DER MARMORBLEICHE ENGEL SASS UNTER DEN ZUHÖRERN IM GERICHTSSAAL…

… als Zeuge der Verhandlung. Er hatte in der ersten Reihe rechts unter dem großen Fenster Platz genommen. Seine enormen Schwingen ragten nach hinten über die Lehne seines Sitzes und beanspruchten noch die beiden Plätze in seinem Rücken. Da er gut zwei Köpfe größer war als die übrigen Zuhörer, behinderte er viele in der Sicht, doch keiner beschwerte sich darüber. Niemand schien ihn zu bemerken. Im Gegenteil, ein sehr dickes Weib mit erdbraunem Gesicht lehnte sich immer wieder schnarchend gegen ihn, als sei er eine Säule. Obgleich seine beengte Position ihm zweifellos Pein verursachen mußte, war seinem vollkommen statuenhaften, strengen Gesicht keine Gemütsbewegung anzusehen. Er saß aufrecht und reglos, alles an ihm schien aus weißem Stein. Im ganzen erweckte er den Eindruck einer übergroßen Friedhofsplastik. Nur seine weltraumdunklen Augen verfolgten mit ruhiger Sammlung alles, was vorging.

Der Saal, in dem die Verhandlung stattfand, war sehr groß. Nach hinten stiegen die Sitzreihen im Halbrund geschwungen an und verschwammen droben in Ungewissem Dämmerlicht. Ein vielstimmiges leises Murmeln, Husten, Flüstern erfüllte die Luft. Die Reihen waren dicht besetzt, und die Gesichter der Menge, zahllose weiße Flecken, schwankten beständig hin und her wie ein Schilfmeer im Wind.

Anstelle des Richtertisches war an der Stirnseite des Saales ein rohes Balkengerüst von etwa vier Metern Höhe errichtet worden. Eine Treppe aus zusammengenagelten Brettern führte zu einer geländerlosen Plattform hinauf, auf welcher nur ein kleiner Tisch, dahinter ein Stuhl stand.

Rechts und links von diesem Gerüst, aber ein wenig nach vorn versetzt, erhoben sich zwei schmale, ebenfalls ohne Sorgfalt zusammengezimmerte Türme aus Brettern und Balken, die jeweils in Rednerkanzeln gipfelten. Zwischen diesen Türmen verlief gleichsam als Verbindungsstück eine lange, niedrige Holzbank.

Alles war für die Verhandlung bereit, aber noch ließ der Beginn auf sich warten. Das Publikum schien sich indessen nicht weiter zu beunruhigen, ja, es konnte fast scheinen, als interessiere es sich kaum für das, was dort vorne geschehen sollte. Jeder war viel zu sehr ins geraunte Gespräch mit seinem Nachbarn vertieft. Nur der Engel hielt den übergroßen Blick mit der unverbrüchlichen Aufmerksamkeit seiner Artgenossen auf den noch leeren Schauplatz geheftet, als sähe er jetzt schon, was kommen würde.

Endlich öffnete sich eine kleine Tür in der Stirnwand links neben dem Balkengerüst, und herein marschierten einer hinter dem anderen zehn, zwölf Männer und Frauen in apfelgrünen Kitteln mit kurzen Ärmeln, Käppchen von der gleichen Farbe auf den Köpfen. Manche hatten weiße Binden vor Mund und Nase, alle trugen Gummihandschuhe. Sie stellten sich in einer Reihe vor die Bank zwischen den beiden Holztürmen, dann, als sie vollzählig waren, setzten sie sich gleichzeitig nieder. Einige unter ihnen flüsterten den Nebensitzenden etwas zu, diese gaben die Botschaft weiter, und schließlich wandten alle ihre Blicke auf den Engel. Der starrte sie reglos wie aus weiter Ferne an, und einer nach dem anderen senkten sie die Gesichter.

