»Ich nicht.«
Aber irgendwo fand sie dann doch die Zeit. Sie gingen über die Straße und setzten sich ins Oxford, ein anständiges und fast immer leeres Lokal, sehr geeignet für ein ausführliches Gespräch. Zwischen den Kellnern und den Tischen saßen als schallschluckende Barriere ein paar Leute an der Bar, die einen verspäteten Aperitif zu sich nahmen. Teresa erzählte ihm die Geschichte ihrer ersten Begegnung im Büro eines Importeurs holländischer Produkte. Sie war hingegangen, um eine Sendung indonesischer Kleinkunst und Hippieprodukte aus Amsterdam abzuholen. Julio war dort und erkundigte sich nach einer Sendung Klötenkäse, den er bestellt hatte. Teresa lachte nun selbst, und auch Carvalho lachte lauthals mit, ohne die Verlegenheit von vorhin, als er diese Obszönität zum erstenmal hörte.
»Er machte sich über meine Waren lustig, ich mich über seine. Dann zog er mich mit meiner Kleidung auf und ich ihn mit der seinen. Ich sagte, er sei wie ein Bürgerlicher angezogen, der gerade aus Vitoria ankommt und geblendet ist von der Kleidung der Manager. Er wollte mich nur anmachen, das wußte ich, aber der Typ gefiel mir, und es war die Mühe wert herauszufinden, ob er wirklich so war, wie er aussah. Und er war es nicht. Er hatte Klasse.«
Die Frau erzählte dies alles in einem Ton, der Carvalho oberflächlich erschien. Sie erzählte von diesem Spiel und gab zu, daß es ein Spiel war. Sie griff nicht zur Melodramatik der Witwe Salomons. Teresa Marsé war stets bereit, sich überraschen zu lassen, erlebte aber selten eine wirkliche Überraschung. Die Begegnung mit Julio war das überraschende Erlebnis eines Menschen, der nicht einzuordnen war, ein einfacher Mensch mit der Fähigkeit, dies zu verheimlichen, ein Unwissender, der keiner mehr war, ein phantasievoller Mann mit Händen, die stark genug waren, die Wirklichkeit zu liebkosen.
»Wir hatten keine feste Beziehung. Ich machte ihm meinen Standpunkt in aller Deutlichkeit klar. Ich habe mich nicht vom Joch meiner Ehe befreit, um ein anderes auf mich zu nehmen. Zu Anfang verstand er das nicht. Ich glaube, einer seiner vielen Widersprüche war seine Eifersucht. Er war eifersüchtig. Schon allein die Möglichkeit, daß ich mit anderen Männern ausgehen könnte, machte ihn eifersüchtig.«
»Nahmen Sie die anderen Männer auch mit in das Haus in Caldetas?«
»Warum nicht? Selbst Julio benutzte dieses Haus für seine Affären mit anderen Frauen. Als ich ihn davon überzeugt hatte, daß es das beste war, uns nicht gegenseitig einzusperren, bat er mich ab und zu, ihm das Haus zu überlassen. Ich wußte immer, zu welchem Zweck es geschah, und gab ihm den Schlüssel. Wollen Sie ihn?«
»Würden Sie mitkommen?«
Teresa Marsé musterte ihn mit skeptischem Blick. »Sie sehen nicht schlecht aus. Aber ich bin im Moment leidenschaftlich verliebt.«
»In Julio.«
»Das ist vorbei. Fast. Wie spät ist es genau?«
»Eine Frau mit so geregeltem Zeitplan wie Sie trägt keine Uhr?«
»Sie hinterläßt nur Spuren am Handgelenk und ist eine dumme Konvention.«
»Aber Sie finden es sicher sehr erfreulich, daß andere Leute Uhren tragen …«
»Allerdings. Das stimmt.«
Sie ließ Carvalho die Rechnung bezahlen, genau wie vorher im Café.
»Ein andermal holst du mich vom Laden ab, und dann bezahle ich. Abgemacht?«
»An welchem Tag?«
»Nicht drängeln!«
»Ich drängle ja gar nicht. Ich will nur, daß du mir Tag und Stunde nennst. Daß du mir Audienz gewährst!«
»Wie empfindlich! Ruf mich an. Das ist am besten!«
Sie holte ein Kärtchen mit der Anschrift der Boutique aus ihrer unergründlichen, bestickten Leinentasche. Carvalho steckte sie ein. Dann tat er etwas, was er bis jetzt nur äußerst selten getan hatte: Er gab Teresa die Adresse seines Hauses in Vallvidrera.
»Klar, du hast es nicht nötig, in Papis Landhaus zu gehen. Ist das dein Zuhause oder dein Liebesnest?«
»Beides.«
»Diese Männer! Immer habt ihr Möglichkeiten, die sich unsereins nicht erlauben kann.«
Sie gingen von der Calle Muntaner aus durch eine Passage, die fast in Höhe der Boutique auf die Calle Ganduxer mündete.
»Julio bekam ab und zu Briefe von einer alten Flamme in Amsterdam.«
»Ja, ich weiß schon, die Witwe Salomons. Einmal las er mir einen vor.« Sie brach in Gelächter aus, bevor sie weiterreden konnte. »Eine Art Literatur! Sie zitierte Verse von Catull. Den Rest kannst du dir vorstellen. Julio war ihr dankbar, denn sie hatte ihm Unterricht gegeben. Es stimmt, daß er sehr aufgeweckt und schnell von Begriff war. Ich lieh ihm Bücher, und er gab sie mir mit Unterstreichungen zurück. Er hatte das, was man als eine ›wegen mangelnder Chancengleichheit vernachlässigte Intelligenz‹ bezeichnen könnte. Aber es ging ihm nicht schlecht im Leben. Er verdiente mehr Geld als manch einer mit nicht vernachlässigter Intelligenz. All das ist sehr relativ. Weil er eben Geld verdiente, er machte mindestens den Eindruck. Immer Geld in der Tasche und immer gut gekleidet. Zu gut. Daran konnte auch ich nichts ändern. Er hatte eine fast religiöse Ehrfurcht vor Maßanzügen und Krawatten.«
»Er war geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben.«
»Du weißt von der Tätowierung? Er erzählte mir, daß er immer sehr rebellisch war, von klein auf, im Waisenhaus, in der Legion, im Gefängnis. Weißt du, daß er im Gefängnis war? Ein Priester sagte einmal im Waisenhaus zu ihm: ›Du bist schlimmer als der Teufel!‹ Das erzählte er immer. In letzter Zeit fand er es immer sehr lustig, denn er war sich darüber im klaren, daß er wie ein Pascha lebte, daß sein Leben harmonisch und in geregelten Bahnen verlief und er andererseits diese Tätowierung trug.«
»Vielleicht ein Versuch, einen Teil seiner selbst zu bewahren.«
»Genau. Ruf mich in den nächsten Tagen an. Adiós.«
Damit betrat sie ihr Geschäft.
Nein. Das war nicht die Frau, die am müden Tresen die Rückkehr des jungen Seemanns erwartete, dessen Brust ein Herz zierte. Aber Carvalho war fest davon überzeugt, daß es im Leben von Julio Chesma diese Frau gab und daß es sich weder um die literarische und theatralische Witwe Salomons noch um die Spielerin Teresa Marsé handelte. Irgendwo, an einem Ort, den er nicht kannte, hatte er bei einer Frau mit seiner Vitalität und seiner Kraft einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, bevor oder nachdem er den Weg zum Tod eingeschlagen hatte. Carvalho wußte nicht, ob es das Chanson selbst war, das ihn so faszinierte, oder ob er diese Faszination seinem Instinkt zuschreiben sollte. Ein Mann wie Julio Chesma konnte sich nicht mit einer neurotischen Mutti wie der Witwe oder einer Tennispartnerin wie Teresa Marsé zufriedengeben. Er brauchte eine Frau, die die Botschaft der Tätowierung, die rebellische Einstellung, bis zum letzten mit ihm teilte. Die Tätowierung war an eine Person adressiert, die das Leben von Julio Chesma ernst genommen hatte.
Er bestellte Charo und La Andaluza in eine Taverne nach Sant Cugat. Carvalho hatte es von Vallvidrera aus nicht weit, aber Charo kam mit einem Ärger dort an, der in ihrem kleinen Fiat kaum Platz hatte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht zu mir kommen willst! Ich verstehe dieses Versteckspiel nicht.«
La Andaluza vermittelte. »Er wird schon seine Gründe haben.«
»Also, du hättest uns wenigstens bei dir zu Hause etwas zu essen machen können.«
»Ich habe schon etwas eingekauft, aber ich war einfach nicht in der Stimmung, etwas zu kochen. Alles zu seiner Zeit. Wenn es klappt, mache ich es mir später, als Betthupferl.«
Charo wandte sich an ihre Freundin. »Siehst du? Er meint das ernst! Das hättest du nicht gedacht, wie? Der Kerl ist imstande und fängt um vier Uhr morgens an zu kochen!«
Charo betrachtete Carvalho, wie man ein geliebtes Kind betrachtet, das die monströse Unart besessen hat, mit zwei Köpfen zur Welt zu kommen. Dafür lachte La Andaluza so sehr, daß man ihre beiden Goldzähne sehen konnte.
»Ich finde es hier bezaubernd!« sagte sie, als würde sie in einem Fernsehfilm auftreten.
Carvalho hegte jedoch einen gewissen Widerwillen gegen diesen Ort, vor allem, weil er mit Möbeln aus der Zeit Philipps II. bestückt war, die ein paar hundert Meter weiter in Sant Cugat hergestellt wurden. Die Spezialitäten des Hauses beruhigten ihn auch nicht gerade: geröstetes Tomatenweißbrot, Bohnen mit Blutwurst, Fleisch vom Grill und Kaninchen mit Aioli. Im Laufe der letzten zehn Jahre waren in Katalonien zigtausend Lokale neu aufgemacht worden, alle mit dem Anspruch, dem Gast die Wunder der rustikalen katalanischen Küche nahezubringen. Aber in der Stunde der Wahrheit erwies sich das Tomatenweißbrot – eigentlich ein phantastisches Wunderwerk, das an Einfachheit und Wohlgeschmack die Tomatenpizza weit in den Schatten stellt – lediglich als ein feuchter, schlecht durchgebackener Mehlteig, der mit Tomatenpüree aus der Dose vollends aufgeweicht wurde. Und was die Aioli anging, so war diese normalerweise ohne Geduld im Handgelenk und mit der französischen oder mallorquinischen Unsitte, ein Eigelb hineinzuschlagen, hergestellt und daher so gelb, daß sie sich besser zur Temperamalerei eignete. Carvalho war über sich selbst erstaunt, als er feststellte, daß er seinen gebannt lauschenden Begleiterinnen einen Vortrag über die gastronomischen Ursprünge der Menschheit hielt. Es war nicht der Ausruf von La Andaluza »Madre mía, was dieser Mann alles weiß«, der ihm die Rolle bewußt machte, die er da spielte, sondern das Wort ›koinē‹, das von seinen eigenen Lippen kam, ein Begriff, der für den gemeinsamen Ursprung einiger Gerichte gebraucht wird.
