean bitter. “Sie war eine Schande für die Familie.” Als Carin ihn verständnislos ansah, fügte er schnell hinzu: “Nicht für mich, niemals. Ich habe sie sehr geliebt. Aber meine Mutter schämte sich ihretwegen. Und das tat mir am meisten weh. Kannst du dir das vorstellen? Eine Mutter, die von ihrem eigenen Kind nichts wissen will?”
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: “Oh ja, meine Mutter konnte es nicht verwinden, dass sie ein Kind auf die Welt gebracht hatte, das geistig behindert war. Sie liebte nur das Schöne, und alles um sie herum musste perfekt sein. Sie war selbst eine schöne Frau. Als Emily dann schließlich kein Baby mehr war, man sich aber immer noch ständig um sie kümmern musste, wollte meine Mutter sie in ein Heim geben. Mein Vater wollte davon nichts wissen, und so mussten wir drei uns um Emily kümmern.”
“Heißt das, deine Mutter hat ihr eigenes Kind verstoßen?”, fragte Carin erschüttert.
Sean nickte und presste verbittert die Lippen zusammen. “Im Laufe der Jahre ging meine Mutter immer öfter aus, bis sie sich schließlich fast überhaupt nicht mehr zu Hause blicken ließ. Zuerst wusste ich nicht, dass sie sich mit anderen Männern traf. Als ich es dann erfuhr, dachte ich, mich trifft der Schlag.”
“Oh Sean.” Carin wusste nicht, was sie sagen sollte.
“Ich brauche dein Mitleid nicht”, entgegnete Sean jedoch scharf.
“Was ist dann mit deiner Schwester geschehen?”, fragte Carin sanft.
“Als Bruce älter wurde, konnte er die ständigen Spannungen zwischen unseren Eltern nicht länger ertragen und zog aus. Kurz darauf wurden meine Eltern geschieden, und mein Vater und ich mussten allein für Emily sorgen. Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob es richtig war, Emily zu Hause zu behalten. Mein Vater gab seine Arbeit ganz für sie auf, und ich ging ihretwegen am Abend oder an den Wochenenden kaum noch aus. Aber Vater verkraftete das alles nicht. Eines Tages kam ich nach Hause … und er war tot. Die Belastung war zu groß gewesen, er hatte einen Herzanfall erlitten.”
Carin schlug entsetzt eine Hand vor den Mund.
“Als Bruce zur Beerdigung kam, brachte er ein Mädchen mit. Er sagte, er wolle sie heiraten. Es war Stephanie. Eine Frau wie sie war mir noch nie zuvor begegnet. Sie kümmerte sich rührend um Emily. Sie tat wirklich all das, was meine Mutter hätte tun sollen.”
Sean hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach. “Die beiden blieben ein paar Tage bei uns, und als ich sah, wie liebevoll Stephanie mit Emily umging, wünschte ich mir sehnlichst, eine Frau wie sie zu finden. Eine Frau, die meine Schwester so akzeptieren könnte, wie ich es tat, und die mir helfen würde, sie zu betreuen. Dass Bruce wieder zurückkommen würde, war ausgeschlossen. Er hatte sich sein eigenes Leben aufgebaut, hatte seine Arbeit und seine Freunde, und es wäre nicht fair gewesen, von ihm zu verlangen, dass er das alles Emilys wegen aufgibt.”
Carin konnte nun gut verstehen, warum Sean Stephanie so sehr bewunderte. Sie war eine warmherzige, liebevolle und verantwortungsbewusste Frau, und er hätte sie bestimmt gebeten, seine Frau zu werden, wenn sie nicht schon Bruces Freundin gewesen wäre. Nicht nur Emilys wegen, nein, er hätte sich sicherlich in Stephanie verliebt.
“Als sie schließlich fort waren”, fuhr Sean fort, “stellte ich fest, dass ich mich unmöglich ganz allein und ohne fremde Hilfe um Emily kümmern konnte. Aber jemanden zu finden, der bereit war, ihr die Liebe zu geben, die sie brauchte, war alles andere als leicht. Die Leute, die ich danach einstellte, kümmerten sich lediglich um Emilys physische Belange. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, und war mit den Nerven völlig am Ende. Schließlich musste ich mich um meine eigene Firma kümmern, eine Druckerei, die besser lief, als ich erwartet hatte. Um aber auf Dauer erfolgreich zu sein, musste ich viel Zeit in meine Arbeit investieren, und die fehlte mir dann bei Emily. Meine Situation schien ausweglos – bis ich Josie traf.”
