Das goldbraune Mädchen war von dem Katamaran aus ins Wasser getaucht. Der olivhäutige Mann mit der Glatze ruderte energisch mit den Armen, um in ihre Nähe zu gelangen, ihre Rückkehr zur Oberfläche mitzuerleben und den Glanz des nassen, von Wasser und Sonne gesprenkelten Fleisches zu überraschen. Die Helligkeit der Mittagssonne war gnadenlos. Der olivhäutige Mann mit der Glatze richtete sich auf, stellte fest, daß die Wellen ihm kaum Deckung boten, und schaute sich nach seiner Familie am Strand um. Eine würfelförmige Frau schrubbte energisch einen Jungen. Er konnte seine visuelle Jagd ungestraft fortsetzen und wandte sein Gesicht dorthin, wo er das goldbraune Mädchen verlassen hatte. Sie entfernte sich auf dem Rükken schwimmend von dem verankerten Katamaran, der im ruhigen Wasser dümpelte.
In diesem Augenblick entdeckte er einen Körper, der im Wasser schwamm und an den Katamaran angedockt schien: zweifellos ein Begleiter des goldbraunen Mädchens, den er bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Aber nichts hielt ihn davon ab, sie weiter zu betrachten. Niemand konnte ihm verbieten, sie anzusehen und seine Netzhaut an dem wohlgeformten, von Sonne und gleißender Helligkeit belebten Fleisch zu sättigen. Er teilte seinen Blick zwischen dem Mädchen, das launische, unvorhersehbare Bahnen durchs Wasser zog, und dem reglosen Körper, der immer noch, Gesicht nach unten, im Wasser lag und hartnäckig an dem vertäuten Katamaran haftete. Allmählich erschien ihm diese Ausdauer übertrieben und gegen alle Gesetze der Atmung. ›Aber es gibt Leute, die viel aushalten‹, sagte er sich. ›Und ich werde mich nicht zum Trottel machen und Alarm schlagen, nur damit der Typ danach frisch und munter aus dem Wasser springt und das Mädchen mich auslacht.‹ Das Mädchen kehrte zurück. Sie kraulte so mühelos, als gleite sie auf einer Schiene, die sie zuvor über die Wellen gelegt hatte. Einen Meter vor dem Katamaran hielt sie inne und betrachtete argwöhnisch, überrascht die Beharrlichkeit des Körpers, den nur das sanfte Hin und Her der Wellen bewegte. Sie schaute sich nach Beistand um und entdeckte den kahlen, olivhäutigen Mann, der die Szene aus etwa zwanzig Meter Entfernung beobachtete. Bestätigt durch seine Anwesenheit, näherte sie sich dem Körper. Als sie ihn mit der Hand berührte, löste sich der seltsame Schwimmer mit der Folgsamkeit eines Toten von dem Katamaran. Das Mädchen wandte sich zu ihrem Beobachter um und rief etwas in einer fremden Sprache. Dieser zögerte nicht und sorgte für rasche, präzise Schwimmzüge, um sie mit der Promptheit zu erreichen, die einem so herrlichen Mädchen zustand. Die Eindeutigkeit des entseelten Körpers gewann die Oberhand über das Goutieren der Frau. Der kahle, olivhäutige Mann schob den Körper schwimmend vor sich her zum Strand, bis er Boden unter den Füßen hatte, und schleppte ihn dann weiter, gefolgt von dem Mädchen, das nicht aufhörte zu schreien. Die Schreie öffneten erwartungsvolle Gassen im Gewimmel der Schwimmenden und derer, die auf dem Sand Schweiß absonderten oder trockneten. Einige Schwimmer versuchten, dem kahlen, olivhäutigen Mann seine Hauptrolle streitig zu machen, aber er hielt seine Trophäe fest mit dem Arm, den er dem Toten unter den Achseln durchgeschoben hatte.
Am Strand angekommen, hoben sie den Körper zu viert aus dem Wasser. Der kahle, olivhäutige Mann dirigierte die Operationen. Sie trugen ihn mit dem Gesicht nach unten, wie sie ihn aus dem Wasser geborgen hatten. Er war nur mit einer Badehose bekleidet, jung und blond und sonnengebräunt. Die vier Männer drehten ihn um, als sie ihn in den Sand legten. Ein Schrei des Entsetzens weitete den Kreis der halbnackten Menge. Er hatte kein Gesicht. Die Fische hatten Wangen und Augen gefressen. Man drehte ihn wieder um. In diesem Moment entdeckte ein kleiner Junge, daß auf der Haut des Rückens etwas zu lesen stand. Eine Hand wischte die nassen Sandkörner ab. Jemand las mit lauter Stimme die auf ein Schulterblatt tätowierten Worte vor: ICH BIN GEBOREN, DAS INFERNO AUS DEN ANGELN ZU HEBEN.
Kein Zweifel, es mußte die Türglocke sein. Pepe Carvalhos Hand tastete nach dem Wecker; doch das Herz des nervösen Tierchens tickte nicht. Also war jemand an der Wohnungstür. Er gab Charo einen Klaps auf den nackten Rücken, der aus den wogenden Bettüchern ragte.
»Es klingelt!«
»Mach auf!«
»Es ist deine Wohnung. Geh und sieh nach, wer es ist!«
»Wie spät ist es?« Charo war schon beinahe wach und schien interessiert, was los war.
»Ein Uhr.«
»Nachts?«
Pepe Carvalho zeigte auf die Strahlen, die die Sonne durch die Fensterläden auf den Fußboden des Schlafzimmers schickte. Charo sprang aus dem Bett. Ihre Nacktheit zitterte, und sie hüllte sie in einen Morgenmantel aus bestickter Seide. Dann zog sie die Pantoffeln des Mannes an, ordnete mit einer Hand ihr zerzaustes Haar und verließ das Zimmer. Carvalho lauschte halb aufgerichtet und etwas beunruhigt den bekannten Geräuschen des Türöffnens, des Gesprächs und des darauffolgenden Türschließens. Die Pantoffeln kehrten zurück, geräuschvoll über das Parkett schlurfend. Charos Gesicht zeigte Ärger und Enttäuschung.
»La Gorda.«
»Wer?«
»La Gorda, das dicke Lehrmädchen aus dem Friseursalon Queta. Ihr Chef will dich sprechen.«
»Wozu? Woher weiß sie überhaupt, daß ich hier bin?«
»In was für einem Viertel wohne ich hier denn? Schick sie zum Teufel, wenn dich die Sache nicht interessiert.«
Aber Pepe ging schon hinaus und stand vor einer dicken Heranwachsenden. Das bemerkenswerte Paar Brüste hob die Vorherrschaft der düsteren Verschlagenheit ihrer Augen nicht auf. Sie musterten Carvalhos halbnackten Körper mit komplizenhaftem Einverständnis.
»Mein Chef schickt mich. Ich soll Sie holen.«
»Wer ist dein Chef?«
»Señor Ramón, der Mann von Señora Queta.«
»Was will er?«
»Daß Sie kommen. Es ist dringend. Hier!« Sie gab ihm einen Zettel. Carvalho öffnete einen Fensterladen, um lesen zu können. ›Ich habe einen Auftrag, der Sie möglicherweise interessiert.‹ Carvalho legte den Zettel auf die Konsole im Vorflur und kehrte in dieWohnung zurück. Er zog seine Sachen an, die auf dem Schaukelstuhl übereinanderlagen, während Charo sich vor dem Schminkspiegel Mitesser ausdrückte.
»Ich komme morgen wieder. Ist heute viel los bei dir?«
»Vier oder fünf Kunden, ab sieben.«
»Ruhige Vertreter?«
»Denkste! Alles mögliche. Aber du kannst zum Schlafen kommen, wenn du willst.«
»Ich muß nach Hause. Falls Post da ist. Im Moment geht alles drunter und drüber.«
Carvalho ging Richtung Vorflur, bog aber plötzlich ab und betrat die Küche. Der Kühlschrank zeigte ihm ebensoviel strahlende Helligkeit wie gähnende Leere. Er steckte den Finger in ein Gebäck mit Sahnefüllung und leckte ihn ab. Dann entschied er sich für ein Glas eiskaltes Wasser und eine halbe Tafel Schokolade. Dabei bemerkte er die halbvolle Sektflasche, die zu Charos Standardausrüstung gehörte. Er entkorkte sie und nahm einen Schluck. Der Sekt war eiskalt und abgestanden. Den Rest schüttete er in den Ausguß. Als er sich umdrehte, sah er Charo im Türrahmen lehnen, das Gesicht voller Creme, in einen weißen Morgenmantel gehüllt.
»Vielen Dank auch fürs Wegschütten.«
»Der war hinüber.«
»Mir schmeckt er aber so.«
»Tut mir leid!«
Aber Charo war schon aus dem Türrahmen verschwunden und hatte ihm den Weg freigegeben. Carvalho trat in den Vorflur, wo La Gorda ungeduldig schnaubend auf ihn wartete. Im Aufzug wanderten seine Blicke verstohlen über die baumwollverhüllte Gebirgslandschaft der Heranwachsenden, die seine Blicke aus dem Augenwinkel verfolgte. Carvalho ließ sie auf dem Gehweg vorausgehen und folgte ihr. Sie ging mit den Allüren einer Diva, immer wieder bemüht, mit Kopfbewegungen ihre kurze und mit zuviel Haarfestiger besprühte Mähne zum Fliegen zu bringen. Die Stadt versank im mittäglichen Waffenstillstand, und das Kreischen der metallenen Rolläden der Geschäfte beschloß den Morgen des Arbeitstages. Sie gingen durch mehrere enge Gäßchen mit abgeblätterten Fassaden, bis sie die Calle de la Cadena erreichten. La Gorda beschleunigte den Schritt, und Carvalho sah in nächster Nähe das Schild des Salons Queta. Hinter den Milchglastüren erwartete ihn das Bild der letzten Kundinnen mit weißen Brustlätzchen unter Trockenhauben, die Gesichter aufgefressen von dem Helm. Carvalho betrachtete mit prüfendem Blick die Beine der Friseurinnen, die in roten Plastikschläppchen steckten. Für einen Moment blieb das Bild eines streitbaren Hinterns unter einem blauen Kittel auf seiner Netzhaut.
»Wer war die vierte?«
»Welche vierte?«
»Die Friseurin ganz hinten im Salon.«
»Queta«, antwortete La Gorda, ohne sich umzusehen, während sie die hölzernen Stufen zu einem neonbeleuchteten altillo, einer Art geschlossener Empore, hinaufstieg. Hinter einem Bürotisch aus der Zeit vor dem Koreakrieg hob ein Mann den Kopf, um die Ankunft der beiden zur Kenntnis zu nehmen. Eine kundige Hand strich die spärlichen Haare zurück, die seine Schädelseiten zierten. Das weißhäutige, sommersprossige Gesicht wies für sein offenkundiges Alter nur wenige Runzeln auf. Er trug einen grauen Anzug, und seine unter dem Tisch gekreuzten Beine steckten in ledernen Pantoffeln.
La Gorda verließ den Raum, sobald der Mann am Tisch und Carvalho Blicke getauscht hatten. Carvalho folgte der stummen Aufforderung des andern und ließ sich in einen kleinen, mit grünem Plastik bezogenen Sessel fallen. Das gespreizte Auftreten des Mannes war diesem Geschäft und diesen Hausschuhen nicht angemessen. Carvalho fühlte sich gemustert, gemessen, taxiert. Als der Mann seine Prüfung beendet hatte, senkte er den Blick und suchte etwas auf dem Tisch. Ein Zeitungsausschnitt, den er Carvalho reichte. Der las ihn und behielt ihn in der Hand, ohne ein Wort zu sagen und ohne seinen Blick von der seltsamen Gesichtshaut seines Gastgebers abzuwenden.
