Das alte Hotel Schiller war für Carvalho einer der Lichtblicke in Amsterdam. Vom Fenster seines etwas heruntergekommenen Zimmers konnte er den Rembrandtplein überblicken, in dessen Mitte das Schwergewicht Rembrandt für die Geschichte posierte, und zwar mit einer gelassenen Heiterkeit, die er zu Lebzeiten nie besessen hatte. Wenn die Holländer könnten, so dachte Carvalho, würden sie Rembrandts unter Qualen entstandene Malerei in die Pastelltöne eines französischen Gemäldes des 18. Jahrhunderts verwandeln. Über den Dächern schimmerte die vergoldete Gestalt des Engels mit der Trompete, der die Uhr eines benachbarten Platzes krönte. Er verschob die Fahrt nach Den Haag auf den nächsten Tag. Es dunkelte mit nordischem Tempo, und er wollte den hereinbrechenden Abend nutzen, um wieder einmal die alten Wege zwischen den Grachten zu gehen, die zum Rotlichtviertel, zum Hauptbahnhof und zum Hafen führten. Auch wollte er nicht versäumen, in einem indonesischen Lokal seine Abendmahlzeit einzunehmen, und er wußte, daß ihm Amsterdam zwei Wahlmöglichkeiten bot: das Indonesia und das Bali. Das erste war nur zwei oder drei Blocks vom Hotel entfernt, und seine Rijsttafel war unanfechtbar. Nichts auf der Welt sollte ihn davon abhalten, in der erstbesten Kneipe ein paar Genever zu kippen und ihnen jeweils einen Krug Bier hinterherzuschicken. Die englischen und holländischen Lokale verwöhnen ihre Gäste mit dem optischen Kontakt von Holz und altertümlichen Tischen, mit Platz zum Sitzen und zum Reden, und sie lassen dem Bier genügend Zeit, sich den Gegebenheiten des Magens anzupassen. Carvalho sah wieder einmal bestätigt, daß es die kleinen Einzelheiten sind, die dem Ganzen seine entscheidende Bedeutung verleihen. Es war einer der Höhepunkte seiner Hollandreise, diese zwei Gläser holländischen Genever zu trinken und ihnen die beiden Krüge Bier folgen zu lassen. Dieser Wacholder ist unwiederholbar, nicht so raffiniert und verfeinert wie der englische. Man muß in den Lokalen ausdrücklich holländischen Genever bestellen, der auf der Basis von Getreide und Wacholderbeeren hergestellt wird. Die Kellner sind der Meinung, er sei für den Nichtkenner zu rauh, und bringen normalerweise englischen Gin. Aber alles zu seiner Zeit. Carvalho dachte an jenen dubiosen kalifornischen ›Amontillado‹, den er sich so oft in Ermangelung eines echten Amontillado einverleibt hatte, an den kalifornischen Burgunder oder jene kalifornischen Weißweine, die mit den galicischen soviel gemein hatten wie Sellerie mit Spargel.

Wenn ein Körper zwei Genever und zwei Krüge Bier vertragen kann, dann muß er auch die doppelte Menge davon vertragen. Carvalho prüfte dies mit unglaublicher experimenteller Opferbereitschaft nach und ging dann spazieren, fest entschlossen zu der Annahme, daß die Welt, zumindest in der holländischen Parzelle, gut sei. Über den Grachten war es dunkel geworden, die Grachten seines Blutes dagegen hatte der Alkohol erleuchtet. Er ging durch die Straßen und erlebte, wie die erste Dunkelheit Gewässer und Bäume ins Futteral der Nacht steckte. Langsame Radfahrer fuhren in schläfrigem Tempo vorbei, aber auch schnelle Autos, die sich auf den Selbsterhaltungstrieb der Passanten verließen.

Es war kühl geworden, und er beschloß, zum Hotel zurückzugehen und sich wärmer anzuziehen. Der Portier gab ihm seinen Zimmerschlüssel und bat ihn, einen Augenblick zu warten. Aus dem Hintergrund der Hotelhalle kam ein riesenhafter Regenmantel auf ihn zu, den ein winziger Tirolerhut mit einer grauen Feder krönte. Ein reinblütiger Arier wies sich rasch mit seiner Plakette als Polizist aus. Er fragte Carvalho auf englisch, ob er ihn kurz sprechen könne. Sie nahmen in der Ecke Platz, aus der der Polizist gekommen war. In seiner Hand erschien ein Holzkästchen, das Zigarillos im Zahnstocherformat enthielt. Carvalho bediente sich.

»Wir haben oft an Sie gedacht.«

»Inzwischen ist eine Menge Zeit vergangen.«

»Nicht genug. Sie waren hier zwei Jahre lang als Sicherheitsexperte tätig.«

»Es war ein politischer Auftrag.«

»Ja, ich bin darüber informiert. Mein Kollege Rinus Kayser erinnert sich gut an Sie, er läßt Sie grüßen. Leider konnte er nicht persönlich kommen. Wollen Sie länger in Holland bleiben?«

»Nur drei oder vier Tage.«

»Aus welchem Anlaß?«

»Sehnsucht.«

»Ein Mädchen?«

»Amsterdam. Die Stadt übt einen Zauber auf mich aus.«

»So. Sie kommen tatsächlich nicht aus einem beruflichen Grund? Wir könnten Ihnen behilflich sein.«

»Ich arbeite selten und dann nur als Privatdetektiv. Ich lebe jetzt in Spanien, wo dieses Metier lediglich zur Überwachung untreuer Ehefrauen gebraucht wird.«

»Untreue Ehemänner werden nicht überwacht?«

»In Spanien ist es der Mann, der das Geld besitzt, um die untreue Frau beschatten zu lassen.«

»Haben Sie etwa einen Fall in Holland?«

»Auch in Spanien gibt es Motels. Die untreuen Frauen müssen mit ihren Liebhabern nicht nach Holland fahren, um jemandem Hörner aufzusetzen.«

»Gut. Jedenfalls wissen Sie, wo wir zu finden sind. Es wäre uns sehr unangenehm, wenn Sie kein Vertrauen mehr zu uns haben sollten.«

Carvalho verabschiedete sich von dem Polizisten mit keltischer Liebenswürdigkeit. Er begleitete ihn sogar durch die Drehtür hinaus auf die Straße. Danach, auf dem Weg zu seinem Zimmer, ließ er sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Er hatte nicht erwartet, daß es so schnell gehen würde. Natürlich wußte er, wo sie zu finden waren. In Holland sieht man keinen einzigen Polizisten auf der Straße, dafür gibt es so viele kleine Polizeiwachen wie in Spanien Maronenverkäuferinnen im Winter. Er überlegte, ob er wohl überwacht würde, solange er im Land war. Das war kaum anzunehmen, es sei denn, seiner Ankunft wäre eine Mitteilung der spanischen Polizei vorausgegangen. Dies käme aber nur in Frage, wenn diese über seinen Auftrag Bescheid wüßte und ihn mit der Rauschgiftgeschichte in Verbindung bringen würde. Aber wahrscheinlich handelte es sich einfach um eine indirekte Warnung seitens der ›Politie‹. Wir wissen, daß du hier bist, aber nicht mehr als Sicherheitsexperte, der im Auftrag der US-Regierung besonderen Schutz genießt. Gut. Er war informiert und nahm an, daß die Sache damit erledigt war.

Der Gedanke an das indonesische Restaurant beendete seine Grübeleien. Mit jedem Schritt, der ihn seinem Ziel näher brachte, wurde sein Appetit größer. Er ließ auch nicht nach, während ihn der Lift zu dem Stockwerk brachte, wo sich das Lokal befand. Angesichts der reichhaltigen Speisekarte, die er aufgeschlagen hatte, entschied er sich für das einzig Mögliche, nämlich für eine Rijsttafel, und zwar die teuerste. An jedem anderen Ort der Welt wäre es ein Sakrileg gewesen, zur Rijsttafel etwas anderes als Wein zu trinken. Aber hier in Holland bedeutete es Ketzerei, nicht ein paar Gläser kühles Bier dazuzubestellen. Das zeremonielle Entzünden der Kerzen unter den Tellerchen der Rijsttafel deprimierte ihn etwas. Es war das charakteristische Stimmungstief, das einen befällt, wenn man allein essen muß. Angesichts dieses gefährlichen Gemütszustands hilft nur eines: reichlich und erstklassig essen! In fünf Minuten führt der Magen einen überzeugenden Kampf mit dem Gehirn, und wie immer bei solchen Kämpfen siegt die praktische über die theoretische Intelligenz. Die Zunge übernimmt die Vermittlung zwischen Fleisch und Geist und stiftet ihren Liebespakt mit der Perfektion einer graduierten Kupplerin. Die Erdnuß bestimmte den Geschmack der Saucen, entweder als Beilage oder als direkte Zutat. Die abwechslungsreiche Palette von Geschmortem und Gebratenem paßte sich, abgemildert durch die Saucen, dem weißen und neutralen Ruhebett des indischen Langkornreises an. Und wenn die Zunge angesichts der Menge der Gewürze oder der Intensität der Saucen Anzeichen von Reizung zeigte, war sie nach einem halben Glas dieses Bieres wieder frisch gewaschen und gestärkt, um ihre magische Entdeckungsreise fortzusetzen.

Viele Häuser des jüdischen Viertels sind bloße dekorative Fassaden, um den optischen Rhythmus der Stadt zu erhalten. Im Innern stehen sie leer, andere sind im Zerfall begriffen, und nur die Fassade wird abgestützt, damit sie nicht vor dem Ende der Komödie zusammenfällt. Nicht so dieses hier: ein nobles Gebäude mit Schildern von Silberschmieden und dem Geruch von Geld und effizient arbeitenden Büros. Carvalho stieg zum zweiten Stock hinauf und kam zu einer Tür, die von einer strahlenden Neonröhre umrahmt wurde. In der Mitte prangte das Schild: ›Mr. Cooplan, Import – Export‹. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, streckte er den Arm aus, bis seine Hand an eine große Ziervase aus Delfter Porzellan stieß. Er hob sie mit den Fingerspitzen so weit an, bis er fand, was er suchte. Einen Schlüssel. Entschlossen steckte er ihn ins Schloß. Er betrat einen kleinen, hellgrün gehaltenen und sehr hell erleuchteten Flur. Von einer Glastür am anderen Ende kam ihm ein Mann entgegen, der wie eine Schaufensterpuppe aus einer Herrenboutique der Champs-Élysées gekleidet war. Als er näher kam, sah man, daß seine Gesichtszüge ebenfalls den leblosen, feingeschnittenen Zügen solcher Puppen entsprachen. Seine trotz der Überraschung, die sie verrieten, wohlgemessenen Schritte kamen zwei Meter vor Carvalho zum Stehen. Selbst das weiße Haar, das sein gebräuntes, jugendliches Gesicht umrahmte, wirkte künstlich.

»Du?«

Sein Blick wanderte zu Carvalhos Hand, die den Schlüssel hielt.

»Du hast den Schlüssel noch?«

»Nein. Es ist der, der unter der Vase liegt.«

Die Puppe hob eine Braue, nur eine, aber mit der Präzision eines Schauspielers genau im passenden Moment. Er drehte sich auf dem Absatz um und wandte Carvalho den Rücken zu, während er zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrte. »Komm mit!« Carvalho gehorchte nicht. Er setzte sich gemächlich in Bewegung und öffnete Türen zu wohlgeordneten Büros, die den nächsten Arbeitstag erwarteten. Er betrat ein Zimmer voller Karteischränke. Die Schubfächer waren verschlossen. »Du verschwendest deine Zeit.« Die Schaufensterpuppe stand in der Tür. Was ihr Gesicht ausdrückte, war zweifellos Ironie.

