6.
Vom Ende der Täuschung

Für Ostern hatte ich eine große Veranstaltung vorzubereiten und dann auch zu moderieren. Das war meine Welt: Musik und Theater, viele Menschen auf die Bühne bringen, Talente entdecken und zu einem starken Programm formen. Schon bei den Proben peinigte mich der Tremor. Als ich den Schlusschoral mit allen Akteuren dirigieren wollte, konnte ich mich nur noch mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Ich kam mir so bloßgestellt vor, so erbärmlich verletzt und hinfällig.

Meine Kollegen von der alten Studentenband waren auch dabei. Wir spielten unter dem Beifall des begeisterten Publikums unsere Oldies aus den Siebzigerjahren. Die Band war in Topform, nur ich konnte vor Zittern kaum das Mikrofon halten. Die Ehefrauen meiner Band-Kollegen, die mich lange nicht mehr gesehen hatten, fragten besorgt, was denn mit mir los sei. Ich faselte was von allgemeiner Erschöpfung.

Nach dem großen Finale verschwand ich mit meiner Frau hinter der Bühne und bat meine engsten Kollegen um ein paar stille Augenblicke. Ich war sprichwörtlich ein Häufchen Elend. Die Kollegen machten das einzig Richtige: Sie stellten sich um uns herum, legten die Arme um meine Frau und mich, zitierten einige Bibelverse aus dem 5. Kapitel des Jakobusbriefes und beteten für mich.

Dazu muss man übrigens kein Esoteriker sein, das ist ein urchristlicher Dienst der Stärkung eines angefochtenen Menschen. Ich kenne viele Kirchen und Gemeinden, die so einen Gebetsdienst wiederentdecken, nachdem sie diese Qualität im rationalistischen Eifer abgeschafft hatten. Es kommt alles wieder …

Dieser spontane Akt des Gebets und der »Tuchfühlung« war in meiner deprimierenden Verfassung ein bewegender Augenblick. Bewegend in doppelter Hinsicht: emotional und muskulär. Und so lautet die Passage:

»Ist jemand unter euch krank, so rufe er zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden« (Jakobus 5,14–15).

Wie oft habe ich unter Berufung auf diesen biblischen Text über kranken und leidenden Menschen gebetet. Selbst Glaubensheilungen habe ich erlebt. Bei anderen!

Unvergesslich wird mir bleiben, wie ich in meiner ersten Stelle als Jugendpastor in der Vorderpfalz von einem Gemeindeältesten dringend um einen Besuch gebeten wurde. Er war gerade mit dem Befund »schnellwachsender Gehirntumor« konfrontiert worden und bat mich, für ihn zu beten. Ich fühlte mich damals total unwürdig und kraftlos für diesen Krankenbesuch. So bat ich meinen Praktikanten, mich zu begleiten. Der junge Theologiestudent war noch hilfloser als ich. Beim Frühstück hatten wir ziemlich unbeschwert rumgeblödelt und jetzt sollten wir einem ernstlich erkrankten Gemeindeältesten Mut zusprechen und mit ihm beten? Muss man da nicht über höhere Weihen verfügen?

In unserer Verlegenheit sammelten wir uns zu einem stillen Gebet und fuhren dann einigermaßen geordnet, aber ziemlich ängstlich in den Nachbarort. Wie sollten wir den Mann trösten?

Wir wurden in einer fast heiteren und gelösten Atmosphäre herzlich empfangen. Der schwer kranke Mann – vielleicht Anfang 60 – kam gleich zur Sache. Er kniete mitten im Wohnzimmer nieder und schaute uns erwartungsvoll an. Wir lasen den besagten Abschnitt aus dem Jakobusbrief, legten dem Mann die Hände auf und beteten schlicht um Heilung von diesem Tumor. Das war ein unscheinbarer Auftritt, ein spontaner Hausgottesdienst fern aller pastoralen und liturgischen Würde. Etwas kleinlaut und verunsichert zogen wir bald wieder ab.