»Genauso wie es eine linguistische koinē gibt und wir das Indoeuropäische als den gemeinsamen Ursprung der arischen Sprachen definieren können, gibt es offensichtlich eine gastronomische koinē, und einer der wissenschaftlichen Beweise dafür ist das Tomatenweißbrot. Es ist verwandt mit der Pizza, aber dieser an Einfachheit weit überlegen. Das Mehl in der Pizza muß erst gebacken werden, das Tomatenweißbrot dagegen besteht nur aus Weißbrot und Tomaten, ein wenig Salz und Öl.«
»Und schmeckt phantastisch«, fiel La Andaluza ein, begeistert von den Mysterien, die Carvalho ihr offenbarte. »Es erfrischt und sättigt. Und es hat einen hohen Nährwert. Das sagte Doktor Cardelus, als ich mit meinem Sohn zu ihm kam, weil er ein bißchen blutarm war. Geben Sie ihm dicke Scheiben Weißbrot mit Tomaten und Petersilie. Ein wahres Wunder. Jetzt ist der Junge zur Erholung auf einem Bauernhof in Gavá, und ich sage den Leuten immer, sie sollen ihm vor allem Tomatenweißbrot geben, viel Tomatenweißbrot.«
Es ärgerte Carvalho, daß das wissenschaftliche Niveau des Gesprächs derart gesenkt wurde. Aber schon kam das Brett mit dem Tomatenweißbrot. Ein unauffälliges pan con tomate, nicht einmal würdig, in das Buch Carmencita oder die gute Köchin aufgenommen zu werden. Die beiden Frauen warteten gespannt auf Carvalhos Urteil, während er den ersten Bissen mit der Zunge gegen den Gaumen drückte, um den Geschmack des Brots, den Frischegrad der Tomate und die Qualität des Olivenöls zu beurteilen.
»Das Salz war ein wenig zu feucht. Aber es ist in Ordnung.«
» Madre mía! Gibt es etwas, was dieser Mann nicht weiß?«
Charo kannte schon alle Glanznummern von Carvalho und war nicht bereit, mit dieser Speichelleckerin gemeinsame Sache zu machen. Außerdem war sie noch immer etwas verärgert über die Wahl des Ortes.
»Also, mir schmeckt es. Außerdem habe ich Hunger. Daß du auch immer an allem etwas auszusetzen hast! Man merkt, daß du nicht weißt, was Hunger ist!«
»Hunger, das ist das schlimmste, madre mía!«
La Andaluza sprang auf alle Züge auf, die an ihrer Phantasie vorüberfuhren. Ihre kleinen Lippen glänzten fettig. Sie verzehrte die gebratenen Rippchen mit einer Aufmerksamkeit, die Carvalho sehr gefiel. Man brachte ihnen einen Rosé, der etwas lieblich war, aber im Abgang ein so gutes Bukett entfaltete, daß sich Carvalho sogar nach seiner Herkunft erkundigte.
»Dieser Wein kommt wohl aus Ampurdán, aus Perelada oder Corballa?«
»Fast richtig getippt! Wir holen ihn von etwas weiter oben, aus Montmany.«
»Also, er läßt sich gut trinken.«
»Er geht gut runter. Ein bißchen schwach, aber nicht schlecht.«
»Schwach?«
Jetzt ahmte La Andaluza Jerry Lewis nach.
»Schwach?« Sie schielte.
»Also, mir ist er schon zu Kopf gestiegen!«
Sie tat weiter, als würde sie schielen. Als ihre Augen die Symmetrie wiedergefunden hatten, lachte sie über ihren eigenen Witz, während sie mit einem Zahnstocher Jagd auf die Fleischreste zwischen ihren Zähnen machte.
»Los, erzähl ihm das von heute früh.«
»Ach ja, Pepe, ich bin schon ganz schön beschwipst. Brauchst du nicht ab und zu eine Assistentin?«
La Andaluza senkte die Stimme, wie es sich ihrer Meinung nach bei Verschwörungen gehörte.
»Den ganzen Vormittag habe ich spioniert. Schau mal, wie die meine Haare gemacht haben! Gar nicht so schlecht. Ich dachte, es würde schlimmer. Aber ich hab’ mir alles machen lassen, was es gibt. Von neun Uhr vormittags bis zwei Uhr nachmittags war ich dort im Salon.«
»Und?«
»Was und?«
»Was hast du gesehen?«
»Sie haben jede Menge Arbeit. Die vier Mädchen und Queta kommen kaum nach. Wenn ich doch nur auf meine Mutter gehört hätte! Du weißt doch, Pepe, ich bin aus Bilbao, aber in diesem Gewerbe muß man entweder behaupten, daß man aus Andalusien kommt, oder man kriegt keine Kundschaft. Ich weiß nicht mal, warum. Ich hab’ mir angewöhnt, wie die Andalusier das C wie S zu sprechen, und inzwischen glaube ich schon selbst, daß ich aus Sevilla stamme!«
Carvalho hatte immer geglaubt, die Manie der baskischen, katalanischen oder zentralspanischen Prostituierten, sich als Andalusierinnen auszugeben, sei reiner Rassismus. Auf Grund des schlechten Rufs dieses verachteten Gewerbes würden sie sich das Stigma der am wenigsten entwickelten Region geben, damit der ethnische Stolz der Basken, die adlige Herkunft der Kastilier und die industrielle Produktivität der Katalanen unangetastet blieben. Aber La Andaluza bestand darauf, daß es dabei um die Kundschaft ging.
»Es geht um die Freier. Sag mal einem von denen, daß du aus Bilbao kommst, und er schaut dich an wie sonstwas. Als könntest du es ihm ohne das andalusische Genuschel nicht genausogut besorgen.«
La Andaluza revanchierte sich nun für Pepes gastronomische Vorträge. Sie wies nach, daß auch in der Hurerei Theorie und Praxis unzertrennlich sind und daß die Arbeitsteilung zu katastrophalen Trennungen der beiden geführt hat, und zwar nicht nur in allen Zünften und Gewerben, sondern auch in der Philosophie, der Soziologie und der Hurologie. Aus diesem Grund stammt der größte Teil der Bücher, die über Prostituierte geschrieben wurden, von prophylaktischen Doktoren und Doktorinnen, denen jegliche praktische Erfahrung in der Sache fehlt, und unter diesen Umständen stellten La Andaluzas theoretische Fähigkeiten sie alle weit in den Schatten.
»Es gibt eine Menge blöder Weiber, die mit ›Süßer‹ und ›Liebling‹ und ›Ich mach ’s dir schön‹ auf die Freier losgehen. Es gibt welche, die anbeißen, und es gibt andere, denen paßt weder das ›Süßer‹ noch der ›Liebling‹, noch das ›Ich mach’s dir schön‹. Jeder einzelne ist da anders.«
Carvalho steuerte das Raumschiff aus dem Kosmos der Prostitution zurück in die Umlaufbahn des Salons Queta.
»Ach ja, ich hab’ mich verquatscht. Ich dachte an meine arme Mutter, die wollte, daß ich Friseurin lernte. Jetzt wäre ich eine Dame und würde gutes Geld verdienen.«
»Dir geht’s nicht schlecht. Du kannst dich nicht beklagen.«
»Sag so etwas nicht, Pepe, gerade jetzt, wo ich mich verstecken muß, habe ich die ganze Woche noch keine Peseta verdient. Die schon, die hat’s geschafft, sich was aufzubauen. Mit deiner Hilfe. Wenige Männer hätten für Charo das getan, was du für sie getan hast, Pepe. Ein anderer hätte sie ausgebeutet. Aber du hast zu ihr gesagt, sie soll versuchen, sich ein paar Kunden auszuwählen und sie zu sich nach Hause kommen zu lassen. Nicht jedem nachzulaufen. Sie ist fast schon eine Dame.«
Charo war zu Tränen gerührt, legte ihre Hand auf Pepes Hand und übertrug ihm einen Teil ihrer zärtlichen Gefühle. ›Eines Tages heirate ich sie‹, dachte Pepe. Dieser Wein hatte tatsächlich mehr in sich, als er nach außen zeigte. Er würde Charo heiraten, aber erst, wenn sie beide alt wären.
»Sehr alt«, entfuhr es ihm laut.
Zwei Tassen Kaffee pro Person stellten den geschäftsmäßigen Charakter der Situation wieder her. Es war eine heiße, sternenklare Nacht. Sie traten auf die Plaza del Monasterio hinaus und gingen spazieren, während La Andaluza erzählte, was sie gesehen hatte. Pepe ging in der Mitte, hatte die Ärmel hochgekrempelt und die Arme um die Schultern der beiden Frauen gelegt.
»Da sind die vier Mädchen und Queta. Der Mann sitzt immer oben in seiner Kammer. Manchmal kommt er runter und geht in die Bar an der Ecke, um was zu trinken. Manchmal schickt er auch La Gorda, und sie bringt es ihm rauf. Die vier Mädchen sind sehr jung und sehr nett. La Gorda ist als letzte dazugekommen, aber – Achtung! – sie hat fast mehr zu sagen als Queta selbst. La Gorda ist sehr eigen. Die andern kommen um neun und arbeiten, bis alles fertig ist. Na ja, bis neun bleibt keine, außer samstags, da müssen sie manchmal bis um zehn Uhr arbeiten, bei verschlossener Tür. Zwei Mädchen wohnen zusammen, sie sind Schwestern, aus Andalusien. Aber echte Andalusierinnen, Pepe! Sie sind fleißig, beide haben schon in Jaén als Friseurin gearbeitet. Queta ist geduldig und bringt ihnen alles bei. Sie sind nicht die hellsten, aber allmählich lernen sie etwas. Das dritte Mädchen hat einen richtigen Verlobten, er kommt jeden Tag und holt sie ab, manchmal muß er stundenlang in der Bar warten, bis sie Feierabend hat. Sie ist eine Katalanin aus Barceloneta. Ihr Vater und ihre Brüder arbeiten im Hafen. La Gorda ist die einzige, die zum Essen im Laden bleibt, weil sie für Queta den Einkauf macht und ab und zu auch mal kocht. Sie geht immer um Punkt acht Uhr, weil sie in Badalona wohnt und ihr Bruder sie mit dem Lieferwagen abholt.«
»Ist der Bruder Fahrer?«
»Nein, sie haben einen Familienbetrieb. Sie verkaufen eingesalzenen und tiefgefrorenen Fisch in Badalona. Der Vater hat früher Schiffe kalfatert, aber er bekam eine böse Augenkrankheit und konnte die Farbe nicht mehr vertragen, auch keinen Sägestaub und überhaupt nichts, was zu dem Handwerk gehört. Stell dir vor, jetzt muß er in seinem Laden den Fischgestank aushalten.«
»Wie versteht sich Queta mit den Mädchen?«
»Gut. Nur mit La Gorda gibt es ab und zu Machtkämpfe, weil das Mädchen meint, sie sei etwas Besseres. Der Chef hält große Stücke auf sie. Das merkt man. Er braucht manchmal Sachen, die ihm eigentlich Queta bringen müßte. Statt dessen drängt sich diese Zicke immer vor und bringt sie ihm. Der Queta stinkt das, das merkt man.« Dabei zeigte sie auf ihre Nase. »Aber sie hat das Herz auf dem rechten Fleck. So wie sie aussieht, mit dieser Figur, denkt man, sie will die ganze Welt auffressen, aber sie hat das Herz auf dem rechten Fleck.«
»Was hat sie denn für eine Figur?«
»Das brauchst du ihm gar nicht zu erzählen, Andaluza, sonst kommt gleich seine Phantasie in Schwung!«
»Aber hast du mit uns beiden nicht genug, Pepe?«
»Was soll das heißen? Du kriegst es gleich mit mir zu tun!«
Pepe drückte den Hühnern die Hälse zu und unterband die Abschweifungen.