»Haben Sie von der Sache gehört?«
»Nein.«
»Lesen Sie keine Zeitungen?«
»Selten.«
»Was halten Sie davon?«
»Und Sie?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
Carvalho zuckte die Achseln. Der andere hatte sich in seinem hölzernen Drehstuhl zurückgelehnt und schien die Ereignisse abzuwarten. Carvalho musterte amüsiert dieses winzige Büro eines winzigen Altstadtgeschäftes, das sich in nichts von anderen winzigen Büros winziger Altstadtgeschäfte unterschied. Nur das merkwürdige Auftreten des wohlerhaltenen, eitlen Alten paßte nicht in diese Umgebung.
»Ich möchte wissen, wer dieser Mann war und was er machte.«
Carvalho wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Zeitungsausschnitt zu.
»Das dürfte nicht schwer zu erfahren sein. Die Polizei müßte ihn identifiziert haben.«
»Ich habe keinerlei Interesse daran, die Polizei um Auskunft zu bitten.«
»Das wäre das schnellste, billigste und sicherste.«
»Es muß weder schnell noch billig sein. Und jeder hat seine eigenen Vorstellungen davon, was sicher ist und was nicht. Ich ziehe es vor, Ihnen keine Lügen aufzutischen, und deshalb nenne ich Ihnen nicht den Grund, warum mich der Name dieses Mannes interessiert.«
»Ihr Interesse gilt wohl den Geschichten von Schiffbrüchigen. Diese Leiche ist besonders interessant. Eine derartige Tätowierung findet man nicht alle Tage.«
»Wenn Sie unbedingt meine Beweggründe kennen müssen, denken Sie sich welche aus. Ich bin einzig und allein an der Identität dieser Leiche interessiert.«
»Ich kann mich nicht blind auf diese Sache einlassen. Mit der Polizei ist nicht zu spaßen. Und wenn ich nicht weiß, worum es geht, ist ein Zusammenstoß unausweichlich.«
»Man spricht sehr gut über Sie.«
»Das bezweifle ich nicht.«
Carvalho legte den Zeitungsausschnitt zurück auf den mit Papieren übersäten Tisch und setzte die stumme Betrachtung seines Gegenübers fort.
»Sie wissen jetzt, wer ich bin. Mein Name ist Ramón, und ich führe dieses Geschäft mit meiner Frau. Nehmen Sie an, es wäre einfach eine Laune von mir und ich könnte es mir leisten, für meine Launen Geld auszugeben. Ich will wissen, wer dieser Mann war, dabei sind die einzigen Anhaltspunkte sein Alter – nach der Beschreibung scheint es sich um einen jungen Mann zu handeln – und eine Tätowierung.«
»Mehr wollen Sie mir nicht sagen?«
»Doch. Ich bezahle Ihnen hunderttausend Pesetas für diese Arbeit.«
»Plus Spesen!«
»Sie dürfen aber nicht zu hoch sein.«
Carvalho hatte sich schon erhoben. Der Mann richtete sich zum erstenmal auf und stützte sich mit gespreizten Händen auf den Tisch. An einem seiner Finger bemerkte Carvalho einen riesigen goldenen Siegelring mit dem Kopf eines Indianerhäuptlings.
»Fünfzigtausend sofort.«
Kaum hatte das Wort fünfzigtausend den Mund verlassen, schon griff die Hand, die von dem Indianerhäuptling fast bedeckt war, in ein hölzernes Kästchen und entnahm ihm ein Bündel Banknoten. Der Mann zählte die Geldscheine ab und reichte sie Carvalho. Dieser steckte sie ein und machte sich auf den Rückweg. Seine Schritte erweckten die hölzerne Seele der Stufen zum Leben. Als er den Salon betrat, suchten seine Augen jenen Hintern, der ihn beim Hereinkommen so beeindruckt hatte. Aber Queta wandte ihm ihr Gesicht zu. Das volle, gutaussehende Gesicht einer fast Vierzigjährigen, etwas übermäßig geschminkt, die Augen etwas zu groß.
Als er wieder auf der Straße stand, wurde Carvalho klar, daß er nicht Herr der Lage gewesen war. Señor Ramón hatte ihm fünfzigtausend Pesetas gegeben und mindestens weitere fünfzigtausend in seinem Kästchen gelassen. Er hatte vorgehabt, ihm die ganze Summe vorzuschießen.
In dem Lokal duftete es nach Nierchen in Sherry. Carvalho setzte sich an einen Ecktisch, von dem er alles überblicken konnte, und ließ sich von der nierenfettgeschwängerten Luft Nase, Mund und Zunge imprägnieren. Nachdem er einen kastilischen Salat und Nierchen bestellt hatte, versuchte er sich alles vorzustellen, was das Eigenschaftswort ›kastilisch‹ verspricht, wenn es durch das Nennwort ›Salat‹ ergänzt wird.
Seine eigene Phantasie ging viel weiter als die des Kochs. Er bekam Kartoffeln mit Vinaigrette und einigen marinierten Thunfischstückchen, die strategisch auf der Oberfläche des Kartoffelpflasters verteilt waren.
Carvalho richtete ein Auge auf den außergewöhnlichen Thunfisch und ließ das andere über die Tische schweifen. Er fragte den Kellner: »Ist Bromuro hier?«
»Ja, dort unten. Er ist gerade mit einem Kunden fertig. Wenn Sie wollen, schicke ich ihn her.«
»Sehr gut.«
Bromuro kam, als Carvalho gerade die Nierensauce aufgetunkt hatte, das mit braunem Fett vollgesogene Brot betrachtete und es dann der sehnsüchtig wartenden Zunge übergab. Die Nierchen waren vor allem für den Geruchsund den Tastsinn ein Genuß, den auch Bromuros Ankunft nicht schmälerte. Dieser hockte sich vor Carvalho, nahm einen seiner Füße und stellte ihn auf seinen Schuhputzkasten.
»Bist du zum Essen oder zum Arbeiten hier?«
»Beides. Am Strand haben sie einen Toten gefunden. Er hatte kein Gesicht mehr. Die Fische haben es aufgefressen, und auf dem Rücken trug er die Tätowierung Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben.«
»Und seine bittere Stimme besaß die Traurigkeit des Akkordeons, schmerzerfüllt und müde?«
»Wovon zum Teufel sprichst du?«
Die wäßrigen Augen des Schuhputzers verschwanden noch tiefer in dem Labyrinth schwärzlicher Runzeln, die sich mit roten Krampfäderchen sein Gesicht teilten. Kein Zweifel, er lachte, zumindest glaubte Carvalho, das seismische Beben der Runzeln so interpretieren zu können.
»Ein altes Lied. Es heißt Tätowierung, Concha Piquer hat es gesungen.«
Carvalho erinnerte sich plötzlich daran. Er summte es vor sich hin, unsicher zuerst, dann unterstützt von Bromuro. Der sang es wie einen Flamenco, dabei war es eine Tonadilla. Aber Carvalho ließ ihn singen. Als sie fertig waren, beugte sich Bromuro vor, als wollte er seine Arbeit begutachten.
»Ich muß alles wissen, was du darüber in Erfahrung bringen kannst.«
»Im Moment rein gar nichts, nicht das Geringste.«
»Jetzt weißt du immerhin, daß ich daran interessiert bin. Morgen um ein Uhr lasse ich mir im Versalles wieder von dir die Schuhe putzen.«
»Willst du zu den Nutten gehen?« Carvalho ließ sich zu einem zweideutigen Grinsen herab, während er seinen anderen Fuß auf den Kasten setzte. Durch Bromuros schütteres Haar sah man die schuppige Kopfhaut. Der Schuhputzer verdiente seinen Lebensunterhalt als Zuträger, als Verkäufer pornografischer Kartenspiele und als Clown, der die Leute darüber aufklärte, wie dunkle Mächte das Bromsalz mißbrauchten. Daher sein Spitzname, der nichts anderes als Bromsalz bedeutet.
»Ich sage Ihnen, die schütten Bromsalz in alles, was wir trinken, damit wir nicht auf schweinische Gedanken kommen und die Frauen auf der Straße anspringen. Es ist eine Schande! Der größte Kummer meines Lebens! So viele Frauen, und wir haben so wenig für ihr Vergnügen!«
Der Erfolg war ihm stets garantiert, wenn er die Geschichte von der Bromsalzverschwörung und der mangelnden Übereinstimmung von Wunsch und Wirklichkeit zum besten gab. Seit zwanzig Jahren unterhielt er seine Kundschaft damit. Ursprünglich hatte er sie erzählt, um seine Bildung und seine Teilhabe an der wissenschaftlichen Erkenntnis der Menschheit zu beweisen. Nachdem er jedoch eines Tages dahintergekommen war, daß seine Geschichte die Leute eher erheiterte als beunruhigte, hatte er sie zu seiner wichtigsten Trinkgeldquelle ausgebaut. Diesmal steckte ihm Carvalho fünfhundert Pesetas in die Westentasche, und Bromuro blickte auf, um ihm das ganze Ausmaß seiner Überraschung zu zeigen.
»Ein guter Auftrag?«
»Ganz ordentlich.«
»Du verschenkst doch keine fünfhundert Pesetas so mir nichts dir nichts.«
»Wenn du meinst, es ist zuviel, kannst du mir ja was rausgeben.«
»Willst mich wohl vergackeiern, Pepe? Bis morgen.«
Er nahm seinen Kasten und ging durch den Mittelgang des Speiselokals. Dabei musterte er die Füße der Gäste wie ein Pilzsucher. Carvalho legte seine Zeche auf das Tellerchen und trat auf die Straße hinaus. Es fiel ihm nicht gleich ein, wo er letzte Nacht sein Auto gelassen hatte, aber er vermutete es irgendwo auf dem oberen Teil der Ramblas. Er nahm den Mittelstreifen der Promenade, blieb ab und zu an einem Kiosk mit Büchern oder Zeitschriften stehen, wog Samentütchen in der Hand und dachte über die merkwürdigen Lebensbedingungen der Vögel und Äffchen in den Käfigen der Straßenverkäufer nach. Schon erfüllte das geschäftige Treiben des Abends die Ramblas, und Carvalho betrat eine Markthalle, über deren Eingang ein Schild mit der Aufschrift hing: Mercado de la Boquería. Er wollte gut zu Abend essen. Während er in der Einsamkeit seines Hauses über dem Fall brüten würde, wollte er unbedingt ein wenig kochen. Die Lösung für einen angenehmen Ausklang des Tages bestand in dem Versprechen eines leckeren Abendessens. Er kaufte frischen Seehecht und Seeteufel, eine Handvoll Venusmuscheln und Miesmuscheln, dazu noch ein paar Scampi. Mit weißen Plastiktüten behängt, die mit diesen Schätzen angefüllt waren, schlenderte er dann durch das friedliche abendliche Erwachen des Marktes. Viele Stände waren geschlossen, und der Akt des Essenkaufens besaß am Abend ein anderes Zeitmaß, einen speziellen Bereich, in dem fast totales Schweigen herrschte, kaum durchbrochen von den Geräuschen des Anbietens und Verkaufens.
Für den großen braunen Mittdreißiger, der trotz seiner teuren, maßgeschneiderten Kleidung etwas ungepflegt wirkte, war der gemütliche Bummel durch die Markthalle eine der wenigen Orgien, die er seinem Geist an jedem Abend gönnte, wenn er Charos Viertel verließ, um zu seinem Bau am Abhang des Berges über der Stadt zurückzukehren.