In der Woche danach rief mich dieser Mann überglücklich an. Man habe nichts mehr von einem Tumor gefunden, die Operation sei abgesagt worden. Verlegen stammelte ich irgendetwas und war froh, das Gespräch beenden zu können. Jetzt war ich es, der aufgebaut werden musste.

Überwältigt von der Kraft des Gebets war ich Zeuge eines Wunders geworden. Medizinisch nennt man das wohl Spontanheilung. Von da an wusste ich, dass es auch heute noch Wunder gibt, die sich jeder wissenschaftlichen Erklärung entziehen. Ich habe diese starke Glaubenserfahrung nie an die große Glocke gehängt. Das hatte mit meinem kleinen Glauben nun wirklich gar nichts zu tun. Aber am Ende stand die Einsicht, die David Ben-Gurion so formulierte: »Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.«

Der Gemeindeälteste lebte übrigens noch 25 Jahre.

Nun aber sollte nicht ich der Handelnde sein, nun war ich Empfänger dieser starken Zusage aus Gottes Wort. »Der Herr wird ihn aufrichten!« In der Tat, ich fühlte mich gestärkt und aufgerichtet, zuversichtlich aufgestellt für das diagnostische Programm, das jetzt vor mir lag.

Am Ende dieses Tages war mir klar, dass ich mich der Wahrheit stellen musste.

Wieder konsultierte ich meinen Arzt und berichtete ihm von den Erfahrungen. Weil er mich gut kennt, spürte er sofort meine verzweifelte Lage und empfahl mir einen erfahrenen Neurologen, der viele Parkinsonkranke in Mittelhessen betreut. Einige Tage später hatten wir einen Termin – das Beste, was mir passieren konnte.

Im völlig überfüllten Wartezimmer taxierte ich die Patienten. In dieser Gesellschaft würde ich künftig wohl öfters auflaufen. Ich fühlte mich mitten aus dem Leben in ein Siechenhaus abgeschoben.

Zunächst wurden wir in das Sprechzimmer der ebenfalls als Neurologin praktizierenden Frau des Spezialisten geführt. Sie untersuchte mich, und nach 20 Minuten legte sie mir ihre Hand auf die Schulter und sagte in feiner und einfühlsamer Weise: »Herr Mette, Sie müssen davon ausgehen, dass Sie an Parkinson leiden, aber mein Mann und ich werden Sie durch diese Krankheit begleiten.« Welch ein Unterschied zum ersten Versuch, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Ärztin hatte sofort mein tiefes Vertrauen.

Ich wusste es ja seit meinem Turmerlebnis auf der Wartburg, aber jetzt fiel ein dunkler Schatten auf mein sonniges Gemüt. Jetzt war es raus. Jetzt stand es fest. Ich wankte an der Hand meiner Frau ins Behandlungszimmer des Neurologen und brach in Tränen aus. Dann betrat der warmherzige Arzt den Raum und blickte mich aufmunternd an: »Warum weinen Sie? Sie wissen wenig über die Krankheit, es gibt keinen Grund zur Panik. Wir werden Sie in diese neue Lebensphase begleiten.«

Irgendwann sagte er beiläufig: »Wieder ein Pastor!« Was sollte das denn heißen? Nur weil Billy Graham, der berühmte Pastor und Evangelist, und der letzte Papst zittern bzw. zitterten, kann man doch daraus keine Schlüsse auf eine potenziell anfällige Berufsgruppe ziehen. Schließlich hatten scheußliche Despoten wie Hitler oder Mao Tse-tung auch Parkinson. Die Antwort war bezeichnend: Viele Parkinsonkranke sind Männer und Frauen in öffentlichen Berufen. Leute, die immer mit vollem Einsatz auf der Bühne stehen: Politiker, Künstler, Musiker, Schauspieler, Lehrende und Pastoren. Mir fielen sofort der Stuttgarter Ex-Oberbürgermeister Manfred Rommel, der Bayreuther Startenor Peter Hofmann, der Boxer Muhammad Ali, der Schauspieler Michael J. Fox und der Kabarettist Ottfried Fischer ein, der beschlossen hat, künftig auf Schüttelreime zu verzichten. Den Humor wollte ich auch haben.