Carin merkte Sean an, wie sehr die Erinnerungen ihn immer noch quälten. Sie wollte ihm sagen, dass er nicht weiterzusprechen brauchte, gleichzeitig aber bedeutete es ihr alles, die ganze Geschichte zu hören.
“Josie schien genau das zu sein, wonach ich mich gesehnt hatte”, sagte Sean, und ein verächtlicher Unterton schwang in seiner Stimme mit. “Sie war Stephanie sehr ähnlich, zumindest am Anfang. Josie liebte mich, war nett zu meiner Schwester, und ich liebte sie. Ich hätte nie ein Mädchen geheiratet, nur um eine Betreuung für Emily zu haben, nein – ich liebte Josie wirklich. Aber sobald wir verheiratet waren, änderte sie sich plötzlich.”
In Seans Augen lag ein gequälter Ausdruck, während er weitersprach: “Josie weigerte sich, in meinem Haus zu wohnen. Sie sagte, sie brauche ein anderes, ein neues Zuhause. Außerdem wollte sie nicht, dass Emily bei uns lebte. Wir hatten viel Streit deswegen, aber da ich Josie liebte, gab ich schließlich nach, und Emily kam in ein Heim. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich darunter litt, sie abgeschoben zu haben. Ich besuchte sie jeden Tag nach der Arbeit, sogar an den Wochenenden. Aber meine Ehe zerbrach daran. Josie warf mir vor, Emily mehr zu lieben als sie selbst, und bald kamen mir Gerüchte zu Ohren, dass sie sich mit anderen Männern traf. Als ich sie daraufhin zur Rede stellte, gab sie alles zu, versprach aber, es in Zukunft sein zu lassen. Josie meinte, sie liebe mich wirklich, sie habe sich nur vernachlässigt gefühlt, weil ich zu wenig Zeit für sie gehabt hätte.”
Es ist wieder einmal die alte Geschichte, dachte Carin betroffen, nur dass nicht übertriebener Arbeitseifer Sean von zu Hause ferngehalten hat, sondern die Liebe zu seiner Schwester. Hätte Josie diese Liebe teilen können, wäre alles anders gewesen.
“Doch sie änderte sich nicht”, fuhr Sean fort. “Sie traf sich weiterhin mit anderen Männern – so wie meine Mutter!” Ein wilder, zorniger Ausdruck verzerrte sein Gesicht. “Wir hatten dauernd Streit, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich sie hinauswarf. Danach reichte ich sofort die Scheidung ein. Wenn Josie nur mehr Verständnis für meine Lage gehabt hätte. Ich habe sie wirklich geliebt, aber sie hat mit ihrer Gefühlskälte Emily gegenüber alles zunichte gemacht. Am Ende war ich der Einzige, der sich noch um Emily kümmerte. Bruce besuchte sie zwar, aber nicht sehr häufig, und ich brachte es nicht übers Herz, sie in diesem Heim sitzenzulassen in dem Glauben, dass niemand sie mehr lieben würde.”
Carin traten Tränen in die Augen. Wie hatte sie sich so in Sean täuschen können? Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass er zu so tiefen Gefühlen fähig war.
“Meine Schwester starb kurz nach der Scheidung.” Seans Blick fiel ins Leere, während er weitersprach. “Josie kam nicht zur Beerdigung, sie schickte nicht mal eine Beileidskarte. Den Rest kennst du ja. Ich kam nach Emilys Tod hierher, weil ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Ich musste endlich Ruhe finden, um mit all dem, was geschehen war, fertig zu werden und um mit mir selbst wieder ins Reine zu kommen.”
“Das habe ich alles nicht gewusst”, sagte Carin leise. Ihr war klar, dass sie Sean nicht trösten konnte.
“Ich hoffe, du verstehst jetzt, warum ich keine Lust mehr habe, mich je wieder an eine Frau zu binden.”
Carin schwieg betroffen. Sean hatte zweifellos ein schweres Schicksal erlitten, und sie konnte gut nachempfinden, dass er nun misstrauisch und verbittert war. Aber würde die Zeit nicht seine Wunden heilen?
