LANGSAM WIE EIN PLANET SICH DREHT, DREHT SICH DER GROSSE RUNDE TISCH…
… mit der dicken Platte. Darauf ist eine Landschaft aufgebaut mit Bergen und Wäldern, Städten und Dörfern, Flüssen und Seen. Im Zentrum von allem, winzig und zerbrechlich wie ein Figürchen aus Porzellan, sitzt du und drehst dich mit.
Du weißt von der steten Bewegung, doch deine Sinne nehmen sie nicht wahr. Der Tisch steht mitten in einer Kuppelhalle, die sich ebenfalls dreht mit ihrem steinernen Boden, dem Gewölbe, den Mauern, langsam wie ein Planet.
Fern in der Dämmerung siehst du längs der Wände die Schränke und Truhen, die große, alte Standuhr, welche Sonne und Mond zeigt, dazwischen die Wände, die mit Sternen bemalt sind, da und dort ein Komet, und hoch über dir in der Kuppel die Milchstraße. Keine Fenster, keine Tür. Hier bist du sicher, alles ist dir vertraut, alles ist fest gefügt, du kannst dich auf alles verlassen. Das ist deine Welt. Sie dreht sich, und du in der Mitte der Mitte drehst dich stetig mit ihr.
Aber einmal geschieht es. daß ein Erdbeben durch all das geht. Die steinerne Mauer reißt entzwei, ein Spalt, der sich weiter und weiter öffnet. Die gemalten Sterne treten auseinander, und du schaust in etwas hinaus, das deinen Augen so fremd ist, daß sie sich weigern, es wahrzunehmen, eine Ferne, in die dein Blick stürzt, ein leuchtendes Dunkel, ein regloser Sturmwind, ein immerwährender Blitz. Das einzige, woran dein Schauen sich halten kann, ist eine menschliche Gestalt, schräg gegen den unhörbaren Orkan gelehnt, von Kopf bis Fuß in ein Tuch gehüllt, das zu flattern scheint und sich dennoch, wie auf einem Gemälde, nicht regt. Die verhüllte Gestalt steht ruhig da, aber sie steht auf nichts, denn unter ihren Füßen ist der Abgrund. Der Wind hat das Tuch ans Gesicht gepreßt, du ahnst dessen Form. Nun siehst du, wie der Mund hinter der Verhüllung sich bewegt, und du hörst eine tiefe, sanfte Stimme sagen:
«Komm heraus, kleiner Blutsbruder!» «Nein!» schreist du entsetzt, «geh fort! Wer bist du? Ich kenne dich nicht.»
«Du kannst mich nicht erkennen», antwortet dir der Verhüllte, «solange du nicht herauskommst. Also komm!»
«Ich will nicht!» rufst du. «Warum sollte ich das tun?»
«Es ist an der Zeit», sagt er. «Nein», erwiderst du, «nein, das hier ist meine Welt! Hier war ich immer, hier will ich bleiben. Geh weg!»
«Laß alles los!» sagt er, «tu es freiwillig, ehe du es mußt. Sonst wird es zu spät sein.»
«Ich habe Angst!» schreist du ihm zu.
«Laß auch die Angst los!» antwortet er.
«Ich kann nicht», erwiderst du.
«Laß auch dich selbst los!» sagt er.
Jetzt bist du sicher, daß es eine böse Stimme ist, die da zu dir spricht, und du bist entschlossen sie abzuweisen:
«Warum verbirgst du dich und zeigst dein Gesicht nicht? Ich weiß es: Weil du mich vernichten willst. Du willst mich zu dir hinauslocken, damit ich ins Leere falle.»
Er schweigt eine Weile und sagt endlich:
«Lerne fallen!»
Aufatmend siehst du, wie die verhüllte Gestalt aus deinem Blickfeld verschwindet. Aber nicht sie hat sich geregt. Die Kuppelhalle dreht sich langsam weiter und mit ihr der große runde Tisch, auf dessen Mitte du sitzt, klein und zerbrechlich. Und es dreht sich der Riß in der Mauer fort von der Gestalt dort draußen.