Am nächsten Tag sollte eine Predigt im TV-Studio aufgezeichnet werden. Ich war nahe daran, abzusagen. Mein Arzt sagte mit prophetischer Autorität: »Sagen Sie nichts ab. Sie müssen jetzt leben, was Sie jahrzehntelang gepredigt haben!« Bei jeder langfristigen Terminzusage steht mir dieser Satz vor Augen. Er ist mein Leitmotiv geworden. Jetzt das leben, was ich immer gepredigt habe.

So fuhr ich am nächsten Tag ins Studio. Vor Zittern konnte ich kaum das Lenkrad halten. Wie gut, dass meine Frau dabei war. Die Visagistin in der Maske spürte, wie ich unter dem Umhang bebte. Ich bat sie, den TV-Chef zu holen. Der kam auch gleich und hörte sprachlos meinem Bericht zu. Was wollte er auch sagen? Ich bat die Kameraassistenten, eine Fußmatte unter das Stehpult zu legen, damit man das Klappern der Schuhsohlen nicht hörte. Zu meiner großen Verwunderung ging es gut. Mein Neurologe hatte recht behalten.

Eine nuklearmedizinische Diagnose sollte letzte Klarheit geben. Ich ahnte nicht, dass es eine furchtbare Erfahrung werden würde. Mir wurde ein »strahlendes« Kontrastmittel gespritzt und dann musste ich in die »Röhre«, um den Grad der Schädigung meiner Gehirnzellen festzustellen. So wollte man letzte Klarheit über meinen neurologischen Befund gewinnen. Einen Tremor-Patienten in einem Magnetresonanztomographen ruhigstellen? Das geht eigentlich gar nicht. Oder man muss den »Geröhrten« vorher so abschießen, also sedieren, dass er die Prozedur halb ohnmächtig übersteht.

Zwei einigermaßen unsensible Assistentinnen hatten keine Lust, sich geduldig um mich zitterndes Häufchen Elend zu kümmern. Warum auch, die hatten schließlich ein völlig überfülltes Wartezimmer abzuarbeiten. Mein Kopf wurde auf den Schlitten geschnallt, aber meine Beine zitterten wie verrückt und übertrugen den Tremor bis in den Kopf, der ja für dieses Diagnoseverfahren extrem ruhiggestellt sein musste. Es war eine einzige Qual. Die Assistenten hatten nicht die geringste Idee, wie sie mich beruhigen könnten. Ich drückte den Notruf, befreite mich von den Fesseln und kroch völlig verschüchtert aus der Röhre. Erschöpft verließ ich die Praxis. Da würde mich keiner mehr hinschicken. Ich wusste ohnehin Bescheid.

Meine Frau, selbst an einer Universitätsklinik tätig, machte mir einen Termin in der Nuklearmedizin ihrer Klinik. Das Personal ging locker mit mir um und das Gerät war keine Panikröhre, sondern bestand aus drei meinen Kopf umkreisenden Platten. Die Prozedur war schnell vorbei und das bildgebende Diagnoseverfahren in der Aussage eindeutig. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Die bereits geschädigten Gehirnzellen waren klar erkennbar. Wie ein militärisches Sperrgebiet auf einer Landkarte. Irreparabel geschädigt. Eine brutale Einsicht. Ich will gar nicht wissen, wie viel Prozent meiner Gehirnzellen schon geschädigt sind. Vielmehr beschäftigt mich die Frage, ob der intakte Rest reicht, um mich denk- und handlungsfähig zu halten, und ob man den Prozess aufhalten kann.

