8.
Wenn die Seele nicht mehr lacht

Der Absturz in die Depression war auch ein Abschied vom Elfenbeinturm einer seriösen und sicher geglaubten Theologie. Ich bin in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen und habe mich früh für ein Leben nach dem Vorbild von Jesus Christus entschieden. Meine Eltern waren uns dabei ein beeindruckendes Vorbild für eine fröhliche christliche Lebenspraxis. Unser Christsein sollte ansteckend sein, authentisch, unverkrampft. Wir hatten ein offenes und tolerantes Haus, in dem viele Frömmigkeitstypen ein und aus gingen. Die Mitte war Jesus Christus. Die Bibel war Basis unserer Weltanschauung und ethisches Fundament. Gerade in den wilden 68er-Jahren war das für mich eine entscheidende Prägung. Den christlichen Glauben tolerant zu bekennen, das wurde uns früh mit auf den Weg gegeben. Ehrenamtliche Mitarbeit in Gottesdienst und Jugendarbeit waren Ehrensache.

Der Weg ins Theologiestudium – nach der Ausbildung zum Zimmerer – führte folgerichtig in den pastoralen Dienst: zunächst als Jugendpastor, später als Dozent und Gemeindeberater und vor allen Dingen bundesweit als Prediger und Referent.

Das Thema »Umgang mit Leid, Krankheit und Tod« – die sogenannte Theodizee-Frage – stand oft auf dem Wunschzettel der Gemeinden. Irgendwann »kniete« ich mich in die Hiobsgeschichte und entwickelte unter dem Thema »Wenn guten Menschen Böses passiert« einen Vortrag, der x-fach gehalten und publiziert wurde. Das waren Trockenübungen eines gefragten Referenten über ein Thema, zu dem er damals außer theologischen Richtigkeiten relativ wenig zu sagen hatte. Für manche vollmundige Predigt, die nicht in der Realität meines Lebens geerdet war, kann ich mich deshalb im Rückblick auch nur schämen. Ich werde in den Kapiteln 16 bis 19 noch einmal ausführlich auf Hiob zurückkommen.

Wie aber geht ein Profi des Evangeliums nun tatsächlich mit Krankheit und Leid um? Eines wusste ich gleich nach der Diagnose: Jetzt geht es um dich! Und noch etwas war mir vom ersten Moment an klar: Wenn mein Glaube mich nicht durch diese Krise trägt, dann taugt das ganze System nichts. Dann kann ich meine Berufung zurückgeben und den Predigtdienst einstellen. Ich hatte zwar das Studium als »Master« der Theologie abgeschlossen, aber die Meisterprüfung meines Lebens sollte erst noch kommen. Herr P. sollte meinen Glauben testen. Meine Seele hatte das Lachen verlernt und der Unglaube hatte leichtes Spiel.

Wie habe ich diese vorübergehende Schwermut erlebt? Vor allem an der Seite meiner starken Frau, die selbst wenige Jahre zuvor eine Krebserkrankung überlebt hatte. Sie musste damals das volle Programm von Chemo- und Strahlentherapie absolvieren. Ich habe furchtbar gelitten, aber sie hat diese Reifeprüfung tapfer bestanden. Ihr Humor, ihr starker Glaube, ihr zuversichtliches Gebet, das alles war Erbarmen Gottes im Wesen meiner Frau. Sie verstand es, meine verschüttete Zuversicht wieder freizugraben, meinen erstickten Humor neu zu entzünden. Oft saß sie nur schweigend bei mir und hielt mich fest.

Die Ermutigung meiner Kinder und unserer großen Verwandtschaft war die andere Kraftquelle. Menschen mit tiefem Gottvertrauen und viel Empathie schufen ein Netzwerk geistlicher Solidarität. Sie bildeten eine Wand des Glaubens um mich herum, sodass meine Frau und ich wie in einer Burg befriedet waren. Meiner Tränen habe ich mich von Anfang an nicht geschämt. Ich war überwältigt von dieser verlässlichen Anteilnahme, vom stummen Mitleiden, von der spürbaren Kraft des Gebets.

Meine Mitarbeiter schafften es, mich eine Zeit lang völlig vor dem Informationsfluss abzuschirmen. Es geht auch ohne mich – das war eine neue Erfahrung.

So hatte ich auf einmal alle Zeit der Welt zum Schlafen, auch tagsüber. Ich war so antriebslos und kraftlos, dass ich stundenlang auf dem Sofa vor mich hin grübelte. Mein Kopf war eine einzige Filmfabrik. Ich sah mich gekrümmt und vornüberhängend schlurfend im Schneckentempo durch die Stadt ziehen, sah Kinder, die sich über mich lustig machten, Menschen, die hinter mir her glotzten und sich abwandten. Ich sah mich an einem Parkscheinautomat stehen, hinter mir eine Schlange hupender Autos, weil ich das Ticket nicht in den Schlitz bekam.

Ich sehe mich bei Luigi Pasta essen. Das Zeug segelt von der Gabel in die Tomatensauce und bekleckert mein Hemd. In diesem halbwachen Zustand explodiert die Phantasie und macht aus einem halbwegs ansehnlichen Kerl einen Rolli-Kandidaten. Ich, der ich selten geheult habe, tauche in Tränen aus diesen Träumen auf. Welch eine erbärmliche Lebensperspektive. Mein Gott, warum lässt du es zu, dass Herr P. dein Geschöpf so beschädigt?

Es folgten viele Gespräche mit meiner Frau und langsam bildete sich auch eine neue Einsicht in meinem umtosten Gehirn. Womit habe ich es verdient, dass ich 55 Jahre lang kerngesund war, höchst selten mal dem Arbeitsplatz fernbleiben musste? Ich wusste doch gar nicht, was Krankheit heißt. Ich habe nie Kopfschmerzen gehabt, geschweige denn Migräne. Vielleicht habe ich darum so depressiv reagiert. Ich war nicht geübt. Man hatte mich gelehrt, wie man gesund lebt, aber nicht, wie man mit Krankheit umgeht.

Was ich erst mal richtig lernen musste, war Nein zu sagen. »Nein, kommt heute besser nicht vorbei. Bitte hört auf, mir die Leidensgeschichte anderer zu servieren, ich ertrage das nicht! Und verschont mich vor Bioaposteln und Propheten, die mir Heilung versprechen und die neueste Diät oder das beste Pülverchen diskret vermitteln.« Ich weiß, dass sie es alle gut gemeint haben. Aber ich musste lernen, einfach wegzuhören, wenn Hobbymediziner mir was von »Schüben« erzählen wollten. Nein, Schübe gibt es bei MS. Und dass die Oma auch Alzheimer habe und man jetzt schon mit Hirnschrittmachern arbeiten würde und die Story, wo Parkis die Alpen mit Fahrrädern überquert haben. Jeder weiß was, jeder hat was im Radio gehört, im Fernsehen gesehen oder in der Apothekenzeitschrift gelesen. Irgendwann wusste ich, dass ich mich schützen musste vor allzu vielen gut meinenden Ratgebern.

Gerade weil es jeder gut meint, nehme ich mir öfter die Freiheit, Berichte über dramatische Schicksale und Krankheitsverläufe charmant und unmissverständlich zu beenden. Sonst beliefere ich die Horrorfilmfabrik in meinem Kopf mit Drehbüchern, die mir nicht guttun und die keiner braucht.