»Davon habe ich mehr als genug.«

»Was suchst du?«

»Eine Information.«

»Ich sehe keinen Grund, warum ich sie dir geben sollte. Du gehörst nicht mehr zur Firma.«

Wie immer sprach Max Blodell mit Carvalho in einer Mischung aus Harvardenglisch und kolumbianischem Spanisch: Es waren die einzigen Orte dieser Welt gewesen, wo er sich genötigt gesehen hatte, Sprachen zu lernen.

»Ich sage dir noch etwas. Verschwinde so schnell wie möglich, Pepe! Dein Besuch ist hier nicht willkommen. Die wenigsten gehen und schlagen die Tür hinter sich zu. Was machst du da? Was soll das?«

Blodell ging auf Carvalho zu. Der hielt eine Pistole in der Hand und zielte auf das Vorhängeschloß eines Karteischrankes. Blodell unterdrückte den Impuls, Carvalhos Pistole zu packen, und seine Hand schnellte zur Achselhöhle. Carvalho ließ ihm jedoch keine Zeit. Er bohrte ihm den Lauf seiner Waffe in den Bauch.

»Hysterisch wie immer. Ist Cor da?«

»Nein, er arbeitet in Indonesien.«

»Wie hast du es geschafft, dich von deiner großen Liebe zu trennen?«

»Die Geschichte ist aus und vorbei!«

»Hat euer Vorschlag, eine homosexuelle Abteilung in der CIA zu gründen, keinen Erfolg gehabt?«

Max zog sich ein paar Schritte zurück. Er schien angewidert zu sein. »Geh, Pepe, und ich vergesse, daß du hier warst.«

»Ich bleibe nicht lange. Aber ich brauche ein paar Informationen.«

»Ich kann sie dir nicht geben.«

»Eine Hand wäscht die andere.«

»Was könntest du für mich tun?«

»Was ich schon immer für dich und deinen Cor getan habe: der Zentrale verschweigen, daß ihr euch liebt, bis daß der Tod euch scheidet.«

»Das Privatleben …«

»Das glaubst du nicht mal betrunken! Du weißt genau, daß die Zentrale jedem Homosexuellen, den sie in ihren Reihen entdeckt, einen anderen Status verleiht und ihn bei Gelegenheit auch zwingt, als solcher zu arbeiten.«

»Du warst schon immer ein dreckiger Schnüffler.«

»Es sind nur ein paar Daten, und niemand wird erfahren, daß ich sie hier bekommen habe. Es geht um eine Bagatellsache. Leitest du immer noch die Abteilung für südländische Immigranten?«

»Ja.«

»Gut. Ich suche die Spur eines Spaniers, der bei Philips in Den Haag gearbeitet hat. Ich weiß nur, daß er eine Tätowierung trug, die lautete: Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben.«

»Klingt wie ein Vers von Milton.«

»Ist es aber nicht.«

Max winkte ihn ins folgende Zimmer. Er wühlte in der Kartei für ›Besondere Kennzeichen‹.

»Diese Tätowierung ist hier nicht registriert.«

Mechanisch und ohne bestimmte Absicht sah sich Pepe einige Gesichter an, und allmählich wurde ihm bewußt, daß die Vergangenheit wieder lebendig wurde, die Zeit, als er mit Max und Cor für dieses Büro der CIA in Amsterdam gearbeitet hatte.

»Bedaure. Ich kann dir nicht helfen.«

»Du kannst mir helfen. Was du nicht weißt, weiß vielleicht ein anderer. Einer von den Ehemaligen könnte die Tätowierung kennen.«

»Meine Gewährsleute nützen dir nichts. Wenn sie etwas Derartiges gesehen hätten, wüßte ich davon.«

»Ja, in Ordnung. Aber deine Gewährsleute sind nicht die einzigen, die gut informiert sind. Nenne mir einen Anführer, irgendeinen spanischen Arbeiter von der Sorte, die eine gewisse Autorität besitzen und alles wissen, einer von denen, die man respektiert und um Rat fragt.«

»Einen Kommunisten?«

»Nicht unbedingt. Sogar lieber nicht. Sie sind zu mißtrauisch, und ich habe nur wenig Zeit, um die Information zu beschaffen. Einen ›geborenen‹ Anführer, wenn möglich unpolitisch.«

»Bei Philips in Den Haag?«

»Genau.«

Er schob ihn ins nächste Zimmer. Aus einem Schrank, der genau wie der vorherige aussah, fischte er eine Karteikarte. »Hier hast du, was du brauchst.«

Carvalho notierte sich Namen, Alter und Geburtsort jenes mageren, schmallippigen Vierzigjährigen mit gestutztem Bärtchen und einer Stirn, die durch eine Glatze mit eckigem Ansatz betont wurde. Max zeichnete ihm die Lage der Fabrikgebäude und der Ausgänge für die Arbeiter auf.

»Hier kommt er heraus, fast immer in Begleitung eines anderen. Ich glaube, sie sind Landsleute. Zwei Minuten nach zwölf triffst du ihn bestimmt. Sie gehen zum Essen.«

»Läßt du ihn beschatten?«

»Ab und zu.«

»Ist er ein Roter?«

»Nein, aber er arbeitet mit ihnen zusammen, wenn er glaubt, daß es sich um eine rein gewerkschaftliche Sache handelt. Und die Roten suchen die Zusammenarbeit mit ihm, weil die Kollegen auf ihn hören.«

»Mißtrauisch?«

»Sehr.«

»Und wenn der nichts ist?«

»Schwierig.«

»Und über Prostituierte?«

»Das geht heutzutage nicht mehr. Es gibt ungeheuer viele, und nicht alle sind von der offiziellen Polizei erfaßt. Es gibt eine Menge privater Polizisten, die sie beschützen und verstecken. Früher waren die Deutschen und die Italienerinnen überschaubar, aber jetzt ist der Markt überschwemmt von Türkinnen, Griechinnen und … Spanierinnen.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Carvalho steckte seine Notizen ein und ging zum Ausgang.

»Leg den Schlüssel dorthin, wo du ihn geholt hast, oder nein, gib ihn lieber mir!«

»Ich lege ihn dorthin, wo ich ihn geholt habe.«

»Ich hoffe, das war das letzte Mal, daß wir uns begegnet sind!«

»Sag niemals nie!«

»Das tue ich aber!«

Carvalho wandte sich noch einmal um, er versuchte, das gesamte Stockwerk zu überblicken und sich zu erinnern, welche Rolle er eigentlich damals zwischen diesen Wänden gespielt hatte.

»Cor war ein guter Junge.«

Etwas Ähnliches wie ein Gefühl ließ Max’ Augen aufleuchten.

»Es geht ihm glänzend in Djakarta.«

»Ich weiß, er war schon während der Kommunistenpogrome von 1965 und 1966 dort. Und wen jagt er jetzt?«

»Die Roten vermehren sich wie Unkraut. Selbst die Renegaten verlieren nie ein gewisses Etwas!«

Carvalho tätschelte flüchtig Max’ Wange; der zuckte zurück wie vor einem Prankenhieb.

»Ich war nie ein Renegat, Max. Ich war nur ein zynischer Aussteiger. Mehr nicht.«

Die nördliche Sonne gab Pio Baroja recht. Sie verlieh den Farben verschiedene Schattierungen, überflutete sie jedoch nicht mit der brutalen Helligkeit des Südens. Es ist dieses nordische Licht, das in dem Meer von Grün für Abstufungen sorgt, die weinroten Ziegeldächer mit Patina überzieht und jedes einzelne Blatt an den Bäumen Amsterdams mit einem anderen Pinselstrich färbt. Carvalho mußte sich einen gewaltigen Ruck geben, um die Stadt hinter sich zu lassen und sich nach Den Haag aufzumachen. Vor dem Hauptbahnhof verzehrte er an einem blauweißen, fahrbaren Stand einen frischen Matjes mit Zwiebeln zum Frühstück. Beim dritten matjesbelegten Pumpernickel-Canapé angelangt, beobachtete er das geschäftige Treiben der verglasten Barkassen, die sich anschickten, ihre Touristenrundfahrt durch die Grachten zu beginnen. Er durfte Amsterdam nicht verlassen, ohne wieder einmal diese Fahrt gemacht zu haben, bei der die Stadt über den Köpfen der ruhigen Betrachter schwebt, die fast im Liegen das phantastische Schauspiel einer Stadt aus dem 16. und 17. Jahrhundert an sich vorüberziehen lassen.

Die Züge in Holland wirken stets wie Nahverkehrsmittel; sie erinnern mehr an oberirdische Metros als an herkömmliche Eisenbahnen. Die Menschen steigen mit denselben Ritualen ein und aus wie bei der U-Bahn, und die Städte folgen aufeinander in harmonischem und kontinuierlichem Urbanismus, vor dem Hintergrund einer unveränderten Geographie. Carvalho dachte an eine Anekdote, die ihm Carrasquer, der Professor für Spanische Literatur an der Universität von Leiden, erzählt hatte: Holland besitzt nur einen einzigen Berg, der knapp 500 Meter hoch ist, und die Holländer betreten ihn niemals, um ihn nicht abzutragen. Er ist eine Art nationales Denkmal. In sich gekehrte, friedliche Wesen saßen mit Carvalho im Waggon. Ab und zu schnappte er spanische Wörter auf, italienische, griechische oder solche, die er für türkisch hielt. Aber der strenge Ernst der Holländer übertrug sich auf die Südländer aller Nationen. In einem Milieu, in dem die Stille zum guten Ton gehört, werden die Südländer aus aller Welt still. Oder, dachte Carvalho, sie befürchten einfach, die Bewohner der Metropolen mit dem sprachlichen Reichtum der armen Völker aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Carvalho hatte eine Pfeife mitgenommen, um sich der Umgebung anzupassen und die Gelegenheit zu nutzen, holländischen Tabak zu rauchen. Er stellte fest, daß die einfache Tatsache, Pfeife zu rauchen, bewirkte, daß er sich in sich selbst zurückzog, und ihm half, die anderen Menschen und die Dinge mit größerer Distanz zu betrachten. Er saugte an dem gehorsamen Anhängsel, und der Rauch legitimierte eine quasi selbstgenügsame Beziehung.

Nach der Ankunft in Den Haag wollte er zunächst etwas zu Fuß gehen. Als er vom Bahnhof zum Geschäftszentrum ging, erkannte er ein Restaurant wieder, das ihn schon bei seinem ersten Besuch in dieser Stadt begeistert hatte, das House of the Lords. Neugierig überflog er die Speisekarte und nahm sich vor, so schnell wie möglich hierher zurückzukehren und zu essen. Auf der Tageskarte standen unter anderem Schnecken à l’ Alsacienne und eine gegrillte Lammkeule, die ihn schwach machte. Er hatte seit Jahren keine ordentliche Keule mehr gegessen, genauer gesagt seit einem Weinfest in Dijon. Man konnte dem House of the Lords Vertrauen schenken. Er erinnerte sich an einen gefüllten Truthahn in Granatapfelsauce, den er zwischen den stoffbespannten Wänden dieser Nachahmung eines englischen Clubs genossen hatte. Der damalige Koch war allerdings ein Galicier gewesen.