Aber etwas ist anders geworden. Der Spalt schließt sich nicht wieder. Und hinter deinen gemalten Sternen, außerhalb deiner festgegründeten, nie bezweifelten Welt bleibt jenes Andere gegenwärtig, das dir alles fragwürdig macht. Du kannst dich dagegen nicht wehren. Aber du bist auch nicht bereit, es gelten zu lassen. Lange verharrst du so im Gefühl, daß dir eine Wunde geschlagen wurde, die nie wieder heilen wird. Nichts wird mehr sein wie früher.
Und dann geschieht es zum anderen Mal, daß die schräg in den reglosen Sturm gelehnte Gestalt in deinen Blick kommt. Sie hat sich nicht entfernt. Sie hat auf dich gewartet.
«Komm!» sagt die sanfte, tiefe Stimme, «lerne fallen!»
Du antwortest: «Schlimm genug, wenn es einem widerfährt, daß er ins Leere stürzt. Aber es selbst zu wollen oder gar es zu lernen, ist frevelhaft! Du bist ein Versucher, ich werde dir nicht folgen. Also geh fort!»
«Fallen wirst du!» sagt der Verhüllte, «und wenn du es nicht gelernt hast, wirst du es nicht können. Also laß alles los! Denn schon bald wird dich nichts mehr halten.»
«Du bist eingebrochen in meine Welt» schreist du ihn an, «ich habe dich nicht gerufen. Gewalttätig hast du zerbrochen, was mein Schutz und mein Eigentum war. Du kannst nur zerstören, was mich trägt, aber du kannst mich nicht zwingen, dir zu gehorchen.»
«Ich zwinge dich nicht», sagt der Verhüllte, «ich bitte dich, kleiner Blutsbruder! Es ist an der Zeit.»
Die Gestalt schweigt, und während sie schon wieder deinem Blick entschwindet, hebt sie die Hand und hält sie dir hin, und dir scheint, du habest im Licht des immerwährenden Blitzes in der Handwurzel das blutige Mal eines Nagels gesehen. Doch dein Blick war schon dabei, sich abzuwenden, und du hast dich weiter gedreht auf deinem Tisch unter der Kuppel.
Du sagst dir, daß all das nur Blendwerk ist. Früher oder später wird der Spalt im Gemäuer sich wieder schließen, als ob er nie gewesen wäre. Und es wird sich zeigen, daß er in Wirklichkeit nie vorhanden war, denn er kann gar nicht da sein, die Mauern sind uralt und unzerstörbar. Was immer gewesen ist, wird immer sein. Alles andere ist Täuschung, wer weiß wodurch entstanden. Man darf sich nicht darauf einlassen. Und dann diese furchtbare Forderung! Enthielt sie nicht sogar eine Drohung? Und wenn du nach der Hand gegriffen hättest, wer sagt dir, daß sie dich halten würde? War sie denn überhaupt ausgestreckt, um dich zu halten? Oder vielleicht nur, um dich herauszureißen aus deiner sicheren kleinen Welt und dich in den Abgrund zu schleudern? Nein, es wird besser sein, du läßt dich von dem dort draußen nicht mehr finden. Mach dich noch kleiner! Verbirg dich vor ihm! Wenn er dich nicht mehr entdecken kann, läßt er vielleicht ab von dir, und alles wird wieder wie einst.
Die Kuppelhalle dreht sich langsam und mit ihr der große runde Tisch samt Städten, Dörfern und Seen und in der Mitte dir selbst. Und noch ein drittes Mal tritt in dein Blickfeld die verhüllte Gestalt im reglosen Sturm vom immerwährenden Blitz erhellt.
«Kleiner Blutsbruder», sagt die Stimme, und diesmal klingt sie mühsam, als spräche sie unter Schmerzen, «hör mich und habe Vertrauen! Du kannst nicht mehr bleiben, wo du bist. Komm heraus!»
«Wirst du mich denn auffangen und halten, wenn ich falle?» fragst du.
Der Verhüllte schüttelt langsam den Kopf.
«Wenn du fallen gelernt hast, wirst du nicht fallen. Es gibt kein oben und unten, wohin also solltest du fallen? Die Gestirne halten sich gegenseitig im Gleichgewicht auf ihren Bahnen, ohne sich zu berühren, weil sie miteinander verwandt sind. So soll es auch mit uns sein. Etwas von mir ist in dir. Wir werden uns gegenseitig halten, und nichts sonst wird uns halten. Wir sind kreisende Sterne, darum laß alles los! Sei frei!»