Zu Carvalhos Haus gelangte man über einen breiten, ungeteerten Weg, der sich zwischen alten, verschnörkelten Villen hindurchschlängelte. Ihr Weiß war ergraut im Regen der letzten fünfzig Jahre, sie waren verziert mit blauen oder grünen Kacheln und überwuchert von Bougainvilleas oder Wunderblumen, deren Hängeranken über die Ränder der Lehmmauern quollen. Das Haus Carvalhos besaß weder das Alter noch die vornehme Herkunft seiner Nachbarn. Es war nicht in der Blütezeit von Vallvidrera erbaut worden, sondern in der zweiten großen Epoche seiner Geschichte. Ein paar Leute, die sich nach dem Bürgerkrieg mit Schwarzmarktgeschäften bereichert hatten, suchten auf dem Berg einen glücklichen Ausguck auf den Schauplatz ihrer glücklichen Geschäfte. Es war ein kleinerer Reichtum aus kleineren Schwarzmarktgeschäften. Sparsame Menschen, die sich aus der Vorkriegszeit die Leidenschaft für ein Häuschen mit Garten am Stadtrand bewahrt hatten, wenn möglich mit einer Ecke für Gemüse und Tomaten, faszinierende Freizeitgestaltung der Wochenenden und bezahlten Urlaubstage.
Carvalho hatte diese kleine Villa gemietet, die sich am Vorbild des Funktionalismus zwischen den Kriegen orientierte. Wohl hatten die Architekten geplant, ein rein funktionalistisches Haus zu entwerfen, aber der Eigentümer hatte zweifelsfrei ›ein wenig Farbe‹ oder ›etwas gemütlicher‹ verlangt. Deshalb hatte man sich ein paar gewagte Backsteinreihen erlaubt, die über den Kranzgesimsen wie hohle Zähnchen aussahen, dazu die eine oder andere Reihe gelber Fliesen auf der ursprünglich ockerfarbenen Hauswand, die jetzt nach dreißigjährigem Dasein etwas grünlich wurde.
Carvalho nahm die Post aus dem Briefkasten am Eingang und durchquerte die Gartenfläche aus Erde und wackligen Steinplatten, die ihn von den Stufen der Veranda trennte. Dank seiner Nachlässigkeit gediehen überall Wildkräuter, und auf dem Boden der Veranda hatte sich aus abgestorbenen Blättern des letzten Herbstes ein beiger Farbstoff gebildet, der mit den Schuhen ins Innere des Hauses wanderte. Carvalhos Füße betraten das geometrische Mosaik im Hausflur und folgten der Helligkeit, die seine Hände den Lichtschaltern entlockten. Es war Juli, aber Carvalho brauchte ein flackerndes Kaminfeuer, um in Ruhe nachdenken zu können. Zum Ausgleich entblößte er seinen Oberkörper und öffnete Fenster und Läden, um von draußen trockenere Luft und die letzten Sonnenstrahlen des Abends hereinzulassen. Als er die Läden aufstieß, blickte er liebevoll über das Grün im Norden und Osten und die Geometrie der Stadt zu Füßen des Berges. Die Dunstglocke hing heute nur als eine Art Polkappe über den Industriebezirken und Arbeitervierteln am Hafen.
Carvalho ging nach unten, um Holz zu holen. Er mußte mehrmals hin- und hergehen und danach den Kamin ausräumen, in dem noch die Reste des letzten Feuers von vor etwa fünf Tagen lagen. Vier Nächte bei Charo, das war zuviel. Carvalhos Gefühle waren widersprüchlich. Einerseits machte er sich Vorwürfe, daß er nicht zu Hause geblieben war und ein geregeltes und besser organisiertes Leben geführt hatte. Andererseits erinnerte er sich an Charos samtweiche Haut und deren Feinheiten an verborgenen Stellen. Auch an ihre Zärtlichkeit, die sie ihm durch ihre Liebkosungen gezeigt hatte.
Vergeblich suchte er nach etwas Zeitungspapier, um den Holzstoß in Brand zu setzen, den er nach allen Regeln der Kunst aufgebaut hatte, vom Kienspan bis zum Kaminscheit, vom Leichten zum Schweren, vom Dünnsten zum Dicksten. Aber er hatte kein Papier.
»Ich muß öfter Zeitung lesen«, sagte er laut.
Schließlich ging er zu den Bücherregalen, die alle vier Wände des Zimmers einnahmen. Er zögerte bei der Wahl, entschied sich aber endlich für ein rechteckiges grünes Buch mit vielen Seiten. Während er es zur Richtstätte trug, las er kurz darin. Der Titel lautete Spanien als Problem und war von einem gewissen Laín Entralgo verfaßt worden, zu einer Zeit, als man dachte, Spaniens Probleme ließen sich darauf reduzieren, daß das Land selbst das Problem war. Er schob das Buch offen mit zerknüllten Seiten unter das Holz, und während er es ansteckte, fühlte er einerseits Befangenheit, andererseits ungeduldige Erwartung, daß das Feuer endlich flackerte und sich das Buch in einen Haufen vergessener Wörter verwandelte.
Als das Feuer bereits ein bewegtes und heißes Bild war, ging Carvalho in die Küche und baute die Einkäufe in der Reihenfolge auf, die die Zubereitung des Abendessens erforderte. Dann stieg er in den Weinkeller hinunter. Er hatte im Untergeschoß die Verbindung zwischen zwei tragenden Wänden einreißen lassen, so daß Erde und Gestein des Berges frei lagen. Dort war eine Höhle gegraben worden, beleuchtet von einer Glühbirne, in deren sozusagen wohlklingendem Licht die staubigen Rücken von Weinflaschen zum Vorschein kamen. Er trat zur Reihe der Weißweine und wählte unter den spärlich vertretenen spanischen Sorten einen Fefiñanes. Als er ihn schon in einer Hand hielt, näherte sich die andere verführerisch einem Blanc de Blancs aus Bordeaux. Aber das Abendessen war nicht einmal gut genug für diesen Zweitklassigen unter den großen französischen Weinen. Jedesmal, wenn er in den Keller hinabstieg, wog er vorsichtig eine der drei Flaschen Sauternes in der Hand, die er für das Muschelessen an Weihnachten eingelagert hatte. Der Sauternes war sein Lieblingswein, neben dem unberührbaren Pouilly-Fuissé, einem Wein, der es nach Carvalhos Meinung verdiente, ausschließlich für die allerletzten Wünsche intelligenter Gourmets in Nöten aufbewahrt zu werden. Resigniert seufzend, stieg er mit seinem Fefiñanes wieder zur Küche hinauf. Zunächst befreite er den Fisch von seinen Stacheln und die Scampi von ihrer Schale. Die Stacheln und die roten Schalen kochte er zusammen mit einer Zwiebel, einer Tomate, Knoblauch, einer getrockneten, milden Kirschpaprika, einem Selleriezweig und einem Porreestengel. Dieser Sud war unerläßlicher Bestandteil von Pepe Carvalhos spezieller caldeirada de pescado. Während der Sud leise vor sich hin kochte, schmorte er Zwiebeln, Tomaten und eine getrocknete, milde Kirschpaprika in einer tönernen Kasserolle und ließ sie eindicken. Als dieses sofrito genügend eingedickt war, schwenkte er darin ein paar Kartoffeln. Dann gab er die Scampi dazu, danach den Seeteufel und den Seehecht. Die Fische nahmen Farbe an und gaben Wasser ab, das sich mit dem Mörtel des sofrito vermischte. Zu diesem Zeitpunkt goß Carvalho eine Kelle von dem starken Sud dazu, und nach zehn Minuten war sein Fischtopf fertig.
Carvalho richtete das Tischchen vor dem Kamin her und aß gleich aus der Kasserolle. Den eisgekühlten Fefiñanes hingegen trank er aus einem hohen, geschliffenen Kristallglas. ›Zu jedem Wein das richtige Glas!‹ Carvalho achtete nur wenige Gebote, aber dieses nahm er besonders ernst.
Nach dem Essen trank er eine große Tasse leichten Kaffee, dessen Zubereitung er in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte, und steckte sich eine Montecristo Número I an. Er benutzte zwei Sofas, um fast waagerecht liegen zu können. Mit der Zigarre in der einen und dem Kaffee in der anderen Hand lag er da, und sein Blick verlor sich in den ohnmächtigen Versuchen der Flammen, den rußigen, düsteren Schacht des Kamins hinaufzufliehen. Er sah den Körper eines jungen blonden Mannes vor sich, ›groß und blond wie das Bier‹, wie es in dem Lied hieß. Ein Mann, der imstande war, sich den Satz auf die Schulter tätowieren zu lassen: Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben. Von allen Tätowierungsgeschichten, die er schon gehört hatte, hatte ihn jene von dem armen Gauner besonders beeindruckt, auf dessen Brust stand: Tod der Polizei. Er hatte teuer bezahlt für diese Grundsatzerklärung. Im Laufe von fast dreißig Jahren saß er in verschiedenen Haftanstalten immer wieder kleinere Strafen für Verstöße gegen das ›Gesetz für Landstreicher und Betrüger‹ ab. Die Untersuchung der Tätowierung von ›El Madriles‹ gehörte damals zu den beliebtesten Zerstreuungen auf den Polizeiwachen des ganzen Landes.
»Na, Madriles, zeig mal her, hombre!«
»Ich schwör’ Ihnen, Herr Inspektor, ich hatte damals einen schlechten Tag. Ich war besoffen, als es mich gepackt hat. Der Tätowierer hat mir gleich gesagt, ich soll die Finger davon lassen. ›Madriles‹, sagte er, ›das wird dir einen Haufen Ärger einbringen.‹«
»Auf einmal mehr kommt es auch nicht mehr an. Los, Madriles, zieh dein Hemd aus.«
Der Tätowierer! Irgend jemand mußte die Tätowierung des großen Blonden gemacht haben. Es gab nur noch wenige Meister dieser Kunst. Allerdings mußte man zunächst wissen, ob es eine herkömmliche oder nur eine oberflächliche Tätowierung aus einem Pariser Drugstore war, die sich jedes junge Mädchen mit dem Verlangen nach Spuren auf Körper und Geist machen konnte. Es mußte sich um eine tiefgehende Tätowierung handeln. Andernfalls hätten dieselben Wellen, die den Fischen Zeit für ihr Festmahl gelassen hatten, die Inschrift aufgelöst, und der Körper wäre nicht nur mit der Nacktheit des Todes aus dem Meer geborgen worden, sondern auch mit der Nacktheit der absoluten Anonymität – es sei denn, die Polizei hätte irgendwo seine Fingerabdrücke registriert. ›Der Personalausweis‹, dachte Carvalho. ›Wer ist bei denen eigentlich nicht irgendwo im Archiv?‹ Er spann eine erste mögliche Geschichte der Beziehung zwischen dem Toten und seinem Klienten: Irgendeine Komplizenschaft verband die beiden Männer. Carvalho versuchte diese Hypothese aus seinem Geist zu verbannen. Wie er aus Erfahrung wußte, war es der schlimmste Fehler bei der Untersuchung eines Falles, von einer bestimmten Annahme auszugehen. Dadurch kann der Prozeß der Annäherung an die Realität beeinflußt und sogar in die Irre geleitet werden.
Als Carvalho den ersten Liter seines nächtlichen Kaffees getrunken hatte, war das Feuer so stark geworden, daß es bullerte und das Zimmer zur Schaubühne seiner verrückten und angeketteten Bewegung machte. Carvalho war es nun heiß, und er entkleidete sich bis auf die Unterhose. Aber nur für einen Moment. Der reichte aus, um seinen Körper mit dem des Ertrunkenen gleichzusetzen und angstvoll nach der zweiten Haut der Pyjamajacke zu greifen.
Er erwachte, als er es müde war zu schlafen. Durch das halboffene vergitterte Fenster drangen die aufgebrachten Gespräche der Vögel, entnervt von der Gewißheit der Hitze und der Sonne. Ein Blick aus dem Fenster überzeugte ihn, daß alles am rechten Ort war, Himmel und Erde. Der Boiler und die italienische Espressokanne halfen ihm, das Bewußtsein seiner selbst wiederzugewinnen. Dusche und Kaffee drängten ihm die Gewißheit auf, daß er hier und jetzt lebte und überdies dringliche Projekte hatte, die ihm helfen würden, einen Tag zu vergeuden, den er sowieso nicht für Besseres nutzen konnte.