Die Mittagszeit nahte, und er beeilte sich, die Philips-Niederlassung zu erreichen. Er beobachtete den Personalausgang, während er in dem Pornomagazin Suck blätterte. Die Titelseite schien der Verherrlichung der Mohrrübe gewidmet. Als die ersten Arbeiter herauskamen, faltete Carvalho die Zeitschrift zusammen und steckte sie in die Jackentasche. Er mischte sich unter die Vorhut der Arbeiter, die herauskamen und dem Mittagsmahl zustrebten, und vernahm sofort spanische Laute. Diskret folgte er zwei kleinen, stämmigen Mittvierzigern, die einen entschlossenen Marsch zum Stadtzentrum begannen. Er hängte sich an ihre Fersen und sprach sie an, sobald sie die andern hinter sich gelassen hatten.

»Verzeihung! Wie ich hörte, sprechen Sie Spanisch. Ich bin hier auf der Durchreise und möchte in einem Lokal essen, wo es heimatliche Küche gibt.«

Die beiden Männer blickten sich an und wiegten zweifelnd die Köpfe, als hätte Carvalho sie an einer Straßenkreuzung in Tordesillas gefragt, ob es noch weit sei nach Aranda del Duero.

»Hier sieht es schlecht aus. In Rotterdam oder Amsterdam ist es etwas anderes, aber hier …«

»Vielleicht in einem spanischen Kulturverein?«

»Ja, vielleicht in dem Kulturzentrum, wo wir beide manchmal essen gehen, er und ich. Wie müssen noch was erledigen, und wenn Sie mitkommen, zeigen wir Ihnen, wo es ist, und eventuell essen wir auch gleich dort.«

Carvalho sah das halbe Dutzend herrlicher Schnecken à l’ Alsacienne am Horizont verschwinden, aber er nahm das Angebot an und bedankte sich wie für eine Begnadigung. Er wollte sich weiter über Essen unterhalten. Die Männer antworteten ihm mit der Zurückhaltung eines indianisch-keltiberischen Reservats. Am Dialekt erkannte er, daß der eine Galicier war und dem anderen wenig dazu fehlte.

»Ja, tatsächlich, mein Freund ist aus Orense und meine Wenigkeit aus León«, erzählte der Gesprächigere und Jüngere der beiden.

Sie gingen zielstrebig und ließen die Wohnblocks hinter sich. Der Weg schien lang zu werden. Plötzlich bogen sie in eine kurze, baumbestandene Straße ein. Er folgte den beiden. Sie traten vor das Schaufenster eines Sexklubs. Hinter den Scheiben war die weibliche Ware ausgestellt. Fünf oder sechs Mädchen exotischer Herkunft – von Frankreich bis Kaschmir – zeigten den Passanten ihre Brüste. In einer Ecke des Schaufensters zeigte ein Mädchen nur eine einzige Brust, und ihr Künstlername war ›Finita del Oro‹.

»Sie ist eine von uns!«, erklärte der Mann aus León mit vor Erregung erstickter Stimme.

»Aus León?«

»Nein, aus Spanien.«

»Sie ist die Schönste von allen«, verkündete der Galicier. Die beiden Männer schauten einander an, warfen einen letzten Blick auf ihren halbnackten Star und machten sich auf den Rückweg. Sie waren durch die halbe Stadt marschiert, nur um den halben Oberkörper einer Frau aus der Heimat zu sehen.

»Haben Sie hier Familie?«

Natürlich nicht! Der Galicier war Junggeselle, und der Mann aus León war zwar verheiratet, aber seine Frau war in León geblieben. Alle zwei Jahre fuhr er über Weihnachten nach Hause, und das machte ihm sichtlich zu schaffen.

»Ich bleibe hier immer anständig. Erstens, weil ich von meiner Frau in León dasselbe erwarte, und zweitens, weil die Sünde hier einen Haufen Geld kostet und wir zum Sparen hergekommen sind.« Er habe sich schon in León eine Wohnung gekauft und bezahle seiner ältesten Tochter Unterricht in Französisch und Stenographie. »Das mit den Sprachen ist sehr wichtig. Das merkt man erst, wenn man ins Ausland geht.«

Nachdem sein Geist von der sexuellen Gier befreit war, wurde der Mann aus León redselig. Als er vierzig geworden sei, habe er Spanien verlassen, wegen der Krise in der Zuckerindustrie von León, wo er gearbeitet hatte. Er fand, daß man, abgesehen von vier oder fünf Provinzen, überall in Spanien gut leben konnte. »In Ihrer Provinz lebt man gut!« meinten sie, als sie hörten, daß Carvalho in Barcelona wohnte.

»Ich stamme aber aus Lugo.«

»Aus welcher Gegend?« fragte eifrig der schüchterne Galicier, um in einem geeigneten Winkel des Gesprächs Fuß zu fassen.

»Aus Souto, bei San Juan de Muro.«

»Schlechter Boden, ganz arme Gegend.«

Carvalho erinnerte sich kaum an den schlechten Boden, auch nicht an die Armut, bestätigte es aber mit energischem Nicken. Er fragte die beiden, ob es ihnen gut gehe und ob sie keine Probleme hätten. Die beiden sahen einander wieder an.

»Politik interessiert uns nicht. Wir sind hergekommen, um ein paar Pesetas zusammenzukratzen und wieder nach Hause zu fahren.«

»Aber, ich meine, behandelt man euch gut? Kümmert sich die spanische Botschaft um euch?«

Wieder sahen sie einander an, und als der Mann aus León wieder Carvalho anblickte, war ihm anzusehen, daß er sich in seiner Haut nicht mehr wohl fühlte, als säße er auf einer Polizeiwache. Carvalho spürte, daß sie ihn für einen spanischen Polizisten hielten, der sie nach ihrer politischen Einstellung aushorchen wollte.

»Ich frage nur, weil ich hier einen Freund hatte, er hat in derselben Fabrik wie Sie gearbeitet und hatte die Schnauze richtig voll. Wir nannten ihn nur El Tatuado. Er hatte eine Tätowierung auf dem Rücken, die lautete: Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben

Die beiden Männer hörten beim Gehen aufmerksam zu.

»Und ist es lange her, daß er hier gearbeitet hat?«

»Zwei oder drei Jahre.«

»Wie hieß er denn?«

»Also, das weiß ich nicht mehr genau. Weil wir ihn immer nur El Tatuado genannt haben, hat es uns nie gekümmert, ob er einen anderen Namen hatte.«

»Wie sah er denn aus?«

»Groß, blond, gutgebaut. Er sah aus wie ein Ausländer.«

Der Galicier gab dem anderen einen Rippenstoß. »Sieh an! El Americano!«

»Kann sein. Hier hat einmal ein großer blonder Junge gearbeitet, den wir El Americano nannten.«

»Und er hatte eine Tätowierung!«

»Was du nicht alles weißt!«

»Jetzt, wo dieser Señor davon anfängt, fällt es mir wieder ein: Wir spielten mal Fußball gegen die Spanier, die bei Philips in Eindhoven arbeiten. El Americano spielte mit, im Umkleideraum sah ich seine Tätowierung, und ich erinnere mich an das mit dem Inferno. Ich weiß nicht mehr alles, was da stand, aber dieses Wort war dabei.«

Sie kamen zum Lokal eines Kulturzentrums für ausländische Arbeiter ganz in der Nähe der Fabrik. Es war weder von Spaniern geführt, noch gab es dort spanisches Essen. Dafür bekamen sie ein dubioses Auberginengericht, das Carvalho als farblose Imitation des türkischen Imam bayildi identifizierte. Der Kellner war Türke, traktierte aber die spanischen und italienischen Gäste gleichermaßen mit ein paar Wörtern, die eine Art italienisch ausgesprochenes Spanisch darstellten. Der Mann aus León bestand darauf, eine Runde Bier auszugeben, und wehrte den schüchternen, unentschlossenen Versuch des Galiciers ab, ihm zuvorzukommen. Danach aßen sie, was ihnen vorgesetzt wurde.

»Ich weiß den richtigen Namen meines Freund nicht mehr, El Tatuado oder El Americano, wie Sie ihn nennen. Vielleicht Luis?«

»Nein, bestimmt nicht.«

Der Galicier wußte Bescheid und beteiligte sich nun mit der Selbstsicherheit eines Experten am Gespräch.

»Er hieß Julio Chesma und war aus Puertollano, Provinz Ciudad Real.« Der Mann aus León war nicht ganz sicher, ob der Name stimmte. »Julio, ja, aber Chesma – das könnte ich nicht beschwören.«

»Chesma, Ches-ma. Wenn ich es dir sage! Als meine Hand verletzt war, arbeitete ich drei Monate lang im Büro und hatte die Papiere der halben Belegschaft in den Fingern, stell dir vor. Julio Chesma aus Puertollano. Er war 27 Jahre alt.«

»Merken Sie was? Man denkt, er hätte keine Ahnung von Tuten und Blasen, und plötzlich ist er ein wandelndes Lexikon.«

»Ist es lange her, daß er nicht mehr hier arbeitet?«

»Er blieb nicht lange. Er war einer von der Sorte, die schnell die Lust verlieren und sich was Leichteres suchen. Manche Leute können eben von Natur aus den Rücken nicht krumm machen.«

»Er ist nach Amsterdam gegangen.«

Carvalho betrachtete mittlerweile seinen Landsmann wie der schiffbrüchige Robinson das gestrandete Schiff, das ihm das halbe Leben zurückgab. Dieser Mann hatte das Gedächtnis eines Onanisten. Der Galicier wußte, daß er die Partie mit Worten gewonnen und den Mann aus León übertrumpft hatte. Er wußte eben Bescheid über Dinge, die diesen feinen Pinkel, diesen Beinahe-Katalanen, interessierten. Der Lohn für sein Wissen war der Beifall, den er bekam. Carvalho sparte nicht damit.

»Sie sind ja die reinste Enzyklopädie! Was für ein Gedächtnis!«

»Er wohnte in Amsterdam auf der Rokin, Nummer 16.«

Diesen Erfolg verschenkte er, indem er die Beherrschung verlor und vor lauter Begeisterung anfing zu lachen, voller Begeisterung über sich selbst und darüber, daß er es schaffte, den Gewerkschaftsführer aus León und den feinen Herrn aus Barcelona zum Staunen zu bringen.

»Woher zum Teufel weißt du das alles?«

Der Mann aus León war ebenso verblüfft wie verärgert. Der Galicier erzählte, sie hätten sich beim Fußballspiel angefreundet und sich dann an einem Sonntag in Amsterdam getroffen. Dem Galicier entging nicht, wie sehr es den Mann aus León wurmte, daß er ihn aus der Rolle des Wortführers verdrängt hatte, und er machte ihm ein Zugeständnis: Er lieferte ihm den guten Ruf von Julio Chesma aus und opferte ihn als Sündenbock auf dem Altar der Moral.

»Er war ein ganz windiger Gauner.«

»Das hab’ ich doch gleich gewußt.« Der Mann aus León spielte sofort mit.

»Er hatte eine Menge Flausen im Kopf.« Damit fuhr der Galicier fort, den abwesenden Freund schlechtzumachen, um sich beim anwesenden Freund anzubiedern.

