14.
Disziplin? Ab morgen!

Zehn Kilo weniger würden mir guttun. Ich pendle seit 30 Jahren zwischen einem Gewicht von 85 und 95 Kilogramm, und das bei einer Körpergröße von 184 Zentimetern und kräftigem Knochenbau. Seitdem ich die Parki-Tabletten zu mir nehme, bin ich auf einmal bei 100 Kilo. Das geht mir an die Eitelkeit. Meine Frau sagt es täglich, meine Physiotherapeutin wöchentlich, mein Coach thematisiert es monatlich, meine Ärzte sagen es quartalsweise: »Hintern hoch! Gewicht runter!« Sie sagen es charmanter, aber die derbe Variante ist wirkungsvoller.

Morgen fange ich an. Heute regnet es oder es ist zu kalt oder zu warm für: Nordic Walking, Biking, Jumping, Spinning, Stretching, Climbing, Hiking, Lifting, Swimming, Jogging, Rafting, Canyoning, Paragliding. Früher haben sich die Leute bewegt, heute wird »gemoved«! Mein Opa hat vor 50 Jahren schon Nordic Walking gemacht, der ging auch am Stock. Und der war mit Plaketten benagelt – der Stock. Heute wird englisch gemoved. Wie wäre es mit »Fresh-air-Snapping« oder »Mushroom-Searching«, wie Gerhard Polt einmal gefragt hat?

Ich bewundere die Parki-Gefährten, die mit eiserner Disziplin Sport treiben. Mir hingegen tut das Relaxing besonders gut.

Aber im Ernst, die Parki-Medikamente haben eine gewisse Disziplinlosigkeit im Gepäck. Nicht mit der Arbeit aufhören zu können, nicht mit dem Essen aufhören zu können, nicht aus dem Internet rauszukommen. Das ist neu und es ist ernst zu nehmen. Gottes »Bodenpersonal« lebt öffentlich. Die Leute erwarten Glaubwürdigkeit, Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit. Dieser Erwartungsdruck wirkt sich bis in die Pfarrhäuser aus. Da soll alles vorbildlich sein. Bei Politikern interessiert die Öffentlichkeit kaum noch, wenn das Privatleben beschädigt ist. Aber das theologische und diakonische Personal soll gefälligst das leben, was die Kirche von ihren Mitgliedern erwartet. Wir wissen das, wir predigen oft über Demut und authentisches Christsein. Dass wir zuerst Priester unserer Ehen und Familien sind und dann erst im Beruf und in der Öffentlichkeit. Wir kennen die Risiken, wir sind oft genug gewarnt worden, wir haben schon längst verstanden.

Schon lange vor der Parkinson-Diagnose war mir das Risiko meines rastlosen Lebens bewusst. Und ich entdecke in manchen Leitungsgremien immer mehr »Knechte« meines Formats, die blass, übergewichtig und müde in die Laptops, Tablets und Smartphones starren. So sind wir hier und da, immer online, immer verfügbar. Aber wir sind nicht mehr bei uns selbst, bei unseren Kindern und Ehefrauen. Wir sind getrieben, nicht mehr gehalten. »Social media« verspricht uns stark vernetzte »community« – Gemeinschaft, aber in Wahrheit verlieren wir viel Freiheit und die virtuelle Kommunikation nimmt das Gegenüber oft nur noch als Informationsträger wahr, nicht als Persönlichkeit.

Wenn wir uns von keinem mehr beraten lassen, dann mahnt uns unser Körper. Tinnitus, Schlafstörungen, Diabetes, Herz- und Kreislauferkrankungen schauen uns drohend über die Schulter, aber wir machen weiter. Alles für den Herrn. Die Sache Gottes hat Eile. Des Lebens beste Kraft wird in der Sitzung weggerafft.

Ich reise gern mit der Bahn, da bin ich bewusst offline, ohne Anschluss, Laptop im Koffer, Handy aus. Nur ein Buch in der Hand, kein Interesse an Plaudereien, kein Balzgehabe mit wichtig wirkenden Kommunikationsgeräten. Die Typen um mich herum sind sowieso zugestöpselt mit ihren iPads, iPhones und iPods. Einsam mit der ganzen Welt vernetzt. Einsamkeit – die neue Befindlichkeit der Onliner. Und das auf dem Höhepunkt der besten und schnellsten Kommunikationsmedien, die uns pausenlos zutexten und uns mit unzähligen Bildern das Gedächtnis verkleben.

Meine Frau hat mir das alles längst gesagt. Sie wollte mich schützen, sie war eine der Vorboten. Ich war zwar leiblich da, aber ich war auch permanent geistig weggetreten. Die starke Frau an meiner Seite kämpft für ein intaktes Privatleben. Sie leistet das komplette Familienmanagement, Haus und Garten, den privaten Schreibkram, obwohl sie auch berufstätig ist. Der Herr Gemahl ist ja zu Höherem berufen. Irgendwann sagte sie zu mir: »Du bist mit deinem Computer verheiratet!« Ich fand das banal und zu klischeehaft. »Aber nicht doch, mein Schatz, nur noch diese Mail.« Irgendwann ist sie dann allein zu Bett gegangen. Und dann habe ich mal nachgerechnet, wie viel Zeit ich zu Hause mit meiner Frau verbringe und wie viel mit meinem kleinen schwarzen Kommunikationsassistenten. Diese Einsicht war nicht banal, sie war frustrierend.