»Was erzählt man denn über die Beziehung zwischen Señor Ramón und Queta?«
»Also, er war verheiratet, glücklich verheiratet. Die Kinder von seiner Ehefrau sind erwachsen. Queta war die Maniküre seiner Frau, und die beiden fingen was miteinander an. Es wurde mehr daraus, und am Ende verließ er Frau und Kinder. Er hat Queta den Friseursalon gekauft und wohnt seitdem auch selber dort. Er hockt dauernd oben in seiner Kammer über der Buchführung. Man hört keine Geschichten über die beiden. Er ist schon älter, er muß auf die Sechzig zugehen. Queta ist gerade vierzig geworden und hat noch eine tolle Figur. Hast du nicht nach Quetas Figur gefragt? Also, wie ein junges Mädchen! Sie hat sich sehr gut gehalten. Ja, wenn man keine Kinder zur Welt bringt und keine großzieht, das macht was aus. Außerdem sind sie seit zwanzig Jahren zusammen, das macht auch etwas aus. Seit fünfzehn Jahren wohnen sie zusammen. Er war damals im zweiten Frühling und sie noch ein junges Mädchen. Aber heute … Eine Frau hat ihre Bedürfnisse, meinst du nicht auch?«
»Klar. Und Señor Ramón, bekommt er keinen Besuch? Kommt niemand zu ihm?«
»Doch, Vertreter für Parfümerie- und Friseurbedarf. Diesen Teil des Geschäfts macht er. Schlecht kann es ihnen dabei nicht gehen, denn Queta erzählte mir, sie hätten sich ein Grundstück bei Mollet gekauft, in einer sehr guten Lage, weil dort die Fabriken hinkommen sollen. Die sollen alle dorthinaus verlegt werden, weil sie hier in der Stadt die Luft verpesten. Man muß ja in Barcelona wirklich bald mit einer Gasmaske herumlaufen. Holt mal tief Luft hier! Hier ist es wunderbar. Kommt mit, ich lade euch zu einer horchata ein!«
Sie tranken eine Erdmandelmilch vor einem zweirädrigen Karren, der mit bunten Glühbirnen, rotgelben Girlanden und blauen Papierfähnchen verziert war. Der Verkäufer war ganz in Weiß gekleidet, mit einem Navyschiffchen auf dem Kopf und einem getüpfelten Tuch um den Hals. Er verschlang die Frauen mit seinen Blicken, hörte aber sofort damit auf, als er Carvalhos Blick begegnete. Die Frauen kicherten über irgend etwas und stießen sich gegenseitig an. Carvalho wahrte eine gewisse innere Distanz und genoß die horchata mit dem zerstoßenen Eis, dessen tausend kühle kleine cremige Kristalle seine Kehle erfrischte.
»Hör mal, Andaluza, wieso hat La Gorda die ganzen Privilegien bekommen?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Wieso La Gorda in dem Laden soviel zu sagen hat. Sie ist doch höchstens siebzehn!«
»Fünfzehn, aber weil sie dick ist wie eine Kuh, sieht sie weiblicher aus. Die hat hier schon mehr als ich.« Dabei wog sie ihre Brüste mit den Händen. »Tja, ich weiß nicht so recht. Ich glaube, ihr Vater und Señor Ramón kennen sich von früher. Das ist es. Ihr Vater hat sie in das Friseurgeschäft gebracht, als sie noch fast ein kleines Mädchen war. Sie will noch drei Jahre bleiben und dann einen eigenen Salon in Badalona aufmachen. Die weiß, was sie will! Stell dir vor, sie hat es sogar geschafft, daß der Chef ihr Montag nachmittags freigibt, damit sie dort hingehen kann, wo die Starfriseure ihre Modelle für die Leute vom Fach frisieren, weil man so am besten lernt. Friseurinnen aus ganz Katalonien kommen dorthin, auch Lehrlinge und Gesellen aus der Stadt. Stell dir vor, die beiden aus Andalusien wollten auch dorthin, sie wollten dafür sogar auf einen Teil ihres Lohns verzichten und sich jede Woche abwechseln, aber er gab ihnen nicht frei. Aber La Gorda, die hat es geschafft. Sie geht jeden Montag hin, und er zieht ihr nicht mal was vom Lohn ab. Ich glaube, Queta ärgert sich schwarz darüber, und das mit Recht!«
Sie gingen zu den Autos zurück. La Andaluza bedrängte Charo, ihr das Auto zu überlassen, damit Charo mit Pepe nach Hause fahren könne.
»Ich fahre nur bis zum Parkplatz und stelle es dort ab. Gib mir den Schlüssel, ich fahre es für dich nach Hause.«
»Nein, nein. Pepe will doch gar nicht, daß ich komme. Und ich selbst auch nicht.«
»Hast du Lust, Pepe?«
Carvalho zuckte die Achseln.
»Du läßt mir das Auto, Charo, und bleibst bei dem Mann, der gibt dir ein Betthupferl!«
Die beiden Frauen lachten. Carvalho erwog die Möglichkeit, jetzt die Cappelletti zu machen. Er wollte sie nicht so lange im Kühlschrank aufbewahren, damit sie nicht zu trocken würden, aber andererseits hatte er keine Lust, sich zu dieser vorgerückten Stunde an den Herd zu stellen.
»Ich gebe dir das Auto nicht.«
»Mir macht es wirklich nichts aus, es für dich nach Hause zu fahren.«
»Mir schon.«
»Glaubst du, ich kann nicht Auto fahren?«
»Kann schon sein.«
»Hast du Worte? Die gibt dir ihre Wohnung und ihren Kühlschrank, aber das Auto nicht. Hör mal, Charo, du bist doch nicht so blöd wie die Männer, die aus Prinzip ihren Füller, ihre Frau und ihren Fiat nicht verleihen!«
»Doch, ich bin so blöd!«
»Also, du gibst mir das Auto nicht?«
»Nein.«
»Deinen Füller?«
»Hab keinen.«
»Und Pepiño?«
»Den schon gar nicht!«
La Andaluza wandte sich an Pepe und schielte wieder fürchterlich.
»Eine richtige Spießerin, die Alte!«
Bromuro fand in den Tageszeitungen die Bestätigung all seiner Ahnungen hinsichtlich der Lebensmittel. Die Besorgnis von Ökologen und Konsumenten besaß in ihm seit langem einen wackeren Propheten, dem leider die Anerkennung durch neuere, höher gebildete Theoretiker versagt blieb. Der Schuhputzer beschränkte sich nicht mehr darauf, den Füßen seiner Kunden von der antierotischen Verschwörung des aufgelösten Bromsalzes im Trinkwasser, in den Erfrischungsgetränken und im Industriebrot zu berichten.
»Riechen Sie nichts?«
»Doch, Schuhcreme.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr! Der Geruch von Schuhcreme ist gesund. Ich hab’ ihn mein Leben lang eingeatmet, und es hat mir nicht geschadet. Aber die Bronchitis, kommt die vielleicht von der Schuhcreme? Und mein Magengeschwür? Nein, es ist die Luft! Riechen Sie es nicht? Das ist der Smog!«
Nach dieser Schlußfolgerung blickte Bromuro bedeutungsvoll in die Runde und machte seinen Kunden damit klar, daß hier, in zwanzig Metern Umkreis, finstere Mächte daran arbeiteten, das zarteste Gewebe seines Körpers zu ruinieren.
»Putzen?«
Carvalho nickte. Die Stimme des Schuhputzers schien direkt aus dem schuppigen, kahlen Schädel zu kommen. »Hast du noch mal fünfhundert Pesetas für mich?«
»Was bietest du mir dafür?«
»Nichts. Es ist nur, weil du in letzter Zeit so spendabel bist!«
»Weißt du wirklich nichts?«
»Nichts. Es gibt keinen mehr, den man fragen kann. Wer nicht hinter Gittern sitzt, ist weggefahren. Es sieht so aus, als hätten einige kalte Füße bekommen. Diesmal haben sie auch die Großen gepackt. Den dicken Fischen passiert nichts, aber sie halten ganz still, wie sonst nur auf den Fotos. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, daß der Ertrunkene eine lange, dicke Akte hatte, und das war der Grund für alles andere. La Pomadas gehörte auch dazu. Sie hat ein Päckchen gekriegt, an dem sie einige Jährchen zu tragen hat. Der Tote hat keinen Pieps gesagt. Dafür hat die Pomadas wie ein ganzes Buch geredet.«
»Was für ein Typ ist die Pomadas?«
»Eine Blondine, dick, aber nicht wabbelig. Jung, saftige Arschbacken. Spielte die Französin. Du hast sie sicher am Bordstein auf den Ramblas gesehen, bei der Calle Fernando. Später hat sie sich verbessert und ging in die Carretera de Sarriá. In letzter Zeit hatte sie abgenommen. Die Kunden dort mögen es lieber schlank, so wie Filmstars. Kennst du die Bohnenstange aus dem Film Zwei Männer und ein Schicksal? Gefällt sie dir?«
Von Carvalhos Antwort hing Bromuros Weltbild ab.
»Nicht schlecht.«
»Aber die hat doch hinten nichts und vorne nichts! Als der Typ die Pistole zieht und befiehlt, sie soll sich nackt ausziehen, hab’ ich gedacht, du blöder Hund, mit so einer Kanone könntest du eine kriegen, an der mehr dran ist. So ein Idiot. Ich will damit nicht sagen, daß ich mich vor ihr ekeln würde. Es gibt keine Frau, keine einzige, die nicht verdient, daß man ihr einen Gefallen tut. Das ist ja das Schlimme! Es gibt so viele Frauen, und wir haben so wenig für ihr Vergnügen!«
»Fang bloß damit nicht wieder an!«
»Mit irgendeiner Philosophie muß man leben. Und das ist meine.«
Der Schuhputzer erhob sich, und Pepe war überrascht über seine Gestalt, die man sonst nie zu Gesicht bekam. Hoch aufgerichtet, als hörte er den Trommelwirbel, der seinen Auftritt ankündigte, rief Bromuro: »Die Philosophie des Dreiecks der lebenswichtigen Dinge in Reichweite einer Hand!«
Darauf legte er seinen linken Daumen an den Rand der rechten Hosentasche, den kleinen Finger auf den Hosenschlitz und vervollständigte dann das Dreieck, indem er den Daumen zum Bauchnabel führte.
»Geld, Ficken und Essen.«
Er nahm seinen Kasten, steckte die 25 Pesetas von Carvalho ein und trat so würdevoll ab wie Don José Ortega y Gasset nach einem Vortrag. Carvalho erhob sich kurz darauf. Eine frische Brise kam vom Meer, und die Ramblas erreichte der Geruch des öligen Meerwassers von der Puerta de la Paz. Kolumbus auf dem Briefbeschwerer seines Denkmals zeigte unerschütterlich auf die Sonne im Zenit, eine Geste, die eher eine Herausforderung an die Sonne darstellte, als die Route nach Amerika anzeigte. Carvalho zog die Jacke aus und klemmte sie sich unter den Arm. Er ging zum Salon Queta. Es war keine Kundschaft da, aber die Tür stand offen. Seine Schritte auf dem grünen Linoleum riefen die Frage hervor, die von oben aus der Kammer kam:
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Carvalho.«
Es war die Stimme von La Gorda. Ohne ihnen Zeit zu lassen, daß sie ihm Anweisungen geben konnten, nahm er mit zwei Sätzen die Treppe und platzte in das kleine Büro hinein. Die Papiere waren vom Tisch verschwunden, und eine Decke aus Plastik verbarg seine schäbige Oberfläche. Queta, La Gorda und Don Ramón aßen Russische Eier und panierte Fischfilets. Die Frauen hatten den Kopf über den Teller gebeugt, wie um die unzweifelhafte Intimität des Aktes zu wahren. Señor Ramón war aufgestanden, legte sorgfältig seine Serviette auf den Tisch und sagte: »Essen Sie mit uns!«
»Nein danke. Bitte entschuldigen Sie die Störung!«
»Keine Ursache. Kommen Sie!«
Queta sah Carvalho mißtrauisch an. La Gorda hatte den Mund schon voll und stopfte noch einen gefährlich überladenen Löffel Eiersalat dazu. Señor Ramón ging gemächlich zur Treppe und winkte Carvalho, ihm zu folgen. Unten im Salon setzte er sich in einen der mechanische Drehstühle. Carvalho tat es ihm nach.