In diese quälenden Gedanken hinein erscheint mir immer wieder das Bild vom letzten Papst. Der Mann war vom Leiden gezeichnet, aber geistig hellwach. Morbus Parkinson vermochte nicht, sein Pontifikat zu verhindern. Er blieb seiner Berufung treu. Ich trage dieses Bild als ständigen Ermutiger in mir, damit die Resignation nicht die Oberhand gewinnt.

In der Zwischenzeit musste ich zu einer Sitzung in die Schweiz. Dieses Vorstandsamt machte mir viele Jahre Freude, aber es kostete mich auch viel Kraft. Der Sitzungsverlauf an diesem Tag war ziemlich heftig. Ich spürte die Spannung körperlich. Auf der Weiterfahrt zu einem Termin in Luzern war ich so aufgewühlt, dass ich in den Tunneln durch das Juragebirge von Zitterattacken gepackt wurde. In diesem verzweifelten Zustand beschloss ich, konsequent meine diversen Gremienarbeiten zu reduzieren. Wenige Tage später erklärte ich meinen Rücktritt als Vorstandsmitglied. Es sollten weitere solcher Entscheidungen folgen, damit ich noch lange meiner eigentlichen Berufung nachkommen kann.

In Luzern angekommen, übernachteten meine Frau und ich bei Freunden, die hoch über dem malerischen Vierwaldstätter See ein wunderschönes Haus besitzen. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Herr P. hatte an der Muskelsteuerung so lange manipuliert, bis ich am ganzen Körper bebte. Vergeblich verkeilte ich meine Beine in der Matratzenritze, um endlich Ruhe zu finden. Meine Frau mühte sich tapfer, mich von der aufkommenden Panik und den depressiven Gedanken abzulenken.

Am nächsten Tag sollte ich in der Kirchengemeinde meiner Freunde predigen. Vor dem Gottesdienst waren die Gemeindeältesten im Büro des Pastors versammelt. Sie nahmen mich in ihre Mitte und beteten für mich. Doch mir sackten die Beine weg. In Panik umrundete ich vor der Predigt noch einmal das Gemeindezentrum, machte Atemübungen, schrie innerlich zu Gott und fragte, warum er mir das antue. Zum ersten Mal war ich nicht in der Lage freihändig zu predigen. Ich musste um einen stabilen Bistrotisch bitten, und für alle Fälle stand ein Hocker in Reichweite.

Es war mir, als hätte mich Herr P. in meiner ganzen Erbärmlichkeit vorgeführt. Überraschenderweise konnte ich die Predigt relativ entspannt halten. Ganz so, als würde der andere Herr meines Lebens Herrn P. vorübergehend entmachten, sodass ich meine Berufung erfüllen konnte. Mein Neurologe hatte mich ja geradezu medizinisch re-ordiniert. Ich hätte ihn vor lauter Freude am liebsten gleich nach dem Gottesdienst angerufen.

Am nächsten Tag waren wir im Kanton Zug zu Gesprächen mit einer Partnerorganisation. Auch dort erlebte ich eine furchtbare Nacht. Und am nächsten Morgen sagte ich in der Sitzung zum ersten Mal: »Ich habe Parkinson!« Es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.

Genau drei Jahre später – im Mai 2012 – bin ich wieder zu Verhandlungen und Vorträgen dort. In der Nacht beginne ich dieses Kapitel zu verfassen. Genau an dem Ort, wo vor drei Jahren der Absturz in die Depression seinen Anfang nahm.

»Die Wahrheit wird euch frei machen!« (Johannes 8,32), hat Jesus gesagt. Wir erleben so viel Lüge und Täuschung, solch ein frivoles Frisieren der Tatsachen, dass die Zeit reif wird für eine neue Wahrhaftigkeits-Offensive. Wann leben wir endlich die Würde dieser Freiheit untereinander, indem wir wahrhaftig miteinander kommunizieren? Ich hatte mich der Wahrheit gestellt, die Flucht war zu Ende.