“Nicht alle Frauen sind wie Josie”, sagte sie schließlich. “Das siehst du doch an Stephanie.”
“Aber die meisten”, erwiderte Sean scharf. “Ich will es auch gar nicht mehr ausprobieren. Und jetzt Schluss damit. Wo waren wir vorhin eigentlich stehen geblieben? Dass wir uns zueinander hingezogen fühlen?”
“Das hast du gesagt, nicht ich. Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, mich auf eine Affäre mit dir einzulassen. Eines Tages, auch wenn du jetzt anders denkst, wirst du wieder eine Frau finden, die du liebst und die dich nicht im Stich lassen wird. Und wenn du bis dahin ein paar Abenteuer brauchst, dann ist das dein gutes Recht, aber mich lass dabei bitte aus dem Spiel. Der Mann, mit dem ich schlafe, wird auch der Mann sein, den ich heirate. So einfach ist das.”
“Klingt ganz so, als meintest du das ernst.”
“Bitterernst”, bestätigte Carin und fragte sich insgeheim, wie das Schicksal ihr nur einen derartigen Streich spielen konnte, dass sie sich ausgerechnet in einen Mann verliebt hatte, der von Liebe und Ehe nichts mehr wissen wollte.
Sean lächelte sanft. “Mal sehen, ob ich dich nicht umstimmen kann.”
Ein erregendes Prickeln durchrieselte Carin. Es war so leicht für Sean. Er brauchte sie nur zu küssen, und ihr Widerstand würde in seinen Armen dahinschmelzen. Mühevoll zwang sie sich, kühl zu bleiben.
“Ich wusste, dass es ein Fehler von John war, dich bei uns wohnen zu lassen. Er hat keine Ahnung, wie du mich von Anfang an bedrängst.”
“Oh nein, meine liebe Carin. Ich glaube, du verdrehst da was. Du warst diejenige, die hinter mir her war. Oder hast du das vergessen?”
“Mein Interesse hatte nichts mit Sex zu tun, und daran hat sich nichts geändert. Wenn du nur meinen Körper willst, dann vergiss es. Ich werde uns was kochen, oder wir können auch auswärts essen, das ist mir gleich. Oder du gehst allein aus – das wäre sogar noch besser. Dann könnte ich den Abend wenigstens richtig genießen.”
Sean grinste jungenhaft. “Weißt du was? Ich glaube, du hast einfach Angst. Du fühlst und willst viel mehr, als du zugibst. In letzter Zeit habe ich dich oft beobachtet, Carin. Du willst mich, so wie ich dich will. Nur dein Gewissen hält dich noch davon ab, mit mir endlich ins Bett zu gehen.”
Carin schüttelte energisch den Kopf. “Das ist nicht wahr. Ich gebe zu, ich stehe Männern genauso misstrauisch gegenüber wie du Frauen, und im Moment habe ich auch nicht die Absicht zu heiraten. Das heißt aber nicht, dass das immer so sein wird. Aber im Gegensatz zu dir brauche ich keine sexuelle Erfüllung. Ich bin mit meinem Leben zufrieden, so wie es jetzt ist. Die Arbeit bei John macht mir Spaß. Erst als ich hierher kam, wurde mir bewusst, wie sehr ich das Leben auf dem Land vermisste.”
“Das sind doch nur Ausreden, Carin.” Sean war aufgestanden und kam nun auf sie zu. Dann beugte er sich über sie und stützte die Hände auf ihre Stuhllehne. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt.
Carins Herz klopfte wild, und unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen.
Sean deutete diese harmlose Geste wohl als Aufforderung, denn im nächsten Moment neigte er den Kopf und presste die Lippen auf ihren Mund.
Sofort überkam Carin das heiße Verlangen, Sean die Arme um den Nacken zu legen und sich den Wonnen der Leidenschaft hinzugeben. Doch sie musste der Versuchung widerstehen. So blieb sie stocksteif, selbst als Sean mit der Zunge sanft die Konturen ihrer Lippen nachzog.
Sean lachte spöttisch auf. “Du kannst dich verstellen, wie du willst, Carin, mir machst du nichts vor. Aber keine Sorge, der Abend ist noch lang, und ich kann warten.”