»Seit wann sind Sie zurück?«
»Seit gestern nacht.«
»Ist alles gut gegangen?«
Carvalho deutete auf die Verletzung am Auge. »Normal.« Señor Ramón sah sich die Verletzung nicht genau an. Er nahm sie zur Kenntnis und wartete auf Carvalhos Enthüllungen.
»Die Leiche hat einen Namen. Er hieß Julio Chesma und war ein Rauschgifthändler.«
»Hatte er hier Verbindungen?«
»Ja.«
»Wissen Sie, welche?«
»Sie wollten, daß ich den Namen des Toten herausfinde, sonst nichts.«
»Ja, das stimmt. Meine Frau hat einen Verwandten mit einer Neigung zum Abenteuer. Eine echte Belastung. Und sie wußte, daß er eine ausgefallene Tätowierung trug, nur erinnerte sie sich nicht genau an den Wortlaut. Aber sie war anders als das Übliche. Seit sie neulich den Zeitungsartikel las, ist sie sehr beunruhigt, und deshalb versuchte ich herauszufinden, wer es war. Sie wird sehr erleichtert sein, denn es ist nicht der Name ihres Verwandten.«
»Wir könnten es ihr gleich sagen.«
»Lassen Sie mich das machen! Ich bringe es ihr schonend bei. Sie wissen doch, wie die Frauen sind, beim geringsten Anlaß werden sie hysterisch. Jetzt kann sie wieder ruhig schlafen. Wie sagten Sie, Julio Chesma? Drogen? Ja, ich hab ’s geahnt. Ich wußte, daß die Razzia in den Tagen nach der Entdeckung der Leiche etwas zu bedeuten hatte. Alles klar. Haben Sie etwas über die näheren Umstände herausgefunden? Kontakte des Individuums, beispielsweise?«
»Ein paar Kontakte, ja.«
»In Holland?«
»Und hier.«
»Mit wem?«
»Ich glaube nicht, daß das für Sie von Interesse ist. Sie wollten Ihre Frau beruhigen, und jetzt wissen Sie alles, was Sie dazu brauchen.«
»Ich bin neugierig. Schließlich und endlich habe ich Ihnen die Nachforschungen bezahlt.«
»Wenn Sie wissen wollen, ob ich beispielsweise eine Beziehung zwischen Julio Chesma und Ihnen entdeckt habe, dann können Sie beruhigt sein. Ich habe keine entdeckt. Er bewegte sich in ganz anderen Kreisen. Die Polizei hat das mit den Drogen herausgefunden, und ich bin zu demselben Ergebnis gekommen, außerdem bin ich auf gewisse gefühlsmäßige Beziehungen des Individuums gestoßen. Im Moment tauchen Sie nirgends auf.«
»Warum sollte ich auftauchen? Ich habe diesen Menschen nie kennengelernt. Das war alles nur ein Mißverständnis. Ich bezahle Ihnen siebzigtausend Pesetas, die fehlenden fünfzigtausend plus Spesen.«
»In Ordnung.«
Señor Ramón ging nach oben in sein Büro. Carvalho näherte sich der Treppe, um zu lauschen. Auf der dritten Stufe saß La Gorda und schälte einen Pfirsich. Die Schale baumelte wie eine Schlange an einem Stück herunter zu dem Teller auf der Stufe zwischen den Beinen des Mädchens, das kein Mädchen mehr war. La Gorda grinste, als Pepe den Kopf vorreckte. Aber er zog ihn nicht zurück. Sie musterte ihn abschätzig. Pepe starrte genau zwischen ihre Schenkel, bis er das bläuliche Dreieck ihres Höschens entdeckte. Hastig preßte sie die Schenkel zusammen, und der Teller fiel die Stufen hinab. Pepe zog sich zufrieden zurück. Das Mädchen schimpfte mit hochrotem Kopf, als sie auf dem Fußboden umherkroch und die Reste ihres Pfirsichs und ihres Tellers einsammelte. Señor Ramón stieg über die Scherben hinweg und übergab Carvalho einen weißen Umschlag. Pepe steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts und knöpfte sie zu. Dann ging er wortlos, aber an der Tür wandte er sich noch einmal um. Señor Ramón und La Gorda sahen ihm nach, beide mit dem gleichen harten, trotz seiner Beherrschtheit stechenden Blick.
»Es wundert mich immer noch, daß Sie mir soviel Geld bezahlen, um etwas herauszufinden, das Sie auch fünfzig Meter weiter im Distriktkommissariat erfahren hätten.«
»Ich habe Sie nicht dafür bezahlt, daß Sie sich wundern. Was ich wissen wollte, habe ich erfahren. Also, adiós und gute Nacht.«
»Ich meinerseits kann das nicht behaupten. Ich möchte noch viel mehr erfahren, als ich schon weiß.«
Um sechs Uhr abends rief er sie an, und um acht Uhr hatte sich Teresa wie eine junge und reiche Witwe gekleidet, die sich zur Linken zählt und den Sommer in der Stadt verbringt. Sie trug eine weitere bezaubernde Djellaba, die sie irgendwo gekauft hatte, wo, spielte keine Rolle, ebensowenig, aus welchem Land sie stammte. Teresa hätte ebensogut eine Skandinavierin sein können, die sich als Tuareg- oder als Mayafrau verkleidet hatte und im Schatten der Tempel von Chichén Itzá saß. Gab man die Geographie und den nächtlichen Hintergrund hinzu, wirkte die junge Frau wie eine unbekümmerte Grundsatzerklärung der kontrollierten Unabhängigkeit. Sie hängte sich bei Carvalho ein und sprach erst, als er nach hundert Metern immer noch nicht gefragt hatte, wohin er gebracht wurde.
»Was hast du mit mir vor? Willst du mich aushorchen oder mit mir ins Bett gehen?«
»Zunächst will ich zu Abend essen.«
»Ich bin zufrieden, wenn ich irgendwas zwischen die Zähne bekomme.«
»Ich nicht. Und hier. Das erste Geschenk des Abends.«
Carvalho reichte ihr ein altes Buch, dessen rosafarbener Umschlag schon ziemlich vergilbt war.
»Die Physiologie des Geschmacks von Brillat-Savarin. Und was soll ich mit diesem Buch?«
»Lies es mal in Ruhe! Bestimmt hast du Materialismus und Empiriokritizismus gelesen!?«
»Sieh mal an! Ein Intellektueller!«
»Also, lies jetzt das hier, das bildet deinen Gaumen. Vielleicht quälst du dann in Zukunft deine Begleiter nicht mehr damit, daß du sie zu Kroketten aus der Kühltruhe einlädst.«
»Was bist du eigentlich? Bulle? Marxist? Gourmet?«
»Exbulle, Exmarxist und Gourmet.«
Carvalho ergriff die Initiative und führte Teresa ins Restaurant Quo Vadis. Dort erwiderte er die protokollarische Begrüßung des regierenden Clans, dem eine energische Mutter vorstand. Sie dirigierte alles von ihrem Sessel aus, der direkt am Eingang stand.
Als Teresa die Preise gesehen hatte, erklärte sie vorsorglich: »Ich nehme nur einen Gang.«
»Wieso, bist du knapp bei Kasse?«
»Nein, aber ich sehe nicht ein, warum ich fürs Essen soviel Geld verschwenden soll! Mir hätte ein einfaches Restaurant genügt!«
»Ich habe meinen distanzierten Respekt vor der Bourgeoisie immer noch nicht abgelegt und bin immer noch der Meinung, daß sie es versteht zu leben!«
»Wer bestreitet das?«
»Neunundachtzig Prozent der Bourgeoisie dieser Stadt essen abends etwas aufgewärmten Spinat und einen kleinen Seehecht, der sich in den Schwanz beißt.«
»Das ist gesund.«
»Würden sie den Spinat mit Rosinen und Pinienkernen essen und statt des Seehechts eine kleine Goldbrasse mit Kräutern, in Alufolie gewickelt und im Ofen gebacken, dann wäre dies ein ebenso gesundes, aber wesentlich teureres und phantasievolleres Abendessen.«
»Und das allermerkwürdigste ist, daß du das ernst meinst!«
»Absolut. Sex und Gastronomie sind die ernsthaftesten Dinge, die es gibt!«
»Komisch, etwas Ähnliches sagte auch Julio. Nicht genau das, aber so ähnlich sagte er es. Auch er wollte es zu einem Gaumen mit Doktortitel bringen. Dein Niveau erreichte er allerdings nicht. Er blieb bei Seezunge Müllerin und Canard à I’ Orange stehen. Das sind immer die ersten Gerichte, die sich Emporkömmlinge in ihrem Terminkalender notieren.«
Pepe war versucht, ihr eine Wodkaflasche an den Kopf zu werfen, als sie nichts weiter als Spiegeleier mit Speck bestellte. Er hatte sich als Vorspeise Plinzen mit geeistem Wodka bestellt und gehofft, sie würde mitziehen. Als Hauptgericht bestellte er sich ein Filetsteak vom Stier. Teresa konnte sich nicht verkneifen, ihr Mißfallen über das Monument aus dunklem, blutigem Fleisch zu äußern.
»Soviel zum Abendessen, und das im Sommer!«
»In meinem Haus brennt immer ein Feuer im Kamin, auch im Sommer.«
Teresa lachte auf wie eine zweitklassige US-Schauspielerin, spezialisiert auf die Rolle einer lustlosen Barschwalbe, die von Tresen zu Tresen zieht und auf den achten Tag der Woche wartet.
»Willst du dir meinen Kamin ansehen?«
»Du bist ja ganz phantasievoll, was das Essen angeht, aber nicht, wenn du flirten willst. Was du da eben gesagt hast, ist nur eine Abwandlung des berühmten ›Kommst du noch auf ein Glas mit nach oben?‹.«
»Ich habe noch eine Flasche Mineralwasser, die wir öffnen könnten!«
»Ich trinke lieber Whisky. Enttäusch mich ja nicht! Chivas?«
»Okay.«
»Alles klar.«
Während sie die Straße nach Vallvidrera hinauffuhren, summte Teresa Penny Lane vor sich hin.
»Wenn du ein Gourmet sein willst, mußt du anders reden.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Alle ernsthaften Gourmets, die ich kenne, sprechen mit französischem Akzent, auch wenn sie echte Spanier sind. Du verwendest nicht die richtigen Adjektive. Ein Gericht ist ›unübertrefflich‹ oder ›unbeschreiblich‹. Außerdem mußt du die Endungen aussprechen wie ein Franzose, der mit Begeisterung spanisch spricht. Los, sag mal ›Vichyssoise‹.«
»Vichysoise.«
»So, wie du das aussprichst, verliert das Gericht seinen ganzen Reiz. Bei dir klingt es wie Knoblauchsuppe.«
Danach zeigte sie sich von allem entzückt, was sie sah. Sie hatte nichts dagegen, daß Pepe das Kaminfeuer anzündete. Halb entkleidet saßen sie am Eingang und blickten in die Flammen. Im Rücken die frische Nachtluft des Berges und von vorn die entfernte, aber sozusagen bewegliche Hitze des Kamins.