Am Nachmittag würde die Putzfrau kommen, und Carvalho sah kurz nach, ob etwas offen herumlag, das Máxima nichts anging. Dabei fiel ihm auf, daß er seine Post noch nicht geöffnet hatte. Er studierte die Absender, um auszusortieren, was sich zu lesen lohnte. Fast alles Reklame, bis auf zwei Briefe. Der eine war von der Bank und enthielt einen Kontoauszug, der andere war von seinen Verwandten in Galicien. Carvalho öffnete zuerst den Brief von der Bank. Sein Kontostand betrug einhundertzweiundsiebzigtausend Pesetas. Er holte aus seinem Jackett die fünfzigtausend, die ihm Don Ramón als Vorschuß bezahlt hatte, und überlegte, ob er sie aufs Konto oder lieber aufs Sparbuch einzahlen sollte. Dann nahm er das letztere aus einer kleinen Geldkassette, die er aus dem untersten Schubfach einer Kommode holte. Er hatte jetzt dreihunderttausendundfünfzig Pesetas gespart. Zusammen mit dem, was auf dem Konto lag, ergab das eine Summe von fast einer halben Million Pesetas. Nicht zuviel und nicht zuwenig für zehn Jahre Arbeit. Es war die Garantie, daß er nach weiteren zehn Jahren eine Million erreicht haben würde und auf seine alten Tage nicht am Hungertuch nagen müßte.
Carvalho beschloß, die fünfzigtausend auf das Sparbuch einzuzahlen, weil sich das Geld vom Konto schneller verflüchtigte; das Konto war dank des zahlungskräftigen Scheckbuches anfälliger für unnötige Ausgaben. Auf dem Sparbuch war das Geld sicherer. Er zählte die fünfzigtausend noch einmal durch und verteilte sie mit der Gebärde eines großzügigen Gangsters auf dem Tisch. Dann sammelte er einen Schein nach dem anderen ein, stapelte sie fein säuberlich auf und wedelte mit dem Bündel, daß es knisterte. Er schob das Geld zusammen mit dem Sparbuch in einen Umschlag. Dann öffnete er den Brief aus dem Dorf. Der jüngere Bruder seines Vaters schrieb ihm mit seiner fast unleserlichen Handschrift, falsch getrennten Silben und einem Aufwand an Rhetorik, dessen Höhenflügen sein sprachliches Instrumentarium kaum gewachsen war.
Nach einer langen, förmlichen Einleitung, der Gesundheit und der Erinnerung an seinen Vater gewidmet, zeichnete der Onkel mit hinreichendem malerischen Talent ein Bild ackerbäuerlicher Trostlosigkeit: schlechte Ernten. Es folgte ein beklagenswerter viehzüchterischer Schicksalsschlag: Eine Kuh sei an Blähungen eingegangen; entweder habe sie unverträgliche Kräuter gefressen oder sie sei, wer weiß, von einem bösen Nachbarn vergiftet worden. Zu guter Letzt sei die Tante noch erkrankt, und er habe sie nach Guitiriz zur Trinkkur geschickt, für ein Heidengeld. Wäre sein Vater noch am Leben, hätte ihn soviel Leid nicht unberührt gelassen. Nun wende er sich an ihn mit der Bitte, ihn ein wenig zu unterstützen, wenn er könne, und natürlich nur, wenn es ihm selbst keine Probleme bereite. Er schloß mit der Mitteilung, daß mit einem langsamen, aber zuverlässigen Boten ein Dutzend Chorizos, zwei Laib Käse und eine Flasche Grappa für ihn unterwegs seien.
Carvalho begann, in Galicisch seine Verwandtschaft zu beschimpfen und zu verfluchen. Er gedachte, einen bitterbösen Brief zu schreiben, um ihnen endlich ordentlich Bescheid zu stoßen und die Dummheit seines Vaters zu brandmarken, der auf sein Erbteil verzichtet und ihnen sein Leben lang nach Kräften geholfen hatte, um schließlich mit nichts als ein paar kümmerlichen Ersparnissen zu sterben. Und das alles nur, weil er zuerst in Kuba und dann in Madrid und Barcelona gearbeitet und danach in der Familie immer als reicher Onkel aus Amerika gegolten hatte.
Aber er schrieb diesen Brief nicht, sondern strickte ein paar Zeilen, in denen er einen Scheck über fünftausend Pesetas ankündigte. Er glaubte, sein Vater hätte bestimmt ebenso gehandelt, und der Arme würde durch diese Tat in ihm selbst ein wenig lebendig. Seine Augen wurden feucht, als er sich daran erinnerte, wie er kalt und unnahbar, etwas geschrumpft, auf den Fliesen der Leichenhalle im Hospital San Pau gelegen hatte. So hatte er ihn nach einer langen, ermüdenden Reise von San Francisco aus wiedergesehen. Das waren nun die zweiten fünftausend Pesetas, die ihn sein Vater kostete, die zweite Kuh, deren Kauf er seinen Verwandten ermöglichte, mit posthumer Widmung, fast, als bezahlte der Alte selbst.
Carvalho hatte noch viele Dinge zu erledigen, bevor er Bromuro wieder treffen konnte, und momentan sah es aus, als stünden sie alle im Zusammenhang mit seiner galicischen Abstammung. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit die Straße nach Barcelona hinab, zahlte das Geld bei der Filiale der Sparkasse an der Straße Carlos III. ein und schickte auf dem Postamt in der Avenida de Madrid einen Scheck ab. So war er binnen einer halben Stunde mit sich und seiner Zukunft ins reine gekommen.
Nun stellte er seinen roten Seat Coupé auf dem Parkplatz der Plaza de la Villa de Madrid ab. Er liebte es, den Wagen am Anfang der Ramblas stehenzulassen, um zu Fuß bis zu Charos Revier hinunterzugehen. Sorglos schlenderte er unter den Platanen und blieb ab und zu stehen, wenn etwas Besonderes seine Aufmerksamkeit erregte. Durch die Blätter der Bäume fielen weiße und gelbe Lichtkleckse auf die vereinzelten morgendlichen Passanten. Carvalho betrat die Arkaden der Plaza Real. Die Architektur des 18. Jahrhunderts übermittelte ihm ein Gefühl von Ruhe und Harmonie. Er trat in einen breiten Hausflur und stieg ein paar in glanzlosem Holz gefaßte Granitstufen hinauf. Ein kleiner alter Mann in einem karierten Schlafrock öffnete die schwere Tür, die ebenfalls aus Holz und mit schokoladenbraunem Firnis überzogen war. Er erkannte Carvalho und ließ ihn eintreten. Sie gingen durch einen kleinen Flur, dessen Wände mit pompejanischen Motiven tapeziert waren, und gelangten in ein Eßzimmer in englischer Manier, überladen mit Gipsfigürchen und Schiffen in Flaschen oder in der Form von Salzfäßchen. An der Wand hing eine Sammlung vergilbter Familienfotos, beleuchtet von zwei flackernden Flämmchen in ölgefüllten Schalen. Das Zimmer roch nach Wachs und gedünstetem Kohl. Der Geruch weckte Kindheitserinnerungen an die Sommer, die er in Souto verbracht hatte, vor allem an die Schnauzen der Kühe, die aus dem Stall ins Eßzimmer der Familie schauten. Don Evaristo Tourón bat ihn, Platz zu nehmen, und begann sich in Erinnerungen an die heimatliche Scholle zu ergehen. In letzter Zeit wiederholten sich seine Geschichten und lösten sich auf. Carvalho zitterte wieder einmal vor den verschlungenen Pfaden eines weitschweifigen Vortrags über die Wölfe des Monte Negro, die die ganze Gegend von San Juan de Muro heimgesucht hatten und manchmal sogar nach Pacios gekommen waren, um die Schafe von Manolo, dem Schuster, zu reißen.
»Ich wollte mich mit Ihnen über Tätowierungen unterhalten, Don Evaristo!«
»Ach so, ja, du willst dich tätowieren lassen. Ich selbst mache das nicht mehr. Man braucht eine sichere Hand. Eine sichere Hand und Freude daran. In dieser Kunst hat es keiner zu etwas gebracht, der keine Freude an seiner Arbeit hatte.«
Don Evaristo erhob sich, um aus einer Schublade der Anrichte ein Album mit Fotos zu holen, die seine größten beruflichen Erfolge dokumentierten.
»Schau her, ein Landsmann aus El Ferrol. Seemann auf einem Kabeljaufischer!«
Seine Tätowierung, die die ganze Brust einnahm, zeigte einen grünbelaubten Baum, der aber anstelle von Früchten Frauenkörper trug. Ein anderes Foto zeigte den angespannten Bizeps eines gorillaähnlichen Menschen mit dem Kolumbus-Denkmal von Barcelona und der Inschrift: ›Merche, versteck dich, wo du willst, ich finde dich doch!‹ Ein Junge zeigte seine Hinterbacken, in die Don Evaristo eingraviert hatte: ›Hier geht’s nur raus, aber nicht rein!‹ Don Evaristo bedauerte wieder einmal ungeheuer, daß er kein Foto vom Penis jenes bekannten Ganoven hatte machen lassen, den er einmal tätowiert hatte. War die Vorhaut in normaler Position, erblickte man eine Katze, wurde sie aber zurückgezogen, erschien eine Maus auf der Eichel.
»Ich hab’ dabei Blut und Wasser geschwitzt, Pepiño, das schwör’ ich dir. Und er auch. Das war ein Geheul! Aber er hatte Mumm, der Kerl.«
Carvalho fragte ihn, wer aus der Zunft noch am Leben sei.
»Ich hatte vor, hier eine Schule aufzumachen. Leider ohne Erfolg. Wer wollte sich früher tätowieren lassen? Seeleute und welche aus der Unterwelt. Matrosen gibt es keine mehr, wenigstens nicht mehr solche wie früher. Und die Gauner lassen sich nicht mehr tätowieren, weil sie dadurch leichter zu identifizieren sind. Ich hatte einen Schüler aus El Clot, der war nicht schlecht. Aber er war schwul, und in diesem Metier riskiert ein Schwuler, daß er von morgens bis abends Ohrfeigen kassiert. Da war noch ein Junge aus Murcia, der sich gut darauf verstand, er ist etwas jünger als ich. Er wohnt in der Nähe des Ciutadella-Parks. Aber in Barcelona ist praktisch nichts mehr los. In Tanger, dort gibt es noch welche. In Marokko gibt es sie noch. Und in ein paar Hafenstädten im Norden. In Hamburg nicht oder kaum. Ob du es glaubst oder nicht, in Hamburg ist auch nichts los, obwohl es so berühmt ist. In Rotterdam vor dem Krieg, das waren gute Tätowierer, sehr gute!«
Carvalho erkundigte sich, ob er von der Tätowierung des Ertrunkenen gehört hatte.
»Sehr hübsch! Vor dem Krieg, das waren noch Leute mit Bildung, die sich tätowieren ließen. Einmal kam ein Junge aus gutem Hause zu mir, er war bei der Legion, und ich mußte ihm etwas auf französisch eingravieren.«
Der Alte ging wieder zu der Anrichte, kramte in der Schublade und kehrte mit einem Notizbuch zurück. Dort hatte er sich interessante Tätowierungen notiert.
»Was steht da, Pepiño?«
»Ah, Dieu, que la guerre est jolie
Avec ses chants, ses longs loisirs.«
»Das ist es! Er sagte, es sei von einem berühmten Dichter.«
Carvalho bat ihn um die Adresse des Tätowierers, der beim Ciutadella-Park wohnte. Der Alte zeichnete ihm den Weg auf. Die Hausnummer wußte er nicht mehr.
»Du kannst es nicht verfehlen. Außerdem ist er ein auffallender Mann, er hinkt und ist über hundert Kilo schwer.«
Carvalho kürzte die umständliche Verabschiedung des Alten ab, so gut es ging.