Er richtete sich auf und sah Carin eindringlich in die Augen. Sie hatte das Gefühl, als könne er ihr bis auf den Grund des Herzens sehen.
“Mein Magen sagt mir allerdings, dass er wieder Nachschub braucht”, fügte er heiter hinzu. “Was hältst du davon, wenn ich uns etwas zu essen mache?”
“Keine schlechte Idee.” Carin hoffte, Sean wenigstens so für eine Weile zu entkommen.
“Und du kannst mir Gesellschaft leisten. Wir genehmigen uns einen guten Wein, und während ich koche, erzählst du mir, was du in London so alles erlebt hast.”
Das hat mir gerade noch gefehlt, ärgerte sich Carin und überlegte krampfhaft, wie sie sich herausreden sollte. “Aber ich muss unbedingt duschen und mich umziehen”, entschuldigte sie sich nicht gerade sehr geistreich.
“Das dauert höchstens zehn Minuten, und wenn du dann nicht kommst, werde ich dich holen, mein Schatz.” Sean lächelte Carin jungenhaft an, und in dem Moment wusste sie, dass er seine Drohung wahr machen würde.
“Ich bin gleich wieder zurück”, sagte sie und warf ihm einen bösen Blick zu.
Unter der Dusche zerbrach sich Carin den Kopf über ihre verzwickte Lage. Wäre John doch nur nicht ausgegangen. “Du und Sean, ihr seid das ideale Paar”, pflegte er ständig zu sagen. Er hat ja keine Ahnung, wie Sean mich behandelt, dachte sie. Er weiß nicht, dass dieser Mann nur eines im Sinn hat, nämlich Sex.
Trotz des angenehm warmen Wassers konnte Carin sich nicht entspannen. John hat wohl vergessen, dass Sean sich nie wieder an eine Frau binden will, grübelte sie weiter. Oder er versucht einfach, mich zu verkuppeln, weil er mich loswerden will. Er hat jetzt ja Liz. Natürlich! Das war es! Plötzlich schien Carin ein Licht aufzugehen. Der Gedanke, dass ihre Vermutung richtig sein könnte, versetzte sie regelrecht in Panik. Hastig drehte sie das Wasser ab und wickelte sich in ein großes Handtuch. Sie war hierher gekommen, um mindestens ein paar Jahre auf der Farm zu bleiben, und nun, fast über Nacht, war alles anders geworden.
Carin zog ein mintgrünes Baumwollkleid an und fuhr dann mit der Bürste durch ihr langes blondes Haar, bis es seidig glänzte. Sie trug nur selten Make-up, und wenn, dann höchstens Mascara, einen Hauch von Lidschatten und ein zartes Rot auf den Lippen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, überlegte sie, ob sie sich wohl etwas schminken sollte. Doch das war gar nicht nötig. Ihre Augen strahlten, ihr Teint sah rosig frisch aus, und die Wangen waren vor Aufregung ganz leicht gerötet.
Aus der Küche strömte ein verlockender Duft. Sean hatte in der Zwischenzeit Lammkoteletts gegrillt und frisches Gemüse zubereitet. Als Carin die Küche betrat, ließ er den Blick anerkennend über ihre schlanke Figur gleiten. “Na endlich, ich wollte dich schon holen.”
“Ich habe genau zehneinhalb Minuten gebraucht. Gutes Timing, nicht? Soll ich den Tisch decken?”
“Dir ist wohl jedes Mittel recht, um mir aus dem Weg zu gehen”, sagte Sean brummig. “Hier.” Er drückte Carin ein Glas Wein in die Hand und schob sie auf einen Stuhl. “Setz dich hin, und mach ein freundliches Gesicht. Der Tisch kann warten. Wie lange warst du eigentlich mit diesem Typ zusammen?”
Überrascht über den abrupten Themenwechsel, trank Carin schnell einen Schluck Wein. Offensichtlich hatte Sean über Karl nachgedacht, während sie geduscht hatte. Galt das Interesse an ihrer Zeit in London in Wirklichkeit nur ihrer Verbindung mit Karl? “Ich wüsste nicht, was dich das angeht”, antwortete sie spitz.
“Da er dich so tief verletzt hat, warst du wohl ziemlich lange mit ihm zusammen?”