»Wann willst du über Julio reden, vorher oder nachher?«
Carvalho war nicht bereit, auch nur einen Fußbreit Boden aufzugeben. Er unterdrückte seine gegenwärtige Begierde und sagte: »Jetzt gleich.«
»Alles, was ich zu wissen glaube, habe ich dir schon gesagt.«
»Der Schlüssel. Dieser Schlüssel, den du Julio überlassen hast, mit wem hat er ihn benutzt?«
»Ich weiß es nicht.«
Der helle Schein einer Flamme wurde plötzlich dunkler, vielleicht war es auch die Beherrschtheit in Teresas Gesicht, die nachließ. Anscheinend überlegte sie, ob Pepe wußte, daß er sie in die Enge treiben konnte.
»Doch, du weißt es.«
»Nein!«
Ein Nein wie dieses hatte Pepe schon fünfhundertmal gehört, bei Verhören, an denen er als Henker oder als Opfer teilgenommen hatte. Er packte Teresas Djellaba, knäuelte sie zusammen und warf sie ins Feuer. Ensetzt sprang sie auf, lief zu den Flammen und tat, als würde sie kneifen, um ihr Kleidungsstück wiederzubekommen. In einem Anfall von Mut wandte sie sich nach ihm um und schleuderte ihm ein hysterisches »Idiot!« entgegen, etwas geschwächt allerdings durch das Bewußtsein des Anblicks, den sie bot: eine junge Frau in Unterwäsche, leicht verschwitzt, auf deren Miene sich Mut und Angst die Waage halten. Carvalho erhob sich, ging auf sie zu, packte sie im Nacken, drückte, bis es wehtat, und zwang sie, sich sehr nahe vor dem Kamin auf den Fußboden zu setzen.
»Mit wem ging er nach Caldetas?«
Seine Stimme klang neutral. Teresa versuchte herauszufinden, ob sie eine Drohung enthielt, aber sie ahnte nur den bedrohlichen Hintergrund der Worte, die sogar freundlich gemeint sein konnten.
»Ich weiß es nicht, das schwör’ ich dir!«
»Was weißt du dann?«
»Laß mich los! Mir ist heiß.«
Carvalho zwang ihren Kopf noch näher ans Feuer. Der Druck seiner Finger verstärkte sich, aber die Stimme blieb freundlich.
»Was geschah in Caldetas?«
Teresa schwitzte. Der Schweiß rann in kleinen glänzenden Bächen an ihrem Hals hinab und befeuchtete ihre Brüste in dem winzigen Büstenhalter, was ihnen die Beschaffenheit seidiger, nächtlicher, heißer Früchte verlieh. Ihre Stimme klang etwas erstickt.
»Wenn du weniger gruselig bist, erzähle ich es dir.«
Carvalho half ihr aufzustehen. Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zur Tür, wo sie ihre ursprünglichen Positionen wieder einnahmen. Er streichelte ihre Wangen und den Glanz der nächtlichen, heißen Früchte.
»Es war an einem Freitag, vor ein paar Wochen. Ich fuhr nach Caldetas mit einem Freund. Mir fiel zunächst nichts auf. Er war es, der immer mehr merkwürdige Dinge feststellte. Schließlich entdeckten wir, daß etwas passiert war. Da waren schlecht abgewischte Blutflecke. Überall. Im Zimmer. Im Bad, und dann draußen. Im Garten waren Spuren von großen Reifen, wie von einem Lieferwagen oder einem kleinen Lastwagen. Das ist alles.«
Das genügte Carvalho, und er sparte nicht mit Zärtlichkeiten auf der entblößten Haut. Er lüftete die letzten Schleier, und vor ihm lag ein zweifarbiger Körper, weiß und goldbraun, auf halbem Weg zwischen Angst und Begierde.
Er erinnerte sich nur schwach, daß er Teresa in rasendem Tempo nach Hause gebracht und es nach der Rückkehr gerade noch geschafft hatte, die Bettücher zurückzuschlagen und sich auszuziehen, bevor ihn der Schlaf überwältigte. Er erwachte spät und fuhr erst nach dem Mittagessen in die Stadt hinunter. Es fiel ihm schwer, aber er mußte den Nachmittag im alten Handwerkerviertel um den Borne verbummeln. Das Labyrinth der alten Gäßchen war manchmal dunkel, manchmal in Sonnenlicht getaucht, das gedämpft und liebevoll die alten Steine beschien. Die abgestoßenen Ecken der Häuser, das Grün, das überall aus den Ritzen sproß, wo das Sandpapier der Erosion weiche Stellen für die Wurzeln hinterlassen hatte, die Wappenschilder über den Haustoren, die Stille, die nur unterbrochen wurde von der Arbeit der Ladenburschen und dem fernen Klirren von Werkzeug, entflohen durch halbgeöffnete Türflügel aus der Tiefe der Werkstätten, in denen nur Fünfundzwanzig-Watt-Birnen brannten, blind von Fliegendreck und dem Staub des Vorjahres. Die Autos waren in den weniger engen Straßen geparkt, aber kaum unterwegs. Er trank aus dem Brunnen vor der Kirche Santa Maria del Mar, kaufte in einem Stockfischgeschäft verschiedene Sorten Oliven und verzehrte sie im Gehen, begleitet von einem zarten Brötchen, das er einsam, wie verlassen im leergekauften Wandschrank der ersten offenen Bäckerei des Nachmittags gefunden hatte. Viele Geschäfte und Werkstätten hatten noch alte, schwere Türen aus verwittertem Holz, beschlagen mit Nägeln, an deren Köpfen Türfarbe von früher zu erkennen war, ein Rest vergangener goldener Pracht, und Rost. Drei Lebensalter einer Tür, eines Handwerkerlebens, sprachen mit den gequetschten Stimmchen der von Hammerschlägen bezwungenen Nägel, die im faserigen Holz steckten wie die Fleischstücke im Eintopf.
In einem galicischen Restaurant gegenüber der Kirche Santa Maria del Mar schlürfte Carvalho eine Tasse Bouillon und aß ein Stück Käse, der sehr weich war und etwas fade schmeckte. Eines mußte man seinen Verwandten lassen, der Käse, den sie ihm schickten, war genießbar. Dann ging er auf die Via Layetana hinaus. Als er an der Polizeihauptwache vorbeikam, warf er den gewohnten vorsichtigen Blick darauf, den er vor sich selbst nicht zu rechtfertigen brauchte: Er fühlte sich unwohl in dieser Gegend und beschleunigte seinen Schritt, als wäre ihm plötzlich etwas ganz Wichtiges eingefallen.
Er betrat ein Kino und ließ einen Sexfilm spanischer Machart über sich ergehen, in dem der angebliche Schwule, der in diesen Filmen immer auftaucht, am Ende verheiratet ist und Kinder gezeugt hat mit einer Frau, deren Gesicht einem Seeteufel gleicht. Die Rolle dieser Frau mit dem Seeteufelgesicht spielte Prinzessin Ira von Fürstenberg. Nach dem Kino freute er sich auf eine eisgekühlte horchata und wollte dann die Ramblas hinuntergehen. In der abendlichen Kühle hatte sich der Mittelstreifen der Ramblas wieder mit Fußgängern und beschaulichen Menschen bevölkert, die unter den Platanen auf Klappstühlen saßen und das unerschöpfliche Schauspiel der anderen betrachteten. Er wußte nicht so recht, ob er eine Zeitung oder bei dem Blinden an der Ecke ein paar Lotterielose kaufen sollte, schließlich entschied er sich für die Lose.
Dann ging über den großen Parkplatz in der Calle Pintor Fortuny, um sein Auto zu holen. Es war schwierig, in der Nähe von Quetas Salon einen Parkplatz zu finden, um die Mädchen beobachten zu können, wenn sie nach Feierabend herauskamen. Er fuhr über die Calle del Carmen zurück auf die Ramblas. Am Ende der engen grauen Straße leuchtete der barocke Glanz der Bethlehemkirche und das erfrischende Bild der Blumenstände in der Mitte der Ramblas. Er lenkte sein Auto in den Verkehrsstrom zum Hafen. Das langsame Tempo des gestauten Verkehrs erlaubte ihm, auf Mädchen zu warten, die er in Phasen plötzlicher Beschleunigung überholt hatte, und wie ein Spanner, der jederzeit fliehen kann, das Gewimmel der frischen Schatten zu genießen, die die Ramblas mit Nächtlichkeit befleckten. Sie waren ein komplettes Universum, das am Hafen begann und in die enorme Mittelmäßigkeit der Plaza de Cataluña mündete. Die Ramblas hatten die weise Launenhaftigkeit des Sturzbachs bewahrt, dem sie ihre Entstehung und ihren Namen verdankten. Sie strebten wie das Wasser einem Ziel zu, wie die Menschen, die zu jeder Tageszeit über sie hingingen und sich mit Weile verabschiedeten von den Platanen, den bunten Kiosken, dem launischen Handel mit Papageien und Meerkatzen, dem käuflichen Garten der Blumenstände und der Archäologie der Gebäude, die drei Jahrhunderte Geschichte einer geschichtsträchtigen Stadt verkörperten. Carvalho liebte diese Promenade, wie er sein Leben liebte, als etwas Unersetzliches.
Er schickte sich an, in das Gewirr der Gäßchen des Barrio Chino vorzudringen, sobald er den Eingang des Liceo erreicht hatte. Die Ungeduld der Autofahrer hinter ihm verhinderte jedoch die aufmerksame Suche nach einer Parkmöglichkeit in der Nähe des Friseurgeschäfts. Er machte eine vollständige Drehung, um wieder auf die Ramblas zu kommen und noch einmal einzutauchen in die Ökonomie der Straßen, die vor Enge und Dunkelheit fast blind waren. Er parkte auf dem Gehweg. Es war acht Uhr abends und kaum wahrscheinlich, daß die städtischen Guardias genauso wachsam sein würden wie zu den übrigen Tageszeiten. Von seinem Standort aus konnte er den Eingang des Salons unbemerkt beobachten. Drinnen brannte Licht, aber die Vorhänge und die Bilder der Modelle im Schaufenster verwehrten die Sicht ins Innere. Er schaltete das Radio ein, und das Summen der automatischen Antenne bewirkte, daß ein paar Gaffer vor dem Auto stehenblieben. Carvalho steckte eine Kassette der Bee Gees ins dunkle Maul des Gerätes. Sie waren für ihn der Inbegriff der Unfähigkeit zur Lebensfreude.
Er hatte Zeit, beide Seiten der Kassette zu hören und sich eine staubtrockene Zigarre anzustecken, die er vergessen im Handschuhfach fand. Aber in dem Moment, als er den elektrischen Anzünder wieder in seine Höhle zurückstekken wollte, sah er, wie ein Lieferwagen auf dem Gehweg hinter seinem Auto einparkte. Es stieg niemand aus, aber die Hupe stieß drei Rufe aus. Gleich darauf ging die Tür des Salons auf, und La Gorda stürzte heraus. Carvalho kauerte sich neben dem Schalthebel zusammen. La Gorda rannte an seinem Fenster vorbei zu dem Lieferwagen. Carvalho hob den Kopf und sah im Rückspiegel, wie sie einstieg. Während das Fahrzeug ausparkte, startete er sein Auto. Sobald er die trapezförmige weiße Rückseite des Lieferwagens vor sich hatte, heftete er sich an seine Fersen. Der Fahrer suchte sich seinen Weg durch die Gäßchen zu den Ramblas. Der Verkehr wurde schwächer, und Carvalho folgte seinem Führer auf der Umfahrung des Kolumbus-Denkmals. Das Zielfahrzeug fuhr in Richtung Plaza Palacio, bog vor dem Ciutadella-Park rechts ab und strebte über die Marinebrükke zur Ausfahrt auf die Autobahn. Carvalho folgte ihm auf dem Weg durch die Stadt zu der Straße nach Badalona.