»Sag mir, wann du Zeit hast, dann bereite ich einen galicischen Vorderschinken für dich vor! Mein Schwager schickt ihn mir immer aus Pacios. Ich bewahre ihn auf, und du bereitest ihn zu, Pepiño. Wenn ich doch auch so gut kochen könnte wie du!«
Vorn auf den Ramblas hielt er ein Taxi an, und zehn Minuten später stand er vor dem Eingang des Hauses, das ihm der alte Tourón beschrieben hatte. Im vierten Stockwerk öffnete ihm eine verärgerte, überarbeitete Frau und führte ihn in ein kleines Vorzimmer, wo sich Carvalho zwischen einen schwarzen Plastiksessel mit Polsternägeln und ein Tischchen voller Zeitschriften zwängen musste, um Platz zu finden. Nach kurzer Zeit machte der ungeheure Bauch des Tätowierers den Versuch, sich in das Kabuff zu drängen. Sein Kopf war noch draußen vor dem Türrahmen, während sein Bauch sich schon beinahe an Carvalhos Nase rieb.
»Ich komme von Don Evaristo Tourón!«
»Hombre! Das ist in Ordnung.«
»Ich möchte mich mit Ihnen über Ihre Kunst unterhalten.«
»Das ist in Ordnung, sehr gut.«
Der Tätowierer verließ den Raum und winkte Carvalho, ihm zu folgen. Er führte ihn in ein Schreibzimmerchen, das ihn an Don Ramóns Büro im Friseurgeschäft erinnerte. Der Tätowierer setzte sich hinter den Tisch und bot ihm eine Rössli an.
»Etwas mildes, genau das richtige zu dieser Morgenstunde. Über die Kunst wollen Sie mit mir sprechen. Das ist gut, sehr gut. Aber mit der Kunst steht es schlecht, sehr schlecht. Ich habe keinen Strich getan, seit das italienische Schiff hier war, vor etwa einem halben Jahr. Was gut ist, stirbt aus. Heutzutage haben die Menschen für nichts mehr Zeit. Früher brauchte man den Frauen nur eine Tätowierung zu zeigen, und schon war die Sache geritzt. Heute wollen sie gleich noch was anderes sehen!«
Er lachte rauh und abgehackt. Carvalho stimmte halbherzig mit ein.
»Ich bin auf der Suche nach einem Mann mit einer sehr merkwürdigen Tätowierung. Sie lautet: ›Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben‹.«
Das sorglose Lachen brach unvermittelt ab. Der Tätowierer starrte Carvalho an.
»Sie sind also ein Freund von Don Evaristo?«
»Wir sind Landsleute.«
»Galicier, sieh mal an!« rief der Mann aus Murcia aus, ohne übertriebene Begeisterung zu zeigen. Er musterte Carvalho und wiegte den Kopf hin und her, als sei er in einem ernsten Dilemma.
»Verflixte Tätowierung«, sagte er dann. »Die Polizei hat mich auch schon danach gefragt.«
Er sprach, ohne seinen prüfenden Blick von Carvalho abzuwenden. Carvalho hielt ihm stand.
»Die Polizei?«
»Der Träger der Tätowierung ist tot. Er hat ein böses Ende genommen.«
»Haben Sie die Tätowierung ausgeführt?«
»Die Polizei sagte mir, ich soll niemandem darüber Auskunft geben, ohne sie zu benachrichtigen.«
»Sollen Sie vorher oder nachher Bescheid sagen?«
»Das haben sie nicht gesagt.«
»Also können Sie denen Bescheid sagen, nachdem Sie mir die Auskunft gegeben haben.«
»Die Tätowierung ist von mir.«
Er war sich bewußt, daß er mit seinen Worten eine Tür aufgestoßen hatte.
»Wer war er?«
»Man sieht, Sie kennen sich in unserem Metier nicht aus. Hier nennt keiner einen Namen, schon gar nicht bei so einer einfachen Tätowierung.«
»Aber Sie müssen doch während der Arbeit über irgend etwas geredet haben.«
»Bei der Arbeit trinke ich nicht und spreche nicht.«
Er lachte wieder mit beeindruckender Heiserkeit. Sein Lachen brach so abrupt ab, wie es begonnen hatte. Plötzlich wurde er todernst und fragte aufmerksam: »Suchen Sie ein geliebtes Wesen?«
»Sagen wir, er wächst mir immer mehr ans Herz.«
»Ach! Ich bin nicht mehr so lebenslustig wie früher. Es ist ein hartes Brot. Man verdient kaum genug, um sein Leben fristen zu können, und muß Preise machen, die einem die letzten Kunden vertreiben.«
»Und Reden nutzt die Zunge ab. Dafür bezahle ich Ihnen eine Entschädigung.«
Carvalho nahm einen Tausender aus der Brieftasche. Der Tätowierer streckte die Hand vor, soweit es sein Bauch erlaubte, und erwartete die Ankunft des Geldscheins, den Carvalho ihm reichte.
»Er war ein großer blonder Junge. Sah aus wie ein Ausländer, war aber keiner. Dabei sprach er mit Akzent, klang aber nicht wie aus Andalusien oder Murcia. Ich habe Leute aus Ciudad Real gehört, die so sprachen. Vielleicht war er auch aus der Mancha, aber aus dem südlichen Teil, oder aus Extremadura. Sehr ungewöhnlich.«
»Wohnte er hier?«
»Nein, er war auf der Durchreise. Er erzählte, daß er in Holland Arbeit hätte, bei Philips in Den Haag. Das ist alles, was ich weiß.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Anderthalb Jahre.«
»Erinnern Sie sich noch an ein besonderes Merkmal im Gesicht oder am Körper?«
»Nichts, das schwör’ ich Ihnen. Ich habe Ihnen das alles mehr aus Freundschaft zu Don Evaristo erzählt als wegen den tausend Pesetas. Die Freundschaft, das zählt. Warum suchen Sie diesen Jungen?«
»Ich habe so eine Ahnung. Vielleicht ist es ein Freund.«
Carvalho setzte sich auf die Terrasse des Versalles. Bromuro suchte unter den Gästen nach Opfern. Er blieb vor Pepes dreckverschmierten Schuhen stehen, dieser nickte. Der Kellner servierte Carvalho einen Bitter und ein Schälchen gefüllte Oliven. Bromuro wartete, bis der Kellner gegangen war, und murmelte: »Von diesemToten weiß ich nichts Genaues. Aber es gibt jede Menge Ärger. Gestern war eine Razzia, ein Haufen Leute wurde aus dem Verkehr gezogen. Mädels und Macker. Zu Hunderten!«
»Wollen wohl die Moral verbessern.«
»Sie sollen hinter Leuten aus der Drogenszene her sein. In letzter Zeit wimmelt es hier von französischen Mackern, die sind hier voll organisiert aufgetaucht, mit ihren Nutten und ihrem ganzen Kramladen.«
»Was hat die Razzia mit der Information zu tun, die ich von dir haben will?«
»Möglicherweise eine ganze Menge.«
»Sag schon!«
»Ich weiß nichts Genaues. Aber es heißt, die Sache mit dem Ertrunkenen hätte etwas mit dem zu tun, was gerade los ist.«
»Weiß man, wer er war?«
»An deiner Stelle würde ich die Mädels danach fragen. Irgendeine muß mit dem Typen mal im Bett gewesen sein, und so eine Tätowierung vergißt man nicht.«
»Wie viele gibt es davon in Barcelona? Fünftausend? Zwanzigtausend? Hunderttausend?«
»Die Charo kann dir helfen.«
Carvalho steckte ihm noch einen Fünfhunderter in die Westentasche.
»Und was ist mit dir, warum haben sie dich nicht eingelocht?«
»Und wieso nicht dich? Oder hast du Beziehungen?«
Carvalho antwortete grinsend mit einem »Wer weiß!« und erhob sich. Er ging rasch zu Charos Wohnung. Die Hauswartsfrau war nicht da, er mußte das Risiko eingehen und auf eigene Faust feststellen, ob Charo gerade frei war. Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er an der Wohnungstür. Eine flüchtige Bewegung hinter dem Guckauge, und die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Charo sagte hinter der Tür: »Komm rein!«
Carvalho ging über den Flur ins Wohn- und Eßzimmer. Charo folgte ihm.
»Ich hab’ Besuch. Reg dich nicht auf!«
Carvalho sah den Besuch schon. Zwei Frauen waren in der Küche dabei, ihr Mittagessen oder Frühstück zuzubereiten. Charo legte ihm den Finger auf den Mund und führte ihn ins Schlafzimmer.
»Das sind Freundinnen. Sie sind gestern mit knapper Not der Razzia entwischt und haben mich gebeten, sie für ein paar Tage bei mir wohnen zu lassen.«
»Du hast dir ganz schön was eingebrockt. Die ganzen Macker werden sich hier einnisten, und dann kommt die Polizei.«
»Ich konnte sie einfach nicht auf der Straße sitzenlassen.«
»Wieso nicht?«
»Geh zum Teufel! Hau ab!«
»Hör mal! Die Sache ist ernst. Das war keine normale Razzia. Sie sind eigentlich hinter Drogen her, und die beiden leben mit Zuhältern, die wissen, was die Stunde geschlagen hat. Außerdem müssen sie anschaffen, und was ist mit den Freiern, wollen sie die etwa hierherschleppen?«
»Warum nicht? Die Wohnung ist groß genug.«
»Und was wird deine erlesene Kundschaft dazu sagen?«
»Meine Kundschaft oder du? Was sagst du dazu?«
Das Solidaritätsfieber hatte Charo gepackt, und man hätte genausogut versuchen können, mit einem Monument des Klassenbewußtseins zu diskutieren. Sie war noch im Morgenmantel, die Schminke hatte sich von den Augen über die weißen Wangen ausgebreitet, und ihr goldblondes Haar mit den platinblonden Strähnen wirkte ohne die Unterstützung der Kämme zusammengefallen.
»Hallo, Pepe!«
Carvalho begrüßte die beiden Eintretenden mit einer Kopfbewegung. Er glaubte sich zu erinnern, daß die eine ›La Andaluza‹ genannt wurde. Sie war klein und blond wie helles Feuer. Die andere kannte er nicht; sie sah gut aus und schien noch jung zu sein.
»Das war ein Schreck, Junge! Man hörte Trillerpfeifen, und wie Gespenster tauchten sie aus dem Nichts auf. Ganz plötzlich! Nur ein paar Leute. Aber in einer halben Stunde hatten sie das ganze Viertel auf den Kopf gestellt.«
Carvalho trat auf den Balkon hinaus. Es war ein modernes Haus, eine Ausnahme in diesem Viertel, in dem seit hundert Jahren nichts mehr gebaut worden war. Nur selten erlaubte eine Lücke, die der Bürgerkrieg gerissen hatte, den Bau eines modernen Gebäudes. Das Haus überragte mit seinen acht Stockwerken, kubisch und verglast, die dunkelvioletten, vom Moos zerfressenen Ziegeldächer. Wenn Charo auf ihn gehört hätte und in eine Villa am Stadtrand gezogen wäre, säße sie jetzt nicht in der Klemme. Er ging zurück in das Zimmer, wo die drei Frauen erregt debattierten.
»Solange ihr hier seid, bleiben eure Typen draußen, klar? Auf die sind sie schärfer als auf euch, und ich will nicht, daß Charo Schwierigkeiten bekommt.«
»Keine Bange, Pepe, die sind schon verhaftet.« La Andaluza brach in Tränen aus. Carvalho nahm Charo beiseite.