»In Amsterdam tat er sich mit einem Mädchen zusammen und trieb Geld auf, ich weiß nicht, wo, aber er hatte Geld. Er wohnte in einer piekfeinen Pension an der Straße, von der ich sprach, und hatte ein Zimmer für sich alleine und ein Bad mit allem Komfort.«

»Womit verdiente er das Geld?«

»Mit Zuhälterei. Er lebte von den Weibern.« Nun trat der Mann aus León ins Rampenlicht.

»Solche Fälle gibt es oft. Die Frauen hier glauben, wir kommen her, weil wir nach dieser Sache total ausgehungert sind, und wenn sie sich mit einem Spanier oder einem Türken einlassen, dann mit Haut und Haaren. Wer ’s schön findet … Aber für irgendwas hat man ja auch seinen Kopf. Genau das hatte dein Freund nicht!«

»Es war doch nicht mein Freund! Ich kannte ihn vom Fußball, und er war sympathisch. Das kannst du nicht abstreiten!«

»Solche Typen wirken immer sympathisch. Weil sie an sich selbst keine Ansprüche stellen, verlangen sie auch nichts von anderen.«

Carvalho konnte nicht umhin, den Mann aus León in gewisser Weise zu bewundern. Das war die Ideologie, die man brauchte, um das eigene Leben nicht als totale Scheiße anzusehen. Der Mann aus León war in Fahrt. »Und aus diesem Grund gehen solche Leute auch keine Verpflichtungen ein. Wer selbst keine Verpflichtungen eingeht, verlangt auch nichts von anderen und steht immer als toller Kerl da. Du zum Beispiel, du bist Junggeselle, aber du unterstützt deine Mutter und schickst Geld nach Hause, damit sich euer Besitz vermehrt. Hier eine Kuh, da die Hochzeit einer Schwester oder eine Krankheit. Du weißt, was dich das kostet.«

Der Galicier hatte feuchte Augen bekommen und nickte. Carvalho nickte zu seiner eigenen Überraschung ebenfalls und dachte an den Beitrag zum Überleben der galicischen Hütten, den er mit den beiden Schecks über fünftausend Pesetas geleistet hatte. Aber gleich darauf verfluchte er sich selbst und die beiden anderen, als ihm bewußt wurde, wie todtraurig dieses Gespräch von drei Spaniern in Holland war, die glaubten, sich im Leben verwirklicht zu haben, weil sie eine Kuh oder das stenographische Gekritzel ihrer Tochter bezahlten. »Es ist hart, Spanier zu sein«, erklärte Carvalho und war gespannt, was geschehen würde. Und es geschah etwas. Der Mann aus León sah ihn fest an, näherte sein Gesicht dem von Carvalho, legte ihm die Hand auf den Arm, um sich besser verständlich zu machen oder um ihn seinen schweren Gedanken zu entreißen, und antwortete mit einem gewissen Nachdruck: »Aber es ist die großartigste Sache der Welt! Wenn jetzt, in diesem Moment, zwischen Spanien und Holland ein Krieg ausbrechen würde, ich würde sofort nach Spanien fahren, um meine Heimat zu verteidigen.« Er wandte sich an den Galicier, der in den Gedanken an bezahlte Kühe und verheiratete Schwestern versunken war. »Ich weiß nicht, was du machen würdest, aber ich würde das tun!«

»Ich auch, was glaubst du denn, ich auch«, versicherte der Galicier, sah aber Carvalho dabei an, als wollte er dem feinen Herrn die verbindliche Zusicherung entlocken, daß eine Kriegserklärung zwischen Spanien und Holland völlig ausgeschlossen war, wenigstens in den nächsten dreißig Jahren, die den drei Männern mehr oder weniger, besser oder schlechter, noch bleiben würden.

»Ein Krieg ist kaum wahrscheinlich«, versicherte Carvalho.

»Natürlich. Es war ja nur eine Annahme.« Der Mann aus León sah auf die Uhr und befahl seinem Kollegen, sich zu erheben. Sie mußten wieder an die Arbeit. Carvalho begleitete sie bis zum Fabriktor und drückte ihnen mit unverstellter Herzlichkeit die Hand.

»Fahren Sie an Weihnachten nach León?«

»Dieses Jahr nicht.«

Damit drehte er sich um und ging weg, der andere hinterher. Carvalho dachte an die Ausflüge, die diese beiden noch zu den Schaufenstern der Prostituierten machen würde, auf der Suche nach Kontakten, billig und verstohlen, rein visuell und nicht einmal mit menschlichem Fleisch. Die einen kommen zur Welt, um Geschichte zu machen, die anderen, um sie zu erleiden. Die einen zum Austeilen, die anderen zum Einstecken. Carvalho haderte auf irrationale Weise mit der Menschheit. Und diesen Groll übertrug er auf die gleichmütigen Holländer, die auf Fahrrädern umherfuhren, ohne gezwungen zu sein, ihr Land zu verlassen und in Murcia bei der Espartoernte oder in Cartagena in den Raffinerien zu arbeiten. »Ihr habt’s gut!« entfuhr es ihm, lauter als beabsichtigt. Das erregte die Aufmerksamkeit eines Gentleman mit Aktenkoffer und Krawatte, der sich mit freundlicher Herablassung nach ihm umsah. Er war deprimiert. Und doch stellte er fest, daß ihn sein Körper nicht im Stich gelassen und das richtige Ziel angesteuert hatte. Er eilte entschlossen zum House of the Lords, um seinen Magen den Alptraum des imitierten türkischen Essens vergessen zu lassen.

Der Burgunder kostete ein kleines Vermögen. Aber Carvalho hätte sich jedes Haar einzeln ausgerissen, wenn er die Gelegenheit nicht genutzt hätte, die gegrillte Lammkeule mit diesem Wein zu begießen. Er hatte das Restaurant betreten, als die Kellner gerade begannen, aus ihrer Kellnerrolle zu schlüpfen und sich in diese merkwürdige Höhle verlorener Stunden zurückzuziehen, in der Kellner und Köche zwischen den Dienstzeiten Zuflucht suchen. Seine Ankunft nötigte sie, an seinem Tisch zu erscheinen. Die letzten Gäste waren eine indonesische Familie. Die Frau war eine Schönheit in Mauve, die Gauguin gemalt haben könnte, und die beiden Mädchen versprachen ebenso schön zu erblühen. Der Vater dagegen war ein Sukarnotyp, dem das Alter und fünfhundert Kilo Übergewicht übel mitgespielt hatten. Beim Verlassen des Lokals verbeugten sie sich zeremoniell vor Carvalho, und Pepe versuchte mit klebrigem Blick die Flucht der herrlichen Ehefrau aufzuhalten. Seine Augen verfolgten das Spiel ihrer mächtigen Hinterbacken, bis diese aufhörten, die Luft im Mittelgang zu zermalmen, und der Körper der Frau eine Neunzig-Grad-Wendung machte, um dem Ausgang zuzustreben. Die zweite Seite des Winkels ermöglichte Carvalho die Feststellung, daß das Profil der Dame in Mauve hielt, was ihre Hüften versprachen. Die Dame strengte ihre orientalischen Mandelaugen an, um die Befriedigung der minutiösen Musterung dieses Ausländers voll auszukosten. Carvalho hatte bei ähnlichen Anlässen schon mehr als einmal bedauert, keine Visitenkarten zu besitzen, auf die man ein, zwei leidenschaftliche Worte kritzelt, um sie dann in die Hand der scheinbar gelangweilten Frau gleiten zu lassen, die von der Mauer der erotischen Konvention unter Verschluß gehalten wird. Eines Tages würde er dieses Experiment wagen. Zu schade, daß er nicht heute daran gedacht hatte.

Er wandte sich nun, frei von psychologischen Einschränkungen, der Lammkeule zu. Gut zubereitetes Fleisch ist in erster Linie ein Berührungsgenuß, der die Höhle des Gaumens erfreut. Die Keule vom Grill ist von der Zubereitungsart her die mit den wenigsten Schnörkeln. Sie besitzt weder die kartoffelfreudige und bohnengarnierte Ungezwungenheit der Keule nach Bauernart, noch das so oft verfälschte Jagdhorngeschmetter der Rehkeule und auch nicht die Naturverbundenheit der Keule mit Spinat. Eine gegrillte Keule ist vor allem anderen ein gut gebratenes und gut gewürztes Stück Fleisch. Nachdem sich die Aromastoffe des Burgunders, gegen die empfindsame Haut des Gaumens geschnalzt, in weingesättigten Dampf verwandelt und Carvalhos Nase durchströmt hatten, wirkte der Wein wie flüssiger Samt und legte sich auf die Wunden, die die Reibung des Fleisches gerissen hatte.

Carvalho speiste mit dem unerschütterlichen Enthusiasmus, der effiziente, wenig zur Dramatisierung neigende Gourmets auszeichnet. Seine Phantasie tobte, aber seine Lippen oder sein Gesicht zeigten keine andere Bewegung als den Reflex langsamen Kauens. Carvalho behielt seine innersten Gefühle zum Teil deshalb für sich, weil er schon immer der Meinung war, einsame Genüsse seien nicht übertragbar. Man kann aus dem geteilten Genuß ein Schauspiel machen, aber niemals aus dem einsamen. Es gab noch einen Grund. Eine übertriebene Äußerung der Essensfreude steht in direktem Verhältnis zur Höhe des Trinkgeldes, das man geben muß. Ein Kellner ist ein scharfsinniger psychologischer Analytiker, und sobald er in deinen Augen die Ekstase erkennt, kommt er herbei und bittet dich mit bewegter Stimme, ihm seine Beobachtung zu bestätigen. Dabei späht er dir in die Taschen von Seele und Körper mit der Komplizenschaft eines Gefährten des Genusses, der erst dann zum Orgasmus kommt, wenn du ihm fünfzehn Prozent der Rechnung als Trinkgeld überlassen hast.

Carvalho beschloß das Mahl mit einem Brie, der nicht reif genug war, und konnte danach dem Lockruf einiger Crêpes mit Orangenmarmelade nicht wiederstehen. Darauf trank er zwei Tassen Kaffee und zwei Gläschen Genever, um einen Schlußstrich unter die Aromen zu ziehen, die mittlerweile in seinem Gedächtnis präsenter waren als an seinem Gaumen. Die unvermeidliche Nach-Tisch-Philosophie entzündete Carvalhos Geist.

»Die besten Genüsse sind stets die im Gedächtnis.«

Er sagte es mit lauter Stimme, und der Kellner kam für den Fall, daß er etwas bestellen wollte. Carvalho übersetzte ihm den Satz ins Englische, und der Kellner lächelte herablassend, aber seinem Blick und der Art, wie er sich zurückzog, war zu entnehmen, daß er entweder mit Carvalhos Philosophie nicht einverstanden war oder die Nase voll hatte von diesem gemächlichen Esser, vielleicht aber auch den letzten Sinn des Satzes nicht verstanden hatte. Während der Kellner diese drei Kommunikationshindernisse signalisierte, ahnte Carvalho, daß er etwas betrunken war, denn unter solchen Umständen hatte er noch nie den Versuch unternommen, Kellner intellektuell zu verführen.