Plötzlich schrillte ohrenbetäubend eine elektrische Klingel, was jedoch von der Menge der Zuschauer kaum zur Kenntnis genommen wurde. Das allgemeine Gemurmel, Geflüster und Gehuste ging unvermindert weiter. Dann wurde die Tür nochmals aufgerissen, und herein stürmten zwei Personen in wehenden, schwarzen Talaren. Eine davon war eine Frau mit kurzgeschnittenen graumelierten Haaren und einem leichten Schnurrbartanflug, die andere ein untersetzter, rotgesichtiger Mann mit spiegelnder Glatze. Blitzschnell, als ginge es auf einmal um jede Sekunde, kletterten sie die beiden Türme zur Linken und Rechten empor und bezogen Stellung in den Rednerkanzeln, wo sie wild in allerlei Papieren zu blättern begannen. Dazwischen warfen sie sich hin und wieder kampfbereite Blicke zu. Einmal spähte die Frau in die Menge der Zuschauer, bis sie den Engel entdeckte. Sie nickte ihm verheißungsvoll zu, hob beide Hände, legte die Daumen ein und drückte sie. Der Engel gab kein Zeichen des Erkennens oder Verstehens. Der Glatzkopf bemerkte die Geste seiner Kollegin und suchte seinerseits im Publikum die Person, der sie gegolten hatte. Als er den Engel sah, zog er unwillig die Brauen zusammen, schüttelte den Kopf und wühlte dann wieder in seinen Akten.

Noch einmal schrillte die entsetzliche Klingel. Die kleine Tür öffnete sich, und herein schob sich eine monströse Gestalt, langsam und mit kleinen ruckartigen Schrittchen. Sie war derartig ausstaffiert, daß sie nur seitwärts, und auch das nicht ohne Umstände, durch die Öffnung kommen konnte. Sie trug eine Art von zinnoberrotem Kimono, der allenthalben mit gestärkten Draperien versehen war. Die Füße blieben unsichtbar, da das Gewand nicht nur bis zum Boden reichte, sondern noch meterlang nachschleifte. Die ungewöhnliche Größe der Gestalt, wie auch die unsichere Art des Ganges, ließen darauf schließen, daß sie auf hohen Kothurnen stand. Haupt und Gesicht waren von einem bienenkorbartigen rotlackierten Weidengeflecht verhüllt. Sichtbar waren nur die Hände, die klein und weiß und mit gespreizten Fingern aus den Stoffmassen hervorragten und lange, spitze Nägel hatten.

Mit drohender Würde wankte die Gestalt vorwärts und drehte sich suchend um sich selbst. Offenbar konnte sie nichts sehen. Einige der Personen in apfelgrünen Kitteln sprangen auf, eilten hinzu und geleiteten die Gestalt ehrerbietig zu dem mittleren Gerüst. Auch die anderen hatten sich erhoben, und sogar die schnurrbärtige Frau und der Glatzkopf in ihren Rednerkanzeln beobachteten mit Respekt, wie die Gestalt nun unendlich langsam die improvisierte Treppe zur Plattform hinaufklomm. Dort angelangt, ließ sie sich gravitätisch auf den Stuhl hinter dem kleinen Tisch nieder, hob das Korbgeflecht von ihren Schultern und stellte es neben sich auf den Boden. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war kalkweiß, der Kopf von einer ungeheuren" grauen Mähne umgeben. Gerade wegen der gewaltigen Aufmachung wirkte das Gesicht merkwürdig klein und puppenhaft. Es starrte ausdruckslos vor sich hin.

Die Leute in den grünen Kitteln setzten sich wieder. Die Frau im schwarzen Talar machte eine kleine Verbeugung gegen die Gestalt auf der Plattform und begann zu sprechen. Ihre Stimme war tief und ein wenig heiser und deshalb im allgemeinen Gemurmel des Auditoriums nur schwer zu hören.

«Es handelt sich um den Antrag dreiundsiebzig Strich achthundertneun römisch fünf Ypsilon einundneunzig. Die bis jetzt noch namenlose Person bittet um die Genehmigung, sich verkörpern zu dürfen. Wie aus den beigefügten Unterlagen hervorgeht, gibt es keinen Grund, ihr diese Genehmigung zu verweigern. Ich ersuche also das hohe Gericht um einen positiven Entscheid.»

«Ich halte Ihnen vor», rief der Glatzköpfige in der anderen Kanzel mit einer überraschend hohen, schneidenden Stimme und schwenkte dabei ein Schriftstück hin und her, «daß die namenlose Person nach diesen offiziellen Sachverständigengutachten bereits ohne jede Genehmigung ihre Verkörperung eingeleitet hat. Schon allein damit verstößt sie gegen den Paragraphen siebenhundertzwölf Absatz drei der Zulassungsregelung. Solche vollendeten Tatsachen werden geschaffen, um das Gericht zu beeinflussen und die übrigen Beteiligten zu erpressen. Das hohe Gericht wird sich davon nicht beeindrucken lassen und den ungerechtfertigten Antrag zurückweisen.»

