20.
Schatz in zerbrechlichen Gefäßen

Bei Hiob habe ich das Klagen gelernt. Und dass ich mich nicht als Bestrafter fühlen muss.

Bei Paulus, dem berühmten Völkermissionar und prägenden Theologen und Gründer der Urgemeinden, habe ich gelernt, einen Sinn in meiner Erkrankung zu entdecken. Ich schreibe mir dieses Trostbuch im Sommer 2012 von der Seele, in dem Jahr, das unter der Losung steht: »Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Korinther 12,9).

In Schwachheit stark? In Ohnmacht mächtig? Wer soll das verstehen? Diese Briefnotiz des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth war mir immer ein Rätsel. Ich hab darüber oft gepredigt, aber eigentlich betraf es mich ja nicht.

Der zweite Brief an die Gemeinde in Korinth ist der persönlichste aus der Korrespondenz des Apostel Paulus. Er sagt selbst, dass er ihn unter vielen Tränen geschrieben hat. Korinth war eine Gemeinde, die Paulus besonders am Herzen lag. Es war aber auch eine Gemeinde, die ihn extrem forderte. Korinth war als griechische Hafenstadt das St. Pauli des Mittelmeerraumes. Moralisch ging es da drunter und drüber, und in der jungen Gemeinde wollte man auch nicht alles zu eng sehen. So führten die Gemeindeglieder Prozesse miteinander, gemeinsame Gemeindemahlzeiten arteten zu Fress- und Sauforgien aus, einige gingen zu Prostituierten, einer lebte in einer Inzestbeziehung. Paulus beklagte, dass solche Verhältnisse noch nicht einmal bei den Heiden zu finden seien.

Gleichzeitig waren sie offen für jede Art von spiritueller Erfahrung, sie liebten das Besondere. Im ersten Brief spricht Paulus die peinlichen Details an. Im zweiten Brief geht er gar nicht mehr auf Einzelheiten ein.

Er musste seine apostolische Autorität nachweisen, denn den Korinthern war der Apostel einfach nicht eindrucksvoll genug. Nicht genug übernatürliche Erfahrungen, viel zu wenig Erfolgsmeldungen. »Wer weiß, ob der wirklich den Heiligen Geist hat?« Und ein bisschen mickrig sah Paulus vielleicht auch aus. Kein Vergleich mit den imposanten griechischen Rhetorik-Artisten, die stundenlang klug und schön reden konnten und die Massen in Verzückung brachten. Paulus bekannte sich zu seinem einfachen Redestil: Nicht mit überzeugender Rede und feingeistigem Esprit, sondern Christus den Gekreuzigten, den predigte er. Vielen Christen in Korinth war das zu wenig!

Nachdem die Korinther sich ständig ihrer besonderen religiösen Erfahrungen gerühmt hatten, stieg Paulus, vielleicht mit einem Augenzwinkern, auf die gleiche Tour ein. »Wenn sich hier schon gerühmt wird, dann kann ich auch etwas beisteuern.« Wenn die Korinther ihm schon eine Debatte aufzwingen wollten, dann sollten sie was zu knabbern haben. So schrieb er: »Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir ein Pfahl ins Fleisch gegeben« (2. Korinther 12,7).

Das muss die Korinther nun endgültig verwirrt haben. Gott hat die Macht gesund zu machen. Sie haben selbst die Gabe der Krankenheilung in ihrer Gemeinde, und Paulus, das große Glaubensvorbild, lebt heimlich mit einem pathologischen Befund? Das gibt’s doch nicht! Christsein und Kranksein, wie passt das zusammen? Ratlosigkeit, während der Brief in der Gemeinde von Korinth vorgelesen wird. Der Apostel fühlt sich von einem Engel Satans gepeinigt. Gibt’s denn so was? Dreimal hat er um Heilung gebeten und nichts ist passiert? Da fällt doch der Glaube an den Allmächtigen wie ein Kartenhaus zusammen.

Ja, so etwas gibt es! Hier und heute, nicht nur bei Paulus. Ich habe in meinem engsten Familienumfeld erlebt, dass Menschen im tiefen Vertrauen auf Gott Heilung erlebt haben. Und wir haben erlebt, dass andere endlos gelitten haben und trotzdem im Einklang mit Gott gestorben sind.

Paulus hätte gar nicht mit seiner Krankengeschichte ausgepackt, wenn die Korinther ihn nicht so provoziert hätten. Nun ist es raus. Seitdem wird geforscht, was er denn gehabt haben könnte. Epilepsie, endogene Depressionen, Magenleiden, Augenleiden? Viel Spekulation, aber kein klarer Befund. Paulus selbst trägt nichts zur Klarheit bei. Er hat kein großes Aufheben darum gemacht. Er wusste, dass diese Krankheit von Gott verordnet ist. Sie war das Gegengewicht zu seiner außerordentlichen apostolischen Begabung. Ein Gang durch die Kirchengeschichte zeigt uns diese bedrückend einfache Gleichung: Wem viel anvertraut ist, von dem wird viel gefordert. Die bedeutenden Männer und Frauen der Christentumsgeschichte hatten meistens harte Bodenhaftung. Sie waren geerdet im Leid, in Krankheit, in wirtschaftlicher und politischer Not. Einschränkend muss man sagen, dass der Umkehrschluss nicht passt, nämlich: Wer nicht leidet, bewegt auch nichts. Viele Männer und Frauen haben in der Geschichte der Kirche und der Mission viel bewegt – ohne wirtschaftliche, seelische und körperliche Nöte.

»Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Korinther 12,9). Das heißt doch, dass meine Schwachheit kein Hindernis für ein erfülltes Leben sein muss und dass Gott sich meiner Schwachheit bedient, um etwas Starkes daraus zu machen. Vielleicht sind mir die größten Segnungen Gottes nicht zugänglich geworden, weil ich zu sehr auf meine eigene Kraft gesetzt habe.

Paulus erwähnt so ganz nebenbei, was die Beeinträchtigungen seiner Berufung zum Missionar und Gemeindegründer waren. Und die Risiken waren zugleich sein Kraftwerk. Aus jeder Niederlage ist Paulus gestärkt hervorgegangen.

Von radikalen Juden wurde er knüppeldick verdroschen. Er wurde mit Steinen beworfen und trieb schiffbrüchig auf einer Bootsplanke durchs Mittelmeer. Auf seinen Reisen zu Wasser und zu Land ging er durch extreme Gefahren, durchwachte Nächte in Kälte, Hunger und Durst. Anders wäre das Evangelium nicht vom Orient zum Okzident gekommen. Der Weg des Evangeliums von Jerusalem in die neue Welt, die wir heute Europa nennen, war mühsam und voller Widerstände. Paulus nutzte zwar die moderne Infrastruktur, das römische Wegenetz, so, als würde er sich heute der schnellen Kommunikationswege des Internets bedienen. Aber es war dennoch ein mühsamer Weg, kein Vergleich mit dem siegreichen und glanzvollen Ritt eines Heroldes, der die Siegesbotschaft nach Rom bringen durfte.

Paulus schreibt im ersten Brief an die perfektionslüsternen Korinther, dass Gott seine Schätze in rissigen und demolierten Gefäßen transportiert. Dieses Bild hat wahrscheinlich keiner in der Hochglanzgemeinde verstanden. Die Kraft Gottes verströmt sich durch die Risse meiner angekratzten Eitelkeit. Durch die aalglatte Fassade einer aufgesetzten Frömmigkeit verströmt sich überhaupt nichts, das stößt nur ab. Wir brauchen uns nicht zu schämen, dass der Lack ab ist.

Was gibt es Besseres, als sich in Gottes Gegenwart zu fügen? Paulus muss nicht mehr um einen schmerzfreien und durchtrainierten Körper bitten. Er rühmt sich seiner Behinderung, statt über sein Leiden zu lamentieren.

Er begreift seinen Zustand als Segnung Gottes. Segnen hat eine Wortverwandtschaft zum lateinischen signare: zeichnen! Paulus ist gezeichnet, er ist ausgezeichnet, von Gott signiert. Darum reden wir noch heute von ihm. Das heißt nicht, dass wir Gott nicht mehr um Heilung bitten sollen. Dazu können wir immer die Freiheit haben. Aber wir sollten uns nicht die besonderen Segnungen Gottes entgehen lassen, wenn er uns in unserer Schwachheit stark machen will.

Ich habe gelernt, dass meine starken Auftritte an Pult und Kanzel mein Leben eben nicht wertvoller gemacht haben. Manchmal war es gerade die Stärke, die mich auf Distanz zu den Hörern gebracht hat. Mein Leben im grünen Bereich hat andere in den roten Bereich katapultiert, ohne dass mir das bewusst war. Vielleicht habe ich sogar arrogant gewirkt, weil alles so stark war. Stärke kann isolieren und einsam machen. Schwache fühlen sich in Gegenwart starker Menschen nicht wirklich verstanden, sie empfinden sich als Zwerge unter Riesen. Das alles merkt ein Starker gar nicht, es sei denn, es findet sich ein demütiger Mahner, der ihm das in geistlicher Autorität schonend nahebringt.

Mein Leben im Kraftfeld der Stärke Gottes. Irgendwann musste ich endlich lernen, was Paulus meinte, wenn er sich seiner Schwachheit rühmt. Auf das »Wozu?« dieser Erfahrung habe ich bis heute keine Antwort, auf das »Warum?« sowieso nicht. Die Warum-Frage führt selten zur Erkenntnis.

Ich bin heute sehr dankbar, dass ich nach der neurologischen Diagnose »Parkinson« nicht ein einziges Mal nach dem »Warum?« fragen musste. Aber die Krankheit schreitet voran. Sie macht den Starken schwach. Parkinson bricht den Stolz, den starken Auftritt, die formvollendete Performance auf Bühne und Kanzel. Und da Stolz keine geistliche Tugend ist, ist das zwar ein demütigender, aber auch ganz heilsamer Nebeneffekt. Ich muss nun täglich üben, in meiner zunehmenden Schwachheit Stärke zu leben, denn seine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

So lebe ich mit den Worten des Apostel Paulus, die er im ersten Brief an die Korinther schreibt: »Wir haben aber diesen Schatz in irdenen (zerbrechlichen) Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns« (2. Korinther 4,7). Vielleicht verströmt sich die Kraft Gottes durch die rissige Fassade meiner Behinderung viel besser als durch die aalglatte Oberfläche eines makellosen Auftrittes. Wenn das »bei rumkommt«, wenn ich angeschlagenen Menschen dienen kann, dann will ich gerne meine Last tragen.

Jetzt ahne ich, was Paulus mit »stark in Schwachheit« gemeint hat. Eine mühsame und demütigende Lektion, aber auch eine wunderbare Erfahrung der Treue und Nähe Gottes, die ich nicht mehr missen möchte. Die Erfahrung von Schwäche macht mich barmherziger, vielleicht auch geduldiger. Tempo ist nicht mehr so wichtig, Gesundheit nicht alles, ein zitterfreier Auftritt keine Bedingung für einen überzeugenden Dienst. Die Sache Gottes ist nicht durch unsere Ohnmacht gefährdet, vielleicht eher durch unsere Macht.