»Ich muß wissen, ob eine von deinen Freundinnen einen Typ gekannt hat, der auf dem Rücken die Tätowierung trug: Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben. Er war jung, groß und blond, sprach wie ein Andalusier, war aber keiner, und hatte Arbeit in Holland.«
»So was wissen eher die Chefinnen von den Stundenhotels. Wenn du zu den armen Mädchen hier nett bist und nicht den wilden Mann spielst, will ich mal versuchen, ob ich was rauskriegen kann.«
»Laß sie doch hier und komm mit zu mir, bis alles vorbei ist.«
»Soll ich dort meine Kunden empfangen?«
»Hör eine Zeitlang auf damit. Du brauchst das Geld nicht.«
»Was weißt du schon? Keine zehn Pferde bringen mich aus meiner Wohnung.«
»Es kann sein, daß ich ins Ausland reisen muß, für ein paar Tage. In der Zeit kannst du dort wohnen.«
»Kommt nicht in Frage.«
Carvalho ließ sie verärgert stehen. Aber sie kam hinter ihm her. »Mich läßt du nicht einfach so stehen! Was bildest du dir eigentlich ein? Das hier ist meine Wohnung, und ich kann hier tun und lassen, was ich will. Zahlst du mir vielleicht die Miete? Wann hast du überhaupt je schon mal einen Groschen für mich ausgegeben?«
»Hör auf damit!«
Aber Charo hörte nicht auf. Sie verfolgte ihn bis zur Wohnungstür.
»Wenn ich an ihrer Stelle wäre, wäre ich auch froh, wenn man mir hilft.«
»Du bist nicht an ihrer Stelle, aber du wirst noch soweit kommen.«
»Ich bin wie sie, mit dem einzigen Unterschied, daß ich auf eigene Rechnung arbeite. Und du bist wie die, fast genauso.«
»Wie wer?«
»Wie die Polizei!«
Charo preßte die Lippen zusammen, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Carvalho schwankte, ob er ihr etwas erwidern oder gehen sollte. Er sah sie unverwandt an, während er überlegte, und Charo erkannte an seinem starren Blick, was er dachte. Sie trat einen Schritt zurück und sah Carvalho weiter fest in die Augen.
»Erkundige dich nach der Tätowierung!«
Carvalho wandte sich zur Treppe, als Charo halb zur Tür herauskam.
»Komm heute nacht!«
»Sollen wir auf dem Klo schlafen?«
»Soll ich mit zu dir kommen?«
»Laß nur, ich komme später vorbei.«
Carvalho ging auf dem kürzesten Weg zum Friseursalon Queta. Der Laden summte von den Gesprächen der Frauen. La Gorda hörte auf, die weißen Haare einer Kundin zu waschen, um mit überraschender Behendigkeit die Stufen zu der Emporenkammer hinaufzueilen. Carvalho wich dem Blick von Queta nicht aus, die eine Flasche mit Shampoo schüttelte. Die Frau hatte die ganze Unermeßlichkeit ihrer großen Augen auf ihn gerichtet und verfolgte genau, mit welch offensichtlicher Gleichgültigkeit und Sicherheit Carvalho durch den Salon zu der Bürokammer ging. Als Pepe dort eintrat, hatte ihn La Gorda bereits angekündigt. Señor Ramón erwartete ihn mit einem hastigen Lächeln und fragendem Blick. La Gorda verweilte einen Moment an der Seite ihres Chefs wie ein Leibwächter, der nicht sehr stark, aber entschlossen wirkte. Mit einem Wink schickte er sie hinaus. Carvalho hatte es sich schon auf dem kleinen grünen Sessel bequem gemacht. Als die Schritte von La Gorda auf der Treppe verklungen waren, beugte sich Carvalho vor und legte eine Hand auf den Tisch.
»Es gibt zu viele Komplikationen. Die Razzia gestern steht im Zusammenhang mit dem Fall des Ertrunkenen. Warum?«
»Das geht nur mich etwas an.«
»Wußten Sie, daß die Sache mit Drogenhandel zu tun hat?«
»Ich weiß noch nicht einmal, wer der Ertrunkene ist. Haben Sie es etwa schon herausbekommen?«
»Wenn ich hier innerhalb von 24 Stunden nichts herausfinde, muß ich nach Holland fahren. Dort gibt es eine Spur.«
Tiefer Ernst ersetzte plötzlich das aufgesetzte Lächeln von Don Ramón.
»Ich schicke Ihnen dann die Rechnung.«
»Schicken Sie mir, was Sie wollen, aber tauchen Sie hier nicht wieder auf, bevor Sie etwas Näheres wissen! Ich habe keinerlei Interesse, in die Geschichte verwickelt zu werden. Ist Ihre Freundin verhaftet worden? Wenn nicht, kann es jeden Augenblick geschehen. Die Stundenhotels sind geschlossen. Fast alle, bis auf die ganz teuren. Und die Bars. Ihr Mädchen ist in Gefahr.«
»Sie arbeitet zu Hause, auf eigene Rechnung, genau wie Ihre Frau.«
Die beiden Männer starrten sich an. Die Sommersprossen in Don Ramóns Gesicht wirkten fast gelb.
»Hören Sie, Carvalho, die Säuberungsaktion, die im Moment läuft, ist ziemlich ernst. Ein hochrangiger Richter hat die Sache übernommen, und einflußreiche Leute sind in die Drogengeschichte verwickelt. Sehr einflußreiche. Sie verstehen? Wenn schon die großen Fische verhaftet werden, gibt es für die kleinen kein Pardon. Ich bezahle Sie, damit Sie das Risiko tragen. Andernfalls hätte ich längst selbst etwas unternommen, um die Information zu bekommen. Also gehen Sie bitte, und bringen Sie mich nicht in Schwierigkeiten!«
»Ich schicke Ihnen die Rechnung, wenn ich nach Holland fahren muß.«
Don Ramón machte eine Bewegung, die zugleich Zustimmung und Verabschiedung war. Carvalho stieg die Treppe hinab und blieb vor La Gorda stehen.
»Wie schnell du laufen kannst, Mädel, trotz deinem fetten Arsch …«
Die Courage des Mädchens konzentrierte sich in ihren Augen, die sich mit zornigen Tränen füllten. Queta beobachtete die Szene von ihrem Arbeitsplatz aus. Das Plauderstündchen mit der Chefin sparte sich Carvalho für einen günstigeren Zeitpunkt auf. Er begrapschte sie wieder mit den Augen, als er an ihr vorbeiging. Als er schon auf der Straße stand, war seine Phantasie immer noch damit beschäftigt, sich eine komplizierte erotische Szene auszumalen, in der La Gorda mit Señor Ramón schlief und er Queta in einen Heuschober schleppte, der denen in Souto glich. Die Beharrlichkeit, mit der dieser Heuschober in seinen erotischen Phantasien auftauchte, brachte ihn zum Lachen. Plötzlich erschien ein anderes Bild auf dem seltsamen Bildschirm mit dem Panoramaeffekt, der in seinem Kopf arbeitete. Er sah Señor Ramón mit schreckgeweiteten Augen, und er, Pepe Carvalho, verpaßte ihm so viele Faustschläge, wie er Sommersprossen in seinem ramponierten Gesicht hatte.
»Ginés?«
»Welcher Ginés? Es gibt vier davon.«
»Der mit der größten Klappe.«
»Dann gibt es nur einen. Steigen Sie rauf zum vierten Stock, und Vorsicht mit dem Gerüst!«
Der Wohnblock war bislang noch ein Skelett aus Beton und Stahl. Aus der Ferne wirkte er wie gefleckt mit den orangefarbenen Kügelchen der Arbeiterhelme. Bei einem bestimmten Gerüstabschnitt angelangt, folgte Carvalho mit den Augen der geometrischen Struktur nach oben und begann den Aufstieg.
»He, Sie!« Der Bauführer lief ihm nach, einen Helm in der Hand. »Gehen Sie nicht auf das Gerüst ohne den da! Wir haben jede Menge Lehrlinge, und man hat hier sofort ein Loch im Kopf, wenn man nicht aufpaßt.«
Er setzte den Helm auf, und es war, als empfinge er die Weihe für ein Abenteuer. Die Treppe war eine bloße Zementrampe, in die Backsteine eingelassen waren, um den Füßen Halt zu geben. Im vierten Stock angekommen, machte Carvalho ein paar tiefe Atemzüge. Die Aussicht war beherrscht von halbfertigen Gebäuden wie diesem hier, ein Wald von kubischen Skeletten, die hartnäckig in die Höhe strebten. Im Hintergrund hing wie ein gelber Vorhang die Dunstglocke des Industriegürtels.
»Ginés!«
Ein orangefarbener Helm hob sich, und darunter kam das rote Mäusegesicht von Ginés zum Vorschein.
»Deinen eigenen Hut hast du wohl verloren?«
»Hast du mal kurz Zeit?«
Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß ab, der über seine dünnen Brauen floß.
»Oh, Pepiño, ich platze gleich vor Hitze. Wenn ich doch auch so einen schlauen Job hätte wie du! Schieß los!«
»Ich bin auf der Suche nach einem Ertrunkenen. Er tauchte vor ein paar Tagen am Strand auf, und ich muß wissen, wer er ist. Die Polizei hat keine Beschreibung gegeben. Er hatte eine Tätowierung: Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben.«
»Wegen dem Ertrunkenen da haben sie einen ganz schönen Wirbel gemacht. Die Polizei hat das ganze Viertel auf den Kopf gestellt. Nur durch ein Wunder ist mein Bruder nicht im Bau gelandet.«
»Was weißt du darüber?«
»Niemand hat die geringste Ahnung. Das hängt alles zusammen mit Rauschgift und den französischen Mackern, die ihre Nutten sogar aus Kamerun mitgebracht haben. Aber niemand weiß, wo das anfängt und wo es aufhört.«
»Weißt du, wie der Ertrunkene heißt?«
»Nein. Das kann ich auch nicht rauskriegen. Die nächsten vierzehn Tage werd’ ich nur malochen. Ich geh’ mit den Kindern zu den Ponys und helfe meiner Frau beim Wollewickeln, damit sie mir für den Winter einen Pulli stricken kann. Weil ich nämlich von den letzten zehn Jahren sieben im Knast abgesessen habe.«
Carvalho hatte Ginés während einer Haftstrafe im Gefängnis von Aridel kennengelernt. Ginés saß damals, weil er einem Nachtwächter mit einem Stuhlbein den Arm gebrochen hatte.
»Meinst du, Felix weiß etwas?«
»Der war der erste, der seine 150 Kilo unter Tage versteckt hat.«
»Der Valencia?«
»Der ist heute bedröhnt und morgen nicht zu sprechen. Er hat die Zwischenwände seines Hauses mit Shit vollgestopft, und solange seine Frau die Kohle nach Hause bringt, rührt er keinen Finger. Pepe, du mußt zu andern Leuten gehen. Meine Kontakte sind alle tot, und die Sache stinkt, stinkt ganz fürchterlich. Wenn die Absteigen geschlossen werden, wie es jetzt passiert ist, daß keiner mehr rausoder reinkommt, dann heißt das, es wird ernst und dauert lange.«
»Komm, gehen wir etwas trinken! Kannst du mitkommen?«
»Wenn ich sage, warum, dann schon.«
»Was für einen Grund gibst du an?«
»Daß ich mit dir einen trinken gehe!«
Ginés stieg pfeifend hinab und war schon unten, als Carvalho noch im zweiten Stockwerk war.
»Und wie steht’s mit der Politik? Mal sehen, wann Chruschtschow mit der Vespa angefahren kommt!«
»Chruschtschow kommt nicht mehr mit der Vespa und auch nicht mit etwas anderem. Er ist tot. Und laß mich bloß mit Politik zufrieden!«
»Dabei dachte ich schon, da hätte ich nun einen Freund, der es mal zum Minister bringt!«
Sie kamen zum Bauführer.
»Hör mal, der Señor hier hat Durst, und ich will ihn begleiten.«
»Und was soll ich dem Chef sagen, wenn er vorbeikommt?«
»Dein Problem.«
Der Capo brummelte etwas hinter ihnen her. Ginés hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.