«Es ist allerdings richtig», erwiderte die Frau, «und übrigens von unserer Seite auch niemals bestritten worden, daß die ersten Schritte der Verkörperung bereits eingeleitet wurden. Wie wir aber in unserer Begründung ausführlich dargelegt haben, ging der Antragsteller dabei von der Voraussetzung aus, daß das hohe Gericht die absolute Notwendigkeit der Einhaltung eines bestimmten Zeitpunktes der Verkörperung erkennen wolle.

Es ist ja ganz klar, daß gewisse Bedingungen nur zu einem gewissen Zeitpunkt vorhanden sind. Ein Vorwegnehmen oder Verzögern der Verkörperung würde zu völlig anderen Bedingungen führen und damit den ganzen Sinn der Verkörperung vereiteln oder zumindest aufs Höchste gefährden. Das aber würde eine völlig ungerechtfertigte Benachteiligung des Antragstellers bedeuten, die dem Anspruch auf Gleichheit nicht gerecht wird. Das hohe Gericht kann sich schließlich nicht selbst eines Vergehens schuldig machen, das es an anderen zu ahnden verpflichtet ist. Wir bleiben also bei unserem Antrag und erwarten einen positiven Entscheid.»

«Unsinn!» fiel ihr der Glatzköpfige ins Wort. «Ein Zeitpunkt ist so gut wie ein anderer! Andernfalls wäre ja eine Bevorzugung oder Benachteiligung aller Antragsteller sozusagen naturgegeben. Die Bedingungen, von denen die verehrte Kollegin da redet, sind zwar zweifellos vorhanden, aber in ihrem positiven oder negativen Wert für den Sich-Verkörpernden niemals vorweg erkennbar. Mit anderen Worten: Ob der Augenblick einer Verkörperung für eine Person günstig oder ungünstig ist, kann sich immer erst nachträglich zeigen - oft sogar erst nach dem Ende der Verkörperung. Wir wollen doch hier keinem falschen Mystizismus huldigen! Wo kämen wir hin, wenn wir die Verkörperung sozusagen kosmisch programmieren wollten! Das ist einfach lächerlich!»

«Lächerlich», rief die Frau, die sich nun auch langsam erhitzte, «ist Ihre mechanistische und materialistische Denkweise, Herr Kollege! Lächerlich und - schlimmer noch - zynisch! Denn Ihr Zufallsprinzip widerspricht der menschlichen Würde! Der Mensch ist kein Kaninchen! Das Wesen des Menschen liegt in seinem Schicksal! Es ist einmalig und hängt deshalb von einmaligen Bedingungen ab! Deshalb ist es ebenso verbrecherisch, eine Verkörperung zu vereiteln, wie eine schon bestehende zu vernichten. Es ist Mord, Herr Kollege! Mein Mandant hat seine Verkörperung seit Jahrhunderten vorbereitet. Er hat seine Urgroßeltern zusammengeführt und seine Großeltern und nun seine unmittelbaren Erzeuger. Eine unvorstellbare Leistung an Genauigkeit in allen Einzelheiten war dazu notwendig! Wenn sein Urgroßvater sich nicht an jenem bestimmten Tag einen Zahn hätte ziehen lassen, so wäre er der entsprechenden weiblichen Person nicht begegnet, die nur auf der Durchreise bei jenem Dorfbader einkehrte, um sich ein Pflaster für ihre wundgelaufene Ferse zu besorgen. Wären sie sich nicht begegnet, so hätten sie nicht geheiratet und Kinder gezeugt, Kinder, unter denen wiederum ein Mädchen war, das die Großmutter des jetzigen Antragstellers wurde - oder werden soll. Tausende, Millionen solcher Einzelheiten wären hier aufzuzählen. Und Sie wollen dieses Wunderwerk an Kausalität vernichten? Sie wollen dem Antragsteller im letzten Augenblick die Tür vor der Nase zuschlagen? Sie wollen ihn zwingen, diese ganze mühevolle Arbeit wieder von vorn zu beginnen? Mit welchem Recht? Und selbst wenn er die Arbeit von neuem beginnt, ihr Ergebnis kann und wird nie wieder das sein können, was es jetzt ist. Mein Mandant wird der Welt vielleicht etwas zu geben haben, was er nur jetzt und nur unter den gegebenen Bedingungen kann. Denken Sie an die großen Heiligen, die Genies, die Heroen unserer Geschichte! Was wäre aus der Welt geworden, wenn man auch nur einem einzigen von ihnen das Recht zur Verkörperung verweigert hätte? Wie wollen Sie das verantworten?»