Es war schwierig, den Lieferwagen im Labyrinth der Gäßchen nicht zu verlieren, die zur Strandpromenade von Badalona führen. Schließlich hielt er bei einigen Jahrmarktsbuden und einem Karussell an. Aus dem Lautsprecher quoll die Filmmusik von Love Story. La Gorda stieg aus, kaufte sich an einem fahrbaren Stand mit blauen Glühbirnen ein Eis und stieg wieder ein. Sie fuhren wieder. Die Strandpromenade war zu Ende, und in der Dunkelheit tauchten die düsteren Umrisse der großen Lagerhäuser auf. Der Lieferwagen fuhr zwischen abgewrackten Fischerbarken und Öltonnen hindurch, bog in eine Sackgasse ein und fuhr auf einen Hof mit Blumentöpfen und einer dichten Weinlaube, deren Skelett ein mennigrotes Eisengitter bildete. Der Lieferwagen überquerte den Hof und verschwand in einer Lagerhalle.
Carvalho hielt an der Straße an. Er konnte von dort ein verblaßtes Schild über dem Eingang zu dem gepflegten Hof erkennen. Schiffsbau Ginés Larios. Das Schild schien sich auf den früheren Verwendungszweck der Halle zu beziehen, denn darunter wies ein kleineres, aber frischgemaltes Schild auf ihre jetzige Verwendung hin: Tiefgekühlte Produkte. Der Motor des Lieferwagens war nicht mehr zu hören, Carvalho stieg aus, ging rasch über die Straße und betrat den begrünten Hof. Seine Augen waren überall, aber er ging so schnell, daß seine Füße keine Zeit gehabt hätten, anzuhalten, wenn er eine Gefahr bemerkt hätte. Wie von einem unbewußten Zwang getrieben, drang er in die Lagerhalle ein. Er lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Seite des Lieferwagens und spitzte die Ohren. Im Dunkeln sah er überall nur verschwommene Umrisse von Gegenständen. Im Hintergrund der Halle war eine kleine, beleuchtete Tür. Er ging darauf zu. Direkt von der Türschwelle aus führte eine eiserne Treppe nach oben, wo man die Familie reden hörte. Teller klapperten.
»Warum essen wir nicht draußen in der Laube?«
»Deine Mutter friert so leicht.«
Als Carvalhos Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schritt er den ganzen Umfang der Halle ab. Auf der anderen Seite des Lieferwagens entdeckte er eine weitere Tür. Er öffnete sie und stand zu seiner Überraschung unmittelbar im Sand, am Meer, in der dunklen Nacht mit ihren fernen Lichtern, deren Widerschein auf den Wellen glitzerte. Die Lagerhalle schloß ein Stück Strand nach außen hin ab. Auf dem Sand lagen ein wurmstichiges Fischerboot und ein Fiberglasboot mit einem Außenbordmotor, der mit einer Kautschukplane abgedeckt war. Carvalho kletterte in beide Boote hinein und tastete mit den Händen alles ab. Als er in dem Fiberglasboot stand, bemerkte er plötzlich mit Schrecken über dem Strand das erleuchtete Fenster des Zimmers, in dem er die Stimmen der Familie gehört hatte. Er meinte sogar, eine Gestalt am Fenster stehen zu sehen. Sofort warf er sich flach auf den Boden des Bootes. Mit einer Langsamkeit von Jahrhunderten hob er den Kopf. Niemand war zu sehen.
Jetzt sprang er auf den Sandstrand und kehrte in die Halle zurück. Er betastete die Gegenstände. Es roch nach Meer und Fisch. Dann öffnete er die Heckklappe des Lieferwagens und stieg hinein. Der Fischgeruch nahm zu. Er schaute in die Blechbehälter, die dort gestapelt waren, und sah, daß sie verpackten tiefgefrorenen Fisch enthielten. Nachdem er die Behälter überprüft hatte, stieg er nach vorn in die Fahrerkabine und öffnete das Handschuhfach. Es enthielt einen Block mit Formularen, schmutzige Lappen und eine Sonnenbrille. Auf einer Visitenkarte stand eine Adresse, die zu diesem Ort gehören mußte, und der Name, der neben dem Wort Schiffsbau auf dem alten Schild stand. Jetzt hörte er vielfältige Geräusche auf der Treppe. Er kletterte nach hinten in den Laderaum und sah durch das Heckfenster zu, wie eine ganze Familie vorbeimarschierte, beladen mit Tellern, Töpfen, Stühlen und einem Klapptisch. Ein altes Ehepaar, zwei junge Männer, La Gorda und eine alte Frau in Trauerkleidung ließen sich im Hof nieder und improvisierten ein Abendessen unter freiem Himmel.
»Was gibt ’s zum Abendbrot, Mutter?«
»Cascaburras.«
»Oh je!«
»Deinem Vater schmeckt es, und er sagt jeden Tag zu mir, daß ich cascaburras machen soll. Ich kann ja wohl nicht für jeden extra kochen!«
Die Frau sprach mit murcianischem Akzent, sie verschluckte die Endungen.
»Du magst also keine cascaburras! Früher haben sie dir immer gut geschmeckt!«
Das war der Vater. Carvalho überlegte, was zum Teufel das sein könnte, Cascaburras. Aus der Entfernung konnte er nur eine rötliche Masse erkennen, die sich in einer glasierten Tonschüssel befand. Ganz in kulinarische Überlegungen vertieft, vergaß er, daß er das Gebäude jetzt nicht mehr verlassen konnte, und als er das Bedürfnis danach verspürte, kam er zu der überraschenden und unabweisbaren Erkenntnis, daß er ein Gefangener war. Der Fischgeruch ging ihm auf die Nerven. Lieber ging er zu dem kleinen Strand hinaus. Dort könnte er über den nächsten Zaun klettern, wieder ein Stück Strand überqueren, über den nächsten Zaun steigen und auf diese Weise irgendwann die Lichter erreichen, die zu einer bewohnten Gegend gehören mußten. Aber er riskierte damit möglicherweise, den Rückweg zu seinem Auto nicht wiederzufinden. Lieber wollte er warten, bis sie fertig gegessen hatten und ihm den Weg freigaben.
Er legte sich in den Sand, eng an das Boot mit dem Außenbordmotor gedrückt. Aus dieser Perspektive wirkte das Boot viel größer, und unerwartet sah er das Bild vor sich, wie das Boot die Wellen durchpflügte. Plötzlich flog etwas über Bord. Ein menschlicher Körper. Als der Körper auf ihn zuflog, sah er sein zerfressenes Gesicht. Das Gewicht der visionsartigen Enthüllung erdrückte ihn beinahe. Badalona war nicht weit von Vilasar und Caldetas. Von diesem kleinen Strand aus war es ganz leicht, mit jeder beliebigen Ladung unbemerkt aufs Meer hinauszufahren. Chesmas Körper konnte ohne weiteres von dem Motorboot, dessen polierte Oberfläche über ihm glänzte, ins Wasser geworfen worden sein.
Die Tür der Lagerhalle ging auf, und ein Mann mit einer Zigarette im Mund kam heraus. Langsam ging er über den Sand, zwischen dem alten Fischerboot und dem Motorboot hindurch, bis zur Wasserlinie, wo der nächtliche Schaum der gestrandeten Wellen gluckste. Er blieb stehen und schaute aufs Meer hinaus, als wollte er seine ungeschützte Netzhaut imprägnieren. Seine Hände bewegten sich zur Körpermitte, er stellte sich breitbeinig hin, und Carvalho sah, wie der Harnstrahl herabfloß, vom leichten Geplätscher der Wellen übertönt. Er machte eine Bewegung, um die Tätigkeit zu beenden, und schloß sein Werkzeug wieder in seiner Zelle ein. Jeden Moment mußte er sich umdrehen und unweigerlich Carvalho entdecken, so sehr er sich auch an den Bootsrumpf preßte. Als der Mann zur Drehung ansetzte, glitt Carvalho über den Rand des Bootes ins Innere und drückte sich dort platt auf den Boden. Mit einer Hand tastete er in der Achselhöhle nach der geriffelten Oberfläche seines Pistolengriffs. Seine Fingerspitzen glitten über das rauhe Metall. Die Schritte des Mannes näherten sich. Jetzt hatte er den Bug des Bootes erreicht. Wieder ging er zwischen den beiden Schiffen hindurch. Carvalho lag auf dem Rücken, um sofort zu sehen, wenn der Mann einen Blick ins Bootsinnere warf.
Aber die Schritte entfernten sich. Langsam lösten sich Carvalhos Finger vom Revolverschaft. Der Druck auf seiner Brust verschwand, und entspannt sank er in die weiche Talsohle des Bootes. Als er hörte, wie die Tür ins Schloß fiel, spürte er die Kühle der Nacht auf der Stirn, die plötzlich schweißbedeckt war. Voller Ergebenheit stellte sich Carvalho darauf ein, so lange hier zu warten, wie es die Vorsicht verlangte.
Um vier Uhr früh erreichte er sein Haus in Vallvidrera. Er war so erschöpft, wie man nach doppelt erlebten Stunden nur sein kann. Er machte sich ein belegtes Brot mit kaltem Braten, Salat und Mayonnaise, öffnete eine Dose holländisches Bier und legte sich hin; er war nicht in Stimmung, das Kaminfeuer anzufachen. Mit dem Essen kehrte seine Lust zum Nachdenken zurück. Es gab eine Verbindung zwischen Señor Ramón und Chesma und eine zwischen Señor Ramón und dem Vater von La Gorda. Das Dreieck schloß sich mit der Linie, die Chesma zum Meer geführt hatte, aus dem er ohne Gesicht und mit der geheimnisvollen Tätowierung als einzigem Erkennungsmerkmal aufgetaucht war.
Aber damit war die Frage noch nicht beantwortet, warum Señor Ramón Carvalho überhaupt auf den Fall angesetzt hatte. Warum er von ihm verlangt hatte, sein eigenes Opfer zu identifizieren. Entweder kannte er sein Opfer nicht, oder er war aus irgendeinem Grunde daran interessiert, daß Carvalho eingriff, der Sache nachging und zu einem unbekannten Abschluß brachte. Falls es eine Abrechnung unter Rauschgifthändlern war, dann war es völlig unverständlich, daß Señor Ramón einen Privatdetektiv eingeschaltet hatte.
Und wenn es keine Abrechnung unter Rauschgifthändlern war, welche Verbindung gab es dann zwischen dem Besitzer eines nichtssagenden Friseurgeschäfts und dem Mann, der geboren war, das Inferno aus den Angeln zu heben?