Er verließ das Restaurant, ohne daß er Lust gehabt hätte zu fragen, ob der galicische Koch noch da sei, den er nach dem unbeschreiblichen gefüllten Truthahn in Granatapfelsauce bei seinem letzten Besuch beinahe geküßt hätte. Er ging zum Bahnhof und betrachtete unterwegs die Auslagen der großen Geschäfte. Dabei kam ihm die Idee, für Charo etwas Chinesisches zu kaufen. Er ging durch die arkadenüberwölbten Gäßchen im Herzen des Geschäftszentrums und erstand eine chinesische Jacke ›made in Hongkong‹. Dann begab er sich schnurstracks in den Stadtteil der Majestäten. Die holländische Flagge wehte vom Rathausbalkon, ein protokollarischer Beweis, daß ein Mitglied der königlichen Familie in Den Haag weilte. Mit touristischer Einfalt bestaunte er den Palast des Internationalen Gerichtshofs. Ein Tier mit beträchtlichem Darmvolumen hatte auf den Rasen vor dem schmiedeeisernen Portal gekackt. Carvalhos Blick schweifte von dem prunkvollen Scheißhaufen zu einem Papagei, der durch die Straßen flanierte auf der Schulter einer alten Dame, die die beneidenswerte Phantasie besessen hatte, das Transistorradio durch ein Geschöpf aus Fleisch und Federn zu ersetzen. Carvalho steuerte bereits entschlossen auf den Bahnhof zu. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß seine Arbeit Erfolg gezeitigt hatte, und zwar etwas mehr als die Kenntnis der sexuellen Probleme von Arbeitsemigranten und auch etwas mehr als das exzellente Essen. Der Körper, den das Meer in Vilasar de Mar wieder ausgespuckt hatte, besaß immer noch kein präzises Gesicht, hatte aber mittlerweile einen Namen und ein paar Daten in seinem Lebenslauf. In der Tat wußte er schon alles, was Señor Ramón von ihm verlangt hatte: einen Namen. Jener Name für ein Gesicht, das die Fische des Mittelmeeres gefressen hatten, wurde bis jetzt ergänzt durch die Information des Tätowierers aus Murcia und des Arbeitskollegen aus Den Haag. Er hätte jetzt mit nichts weiter als dem Namen des Ertrunkenen nach Spanien zurückkehren können, aber inzwischen hatte sich ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem großen jungen Mann gebildet, der so blond wie das Bier war. Ein Verhältnis, das Carvalho anspornte, die Nachforschungen in Holland so lange und so weit wie möglich fortzusetzen. Ein junger Mann, dessen Phantasie im Streit mit der Realität lag. Die Realität war sein Leben als Arbeitsemigrant. Die Phantasie trieb ihn zum Abenteuer der freien Zeit, befreit aus dem Knast der Uhr, die das Betreten und Verlassen des Räderwerks der Fabrik markierte. Um diesem Räderwerk zu entkommen, hatte er keine Hemmungen gehabt, sich unter den ökonomischen Schutz der Frauen zu begeben. Carvalho verachtete Zuhälter. Aus Erfahrung wußte er, daß sie die schlimmsten Bestien der Unterwelt waren, obwohl er auch einen kannte, der sehr gefühlvoll war. Er hatte sich darauf spezialisiert, den Spatzenkindern, die der Mai auf die grauen Steinplatten des Gefängnishofs von Aridel schleuderte, die gebrochenen Beinchen mit Zahnstochern zu schienen. Carvalho erinnerte sich daran, mit welchem Zartgefühl und welcher Geduld der Zuhälter den erschreckten Vögelchen beruhigende Worte ins erahnte Ohr flüsterte, und seine groben Finger tanzten mit chirurgischem Geschick um Zahnstocherstückchen und Faden, die die Schiene bildeten. Jener hünenhafte Zuhälter hatte im Gefängnis gesessen, weil er seinen Schützling zu Tode geprügelt hatte.

Aber im Fall des großen Blonden gab es beachtliche und dankenswerte Unterschiede. Der bemerkenswerteste waren die einhunderttausend Pesetas, die ihm Señor Ramón bezahlte. Und dann der Wortlaut der Tätowierung. Die Herausforderung eines Renaissancefürsten auf dem Körper eines Arbeitsemigranten, der Zuhälter und am Ende ein gesichtsloser Fischmensch geworden war, umwittert vom Geheimnis eines amphibischen Tieres ohne Gesicht und Identitätskennzeichen.

Die Matrosen frag ich nach ihm,

keiner weiß, ob er tot ist oder lebt.

Ich zweifle weiter und suche ihn treu

Vor einem Glas Schnaps, an der ermüdeten Theke, setzte die Frau aus dem Lied ihre hartnäckige Suche fort nach dem Mann, der in einem Schiff mit ausländischem Namen gekommen war und auf der Brust, über dem Herzen, eine Tätowierung trug. Carvalho war überzeugt, daß diese Frau in diesem Fall existierte. Irgendwo – er wußte nur noch nicht, wo – bewahrte eine Frau die besten Spuren des Ertrunkenen auf ihrer Haut.

Es wurde Abend in Amsterdam. Carvalho verwünschte die Zeit, die er damit vertan hatte, durch Den Haag zu laufen. Er verzehrte wieder Pumpernickelhappen mit Matjes und Zwiebeln. Das kühle Bier zum Abschluß würde ihm die Verdauung erleichtern. In kluger Voraussicht fragte er ein paar junge Frauen nach der Rokinstraße. Sie lag ganz in der Nähe des Bahnhofs und seines Hotels, auf der anderen Seite des Dam. Er beschloß, zu Fuß zu gehen, obwohl es eine günstige Straßenbahnverbindung vom Bahnhof zum Museumsviertel gab. Die Rokin setzte den Damrak auf der anderen Seite des Dam fort und endete in der Tat ganz in der Nähe des Rembrandtplein. Auf dem Dam wimmelte es von Hippies, denen ein kleines Häuflein engelhafter Jünglinge auf Brustschildern aus gelbem Plastik ihre Propaganda für die Familie und deren Tugenden entgegenhielten. Die Hippies, echte Komantschen nach der allerverlorensten Schlacht gegen das Bleichgesicht, lagen sterbend auf den Stufen des Damplatzes, während die engelsgleichen Reaktionäre ihnen die Vorzüge des Patriarchats oder Matriarchats priesen.

Carvalho hatte Rokin Nummer 16 gefunden und betrat ohne Zögern den Hausflur. Die Holztreppe führte ihn zu dem neonbeleuchteten Schild ›Patrice Hotel‹. Eine im Halbdunkel des Empfangsraumes kaum sichtbare Angestellte öffnete ihm die Tür. Er trat ein und wartete das Ergebnis der Recherchen der Frau ab. Die Möblierung war unverkennbar inländischer Herkunft, ganz in der Art bürgerlicher Puppenstuben, die den traditionellen holländischen Stil kennzeichnet. Dann trat die unbezweifelbare Patrice auf, mit einem Körper, der schon etwas alt und dick, aber mittels Korsettierung in Form gebracht war, und einem Gesicht, das eine kundige Hand mit Temperafarben restauriert hatte. Carvalho erzählte ihr, er sei aus Spanien angereist, um einen entfernten Verwandten zu suchen. Die Familie mache sich Sorgen, weil man seit etwa zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört hatte. Julio Chesma. Daß er in dieser Pension gewohnt habe, sei das letzte, was man von ihm wisse.

»Hier? Ich erinnere mich nicht. Warten Sie einen Augenblick!« antwortete sie in gebrochenem Englisch. Sie kam wieder in Begleitung eines großen, korpulenten Holländers, der dem Inspektor, der ihn im Hotel befragt hatte, so sehr glich, wie nur ein großer, korpulenter Holländer einem anderen großen, korpulenten Holländer gleichen kann.

»Herr Singel spricht kein Englisch, aber er hat ein sehr gutes Gedächtnis«, verkündete Patrice und erklärte dem Hünen auf holländisch, worum es ging. Dieser betrachtete währenddessen Carvalho mit einer gewissen liebevollen Treuherzigkeit. Nicht umsonst glauben die holländischen Kinder, daß der Nikolaus aus Spanien kommt. Er antwortete Patrice etwas auf holländisch.

»Sehen Sie! Mein Mann hat ein besseres Gedächtnis als ich. Sie haben recht. Ihr Verwandter war tatsächlich unser Gast. Aber er zog vor zwei Jahren aus, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war ein großartiger Junge. Sehr diszipliniert. Genau das. Sehr diszipliniert.«

Mehr erfuhr Carvalho nicht, außer daß er ein ordentlicher Gast gewesen sei. Von seiner Arbeit wußten sie nichts, nur daß er ziemlich viel freie Zeit gehabt hatte. Damenbesuch hatte er selbstverständlich keinen bekommen, und Freunde oder Freundinnen kannten sie auch nicht. Nicht einmal diese Art Informationen kam von Patrice selbst. Es war der Ehemann, der sie preisgab, und sie übersetzte sie ins Englische.

Carvalho drückte seine Zufriedenheit aus über das gute Bild, das sie von seinem Verwandten hatten.

»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als mich bei der Polizei zu erkundigen. Vielleicht wissen sie etwas.«

Der Holländer war drauf und dran, direkt zu antworten. Aber er beherrschte sich und bestaunte Carvalho weiterhin mit einem treuherzigem bewunderndem Blick wie den Nikolaus. Seine Frau wiederholte das Ritual der Dolmetscherin und kehrte nach kurzer Zeit aus Babylon mit der Antwort zurück: »Vielleicht weiß die Polizei mehr als wir. Sie haben ein gutes Informationsnetz und überwachen die Ausländer sehr genau.«

Carvalho verabschiedete sich. Er ging hinunter auf die Straße und blieb ein paar Türen weiter vor einem Weingeschäft stehen. Dann entdeckte er, daß er von einer Buchhandlung, die dem Patrice Hotel gegenüberlag, überwachen konnte, wer dort ein und aus ging. Er betrat die Buchhandlung und widmete ein Auge einem Stapel Bücher mit Graphiken der zwanziger Jahre und das andere dem Eingang des Hotels. Das Warten hatte etwas Irreales, weil alles so normal sein konnte, wie es den Anschein hatte; auch konnte sich das Ehepaar Singel alle Zeit der Welt lassen und nicht vor dem nächsten Tag aus dem Haus gehen. Zwanzig Minuten später hatte er schon fast alles durchgeblättert, was weltweit über die Graphik aus der Zwischenkriegszeit erschienen war. Zu einem anderen Regal konnte er nicht gehen, ohne den Hoteleingang aus den Augen zu verlieren. Nach einer halben Stunde kam Singel heraus und steuerte seine geklonte Korpulenz in Richtung Dam. Carvalho folgte ihm. Singel bewegte sich sorglos. Auf dem Dam wartete er auf eine Straßenbahn, und Carvalho fand genug Zeit, ein Taxi anzuhalten und den Chauffeur zu bitten, einen Moment zu warten. Der Fahrer war genauso hysterisch wie alle Taxifahrer in Amsterdam und protestierte dagegen, daß er warten und einer Straßenbahn folgen sollte. Carvalho gab ihm zehn Gulden Vorschuß, und sein Widerstand schmolz dahin. Er stieg aus und stocherte im Motorraum herum, falls es Ärger geben sollte, weil er in der zweiten Reihe stand. Dann kam Singels Straßenbahn, und das Taxi nahm die Verfolgung auf.