Ich liebe meine Arbeit und tue sie mit Begeisterung, rund um die Uhr. Ich komme abends aus dem Büro und mache zu Hause direkt Fortsetzung am Laptop. Selbst vor dem Fernseher bearbeite ich nebenbei Mails. Ich bin ein Kommunikationsknecht geworden. Alles für den HERRN? Da bin ich mir schon lange nicht mehr sicher.

Als unsere Kinder klein waren, war ich im Jahr bis zu 150 Tage beruflich unterwegs. Das war völlig normal. Aber wenn ich dann zu Hause war, war ich wirklich zu Hause, auf der Baustelle unseres Eigenheimes, im Garten, mit der Familie unterwegs. Heute gibt es kaum noch Grenzen zwischen Privatem und Geschäftlichem, es fließt alles ineinander, weil wir überall online und einsatzfähig sind. Alles ist Büro, alles ist Dienst. Selbst im Krankenbett sind wir Knechte der ständigen Verfügbarkeit. Und unser Gehäuse verfällt: das, was die Bibel einen Tempel des Heiligen Geistes nennt.

Ob Parkinson meinen Arbeitsstil verändern wird, kann ich noch nicht sagen. Ich übe. Meine Frau bleibt charmant skeptisch. Aber sie liebt mich und verliert nicht den Humor. Wenn es ganz schlimm wird, zieht sie den Stecker raus und scheucht mich zum Sport oder zur Hausarbeit.

Ja, ich esse gern. Aber ich kann auch vielen Versuchungen widerstehen: zum Beispiel Rohkost, Magerquark und Tee, Zwieback und Reiskeksen. Da bin ich total diszipliniert! Nur, bei Gebratenem und Süßem, auch mal einem gut temperierten Rotwein oder dem »Hopfenblütentee« aus einer fränkischen Privatbrauerei, da verzehrt sich meine Widerstandskraft. Für ein großzügig geschnittenes Stück »Ahle Worscht« aus meiner nordhessischen Heimat lasse ich jedes Wirsing-Soufflé an Biokaröttchen und sogar eine gedünstete, mit Soja gefüllte Erbse stehen.

Wenn sich dann das Hüftgold da etabliert, wo wir gern den Gürtel enger schnallen würden, sprechen wir verlegen vom »erweiterten Speck-drum«. Kürzlich habe ich mich dabei ertappt, dass ich mir an einer Autobahnraststätte tatsächlich eine Tüte feuriger Chips gekauft habe. Zum ersten Mal in meinem Leben. Bin ich verrückt? Disziplin – wo bist du? Schieben wir es auf die Nebenwirkungen. Herr P. verdirbt meine Ernährungsgewohnheiten. Aber ich kann es ändern: Crosstrainer, Mountainbike, Trampolin, Walkingstöcke, alles ist da. Ich muss nur losgehen. Und zu meinem Lieblingsthermalbad sind es gerade einmal 30 Minuten. Es ist alles nur eine Frage der Disziplin.

Ich las von Rupert Lay, dem Philosophen, katholischen Theologen, Unternehmensberater und Psychotherapeuten, dass er bei seinen Seminaren für ausgebrannte Manager drei Bedingungen zur Teilnahme stellt:

  • Die Teilnehmer müssen ihr heiliges Blechle, ihr Auto, zwei Kilometer vor einer abgelegenen Berghütte parken. Die Herren müssen also mit ihren feinen Schuhen durch den Kuhfladenparcour zum Tagungsort laufen. Viele Männer fühlen sich bedeutungslos, wenn sie ohne Statussymbol vorfahren. Sie kommen als ein Nichts an. Sie werden auf die wahren Qualitäten ihres Lebens reduziert.
  • Die Teilnehmer müssen Handys und Laptops zu Hause lassen, denn die Hütte steht außerhalb stabiler Funkfrequenzen. Eine Qual, eine Tortur für uns Onlineknechte. Eine heilsame Kur, ein Entzug der ganz schmerzlichen Sorte.
  • Die Teilnehmer dürfen an den Seminartagen über alles reden, nur nicht über Kennzahlen ihres Unternehmens, nicht über akademische Abschlüsse und ihre Karriere. Was soll dann ein Mann noch reden? Unter diesen Vorgaben hat er fast nichts mehr zu sagen. Er wird stumm. Und erst dann spricht er vielleicht über den eigentlichen Mangel seines Lebens.

Die Akzeptanz der Teilnahmebedingungen bedeutet schon die Hälfte des Erfolgs dieses Seminars.

Es muss nicht immer gleich ein Seminar der Spitzenklasse sein. Vielleicht reicht es schon, einem guten Freund das Mandat zu erteilen, mein Leben kritisch zu begleiten, genau hinzuschauen und mich früh zu warnen. Viele Führungskräfte sitzen in Aufsichtsräten, um Aufsicht zu führen, aber wem haben wir die Aufsicht über unser einmaliges und kostbares Leben erteilt?