«Und wer sagt Ihnen, verehrte Frau Kollegin», schrie der Glatzkopf rot im Gesicht zurück, «daß nicht gerade Ihr Mandant einer der größten Verbrecher aller Zeiten, ein Fluch für die Menschheit werden wird? Wäre es da nicht besser, ihm das Recht auf Verkörperung zu verweigern? Was Sie da vorbringen, sind doch alles haltlose Hypothesen! Wann und unter welchen Bedingungen eine Person sich verkörpert, ist so zufällig wie die Lage der Karten in einem Spiel. Sie sprechen von Verantwortung! Sie sprechen von Menschenwürde! Als ob uns nicht viel mehr als Ihnen darum zu tun wäre! Gerade das, was Sie vortragen. verehrte Frau Kollegin, führt uns in letzter Konsequenz zur vollkommenen Verantwortungslosigkeit. weil es uns jede vernünftige Entscheidung unmöglich macht. Wo alles auf geheimnisvolle Art sinnvoll ist, sogar der gezogene Zahn eines Urgroßvaters, da ist eben nichts mehr sinnvoll, da ist auf fatale Art alles gleichgültig! Sie wissen und wir alle wissen, daß es schon längst viel zu viele Menschen auf unserer Welt gibt. Es wäre wahrhaftig verantwortungslos, jeden Antrag auf Verkörperung wahllos zuzulassen. Damit würden wir das Gegenteil von dem erreichen, was Sie, Frau Kollegin, so eindrucksvoll postuliert haben: den Schutz der menschlichen Würde! Wir haben die Verantwortung, weil wir die Mittel einzugreifen haben. Dieser Verantwortung können wir uns nicht mit ein paar frommen, aber wohlfeilen Argumenten entziehen! Und ihr Mandant, verehrte Kollegin, ist nun einmal nach unserer Verkörperungsregelung überzählig! Persönlich bedauere ich die Härte, die uns die Notwendigkeit in solchen einzelnen Fällen aufzwingt, aber ich bin von ihrer Vernünftigkeit überzeugt. Der Antrag muß zurückgewiesen werden.»

An dieser Stelle wurde den beiden Rednern das Wort durch neuerliches Schrillen der elektrischen Klingel abgeschnitten. Sie verstummten und wühlten beide mit grimmigen Gesichtern in ihren Dokumenten, wobei sie besorgte Blicke zu den Leuten in den apfelgrünen Kitteln hinunterwarfen. Diese berieten unhörbar, nickten, gestikulierten und schüttelten die Köpfe. Schließlich hatten sie einen unter sich ausgewählt, einen jungen Mann, der sich nun langsam erhob und mit gesenktem Kopf und hängenden Armen dastand wie ein Verurteilter. Er nahm die Binde von Mund und Nase, und man sah, daß er bleich geworden war. Mit müden Schritten ging er zu der kleinen Tür und verschwand.

Das massige Weib neben dem Engel war für kurze Zeit aufgewacht und hatte den Vorgang verfolgt. Jetzt seufzte es begeistert:

«Ah - ein Gottesurteil!»

Dann sank es mit interessiertem Gesicht wieder in Schlaf.

Der Engel, der sich die ganze Zeit nicht geregt hatte, hob den Kopf und blickte zur Fensternische, unter der er saß, hinauf, denn er fühlte, daß etwas auf ihn heruntertropfte. In der Tat stand dort ein großes gläsernes Gefäß, das er vorher nicht bemerkt hatte. Es war voll Tinte. Vielleicht hatte das überlaute Schrillen der Klingel das Glas zerspringen lassen, jedenfalls sickerte nun der Inhalt durch einen Sprung heraus und tropfte auf die Flügel und das Gewand des Engels. Doch der regte sich auch jetzt nicht, sondern ließ es geschehen, daß die schwarzblaue Flüssigkeit ihn besudelte und in langen Streifen an ihm herunterlief. Sein dunkler Blick war wieder starr auf die kleine Tür gerichtet.