»Bleib nur hier, alter Griesgram, jawohl, ein Griesgram bist du. Der hat ein Magengeschwür, weißt du das?«
»Du selbst auch.«
»Aber ich vernichte es mit Alkohol.«
»Kannst du hier machen, was du willst?«
»Die haben Respekt vor mir. Ich bin der Beste! Und für die ist es sowieso besser, wenn ich zufrieden bin.«
Carvalho wußte genau, wo bei Ginés die Eichstriche lagen: Beim vierten Glas begann er immer von seiner Mutter zu erzählen, beim sechsten von seinem legendären Bruder, dem Kumpan seiner durchzechten Nächte, und nach dem zehnten sprach er über alles, was Carvalho wollte. Den Fußboden dieser Bar voller Tische aus getüpfeltem Plastik und Kalender mit üppigen Bikinischönheiten bedeckte eine Schmutzschicht, die auch Carvalhos ungeduldig scharrende Fußspitze nicht durchstoßen konnte.
»Ginés! Wenn dir ein Tausender winkt, meinst du nicht, du könntest heute nacht die Geschichte von dem Ertrunkenen recherchieren?«
»Für dich würde ich alles tun, Pepiño. Aber die Zeiten sind schlecht, das schwör’ ich dir! Und meine Mutter kränkelt. Ich möchte ihr nicht noch mal den Ärger machen, daß ich in den Bau gehe. Versuch es doch mal bei Bromuro. Wenn der nichts weiß …«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Und wenn dir der keine Auskunft geben konnte, kann es keiner. Wahrscheinlich weiß nicht mal die Polizei Bescheid.«
»Der Ertrunkene hatte noch alle Finger, und es gibt so ein Ding, das heißt Personalausweis.«
»Stimmt. Aber wenn nichts durchgesickert ist, dann deshalb, weil die ganze Sache supervorsichtig behandelt wird. Du trinkst überhaupt nichts, Pepe! Mich machst du besoffen, um mich auszuhorchen, und selbst trinkst du keinen Tropfen, du dreckiger Galicier. Das ist es, was du bist, nichts anderes!«
Ginés hatte den kleinen Kopf zurückgeworfen und sah Carvalho mit gespielter Herausforderung an. Dieser war in Gedanken versunken und schenkte der prahlerischen Drohung des Blonden keine Beachtung.
»Du siehst aus, als hättest du Sorgen. Hast du was mit dem Toten zu tun?«
»Nein, aber die Geschichte interessiert mich.«
»Hör mal, jetzt guckst du wie ein Typ aus dem Film. Du hast Stil! Aber du bist ein falscher Hund. Du hast nicht mal zwei Gläser getrunken, und ich bin beim fünfzehnten.«
»Mußt du zurück an die Arbeit?«
»Ich mach’ krank und geh’ nicht mehr hin. Das Haus wird auch ohne mich fertig. Los, komm, laß uns in die Calle Escudillers gehen und Tapas essen!«
»Ich kann nicht. Das schwör’ ich dir!«
»Dann geh! Ich bleib’ noch ein bißchen hier. Tut mir leid, aber für meine Mutter ist es der Tod, wenn ich ihr noch einmal so einen Ärger mache.« Er klang weinerlich. »Beim letztenmal war es mein Bruder. Sie haben ihn im Bett erwischt, mit der Frau seines Chefs, und wollten ihn zu Tode prügeln. Der Chef und seine Söhne. Mit dem Hammer sind sie auf ihn losgegangen. Er hat sich bloß verteidigt. Du weißt ja, wie wir sind, klein, aber oho! Sechs Monate! Das Landstreichergesetz und sechs Monate. Und dabei hatte er noch Glück. Aber meine Mutter, du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das für sie war.«
»Und deine Frau?«
»Die hat sich ein Kind machen lassen.«
»Von wem?«
»Von mir, wenn ich Glück hab’. Aber sicher ist nur, daß sie schwanger ist. So!«
Er zeigte mit den Händen, wie schwanger sie war, und bog sich vor Lachen. Carvalho erinnerte sich undeutlich an ein andalusisches Mädchen, zart, feingliedrig und großäugig, auf der anderen Seite des doppelt vergitterten Fensterchens im Besuchszimmer des Gefängnisses. Ginés hatte sich zu ihm gebeugt und gesagt: »Das ist meine Frau. Sie ist sehr schön, auch wenn sie nicht so aussieht. Wenn ich rauskomme, bearbeite ich sie ein bißchen, und nach zwei Tagen sieht sie richtig appetitlich aus und ich komme auf dem Zahnfleisch daher!«
Das war etwa zehn Jahre her, und nur Ginés war derselbe geblieben.
Zum Abendbrot verzehrte er einige Tapas an der Plaza Real und machte sich dann auf zu Charos Wohnung, im Magen zwei Liter Bier und ein halbes Kilo gebratener Sardinen, die zu dick bemehlt und zu ölig gewesen waren und ihm sauer aufstießen. Er öffnete die Tür mit seinem Schlüssel und platzte genau in die Szene hinein, die er vorhergesehen hatte: Eine von Charos Schützlingen lag schluchzend auf dem Sofa, während ein dünner, blaßvioletter Jüngling nervös um sie herumschlich. Charo versuchte, das weinende Mädchen zu trösten. La Andaluza war in der Küche.
»Was hast du hier zu suchen?«
»Er ist ihr Verlobter«, erklärte Charo vermittelnd.
Carvalho streckte die Hand aus und zeigte dem Jüngling den Ausgang zur Straße. Dessen Gesichtszüge hatten sich entspannt und im Vorgefühl einer Schlägerei zu einem Grinsen verzogen. Carvalho taxierte seine ziemlich großen, mit protzigen Ringen bestückten Hände.
»Steck dir deinen Juwelierladen in die Tasche und zieh Leine!«
»Vielleicht steck ich ihn dir lieber in die Fresse!«
Carvalho schien die Drohung überhört zu haben, schnellte aber plötzlich herum und versetzte dem Jüngling mit der Handkante einen Schlag auf den Hals. Dieser wich einen Schritt zurück, die Hände an der Kehle, und schon bekam er von Carvalho eine Rechte und eine Linke in die Zähne. Weder die Schreie der Verlobten noch Charos Gebrüll hielten ihn zurück. Er stürzte sich auf den zusammengekrümmten Körper, packte ihn an den Haaren und schleifte ihn zur Wand. Der Junge blieb am Boden sitzen. Carvalhos Hände griffen in seine Taschen, hinter seinen Gürtel, unter die Achseln und in die Stiefelschäfte. Irgendwo holten sie ein geschlossenes Schnappmesser hervor. Er trat von dem Körper zurück und hielt von der Zimmermitte aus die drei Frauen in Schach. Angst und Empörung hatten Charo paralysiert. La Andaluza schickte sich ohne Zweifel an, einen Appell an die Vernunft vom Stapel zu lassen, und die Verlobte umarmte ihren blutenden, am Boden sitzenden Verlobten.
»Ich hatte gesagt, daß ich eure Macker hier nicht sehen will!«
»Ich glaubte, sie hätten ihn verhaftet!«
Das Mädchen, das neben dem Mann am Boden kniete, stöhnte wütend und weinte. Charo wiederholte ein ums andere Mal, wie eine hängengebliebende Schallplatte, er solle mit ihr in ein anderes Zimmer gehen, sie habe ihm ein paar Dinge zu sagen; Carvalho stieß sie beiseite.
»Die Polizei macht keine Witze. Überall rollen die Köpfe, und zwei Schritte weiter spielt ihr hier Mönch und Nonne.«
Er forderte Charo auf, mit ihm aus dem Zimmer zu kommen. In der Küche ließ er ihr keine Zeit, die Litanei ihrer Vorwürfe zu beginnen, sondern schilderte ihr mit drastischen Worten die Situation auf der Straße. Allmählich wich Charos Angst vor Carvalho der Furcht vor dem, was ihr passieren könnte, wenn sie in diese Ereignisse hineingezogen würde.
»Das ist aber kein Grund, so mit dem Jungen umzugehen, Pepe!« beharrte sie.
»Ich kann Zuhälter nicht ausstehen.«
»Das ist kein schlechter Junge. Er liebt sie wirklich. Ohne ihn hätte das Mädchen ein schlimmes Ende genommen.«
»Sie müssen die Dinge kapieren, und wer nicht hören will, muß fühlen. Hast du herausgefunden, was ich wissen wollte?«
Charo hatte nur mit den Chefinnen von fünf Absteigen reden können. Eine aus der Calle Fernando erinnerte sich undeutlich an einen Typ mit einer merkwürdigen Tätowierung, wußte aber nicht, ob es genau diese gewesen war.
»In der Calle Fernando gibt es kein einziges Stundenhotel.«
»Stimmt. Ich meine das in dieser kurzen Seitenstraße. Ich kann mir den Namen nie merken.«
»Wohnt sie dort?«
»Nein. Sie wohnt mit ihrem Sohn an der Ronda. Gleich neben der San-Antonio-Markthalle. Sie sagte, vor längerer Zeit sei ein paarmal ein Mann dort aufgetaucht, auf den deine Beschreibung ziemlich gut paßt. Er kam mehrfach zu demselben Mädchen mit den Spitznamen ›La Pomadas‹ oder ›La Francesa‹. Sie spielt die Französin und verkauft ihren Kunden nebenbei Pomade, um sich was dazuzuverdienen. Die hat ihr wohl erzählt, daß er ein seltsamer Typ war und eine ganz merkwürdige Tätowierung hatte. Auf jeden Fall keiner, der hier bekannt ist; niemand erinnert sich an ihn.«
»Kann man La Pomadas irgendwo treffen?«
Charo ging hinaus und kam nach einer Minute wieder.
»Sie sagen, du sollst in der Bar kurz vor der Ecke Calle San Fernando fragen. Es ist eine der wenigen Bars, die nicht geschlossen wurden, aber die Mädchen sind alle weg.«
»Gut. Ich gehe jedenfalls und komme in ein paar Tagen wieder.«
Charo bremste Carvalhos Abgang aus der Küche und küßte ihn auf den Mund. Sie flüsterte ihm ins Ohr, er solle mit den anderen nicht mehr so grob umgehen, sie seien ganz in Ordnung. Carvalho schob sie sanft weg und ging ins Wohnzimmer. Das Gesicht des Jungen war verschwollen, und die beiden Mädchen versuchten, es mit feuchten Tüchern wieder etwas in Form zu bringen.
»Sobald es ihm besser geht, raus! Und wenn ihr beide keine Vernunft annehmt, fliegt ihr genauso raus. Ich habe euch klipp und klar gesagt, daß ich nicht will, daß Charo in die Sache hineingezogen wird.«
Carvalho sagte es in beinahe liebenswürdigem Ton, und La Andaluza fand, daß es nun an der Zeit sei, ihm eine Predigt zu halten.
»Also, Pepe. Man kann Dinge auf viele Arten sagen, und was hätte es dich gekostet, normal hereinzukommen und zu sagen, was du willst, ohne gleich zuzuschlagen? Wir sitzen ganz schön in der Patsche und müssen einander helfen und menschlich sein, Pepe, menschlich. Ein bißchen mehr Menschlichkeit!«
»Soviel du willst. Aber wenn ihr den Kerl wieder zusammengeflickt habt, raus mit ihm!«
»Wir sehen uns noch!« schrie der Junge mit mehr Mut als Lautstärke.
»Schau erst mal zu, daß du die Augen wieder aufkriegst!« erwiderte Carvalho auf dem Weg zur Tür, wo ihn Charo erwartete. Sie sprachen nicht, während der Fahrstuhl nach unten fuhr, auch nicht, als sie auf der Straße waren. Carvalho schien in Gedanken versunken. Charo hängte sich bei ihm ein, als sie die Mitte der Ramblas erreicht hatten.
»Wohin gehst du eigentlich?«
»Soll ich mit zu dir kommen? Bleibst du lange weg?«
Carvalho zuckte die Achseln. Sie erreichten den Eingang der Bar.
»Ich stelle die Fragen, und du bist still!« verkündete er.