Es dauerte nicht lange. Die Straßenbahn erreichte den Leidseplein, Singel stieg aus und betrat eine überfüllte Kneipe neben einem Restaurant für Fischspezialitäten. Das gastronomische Repertoire der Holländer an Fischgerichten endet mehr oder weniger bei den hervorragenden frischen Matjes- oder Räucherfischhappen mit Zwiebeln, die es in allen Städten und Dörfern an Straßenständen gibt. Durch die Fensterscheiben konnte Carvalho beobachten, wie sich Singel an einem Tisch niederließ, an dem bis jetzt nur ein Mädchen in Hippiekleidung gesessen hatte. Er redete ernst mit dem hinfälligen Mädchen. Sie trug die Haare wie Angela Davis, aber blond gefärbt, die Augen hatte sie in einem schmutzigen Erdbraun geschminkt, und ihr Körper steckte im Fell eines Lamms, das wahrscheinlich direkt auf dem Körper des Mädchens geopfert und zum Mantel verarbeitet worden war.

Das Gespräch war kurz. Das Mädchen erhob sich, und Singel folgte ihr. Vom Eingang eines nahen Kinos, in dem Fritz the Cat lief, beobachtete Carvalho, wie Singel in die Richtung zurückkehrte, aus der er gekommen war. Das Schafsmädchen überquerte den Leidseplein und ging in Richtung Weteringschans. Wohin ihn Singel bringen konnte, wußte er bereits, das Mädchen dagegen führte ihn auf eine neue Spur, und dieser folgte Carvalho. Am Leidseplein begann ein kleines, fröhliches Viertel: ein Rotlichtviertel in verkleinertem Maßstab, mit Restaurants, dem einen oder anderen Nachtclub und Sexshops. Das Mädchen durchquerte das Viertel und bog an einer Ecke rechts ab. Vor ihnen tauchte eine seltsame Kirche auf, deren Fassade im Popgeschmack vielfarbig bemalt war. Es war das Paradiso, eine ehemalige Kirche, die die Stadtverwaltung der Jugend von Amsterdam geschenkt hatte, mittlerweile ein Mittelding aus Kathedrale des musikalischen und plastischen Pop, Café mit Kleingebäck, zu dessen Ingredienzien weiche Drogen gehörten, Freizeitzentrum inklusive Zeitungsarchiv und Cinemathek und Geschäftszentrum für die relative Kaufkraft der Hippiewelt.

Carvalho mußte zunächst Mitglied werden, bevor er eintreten durfte. Zwei Gulden und Eintritt extra, eine Formalität, die er bis jetzt nur in Nachtclubs mit ›Live-Show‹ erfüllt hatte. Alle verschiedenen Abteilungen der Kirche wimmelten von Einwohnern von Hippylandia, sie saßen sogar auf den Treppen, die links und rechts zu den Versammlungsräumen des ersten Stockwerks hinaufführten. Das Mädchen schmuggelte sich durch den mittleren Eingang in den Chor, wo gerade eine Popgruppe auftrat. Sie spielten vor dem Hintergrund eines Bildschirms, auf dem die psychedelische Musik filmisch untermalt werden sollte. In der Apsis saßen die Leute in regelmäßigen Reihen, während in den Seitenschiffen die Leiber ein wirres Durcheinander liegender, gelangweilter Menschheit bildeten, die nur ab und zu ein Beben der Solidarität mit der Musik erschütterte. Es roch durchdringend nach weichen Drogen. Carvalho fühlte auf seinem Körper Dutzende von Blicken. Mit seinem Übergangsanzug trug er die Kleidung eines neokapitalistischen Marsbewohners. Hinzu kam, daß sein Haar genau am Rand des Hemdkragens aufhörte. Er fühlte sich wie ein Tourist, der sich auf dem Marktplatz von Marrakesch verlaufen hat. Das Mädchen ging weiter bis zum Ende des Chores. Sie tauchte sozusagen wie eine Schwimmerin ins Meer der Körper. Dann plauderte sie im Halbdunkel mit einem wirren Knäuel von Jugendlichen. Carvalho lehnte sich an eine Säule, um weniger aufzufallen. Er beobachtete mit einem Auge, was das Mädchen machte, und mit dem andern, was auf dem Hauptaltar geschah. Die Band war von Clowns abgelöst worden, die etwas erzählten, was keinen zum Lachen brachte. Jemand reichte ihm einen Joint. Carvalho nahm den rituellen Zug und reichte ihn weiter an den nächststehenden Nachbarn. Durch seinen eigenen Qualm sah er, wie sich das Schafsmädchen erhob und mit ihr zwei junge Männer. Einer von ihnen trug den Pelz eines Lamms, das der Zwilling von dem Pelz des Mädchens gewesen sein mußte. Der andere sah aus wie ein Pionier aus dem Wilden Westen, der seit etlichen Wochen keinen Claim gefunden hatte. Buffalo Bill und die beiden Schafe steuerten lustlos auf den Ausgang zu. Als sie eben hinausgehen wollten, riefen sie einander etwas zu, drückten sich mit einer angesichts ihrer üblichen Schlappheit unglaublichen Behendigkeit an die Wand und schauten auf die Straße hinaus. Ein Polizeiauto war vor dem Paradiso vorgefahren, und die Beamten schwärmten mit der Gewandtheit von Jägern auf dem Gehweg aus.

Carvalho hatte praktisch nichts zu befürchten. Er ging auf die Straße hinaus und schaute von der untersten Stufe der Freitreppe zum Paradies der Jagd der Polizei zu. Sie hatten schon zwei Malayen festgenommen, und ein Polizist lief hinter einem Schwarzen her zum Leidseplein. Die Arier hatten also einen Freibrief, und obwohl Carvalho ein brauner Kelte war, würde sein Aussehen – von ganz verbissenen Greifern abgesehen – den Jagdinstinkt der Polizisten nicht wachrufen. Der Schwarze war nicht erwischt worden, und der Beamte kehrte außer Atem zurück. Sie schoben die beiden verhafteten Malayen ins Polizeiauto und fuhren ab in Richtung Sarphatastraat. Das Dreigestirn aus den Schafen und Buffalo Bill, ihrem Hirten, setzte sich wieder in Bewegung. Sie gingen an Carvalho vorbei und verschwanden im Dunkel links vom Paradiso. Carvalho sah voraus, daß sie zu einem der geparkten Autos gehen würden. Es blieb ihm also keine andere Wahl, als die Nummer ›Folgen Sie diesem Auto!‹ zu wiederholen. Glücklicherweise agierte das Trio mit nirwanahafter Bedächtigkeit. Carvalho saß bereits im Taxi, und wieder war seine Brieftasche um zehn Gulden leichter.

Das Trio steuerte einen 2 CV, der in Schockfarben bemalt und mit pazifistischen Aufklebern bepflastert war. Das Auto fuhr durch die Vijzalstraat auf den Dam zu, dann den Damrak hinauf und bog schnell nach rechts in die Gäßchen ein, die ins Herz des Rotlichtviertels führen. Auf einem Massenparkplatz vor einer Gracht hielten sie an. Carvalho verließ sein Taxi und blieb untätig stehen, bis die drei sich in Bewegung setzten. Sie stießen ins Herz des ›Red Lights‹ vor. Fast alle Schaufenster der Hauptstraße waren beleuchtet, die Frauen posierten für die Passanten vor dem Hintergrund eines einladenden Schlafzimmers. Nur die Beleuchtung verlieh diesem friedlichen, fast ehefraulichen Warten etwas Außergewöhnliches. Spanner und Passanten betrachteten die Schaufenster ohne Aufdringlichkeit, denn die Frauen duldeten nicht, daß sie wie Äffchen angestarrt wurden. Einige waren auf die Straße hinausgetreten und standen im Hauseingang, wasserstoffblondiert, gestiefelt, miniberockt und mürrisch.

Die drei Jugendlichen betraten eine Stehkneipe, Carvalho stellte sich neben sie an die Theke und bestellte sich ein Tartarbrötchen und ein Bier. Die Jugendlichen verschlangen hastig ihre Fertigpizza. Buffalo Bill blickte auf eine Taschenuhr, die er seiner Brieftasche eines Angestellten von ›Wells and Fargo‹ entnahm. Die Uhr zeigte an, daß keine Eile angesagt war, denn sie stützten sich mit der üblichen Gelassenheit auf ihre Ellbogen und plauderten, als wollten sie die ganze Nacht hier verbringen. Darauf bestellte sich Carvalho ein Vollkornsandwich mit kaltem Aufschnitt, Salat und harten Eiern. Ein weiteres Bier und eine kleine Plauderei mit der etwas häßlichen, aber molligen Bedienung, deren kastanienbraune Locken ebenso üppig waren wie ihre Schenkel, die in zu engen Stiefeln steckten. Er gab sich als durchreisender Franzose aus, nachdem er herausgefunden hatte, daß die Bedienung nur Holländisch oder Englisch verstand. Nein, es sei nicht viel los heute nacht. An Wochenenden gebe es viel Andrang, aber hauptsächlich Touristen. Ausländer oder Holländer aus dem Binnenland, die das Inferno von Amsterdam erleben wollten. Das Mädchen hatte das Wort »Inferno« mit ironischem Unterton ausgesprochen. Carvalho stellte die Pflichtfrage: ob sie spät aufhöre und nach der Arbeit schon etwas vorhabe.

»Eine Menge«, war die Antwort.

»Gutes oder Böses?«

»Wie man ’s nimmt.«

Und das Mädchen lachte. Mehr bekam Carvalho nicht aus ihr heraus. Sie hatte eine Menge vor, und es war gut oder böse, je nachdem. Eine Verteidigungsstrategie, auf die die Kellnerin wohl jede Nacht zwanzigmal zurückgriff, und Carvalho entschloß sich, sie um etwas weniger Verfängliches zu bitten, nämlich um ein weiteres Bier. Die drei standen immer noch da, ohne Anzeichen von Eile zu zeigen, und schütteten den Kaffee wie Wasser in sich hinein, obwohl der Kaffee hier dem Espresso ziemlich nahekam. Buffalo Bill schaute wieder auf die Uhr, und nun setzte sich die Gruppe in Bewegung. Carvalho ließ sie vorausgehen. Aus dem Augenwinkel begutachtete er das Schafsmädchen im hellen Licht und stellte fest, daß sie weder häßlich noch hübsch war, sondern ganz das Gegenteil. Sie hatte dieses geschlechtslose Antiimage erreicht, mit dem sich emanzipierte Frauen gegen ihr Image als Sexualobjekt zu Wehr setzen. Die Frauen hatten ihr Ziel der Enterotisierung erreicht. Carvalho sah allerdings voraus, daß sie ihre männlichen Partner an die neue Form gewöhnen würden und daß sich Frauen, um Objekt zu werden, in nicht allzu ferner Zukunft als Antifrau-Objekt oder Antiobjekt-Frau kleiden mußten.