Carin zuckte die Schultern. “Eigentlich nicht. Sechs Monate vielleicht, wenn’s hochkommt.”
“Hast du mit ihm geschlafen?”
Carin merkte, dass sie rot wurde. “Ja – aber nur, weil ich dachte, wir würden heiraten”, fügte sie schnell hinzu. “Ich gehöre nicht zu den Mädchen, die mit jedem gleich ins Bett springen. Und wenn ich es das nächste Mal tue, dann nur mit meinem Ehemann, darauf kannst du Gift nehmen.”
“Wenn dich ein Mann benutzt hat, dann war es Karl.”
“Für mich sind alle Männer gleich.”
Eine Weile herrschte unangenehmes Schweigen. Dann lächelte Sean wieder und wechselte das Thema. “Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du auf die Idee kamst, es könnte dir gefallen, als Sekretärin in einer Großstadt zu arbeiten, wo du all die Jahre vorher auf dem Land verbracht hast. Wie hast du es eigentlich so lange in London ausgehalten? Wie viele Jahre, sagtest du, warst du dort?”
“Vier.”
“Und nun willst du deinen Beruf an den Nagel hängen, um mit deinem Bruder hier auf dem Reiterhof zu leben?”
“Na ja, das hatte ich ursprünglich vor, aber da John nun Liz hat, bin ich mir nicht mehr so sicher. Sie haben sogar schon von Verlobung gesprochen. Wenn sie erst einmal verheiratet sind, stehe ich ihnen natürlich nur im Weg.”
“Da könntest du recht haben”, meinte Sean sarkastisch. “Noch Wein?”
Nachdem er Carins Glas nachgefüllt hatte, schwiegen beide, und jeder hing seinen Gedanken nach. Carin fiel es schwer, sich vorzustellen, dass Sean auch ganz anders sein konnte. Wie aufopferungsvoll er sich jedoch um seine Schwester gekümmert hatte, zeigte, dass er im Grunde ein sehr warmherziger Mensch war. Allerdings hatte er sich ihr, Carin, bisher noch nicht von dieser Seite gezeigt.
Carin nippte erneut an ihrem Glas, und plötzlich merkte sie, wie ihr der Wein zu Kopf stieg. Diesmal musste sie vorsichtig sein, denn sie wusste, wie heftig sie auf Seans Zärtlichkeiten reagierte, wenn sie zu viel getrunken hatte. Entschlossen stellte sie das Glas auf den Tisch und schob es weit von sich.
Sean hatte sie die ganze Zeit über beobachtet. “Wovor hast du Angst, Carin? Dass du zu viel trinken und dann alle Hemmungen verlieren könntest? Da kann ich mir Schlimmeres denken.”
“Mir ist es lieber, ich bleibe nüchtern”, gab Carin bissig zurück. “Ich habe nämlich keine Lust, morgen früh aufzuwachen und festzustellen, dass ich in deinem Bett liege.”
“Hast du etwa geglaubt, ich wollte dich absichtlich betrunken machen?”
“Ja, natürlich. Was denn sonst?”
“Du verstehst nichts, Carin, überhaupt nichts.” In Seans Augen blitzte Zorn auf. “Eine betrunkene Frau ist nicht gerade das, wovon ich träume.”
“Sich darüber zu unterhalten ist völlig idiotisch. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer”, erklärte Carin gereizt. “Dein Essen kannst du dir an den Hut stecken, ich habe keinen Appetit mehr.”
Sie stand auf und wollte gehen, doch Sean packte sie am Handgelenk.
“Lass mich los, du tust mir weh!”
Sofort gab er sie frei, ließ sie jedoch nicht vorbei. “Du bleibst hier und isst mit mir, ob es dir passt oder nicht.”
Da Carin klar war, dass Sean seinen Willen so oder so durchsetzen würde, gab sie schließlich nach. “Okay, du hast gewonnen. Ich gehe den Tisch decken.”
Carin legte eine weiße Leinentischdecke und dazu passende, ebenfalls weiße Servietten auf den Tisch. Sie seufzte wehmütig auf. Wie gern hätte sie auch noch Kerzen darauf gestellt, um dem Abend eine romantische Atmosphäre zu verleihen. Aber dieses Dinner mit Sean war alles andere als romantisch.