«Wie kann ich wissen, daß es wahr ist, was du sagst?» rufst du verzweifelt.
«Aus dir selbst», antwortet er, «weil ich in dir bin und du in mir. Auch die Wahrheiten halten sich gegenseitig und stehen auf nichts.»
«Nein!» schreist du, «das ist nicht zu ertragen! Gibt es denn keine Rettung vor dir? Was liegt dir an mir? Warum läßt du mich nicht in Frieden hier bleiben, wo ich bin? Ich will deine Freiheit nicht!»
«Du wirst frei sein», sagt er, «oder du wirst nicht mehr sein.»
Danach hörst du etwas, das wie ein Seufzen klingt. Die Mauern beben davon und bewegen sich, und langsam schließt sich der Riß, ganz wie du es dir gewünscht hast. Du könntest zufrieden sein, aber das dauert nicht lang.
Etwas geht vor um dich her, das du erst nach und nach begreifst. Deine vordem vertraute Welt ist dir nicht mehr vertraut. Sie wendet sich gegen dich. Schatten senken sich aus der Kuppelhalle, graue hungrige Nebelgestalten, kleine und große Gesichter, die da sind und dann wieder nicht da, ein aufgeregtes huschendes Gewimmel von Gliedern und Leibern, die zerfließen und sich immer von neuem formen. Was tun sie? Wer sind sie? Wo kommen sie her? Sie steigen aus den Truhen und Schränken auf, aus der Uhr, aus den Mauern selbst, aus allem, worin du dich sicher und geborgen wähntest. Das alles hat keinen Bestand mehr, es vernichtet sich selbst.
Und während die Kuppelhalle sich langsam dreht um dich als kleine, zerbrechliche Mitte, mußt du geschehen lassen, was geschieht. Du hast es ja selbst hervorgerufen. Aber noch haben sie Angst vor dir, ihrem Erzeuger, so scheint es wenigstens. Sie drängen sich in die äußersten Ecken und an den Wänden entlang. Sie pressen sich an die steinernen Mauern, sie lecken gleichsam mit ihren ganzen nebligen Körpern die Wände hinauf und hinunter, und die gemalten Sterne verblassen. Wo sie vorüberstreichen, wird das Gefüge undeutlich, nebelhaft wie sie selbst. Sie rauben deiner Welt ihre Wirklichkeit, sie saugen ihr die Substanz aus, sie machen sie zum Gespenst einer Welt. Sie löschen sie aus, weil es sie niemals gab.
Doch scheinen sie unersättlich, denn langsam kommen sie immer näher zu dir heran. Nur der Tisch mit der dicken Platte und der Landschaft darauf dreht sich und dreht sich noch immer und du mit ihm in der Mitte. Du begreifst, sie werden auch dich auslöschen, weil es dich niemals gab.
Nun fühlst du Hammerschläge, doch ist kein Laut zu hören. Was tun sie da? Sie treiben ein Rohr quer durch das Plattenrund von einer Seite zur anderen, eine mühsame Arbeit, doch sie ermüden nicht. Und dann, als das Rohr zu beiden Seiten herausragt, beginnt etwas fortzurinnen und rinnt immer weiter, und sie lecken es auf, gierig wie Hunde. Und du fühlst, als sei es dein eigenes Blut, das da ausrinnt, wie das Rund unter dir unwirklicher wird von Herzschlag zu Herzschlag. Jetzt packt dich hilfloses Entsetzen.
«Blutsbruder!» rufst du mit einer winzigen, dir selbst kaum hörbaren Stimme, «rette mich! Lehre mich fallen!»
Aber die Mauer öffnet sich nicht, weil sie nicht mehr da ist. Und bald wird es nichts mehr geben als den Abgrund. Du wirst fallen und falle, ohne es gelernt zu haben, und du wirst suchen in dir nach dem, was mit deinem Blutsbruder verwandt ist, wie die Gestirne es sind, die sich gegenseitig auf ihren Bahnen halten, denn nichts sonst wird dich halten, und an nichts anderes wirst du dich halten können. Doch wirst du es können? Da du es nicht gelernt hast, wirst du es können?
Nun ist alles verschwunden.
Es ist an der Zeit.
Jetzt!