Mit dem Blick eines Fleischereidiebs verabschiedete sich Carvalho von den Schenkeln der Kellnerin. Das Trio schlenderte sorglos zu der Gracht im inneren Bereich der Roten Laterne. Eine Schar Neugieriger drängte sich um eine Kapelle der Heilsarmee, die im Schlund des Amsterdamer Infernos erbauliche oder warnende Psalmen sang. Die Prostituierten verfolgten die virtuose Inszenierung der Heilsarmee aus ihren Schaufenstern. Ein paar Frauen aus dem Viertel hatten sich der Gruppe der Uniformierten angeschlossen, um ihren schweigenden, unterdrückten Protest auszudrücken, Protest gegen das, was den Charakter des Viertels seit Adams und Evas Zeiten prägte, zumindest jedoch seit seiner Entstehung in nächster Nähe des Hafens und des Hauptbahnhofs, welcher Kleinstädter und Bauern mit hungrigen Lenden in die Stadt entließ. Die Neugierigen und Hungrigen betrachteten die musikalisch-theatralische Predigt mit der Herablassung eines Sportpublikums angesichts eines samoanischen Tanzes, den eine Gruppe zarter Jünglinge bei der Verabschiedung von der Realschule aufführt. Die Bäume, die Lichter, ihr Widerschein auf dem Wasser, die ruhige Architektur der Häuser, die Sittsamkeit der Prostituierten, die Schweigsamkeit der Passanten, all das machte das Viertel der Roten Laterne zum glatten Gegenteil eines Sündenpfuhls. In diesem Zusammenhang klangen die Gesänge der Heilsarmee wie Paso dobles zum Semesterabschluß.

Das Trio schien das glänzende Schauspiel satt zu haben. Buffalo Bill, eindeutig der Anführer, befragte wieder einmal seine Uhr, und die drei gingen das rechte Grachtufer entlang. Sie sahen sich die Eingänge der Nachtklubs mit ›Live-Show‹ an, die Plakate der Kinos, die Pornos vorführten, und den Eingang des sogenannten Sexmuseums, das in Wirklichkeit nur der Aufreißer für das umsatzstärkste Geschäft des Viertels war. Sie betraten das Museum, und Carvalho war verblüfft, denn dies gehörte weder zur Lebensweise der Hippies noch zu den Gepflogenheiten der eingesessenen Bevölkerung. Es war, als würde ein Pariser Clochard plötzlich das Lido besuchen, auf den Eiffelturm steigen oder einen Ausflug nach Versailles machen. Vielleicht ging es um camp-Ästhetik. Vielleicht versuchten die jungen Leute, für einen Moment sexuelle Nippes wiederzuentdecken, um sich darüber lustig zu machen oder ihre ungeheure Naivität zu genießen.

Carvalho ging durch das kleine Museum, das zum Laden im Untergeschoß führt. Wenn überhaupt, dann hätte er sich ein Sadokostüm gekauft, das mit ziemlicher Sicherheit Charo amüsiert und zum Lachen oder zum Weinen gebracht hätte. Charo war gegen alle Schrecken gefeit, nur nicht gegen eine gewisse Schließmuskelschwäche, die das Lachen vom Weinen unterscheidet. Wieder befragte Buffalo Bill die Uhr, und und das Trio trat auf die Straße hinaus, ohne die Waren richtig betrachtet zu haben. Eine Gruppe von Franzosen hatte den Laden völlig in Besitz genommen und brach in ein hysterisches Kichern aus, das Carvalho allenfalls verstanden hätte bei bürgerlichen Madriderinnen, die im Wallfahrtsort Alba de Tormes geboren und in Salamanca erzogen worden waren. Die Dummheit und die Repression kennen keine Grenzen.

Das Trio strebte nun entschieden aus der hellerleuchteten Zone hinaus, offenbar um das Viertel zu verlassen. Unvermittelt verschwanden sie nach rechts in einem schmalen Gäßchen, und Carvalho beeilte sich, um sie einzuholen. Sie hatten ihre Schritte beschleunigt und schienen Zeit oder Raum gewinnen zu wollen. Das Gäßchen war nur schummrig beleuchtet, aber hell genug für Carvalho, um zu erkennen, daß das Mädchen eher weiterrannte als -ging, während die beiden jungen Männer haltmachten, sich nach ihm umdrehten und rasch auf ihn zukamen. Carvalho schaute sich um und entdeckte, daß vom Anfang des Gäßchens ebenfalls zwei hünenhafte Typen auf ihn zusteuerten. Er war zwischen den beiden starken Männern auf der einen und Buffalo Bill und dem Hippieschaf auf der anderen Seite eingeklemmt wie die Wurst in der Stulle. Er entschied sich für den Gegner, der am schwächsten aussah, und warf sich, mit einer Hand in der Tasche und dem Kopf voraus, blitzschnell gegen Buffalo Bill. Sein Kopf traf allerdings die große Brieftasche und nicht den Körper. Seine Hand schnellte mit offenem Messer aus der Tasche, was ihm aber kaum nützte. Der Schafshippie trat ihn mit dem Fuß gegen den Kopf, so daß Carvalho zu Boden ging. Sofort waren die beiden, die von hinten kamen, über ihm. Er verteidigte sich, auf dem Rücken liegend, schützte mit den Händen seine Weichteile und trat wild um sich. Aber nach zwei Fußtritten in die Rippen mußte er sich zusammenkrümmen. Dann fielen die beiden Riesen über seine Beine her und bearbeiteten sie mit aller Kraft. Ein Fuß begann, ihn ins Gesicht zu treten. Carvalho versuchte sich aufzurichten, und keiner hinderte ihn daran, aber als er sich halb aufgerichtet hatte, begann es Faustschläge zu hageln. Er merkte, wie ein Schlag seine Schläfe traf und das Dunkel der Gasse aufleuchtete. Die Fäuste und Fußtritte verursachten überall stechende Schmerzen. Sein Messer hatte er verloren, und so blieb ihm keine andere Wahl als die Kapitulation. Nach einem besonders kräftigen Faustschlag ließ er sich fallen.

Die Schläge hörten auf. Die vier Typen debattierten, durchsuchten seine Taschen und betrachteten seine Papiere. Dann packten sie ihn zu zweit unter den Achseln und hoben ihn hoch. Ein anderer umfaßte seine Beine, und zu dritt begannen sie, ihn zum Eingang des Gäßchens zu schleppen. Carvalho schätzte, daß jetzt nur zwei Bestimmungsorte in Frage kämen, entweder die Gracht oder ein am Ufer geparktes Auto. Wenn sie ihn in die Gracht warfen, gab es wieder zwei Möglichkeiten: Sie konnten ihn so hineinwerfen, wie er war, oder ihn vorher an Händen und Füßen fesseln. Wenn sie ihn fesselten, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit dem Mut der Verzweiflung zu wehren, um gleich an Land getötet und nicht ertränkt zu werden.

Er öffnete ein Auge halb und sah, daß sie sich dem Rand der Gracht näherten. Die Typen erörterten etwas. Sie schienen sich über einen eventuellen Zuschauer zu unterhalten. Der Druck der Arme um Carvalhos Körper herum nahm zu, und er machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Aber die drei Männer schwangen ihn hin und her, um ihn zu beschleunigen, und ließen dann plötzlich los. Er flog zwei oder drei Meter im Bogen abwärts und schloß den Mund in angstvoller Erwartung des schlammigen Wassers. Die Kälte traf ihn wie ein Peitschenschlag, als er auf die Wasseroberfläche auftraf und untertauchte. Zwischen Angst und einem Ekel, der beinahe panisch war, ruderte er mit den Armen. Alles war Schwärze. Er schloß lieber die Augen. Die Säure des Wassers erfüllte seine Nasenhöhle. Er hielt den Atem an, blieb unter Wasser und versuchte, eine seitliche Mauer zu erreichen. Mit einer Hand fand er die schlüpfrige, gemauerte Uferböschung. Sie fühlte sich an wie die lebendige Haut eines nassen, ekelhaften Tieres. Seine Hand tastete und fand eine Spalte, wo er sich festhalten konnte, um nicht aufzutauchen. Dann verbrauchte er die restliche Luft, die er noch in den Lungen hatte, und ließ sich langsam an die Oberfläche treiben. Seine Lungen waren so leer, als hätte man ihm unversehens Steine mitten in die Brust gerammt.

Die feuchte Luft schmerzte, als sie in seine Lungen strömte. Die Augen knapp über Wasser, versuchte er, am Ufer die Gestalten der Angreifer auszumachen. Anscheinend war niemand mehr da. In der Dunkelheit konnte er den noch tieferen Schatten der Brücke erkennen, unter der die Gracht verschwand. Er tauchte wieder unter und schwamm dorthin. Im Schutz des Brückenbogens tauchte er auf und klammerte sich an einen Spalt im Mauerwerk. Er beschloß, lange genug zu warten, um mit einer gewissen Sicherheit unbehelligt aus dem Wasser steigen zu können. Kein Laut war zu hören, und in der Stille plätscherte das Wasser um so lauter, das aus seinen Ärmeln troff. Die Aufregung hatte die Kälte in Schach gehalten, jetzt aber klapperte er mit den Zähnen. Ekel, Furcht und ein tiefes Selbstmitleid erfüllten ihn. Er stellte sich vor, die Brücke würde sich plötzlich mit gefräßigen Ratten bevölkern, und die panische Angst vor den Ratten war stärker als sein Wunsch, erst aus dem Wasser zu steigen, wenn seine Sicherheit garantiert war. Verzweifelt suchte er im Mauerwerk der Gracht nach einer Möglichkeit, nach oben zu klettern. Mit den Fingerspitzen zog er das Gewicht seines Körpers hoch, der durch das Wasser, mit dem seine Kleidung vollgesogen war, noch schwerer war. Er roch die zähflüssige Säure des Wassers, das seine Haut, Haare und Kleidung verklebte. Seine Verletzungen brannten, ein Auge war beinahe zugeschwollen.

Mit dem Kopf war er schon über dem Rand des Ufers. Dann hievte er sich vollends hoch und blieb, Gesicht nach unten, direkt an der Gracht liegen. Sein Atem beruhigte sich allmählich, aber die Kälte nahm zu. Kein Laut war zu hören, nur aus der Ferne drangen Fetzen von Verkehrslärm. Er beschloß sich aufzurichten. Es gelang ihm, er blieb still stehen und wartete, ob sein Auftauchen irgendeine Reaktion seiner Angreifer auslösen würde. Nichts. Da rannte er los. Ein gespenstischer Lärm begleitete ihn, der Lärm seiner nassen Schuhe, die sich wie Saugnäpfe ans Pflaster hefteten. Je mehr er an Wasser verlor, desto schneller wurde er. Seine Kleidung klebte an der Haut wie ein Korsett. In diesem Zustand konnte er sich weder in ein Taxi setzen noch über belebte Straßen in sein Hotel zurückkehren, wenn er nicht auf einer Polizeiwache landen wollte.

Müde setzte er sich auf ein paar winzige Stufen, die zu einem Laden im Kellergeschoß führten. Dort entdeckte er mehrere Mülltonnen, aus denen alte Zeitungen herausquollen. Er nahm einige Seiten davon. Zog Jacke und Hemd aus und trocknete seinen Körper mit den Zeitungen ab. Manchmal stöhnte er leise auf, wenn er dabei Quetschungen oder eine tiefere Schramme frottierte. Sein Hemd wrang er aus und warf es zusammengeknüllt in eine Mülltonne. Dann versuchte er, das Jackett etwas auszupressen, und zog es wieder an, die Revers umgeklappt, damit sie die ganze Brust bedeckten. Nun zog er Hose und Unterhose aus, und der flüchtige Anblick seiner Geschlechtsteile stimmte ihn heiter. Das wäre die richtige Situation, um wegen Exhibitionismus verhaftet zu werden! Die Unterhose warf er ebenfalls in die Mülltonne. Dann trocknete er den restlichen Körper ab, drückte die Hose aus und zog sie an. Dem soliden Material der Jacke und der Hose sah man die Feuchtigkeit nicht an. Schließlich trocknete er noch seine Füße und brachte mit den Fingern notdürftig die Haare in Ordnung.