Die Lammkoteletts schmeckten vorzüglich, und auch das Gemüse war perfekt zubereitet. Trotzdem brachte Carin nur wenige Bissen hinunter.
“Ist etwas nicht in Ordnung?”, erkundigte sich Sean. “Schmeckt es dir nicht?”
“Doch, doch”, versicherte sie rasch, “ich habe nur keinen Hunger.”
“Das kommt bei dir in letzter Zeit aber oft vor”, meinte er. “Ist meine Gegenwart dir so unerträglich?”
Carin hielt es für besser, die Wahrheit zu sagen. “Ja. Seit du hier bist, fühle ich mich von Tag zu Tag mieser.”
Sean warf ihr einen kalten Blick zu. “Dann freut es dich ja bestimmt, zu hören, dass ich euch in Kürze verlassen werde. Ich gehe zurück nach Dublin.”
Carin meinte, ihr Herz müsste zerspringen. Was ist denn los mit dir? rief sie sich zur Vernunft. Das hast du doch gewollt, oder etwa nicht?
“Ich hatte eigentlich vor, aus diesem Abend etwas ganz Besonderes zu machen”, fuhr Sean fort. “Ich hoffte, wir hätten etwas zu feiern. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Der Abend ist ein einziges Desaster.”
“Oh nein, es gibt wirklich was zu feiern.” Carin setzte ein ironisches Lächeln auf und hob demonstrativ das Weinglas. “Auf dich und deinen Abschied. Das ist die beste Nachricht, die ich seit langem bekommen habe.”
Sean sah sie sekundenlang eindringlich an. “Meinst du das ernst, Carin?”
Sie wusste, es war zwecklos, sich oder Sean etwas vorzumachen. “Nein, Sean, du hast recht. Das war wohl ziemlich taktlos von mir, entschuldige. Ehrlich gesagt, finde ich es noch ein bisschen zu früh, John jetzt schon allein zu lassen.”
“Die Ferienzeit ist bald zu Ende, und wenn John verheiratet ist, kann er mich nicht mehr gebrauchen. Genauso wenig wie dich, wie du ja selbst gesagt hast. Ich wollte …”Sean hielt einen Moment inne, als fiele es ihm schwer, auszusprechen, was er dachte. “Ich wollte dich eigentlich heute Abend fragen, ob du mit mir nach Dublin gehen möchtest.”
Carin verschluckte sich fast an ihrem Bissen. “Wie bitte? Sag das noch mal.”
“Ich gebe zu, wir sind nicht immer die besten Freunde gewesen, aber im Grunde sind wir uns doch sehr ähnlich.”
“Wenn du damit die Tatsache meinst, dass wir beide im Stich gelassen wurden, dann vielleicht ja.”
“Wir wünschen uns beide keine feste Beziehung, aber du kannst nicht leugnen, dass wir uns in gewisser Hinsicht zueinander hingezogen fühlen.”
“Zueinander hingezogen?”, wiederholte Carin. Sie war immer noch perplex über das unerwartete Angebot. “Wenn du von sexueller Anziehungskraft sprichst, dann würde ich das nicht so nennen. Wenigstens nicht, was mich angeht. Für mich ist das ein Problem, Sean, ein sehr großes sogar. Was genau willst du eigentlich von mir?”
“Ich biete dir ein Dach über dem Kopf, ein gemütliches Heim, Freundschaft, Gesellschaft und einen Liebhaber, wenn du einen brauchst.”
“Du bist ja verrückt.” Carin wusste nicht, was sie davon halten sollte. “Und was hättest du davon?”, fragte sie schließlich, und ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Ihre kühnsten Träume schienen auf einmal wahr zu werden. Doch da gab es noch diese innere Stimme der Vernunft, und die warnte sie. Es musste ein verstecktes Motiv für Seans Absicht geben. Aus reiner Menschenfreundlichkeit würde er ihr ein solches Angebot bestimmt nicht machen.
“Ich verlange nichts, was du nicht geben willst, Carin.”
Sie schüttelte den Kopf. “Es würde nicht klappen, Sean. Ich wäre nicht glücklich. Ich möchte nicht mit einem Mann zusammenleben, mit dem ich nicht verheiratet bin.”
“Dann gibt es nur eine Möglichkeit”, sagte Sean sanft. “Wir werden heiraten.”