Das war Carvalhos letzter Gedanke, bevor er einschlief. Um elf Uhr erwachte er und hatte Lust auf eine gut gekühlte Orangenlimonade. Wenn Carvalho seinem Körper für etwas dankbar war, dann für die Weisheit, mit der er seine eigenen Bedürfnisse kannte. Er hatte die Theorien seines Vaters übernommen, der dem Körper eine absolute, immanente Kenntnis seiner Bedürfnisse und Abneigungen zuschrieb. Wenn ihn ein plötzlicher Heißhunger auf Süßigkeiten überfiel, dachte er: ›Mein Körper braucht Glucose.‹ Wenn er wiederholt Appetit auf Muscheln bekam, dachte er: ›Mein Körper braucht Phosphor.‹ Und wenn es ihn nach Linsen gelüstete, schloß er daraus auf einen niedrigen Eisenspiegel. Er würde sich nie als großer Experte in Physiologie aufspielen, aber es hatte ihm immerhin geholfen, siebenunddreißig Jahre zu überstehen, ohne krank zu werden, abgesehen davon, daß seine Nase ab und zu troff, was stets mit unmäßigem Appetit auf Orangen und Zitronen einherging.
Es war höchst seltsam, daß er mit Lust auf Orangenlimonade erwachte zu einer Jahreszeit, in der Orangen die Verachtung jedes vernünftigen Menschen verdienten. Deshalb trank er brav einen Zitronensaft mit Eiswürfeln und ein wenig Wasser. Er mußte unbedingt mit Teresa Marsé reden und schwimmen gehen. Er fuhr den Abhang des Tibidabo hinab mit dem Vorsatz, beides zu tun. Er drang in die Boutique der Marsé ein mit seinem Vorschlag auf der Zunge. Teresa war gerade im Hinterzimmer, wo sie an einer Schneiderpuppe ein Kleid probierte, und hatte den Mund voller Nadeln. Sie zeigte keine Regung, als Carvalho vor ihr auftauchte und mit seinem Vorschlag herausplatzte, alles liegen- und stehenzulassen und mit ihm schwimmen zu gehen. Sie zögerte mit der Antwort, so lange, daß Carvalho schon um ihr Einverständnis fürchtete und mißtrauisch wurde. Als seine Stimmung bereits die Tiefe der Socken erreicht hatte, bewegte Teresa endlich die Lippen, mit der widerwilligen Erlaubnis der sadistischen Nadeln, und sagte: »Warte, ich bin gleich soweit. Dann können wir gehen.«
Carvalho war dankbar für die Präzision, mit der sie das Versprechen einhielt. Charo wären noch zwanzig verschiedene Dinge eingefallen, die sie unbedingt erledigen mußte, bevor sie dem gleich nachgekommen wäre. Aber Teresa war tatsächlich gleich da, und die einzige Überraschung, die sie für Carvalho bereithielt, war, daß sie die blonde Angela-Davis-Perücke abnahm. Ihr eigenes Haar war kastanienbraun. Sie brachte die zerdrückte Frisur mit zwei, drei kundigen Bürstenstrichen wieder in Form. Dann wandte sie sich Carvalho zu und war zu jedem Abenteuer bereit. Ohne die entstellende Perücke gewann Teresa die unbezweifelbare Identität einer Großbürgerstochter zurück, mit wohlgeformten Gesichtszügen, denen man die gute Ernährung und regelmäßige Pflege ansah und die eine Freiheit des Ausdrucks besaßen, die Heiterkeit eines Akrobaten, der mit Netz arbeitet. Charo arbeitete ohne Netz, seit sie geboren war, und auf ihrem Gesicht erkannte Carvalho bisweilen den Ausdruck einer Kanaille, die sich verteidigt, indem sie tötet, oder die Angst eines Menschen, der fürchtet abzustürzen. Das proletarische Gesicht besitzt dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie die Karyatiden: Es kann entweder lachen oder weinen. Das Gesicht der Marsé besaß die logische Gefälligkeit jeder Materie, die sich zu jeder Zeit und an jedem Ort anerkannt weiß.
Mit einer Hand trug Teresa ihre geflochtene Badetasche, mit der anderen zog sie Carvalho vorwärts. Schnell war beschlossen, daß sie mit Pepes Auto fahren würden.
»An welchen Strand fahren wir? In Castelldefels oder Garraf geht immer so ein unangenehmer Wind.«
»Dann laß uns nach Norden fahren. Was hältst du von Caldetas?«
Der Vorschlag war von Teresa gekommen, ohne daß Pepe sie überreden mußte. Während der Fahrt schwiegen sie gezwungenermaßen, denn Teresa lauschte mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit der Musik, die aus dem Radio oder dem Kassettenrecorder kam. Wenn die Musik ihr gefiel, legte sie sich im Sitz zurück, schloß die Augen und verschränkte die Hände im Nacken. In diesen Momenten erfreute sich Carvalhos Blick verstohlen an den wenigen Rundungen ihres Körpers, die sich unverhofft unter dem Kleid abzeichneten. Teresas Reiz bestand jedoch in ihrem Verhalten und einer Erziehung für die Liebe, die aus der Natürlichkeit sprach, mit der sie Theater spielte. Sie besaß ein Gespür für die Bühne, das sich ohne Zweifel jeder Situation anpassen konnte.
»Wir sind da.«
Teresa schien zu erwachen. Ohne Zögern streifte sie ihr Kleid über den Kopf und saß im Bikini neben Carvalho. Er musterte ihren Körper methodisch und prüfend. Auf dem zweiten Rückweg von unten nach oben trafen sich ihre Blicke. Sie lächelte.
»Pas mal?«
»Pas mal.«
Lachend nahm sie Carvalhos Arm und legte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Wange an seine Schulter. Sie fuhren ins Zentrum von Caldetas. Der Anblick der großen Villen, die so eng mit der Geschichte des ganzen katalanischen Modernisme in Verbindung stehen, vermittelte das Gefühl, in eine Ortschaft zu gelangen, die eher zu musealen Genüssen als zum Besuch eines Strandbades einlädt. Die großen, meist dunklen und verwitterten Gebäude im Liberty-Style ließen den Neuankömmling erwarten, am Strand eine Badeszenerie der Belle Époque vorzufinden, Passanten mit Sonnenschirmchen oder Westen, von zeremonieller Höflichkeit und mit Bemerkungen auf dem Niveau von:
»Was für ein schöner Morgen heute!«
Am Strand aber, wenn der Rücken die architektonische Szenerie vergaß, wiederholte sich das Panorama jedes beliebigen Badestrandes des Maresme, mit mangelhaftem Sand und Badegästen, die dem schadstoffbelasteten Meer Barcelonas und seiner näheren Umgebung nach Norden entflohen waren. Während man an den Stränden im Süden der Stadt Charos Freundinnen treffen konnte, die ihre Ware bräunten, und braungebrannte Papagalli in Badehosen, die eng anlagen bis zur Eindeutigkeit, traf man an den Stränden im Norden gutbürgerliche Mütter, die sich hier unzulänglich erholten, während ihre Kinder um sie herumhüpften und plötzlich mit dem Ruf ›Papi, Papi‹ losrannten, wenn das Oberhaupt der Familie nach einem anstrengenden Arbeitstag am Strand auftauchte.
Teresa sprang ins Wasser mit der Sicherheit, die gutes Training und die perfekte Beherrschung des Schmetterlingsstils verleiht. Carvalho streckte sich im Sand aus, wobei er den Kopf mit den im Nacken verschränkten Händen etwas anhob. Er sah zu, wie Teresa Furchen pflügte, wie sie immer schneller in einer perfekten, wie mit dem Lot gezogenen Senkrechten aufs Ufer zuschwamm. Sie kam aus dem Wasser, schüttelte im Laufen die Tropfen ab und warf sich neben Carvalho auf das Handtuch, das auf dem Sand lag wie das Rechteck eines Parkplatzes.
Carvalho lag ungern in der Sonne wie eine Eidechse. Aber Teresas Thermostat unterschied sich in nichts von dem der übrigen Frauen. Sie sind wie Tiere mit kaltem Blut – sie brauchen die Sonne und sind imstande, sich ihren Strahlen mit dem beseligten Ausdruck eines Menschen hinzugeben, der gerade die heilige Kommunion empfängt, oder sogar mit der Ekstase eines Mystikers, der bereit ist für die göttliche Hingabe. Teresas Gesichtsausdruck erreichte die Grenze zur Ekstase. Das war mehr, als Carvalho ertragen konnte, und er zog es vor, ins Wasser zu gehen, obwohl er überhaupt kein Verlangen danach hatte. Er hatte festgestellt, daß seine Nase verschleimt war, und dies sofort in Verbindung gebracht mit der Feuchtigkeit der letzten Nacht und dem morgendlichen Durst auf Orangensaft. Also sprang er ins Wasser und schwamm ein paar Minuten, um etwas mit Teresa gemeinsam zu haben und an ihre Seite zurückzukehren mit einem – wenn auch minimalen – Beweis von Solidarität.
»Ich bin hungrig«, sagte sie, ohne das gefürchtete ›Laß uns irgendwas essen gehen‹ hinzuzufügen. »Wir könnten in ein Restaurant gehen. Es muß hier gute Lokale geben. Wenn wir mit meinen Eltern im Sommer hier waren, gingen wir manchmal in ein Lokal an der Strandpromenade. Ich weiß nicht, ob es heute noch existiert. Wir können aber auch am Strand eine Wurst im Baguette essen und ein Bier dazu trinken. Es gibt eine Bude gleich am Anfang der Promenade. Dann hätten wir mehr Zeit, und ich könnte dir das Haus zeigen.«
In Carvalhos Brust krampfte sich etwas zusammen. Er antwortete nicht, damit sie nicht hörte, wie seine Stimme zitterte. Sie trockneten sich ab und gingen zum Wagen. Carvalho blieb draußen und wartete, bis sie sich umgezogen hatte. Sie zog ihre Tunika an und holte dann den feuchten Bikini darunter hervor. Dann nahm sie das Handtuch und trocknete sich unter der Tunika sorgfältig die Geschlechtsteile ab. Carvalho schlang sich das Handtuch um die Hüften, ließ die Badehose zu Boden gleiten und stieg ins Auto. Dann zog er sich an, wobei er genau darauf achtete, daß niemand vorbeiging, während er gerade entblößt war.
»Wir könnten zu Fuß gehen, es ist gleich hier um die Ecke. Danach nehmen wir das Auto und fahren zum Haus!«
Hand in Hand gingen sie zur Promenade hinauf. Die Bude kam in Sicht, umringt von Badegästen und Leuten, die in die bekleidete Zivilisation zurückgekehrt waren, alle angelockt vom Duft der gebratenen Würste. Carvalho stellte befriedigt fest, daß sich die Auswahl nicht auf die Diktatur der Frankfurter beschränkte, sondern daß auch grovers gebraten wurden. Er befürchtete, daß Teresa das Schicksal ihres Magens an eine Anhäufung von Frankfurter Würstchen knüpfen würde, und beeilte sich, ihr etwas anderes vorzuschlagen.
»Wollen wir grovers nehmen?«
»Die habe ich noch nie probiert. Welche sind das? Die Weißen da?«
»Nein, aber die weißen sind auch gut. Wir könnten einen grover nehmen und eine von den Weißen, wie du sie nennst.«
»Und keine Frankfurter?«
Ohne das Frankfurter Würstchen schien Teresa verloren in der Kaverne ihres Magens.
»Gut, nimm eine Frankfurter, aber ich rate dir, auch einen grover zu probieren.«
Carvalho nahm Ketchup dazu, Teresa blieb lieber beim altbekannten Senf. Das frischgezapfte Bier schmeckte hinreichend gut, und Pepe stellte nicht ohne Überraschung fest, daß er nach dem grover und der Frankfurter noch in der Lage war, zum Abschluß ein Stück Baguette mit Frankfurter und Senf zu verzehren.