Wenn er über wenig beleuchtete Straßen zurückkehrte, würde niemand seinen Zustand eines soeben Gestrandeten bemerken. Den Revolver hatte er im Hotel gelassen, um größere Konflikte zu vermeiden. Er ging also völlig unbewaffnet an der Gracht entlang, nicht weit von einem wuchtigen neoklassizistischen Gebäude, das von den Laternen eines kleinen, baumbestandenen Platzes beleuchtet wurde. Er wollte noch vor diesem Platz in die nächste Straße einbiegen, die rechts abging, um zum Waterlooplein zu kommen, hörte hinter sich ein Auto und flüchtete wieder ein Treppchen zu einem weiteren Kellergeschoß hinab.

Sekunden später fuhr ein Streifenwagen vorüber. Carvalho beobachtete, wie er auf dem Platz anhielt. Die Beamten stiegen aus und betraten den erleuchteten Eingang des Gebäudes. Von seinem Standort sah er, daß wenige Meter vor dem Eingang zur Wache eine Straße in die Richtung abzweigte, in die er wollte. Er ging dorthin und ließ den Eingang der Wache nicht aus den Augen.

Dann bog er in die Straße ein und eilte zum Waterlooplein. Er hoffte, die Bewegung würde ihm helfen, die Kälte zu überwinden und die schmerzenden Stellen zu vergessen, die er überall am Körper zu spüren begann. Je näher er seinem Ziel kam, desto größer wurde sein Selbstvertrauen und desto geringer seine Reserven. Einem Pärchen, dem er begegnete, blieb vor Erstaunen beinahe der Mund offenstehen. Er umging den Waterlooplein und eilte zum Rembrandtplein. Als er von weitem den freien Platz entdeckte, konnte er ein Schluchzen der Freude nicht unterdrücken.

Er taumelte durch die Drehtür des Hotels. Der Nachtportier war völlig perplex und erkundigte sich stammelnd, aber beflissen danach, was ihm zugestoßen sei, während er ihm den Schlüssel aushändigte.

»Man wollte mich ausrauben, und bei der Prügelei bin ich ins Wasser gefallen.«

»Haben Sie es der Polizei gemeldet?«

»Ja, natürlich. Sie brachten mich hierher, direkt vor die Tür.«

Der Nachtportier begleitete ihn zum Lift und beschwor ihn, dankbar zu sein für das große Glück, das er gehabt habe. »Amsterdam macht einen ganz friedlichen Eindruck, aber nachts füllen sich die Grachten mit Leichen. Sie können heute Ihren zweiten Geburtstag feiern!«

Als er schließlich allein im Aufzug war, ließ sich Carvalho gegen die Wand sinken und blieb so, entspannt und antriebslos, stehen. Ihm gegenüber hing die Speisekarte mit dem Abendessen des Hotels. Ein vielversprechendes Menü. Als Carvalho die Augen öffnete, spürte er, daß außer ihm noch jemand im Zimmer war. Am Fußende seines Bettes saß derselbe Inspektor, der ihn schon am Vortag besucht hatte. Der Mann musterte ihn aufmerksam, was Carvalho leider nicht erwidern konnte, weil sein Auge zu stark schmerzte.

»Man hat Sie ganz schön zugerichtet.«

Carvalho zuckte die Achseln. Ein stechender Schmerz in den Rippen veranlaßte ihn, diese Geste kein zweites Mal zu versuchen.

»Sie kennen diese Stadt. Merkwürdig, daß es jemand geschafft hat, Sie zu überrumpeln!«

»Man wollte mich ausrauben.«

»Der Nachtportier sagte es mir bereits.«

»Hat er Sie gerufen?«

»Sie wurden im Aufzug bewußtlos.«

Carvalho öffnete seinen Pyjama und entdeckte Pflaster und Verbandszeug auf seinen Verletzungen. An seinem Auge spürte er eine klebrige Substanz. Jemand hatte ihn zusammengeflickt.

»Ist Ihnen etwas geraubt worden?«

»Nein.«

»Würden Sie die Täter wiedererkennen?«

»Nein. Es geschah im Dunkeln und ging sehr schnell.«

»Merkwürdig, sehr merkwürdig, daß Sie ungefesselt in die Gracht geworfen wurden.«

»Sie dachten, ich hätte das Bewußtsein verloren.«

»Jeder Bewußtlose kann wieder zu sich kommen, wenn er naß wird.«

»Sie hatten eben ein gutes Herz.«

Der Inspektor setzte sich auf einen Stuhl neben einem Marmortischchen am Kopfende des Bettes.

»Es wäre viel besser, Sie würden uns ehrlich sagen, was los war. Sie waren gestern im Paradiso

»Woher wissen Sie …?«

»Sie sind Mitglied geworden, und wir haben die Namen aller Mitglieder des Paradiso

Carvalho fragte sich, wie viele als Hippie verkleidete Polizisten zu der verschlafenen Kundschaft dieses Paradieses gehören mochten.

»Haben Sie dort jemanden kennengelernt?« fragte der Inspektor weiter.

»Ich war wie ein Marsbewohner gekleidet und die andern wie normale Menschen. Jede Verständigung war unmöglich.«

»Haben Sie geraucht?«

»In meinem Alter nimmt man nicht mehr so schnell irgendwelche Gewohnheiten an. Ich gehe auf die Vierzig zu.«

»Ich auch.«

»Dann wissen Sie ja, was ich meine.«

»Nein. Nein, das weiß ich nicht. Aber das macht nichts. Was taten Sie, nachdem Sie das Paradiso verlassen hatten?«

»Ich ging ins Rotlichtviertel.«

»Besuchten Sie ein Schaufenster?«

»Nein.«

»Wollten Sie sich betrinken?«

»Nein.«

»Wo sind Sie überfallen worden?«

»In einem engen Seitengäßchen. Sie zogen oder stießen mich hinein. Vier Leute. Sie verprügelten mich. Dann stellte ich mich ohnmächtig, und sie warfen mich ins Wasser. Ich wartete, bis sie weg waren, stieg heraus, trocknete mich ein bißchen mit Zeitungen ab und ging zu Fuß zum Hotel.«

»Warum zu Fuß? In diesem Viertel gibt es viele Streifenwagen oder Taxis!«

»Ich war total benommen von den Schlägen. Ich wollte nur noch zum Hotel und ging wie ein Roboter.«

Der Inspektor schien nicht richtig zuzuhören, sondern sich das Zimmer anzusehen.

»Dieses Hotel ist alt geworden.«

»Aber es ist immer noch sehr komfortabel.«

»Señor Carvalho, steht Ihr Besuch in Holland in irgendeiner Weise in Verbindung mit Drogen? Ich erwarte nicht, daß Sie mir die Wahrheit sagen. Ich möchte Sie nur warnen.«

Der Finger des Inspektors war anklagend auf ihn gerichtet.

»Der holländische Staat hat genug Geld, um seine eigenen Sicherheitsorgane zu finanzieren. Wir brauchen keine ausländische Einmischung. Schon gar nicht von jemandem, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal offizieller Polizeibeamter ist! Sie sind aus dem Spiel, Señor Carvalho!«

»Ich nehme an, daß ich nicht der erste Tourist bin, der überfallen wird und in einer Gracht landet.«

»Nein. Aber Sie sind ein ganz besonderer Tourist. Zum Beispiel erstatten normale Touristen nach dem Überfall Anzeige, und ich nehme nicht an, daß Sie das vorhaben.«

»Nein. Ich will nur ganz kurz in Holland bleiben und mir nicht mit polizeilichen Nachforschungen das Leben schwermachen. Außerdem ist mir nichts geraubt worden. Ich hatte nur amerikanische Kreditkarten bei mir, die Carte Blanche, die Karte von Diner’s und ein paar Gulden.«

»Sie haben noch 40 Gulden, etwas feucht, aber noch zu gebrauchen. Oder anders herum, man hat Ihnen nicht einmal die 40 Gulden geraubt, die Sie in der Tasche hatten.«

»Es war wohl zuwenig.«

»Es sind schon Leute für weniger als 20 Gulden ertränkt worden. Wir hatten solche Fälle!«

»Unerhört!« Carvalho wollte den Sarkasmus nicht auf die Spitze treiben. Er wollte sich auch nicht wie eine Romanfigur von Chandler benehmen, die einem dummen und brutalen Polizisten aus Los Angeles gegenübersteht. Unter anderem deshalb, weil der Inspektor eben kein dummer und brutaler Cop aus Los Angeles war und er selbst kein Held von Raymond Chandler. Der Inspektor erhob sich. »Das war die zweite und letzte Warnung. Sollten Sie sich noch einmal in Schwierigkeiten bringen, müssen wir energische Maßnahmen ergreifen. Natürlich läßt Inspektor Kayser Sie vielmals grüßen und wünscht Ihnen eine baldige Genesung.«

»Sagen Sie ihm, daß ich ihm vor meiner Abreise noch einen Besuch abstatten will.«

»Wann wird das sein?«

»Wahrscheinlich morgen oder übermorgen.«

Der Inspektor verließ das Zimmer. Carvalho erkundigte sich bei der Rezeption, ob er von einem Arzt untersucht worden sei. Dies sei der Fall, und er habe nichts Ernstes. Man riet ihm, einen Tag im Bett zu verbringen und sich zu melden, wenn sich außergewöhnliche Beschwerden einstellen sollten, zum Beispiel Übelkeit. Er müßte dann sofort in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Er lehnte sich in seinen Kissenberg zurück und trank eine halbe Flasche Wasser, die auf dem Nachtschränkchen stand. Dann sprang er aus dem Bett, um auszuprobieren, wie ihm die vertikale Lage bekam. Er ging in die Hocke und richtete sich langsam auf. Alles in Ordnung. Bestimmte Stellen seines Körpers schmerzten, und das brennende Auge war ihm lästig, alles übrige jedoch unversehrt. Zufrieden ging er wieder zu Bett, rief die Rezeption an und bat, seinen Anzug abzuholen und in die Reinigung zu geben. Der Portier kam selbst herauf, um ihn zu holen, erkundigte sich nach seinem Befinden und versicherte, der Anzug werde in wenigen Stunden fertig sein. Carvalho bestellte einen Orangensaft. Er wurde ihm mit amerikanischer Schnelligkeit gebracht. Nachdem er ihn getrunken hatte, legte er sich in die Kissen zurück. Er wollte nicht einschlafen, aber die Müdigkeit überwältigte ihn. Er schloß die Augen und glaubte, um seinen Körper herum den Druck des schmierigen Wassers der Gracht zu spüren. Ein paar graue Ratten schwammen mit gelenkigen Pfoten und borstigen Schnurrhaaren auf ihn zu. Carvalho versuchte, sich im Wasser zu wehren, und schlug wild mit den Händen, um nicht gebissen zu werden. Er durfte keinen Lärm machen, weil die Verfolger immer noch am Rande der Gracht standen und auf ein Lebenszeichen von ihm lauerten.

Ein Pochen an der Tür weckte ihn. Er fand zurück in Raum und Zeit. Hatte fast zwei Stunden geschlafen, seit dem Orangensaft. Er rief: »Herein!« Der Türknauf quietschte, und im Türrahmen erschien die Gestalt des Mijnheer Singel.