Die Razzia hatte den Vorzug gehabt, Licht in das schummrige Dunkel der einschlägigen Bars zu bringen. Die roten und grünen Lampen waren wie weggezaubert, und neue Hundert-Watt-Birnen verbreiteten die Helligkeit von Schaufenstern. Das grelle weiße Licht ließ alle Dinge fremd erscheinen. Carvalho und Charo nahmen auf den hohen, drehbaren Hockern an der Bar Platz. Die Zunge des Barkeepers klebte fest an seinem Gaumen, er widerstand allen Versuchen Pepes, ihn zum Sprechen zu bringen. Von der Razzia wußte er nichts, auch nichts über die Hintergründe. Pepe blickte mit einer gewissen Hilflosigkeit zu Charo hinüber. Das genügte. Sie schloß die Augen, stützte die Ellbogen auf den Tresen, brachte ihr Gesicht nahe an das des Barkeepers und sagte zu ihm: »Schau mal, es ist, weil ich mir um eine Freundin Sorgen mache, und ich weiß nicht, ob sie sie geschnappt haben. Sie heißt La Pomadas.« Der Barkeeper erkannte in Charo das Fleisch und die Stimme seines Stammes. Bis jetzt hatte er sie nur für ein Anhängsel Carvalhos gehalten. Professionell und fast ohne merkliche Kopfbewegung sah er sich um und vergewisserte sich, daß kein Fremder seine vertraulichen Mitteilungen hörte.
»La Pomadas wohnt gar nicht mehr hier im Viertel. Sie ist vor sechs Monaten auf die Carretera de Sarriá gegangen. Dort war auch eine Razzia, aber nicht so wie hier.«
Carvalho steckte ihm ein Trinkgeld zu, für das er sich mit einem Augenzwinkern bedankte. Als sie wieder auf der Straße standen, hängte sich Charo stolz bei Carvalho ein und zog die moralische Bilanz aus den Ereignissen des gemeinsamen Abends: »Siehst du? Mit ein bißchen Höflichkeit läuft alles besser!«
Beinahe hätte Carvalho gelacht. Charo bemerkte es, und hakte sofort ein, wo sie den Riß in dem monolithischen Carvalho ahnte. »Lach doch! Lach, wenn du Lust hast, ich nehme kein Geld dafür!«
Carvalho beachtete sie nicht mehr, sondern faßte die Situation zusammen: Eine Spur führte nach Holland zu einer konkreten Arbeit an einem konkreten Ort. Die andere zu einer Nutte, die vermutlich ihre ganzen Pomadentöpfe und all ihre Polster in ein gutes Versteck gebracht hatte, bis das Unwetter vorüber war.
»Charo, ich fahre nach Holland, und du machst dich inzwischen auf die Suche nach La Pomadas. Unauffällig, mit Geduld und ohne Risiko!«
Charo gab ihm Küßchen auf sein Schulterpolster, und Carvalho bemerkte, daß die Küsse allmählich den Panzer durchdrangen und einen Gewittersturm auf der gesamten Hautoberfläche hervorriefen.
Das Flugzeug landete zwischendurch in Nizza, und Carvalho genoß den Blick auf die Hügel der Côte d’ Azur: Kilometer um Kilometer reihte sich Villa an Villa, eingebettet in wohlgepflegte Vegetation. Carvalho zog Vergleiche zwischen der vernünftigen Bodenspekulation hier, die kleine Paradiese geschaffen hatte, und der wahnsinnigen Spekulation an Spaniens Küsten. In seinem Gehirn begann eine alte Logik aus vergangenen Zeiten zu arbeiten, eine Logik, die dazu diente, Ursachen und Wirkungen von Gut und Böse miteinander zu verknüpfen. Aber als diese Logik Ansprüche zu stellen begann, schrillte eine Alarmglocke in Carvalhos Gehirn und stoppte seine Grübeleien. Jede Minute, die er vergeudete, um die Welt, in der er lebte, zu analysieren, war ihm zuwider. Schon vor langer Zeit war er zu der Überzeugung gelangt, daß er von der Kindheit zum Alter unterwegs war, mit einem ganz persönlichen und nicht übertragbaren Schicksal und einem Leben, das kein anderer für ihn leben konnte, weder länger noch kürzer, weder besser noch schlechter. Sollten sich doch andere am Arsch packen lassen. Er selbst hatte seine Fähigkeit, abstrakte Emotionen zu empfinden, auf das eingeschränkt, was ihm die Landschaft zu bieten hatte. Mit allen sonstigen Emotionen versorgte ihn die Haut.
In Nizza stiegen zehn neue Passagiere zu, und die blauen Stewardessen der holländischen Fluggesellschaft verteilten sie auf die Sitze, die freigeblieben waren. Neben Carvalho setzte sich eine lederne Alte mit dem typischen geblümten Hütchen und der weißen Haut der feinen, gepflegten Damen. Sie war zu einem Schwätzchen aufgelegt, und Carvalho befand sich plötzlich mitten in einer absurden Diskussion über die Gründe für das alarmierende Absinken des Salzgehaltes im Mittelmeer. Das geschäftige Hin und Her der Stewardessen ließ erkennen, daß das letzte Drittel des Fluges begonnen hatte. Er ging zur Toilette, überprüfte seine Papiere und stellte fest, daß er seinen spanischen Detektivausweis dabeihatte, ebenso den acht Jahre alten, inzwischen verfallenen Ausweis, den ihm die Polizei in San Francisco ausgestellt hatte. Dann kontrollierte er seinen Revolver, Marke ›Star‹, den er im Schulterhalfter trug, und nahm zwei automatische Klappmesser aus der Tasche seines Jacketts. Das eine stammte von dem Zuhälter, den er in Charos Wohnung verprügelt hatte. Das ließ er im Klo verschwinden. Das andere war sein eigenes, ein ausgezeichnetes mexikanisches Exemplar, das ihn seit seinen Streifzügen durch die Baja California begleitete.
Er zog das Hosenbein hoch und steckte das Messer in ein Futteral im Innern seines Stiefelschaftes. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. Die alte Französin schlummerte. Carvalho nutzte die verbale Feuerpause, um sich auf die Fakten zu konzentrieren, die ihn zu dieser Reise veranlaßt hatten. Die gesichtslose Leiche jenes Mannes – ›groß und blond wie das Bier‹ – tauchte ständig vor seinem geistigen Auge auf. Unbewußt ergänzte er immer wieder das fehlende Gesicht, und manchmal war es das von Jean-Pierre Aumont in Scherezade, dann wieder das von Tab Hunter. Vielleicht war er ein blonder Yves Montand mit weniger clownesken Zügen. Das Lied, das ihm Bromuro ins Gedächtnis gerufen hatte, fiel ihm plötzlich wieder ein, wenn auch etwas verdreht:
Er kam mit einem Schiff
aus einem fremden Land.
Ich traf ihn abends am Hafen.
Seine bittere Stimme klang traurig,
schmerzvoll und müde wie das Akkordeon …
So ungefähr. Ein anderes Mal hieß es:
Er war groß und blond wie das Bier,
seine Brust tätowiert mit einem Herzen …
Es war das Lied einer Frau, die dem schönen Fremden verfallen war, dem schönen Seemann, der eine Nacht, eine einzige Nacht lang in ihr Leben getreten war. Gab es diese Frau im Fall des tätowierten Mannes, dem er nachspürte? Seine Gestalt besaß genug von dem geheimnisvollen Etwas, in dem sich eine Frau verfangen konnte wie ein Vogel im dichten Geäst.
»Geheimnisvolle Männer sind klebrig«, sagte Carvalho halblaut. La Pomadas könnte diese Frau sein. Es war bereits ein Anhaltspunkt, daß der Mann eine Zeitlang ein und dieselbe Prostituierte aufgesucht hatte. Ohne Zweifel gab es irgendwo, an einem Ort, den Carvalho nicht kannte, die Frau aus dem Lied, die in der Lage war, ihm alle oder fast alle Geheimnisse des großen Blonden zu enthüllen. Der Wortlaut der Tätowierung war ebenfalls verblüffend. Ein Legionär aus der Zeit zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg, der, trunken von Literatur und Lebensverachtung, mit dem Gewehr in der Hand und ein paar Versen von Apollinaire auf Abenteuer auszog, war eine Sache für sich. Das konnte im letzten Drittel dieses Jahrhunderts nicht vorkommen. Die Leute, so dachte Carvalho, hatten gemerkt, daß man nur zu dem fähig ist, was im Rahmen der eigenen Möglichkeiten liegt. Niemand erfindet sein Leben, wie man sich einen Roman ausdenkt.
In allen Häfen suche ich ihn,
jeden Seemann frag ich nach ihm,
ob er lebt oder tot ist, ich such ihn immer noch treu …
Die Stewardess tippte ihm auf die Schulter und riß ihn aus seiner Versunkenheit. Sie deutete mit einem Lächeln ihres vollen, gesunden Gesichtes auf den Sicherheitsgurt. Sie hatte Rouge auf den Wangen, und ihr langes Haar war von einem Kastanienbraun, das ins Rötliche spielte, wie man es in Spanien nicht findet. Carvalho folgte mit den Augen ihrem Rundgang, als sie kontrollierte, ob die Sicherheitsgurte angelegt, die Zigaretten ausgemacht und die Rückenlehnen hochgeklappt waren. Sie sieht sehr gut aus, dachte er. Er fühlte, wie das erotische Fieber des Fremden, der neue Städte mit neuen Frauen gleichsetzt, von ihm Besitz ergriff. Jede Reise müßte unweigerlich zu einer neuen faszinierenden Frau führen, das wäre das richtige Ziel, die beste Endstation! Warum nicht die Stewardess? Carvalho versuchte, ihren Blick ins Netz des eigenen Blicks zu locken, aber sie musterte die Passagiere mit professioneller Gleichgültigkeit und betrachtete Carvalho, wie man einen Gegenstand betrachtet, den man numeriert und abgelegt hat.
Carvalho vergaß seine erotischen Anwandlungen und reckte den Hals, um hinter der alten Französin das geradlinige Grün von Holland zu betrachten, das immer größer wurde, je tiefer sie flogen. Die alte Dame versuchte, ihn in ein Gespräch über Holland zu verwickeln. Carvalho erklärte, er kenne Amsterdam, Rotterdam und Leiden. Die Dame aus Frankreich fuhr nach Rotterdam, sie besuchte dort ihre Tochter, die Gattin eines Florettlehrers, der Hollands Olympiamannschaft betreute. Ob Carvalho auch nach Rotterdam fahre?
»Nein. Nach Amsterdam.«
Obwohl Den Haag sein eigentliches Ziel war, wollte Carvalho Amsterdam zum Ausgangspunkt machen. Zumal Entfernungen in Holland nicht existieren, schon gar nicht zwischen Amsterdam und Den Haag oder Rotterdam. Aber auch weil Amsterdam eine der Großstädte war, die ihn von jeher am meisten fasziniert hatten, und er spürte, daß der große Blonde nicht so ganz in das Bild des braven spanischen Arbeiters paßte, der bei Philips in Den Haag vor Anker gegangen war. Die Schritte dieses Mannes mußten im prächtigen Amsterdam eine Spur hinterlassen haben, in der Nacht des Rotlichtviertels.
Das Flugzeug landete auf dem Flughafen Schiphol, in nächster Nähe von Amsterdam und Rotterdam. Carvalho kannte sich aus und brauchte nicht lange zu suchen. Er ging zielsicher zum Busbahnhof. Sein Bus füllte sich mit Arbeitern, die schwarzbraun, schnauzbärtig und lärmend aus dem Urlaub in der Heimat zurückkehrten, Türken, Griechen, Italiener, Spanier und Portugiesen, das ganze ABC des harten, armen Europa. Es wurde schon dunkel, aber während der Fahrt hatte er noch Zeit, visuellen Kontakt mit der grünen, wasserreichen Geometrie des Landes aufzunehmen. Die Türken, Flüchtlinge aus dem dürren Teil Europas, hatten ihre anfängliche Fröhlichkeit verloren und beugten sich langsam dem Gebot des Schweigens, das in diesem mit dem Lineal angelegten Teil Europas herrschte.