Diese öffnete sich nach kurzem, und eine junge Frau kam herein. Sie hatte ein langes weißes Hemd an und trug in den Händen vorsichtig eine porzellanene Waschschüssel, die mit einem ebenfalls weißen Tuch zugedeckt war.

Vor dem mittleren Balkengerüst angekommen, drehte sie den Zuschauern den Rücken zu, straffte sich in den Schultern, blickte zu dem Rotgewandeten hinauf und zog dann mit einem entschlossenen Ruck das Tuch von der Schüssel. Diese war fast bis zum Rand mit warmem, noch dampfendem Blut gefüllt, in dem, nur halb erkennbar, irgendwelche Organe schwammen.

Im selben Augenblick fuhr der Rotgekleidete von seinem Stuhl auf, sein Puppengesicht verzerrte sich zu einer schreckenerregenden Grimasse der Gier oder der Wut, er stieß den kleinen Tisch beiseite, so daß dieser polternd und krachend die Stufen hinunterschlug, dann fuhr er selbst mit unbegreiflicher Schnelligkeit herab und blieb unmittelbar vor der jungen Frau stehen, die ihn gelähmt vor Entsetzen anstarrte. Der Rotgewandete machte einige tanzartige, greifende Bewegungen in der Luft, während sein Gesicht sich nun völlig entstellte und nichts menschenähnliches mehr hatte. Dann brach er plötzlich los, fuhr mit den Händen in die Schüssel, als suche er etwas Bestimmtes, fischte ein Organ heraus, das vielleicht ein winziges Herz war und stopfte es sich gierig in den Mund und schlang es hinunter. Er wühlte von neuem in der Schüssel, dabei bespritzte er die Trägerin mit Blut. Kaum war das geschehen, warf er, was er in den Händen hielt, fort und zeigte stieren Blickes, keuchend und gurgelnd, mit seinen bluttriefenden Fingern auf die roten Flecken auf dem Hemd der jungen Frau. Er ballte seine Rechte zur Faust, schlug zu und traf sie mit solcher fürchterlichen Wucht gegen die Schläfe, daß sie ohne einen Laut tot zu Boden stürzte. Die Porzellanschüssel zerschellte.

Der Engel war bei diesem entsetzlichen Schauspiel in die Höhe gefahren und stand nun in seiner ganzen Größe da. Der Rotgekleidete wandte sich um und blickte mit gebleckten Zähnen nach ihm hin. Als er die schwarzblauen Flecken auf der marmorweißen Gestalt sah, näherte er sich ihr, zeigte mit seinen besudelten Fingern auf die Flecken, ballte von neuem die Faust und holte zum Schlag aus. Da öffnete der Engel weit den Mund und stieß ein Brüllen aus, das wie das Bersten einer großen Bronzeglocke klang. Einen Augenblick lang schien die Welt bei diesem Schrei stille zu stehen.

Der Rotgekleidete löste sich aus seiner Erstarrung, machte ein paar taumelnde Schritte, und während sein Gesicht wieder den puppenhaften Ausdruck annahm, ja geradezu bekümmert wirkte, beugte er sich nieder und begann, an den dunklen Flecken herumzureiben, wobei seine Lippen sich zitternd bewegten und beinahe unverständlich stammelten:

«Verzeih mir bitte… ich war nur ein wenig verwirrt… es tut mir leid…»

Der Engel stand noch immer reglos und hatte die Augen geschlossen. Es war, als ginge eine Erschütterung durch seinen Körper, ein lautloses, krampfhaftes Schluchzen.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er den Rotgewandeten bei der Leiche der jungen Frau am Boden hocken und deren Gesicht zärtlich streicheln. Um die beiden standen jetzt fünf Kinder in einem weiten Kreis, welche Holzschwerter wie zum Salut senkrecht vor ihre Gesichter hielten.

«Wie schön!» murmelte das massige Weib mit dem erdbraunen Gesicht hinter dem Engel, «die Kinder halten die Totenwache bei den Opfern und den Schuldigen…»

Und mit befriedigtem Seufzen glitt sie wieder in Schlaf.

Das übrige Publikum schien die Vorgänge kaum bemerkt zu haben. Es bot nach wie vor den Anblick eines grauen, leicht vom Winde bewegten Schilfmeeres.