»Das war ausgezeichnet. Es gibt nur eine einzige Schweinemetzgerei in ganz Barcelona, die deutsche Schweinefleischprodukte so gut imitiert.«
»Welche?«
Er gab ihr die Adresse und erklärte, wie man dort hinkam. Teresa wirkte aufmerksam und amüsiert. Sie kehrten zum Auto zurück, und Teresa zeigte ihm den Weg zu einem eisernen Gitter, das den Eingang zu der Villa ihrer Familie verschloß. Sie stieg aus und öffnete das Sicherheitsschloß an der Kette, die die beiden Flügel des Gitters miteinander verband. Sie stieß die Flügel weit auf, und Carvalho stand vor der Wahl zwischen zwei Kieswegen, die durch eine keilförmige, dicht bewachsene Grünfläche mit einer Reihe von Zwergpalmen getrennt wurden. Er nahm den rechten Weg zwischen vernachlässigten Hekken und übergroßen Oleanderbüschen, deren Zweige die Fahrt etwas behinderten. Betonmauern mit Fliesenmosaiken und großen gefliesten Vasen, in denen wahre Geranienurwälder prangten, begrenzten den Weg, der zur zentralen Front des Hauses führte. Das ungeheure Gebäude aus einem fast roten Stein war gekrönt von spitzen Festungstürmen, die mit glasierten Keramikziegeln gedeckt waren.
Über eine bunte Mosaiktreppe gelangte man zu einer dreifachen, spitzbogenüberwölbten Tür, die aus dunkelviolettem Sandstein gehauen war, in dem Milliarden kleiner Kristalle und eingelassene Keramikstücke wie Edelsteine blitzten. Teresa kam Carvalho außer Atem nach.
»Warum hast du nicht auf mich gewartet?«
Sie öffnete die mittlere Spitzbogentür, und sie betraten eine große Eingangshalle. Die Feuchtigkeit schien den Raum sichtbar auszufüllen und war wie ein Schweizer Käse, durchlöchert von verschiedenfarbigen Sonnenstrahlen, die durch bunte, ein wenig beschädigte Glasfenster drangen. Die vielfarbigen Glasfenster zeigten Darstellungen des Handwerks und der Künste im Katalonien des Mittelalters und der Renaissance. Die hohen Wände waren durch gotisch anmutende Rippen gegliedert und ab und zu unterbrochen von stuckierten Basreliefs, deren braune Farbe einmal glänzend gewesen war. Am Beginn der Treppenbalustrade aus kaffeebraunem Marmor schwang ein großer St. Georg aus ausgeblichenem Gips seine Lanze gegen eine Drachenechse, die sich zornig aufbäumte. Im Hintergrund, über dem ersten Treppenabsatz, bündelte eine Rosette mit der Flagge Kataloniens die Inszenierung zu einer zielgerichteten Apotheose der Allmacht einer Bourgeoisie in den Jahren ihrer Reife und schöpferischen Kraft.
»Es wäre vergeblich, wenn ich versuchen würde, dir alles zu zeigen. Es gibt hier Zimmer, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr betreten habe. Sie sind abgeschlossen. Wenn wir früher den Sommer hier verbrachten, brauchten wir vier Hausmädchen!«
Neben dem Treppenaufgang ging es seitlich zu der holzgetäfelten Bibliothek, von deren Decke hölzerne Stalaktiten herabhingen, die das Geäst eines Zauberwaldes imitierten. Bücher bedeckten jeden Quadratzentimeter der Wand. Sie gingen weiter in den anschließenden Salon, in dem schwere, ziemlich mitgenommene Sessel auf das Wunder zu warten schienen, daß das Feuer wieder in dem großen offenen Kamin aus grauem Stein aufflackern würde. Er war den Feuerstellen der geheimnisvollen alten Gutshäuser des Landes nachempfunden. Carvalho sah sich den offenen Kamin genau an. Keine Spur von schlechtem Kaminholz seit mindestens fünfhundert Jahren, dachte er mit einer gewissen Empörung. Vom Salon aus gelangte man in das Eßzimmer, das so majestätisch wirkte wie der Konferenzsaal einer englischen Bank, eingerichtet nach den Empfehlungen von William Morris. Der ernste neugotische Geist des Raumes wurde ins Lächerliche gezogen durch vier Gemälde von Sunyer, die an den Wänden hingen. Bilder aus Ackerbau und Viehzucht, dachte Carvalho ohne Begeisterung. Vom Eßzimmer aus gelangte man zu einem engen, kleinen Flur zwischen den Küchenräumen, in denen noch der ranzige Geruch der letzten Mahlzeit vergangener Zeiten hing. Eine unrationelle Küche mit verbeulten Kochtöpfen an den Wänden und Steinkohleherden mit Resten von Kacheln, die aufgrund der Hitze oder zu nasser Flanelltücher gesprungen waren.
Von der Küche aus führte ein ähnlicher Flur wie der, der sie mit dem Eßzimmer verband, zur anderen Seite. In der Mitte dieses Flurs begann eine Treppe, die zum Weinkeller hinabführte, der Flur selbst führte weiter zur Eingangshalle.
»Die Zimmer sind oben.«
Teresa lief vor ihm die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Carvalho folgte in ihrem Kielwasser, bis sie durch eine schwere Flügeltür aus geschnitztem Holz in das herrschaftliche Schlafzimmer gelangten. Eine hohe Bettstatt mit Spitzbögen und einem Baldachin. Ein Toilettentisch im neoklassizistischen Stil mit Klappspiegel. Eine Mahagonikommode mit Blumenmotiven und einer Marmorplatte, die von schwarzen Rissen durchzogen war. Carvalho schenkte in diesem Moment dem Gemälde noch keine besondere Aufmerksamkeit, das über der Kommode gegenüber dem Bett an der Wand hing. Er tat es erst später, als Teresa ihn an den Händen faßte und zu dem parkettierten Podium führte, über das man die Lagerstatt bestieg. Als er auf die Matratze fiel und bevor er sich in Stellung brachte, ließ er den Blick noch einmal über die Wände schweifen, und dabei fiel ihm das Gemälde mit den schrecklichen, beinahe fluoreszierenden Farben auf. Es war das klassische moralisierende Bild, das sich die fromme Bourgeoisie im Schlafzimmer aufhängte, um der Versuchung zu widerstehen, die Beschränkungen des großen Nachthemds mit dem Fensterchen zu überwinden oder gar den Exzeß zu wagen, einen obszönen Witz zu inszenieren. Das Bild zeigte den biblischen Wendepunkt der Rebellion Luzifers. Der gefallene Engel erschien hochmütig, aber besiegt in der unteren Ecke des Bildes, wo er sich eben anschickte, unter dem kategorischen Imperativ des Schwertes von Erzengel Michael ein paar mysteriöse Treppenstufen hinabzusteigen.
»Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben«, murmelte Carvalho in dem Moment, als von Teresas ganzer Hautoberfläche eine Strahlung von Wärme und Berührung ausging, und sich eine Hand wie eine frierende Taube unter den Stoff seines Hemdes schob.
»Wir müssen zurück. Du mußt den Jungen abholen.«
»Heute geht er zu seinem Vater. Omi hat Geburtstag, und er ist zum Lunch eingeladen.«
Das Wort ›Omi‹ sagte sie mit ironischem Unterton. Carvalho hatte sich an Theresas Seite mit einem gelblichen Laken bedeckt. Von hier aus konnte er nur den seidenen Bauch über dem Bett sehen oder das Bild von Luzifer, das von den beiden Säulen am Fußende des Bettes exakt eingefaßt wurde.
»Hat Julio viele Stunden in diesem Bett verbracht?«
»Eine ganze Anzahl. Warum?«
»Schau mal.«
Teresa richtete sich halb auf, um das Bild genau zu betrachten.
»Ich wußte gar nicht mehr, daß dieses Bild hier hängt.«
Sie legte sich wieder hin, rückte aber etwas ab von Carvalhos Körper.
»Sprichst du in den Betten immer über die, die vor dir darin lagen?«
»Wir haben sonst nicht so viele gemeinsame Gesprächsthemen.«
»Wenn es das ist, dann frag mich. Ich liege vor dir wie ein offenes Buch!«
»Hat er dir erzählt, wie er zu der Tätowierung kam?«
»Als ich sie entdeckte, fing ich an zu lachen wie eine Verrückte. Ich bat ihn, sie entfernen zu lassen. Aber er wollte nicht.«
»Ihr habt euch nach seiner Rückkehr aus Holland kennengelernt, vor zwei Jahren. Wie lange dauerte eure Beziehung?«
»Nicht lange, vier oder fünf Monate. Wir trafen uns aber weiterhin ab und zu, bis vor ein paar Monaten.«
»Wollte er den Hausschlüssel oft haben?«
»Anfangs ja, dann sagte ich ihm, er sollte sich einen Nachschlüssel machen lassen, um meine Ruhe zu haben.«
»Seid ihr euch hier nie in die Quere gekommen?«
»Doch, ein einziges Mal. Ich wollte es dir neulich nachts nicht erzählen, weil du mich so erschreckt hattest. Es ist sieben oder acht Monate her. Ich glaube, es war im Januar. Ich kam mit einem Verwandten des Schahs von Persien hierher. Ja, du hast ganz richtig gehört. Ein Neffe dritten Grades des Schahs, mit dem ich geschäftlich zu tun hatte, weil er eine Boutique mit Hippieschmuck betreibt. Ich hatte gleich bemerkt, daß jemand da war, weil das Gartentor nicht abgeschlossen war. Aber das Haus hat viele Zimmer. Ich beriet mich also mit Seiner Kaiserlichen Hoheit, und er zeigte sich zunächst etwas lustlos. Aber dann war er einverstanden. Wir gingen ins Haus und nahmen ein Zimmer am anderen Ende dieses Stockwerks. Weil ich vor Neugier beinahe umkam, kam ich hierher und öffnete vorsichtig die Tür. Julio lag in diesem Bett und schlief anscheinend. Neben ihm lag eine Frau, die schon etwas älter war. Na ja, alt war sie auch nicht, etwa vierzig. Sie schlief nicht, sondern sie schien vom Bett aus zur Balkontür zu schauen. Die stand ein wenig offen, und sie schaute hinaus.«
»Hat Julio nie von dieser Frau erzählt?«
»Nein.«
»Beschreib sie mir!«
»Ein Laken, und am Ende dieses Lakens ein braunes Gesicht, in dem alles groß war, Augen, Mund und so weiter. Sie schien ziemlich viel Fleisch unter dem Laken zu haben.«
Der reife Körper von Queta paßte besser in diesen Rahmen als die durchtrainierte Wenigkeit von Teresa. Was sich Carvalho nicht vorstellen konnte, waren die Gefühle einer Friseurin aus dem V. Distrikt in diesem Heiligtum, das für die Ruhe einer unbekannten sozialen Klasse bestimmt war. Carvalho erinnerte sich an die vierziger Jahre, sie lagen plötzlich offen vor ihm, wie das Wunder der Plaza de Padró, die eines Tages infolge des Zusammentreffens verschiedener Straßen des V. Distrikts entstanden war. Er erinnerte sich an die Lieder, die man damals in den Innenhöfen hörte, neben dem Summen der Nähmaschinen oder dem Klappern der Teller beim Abwasch. Auch jenes Lied fiel ihm wieder ein, das vor allem Frauen in dem Alter, das Queta jetzt haben mußte, immer wieder gesungen hatten:
Er kam in einem Schiff mit fremdländischem Namen
und ich traf ihn am Abend im Hafen …