Juli 1153 – Askalon
Zwei lange Tage und Nächte hatten Anselm und Matthäus nun in diesem Loch verbracht, was ihnen wie eine Ewigkeit erschien. In Gegenwart von Khaled, der fünfmal am Tag auf einer zerlöcherten Strohmatte zu Allah betete und danach mitunter in eine meditative Sprachlosigkeit verfiel, hatte Anselm sich aussichtslosen Fluchtplänen hingegeben, die der Assassine als idiotisch verwarf, kaum dass Anselm sie ausgesprochen hatte.
Und so hockte Anselm die meiste Zeit frustriert auf dem stinkenden Boden und starrte in ein stinkendes Nichts.
Plötzlich waren Schritte zu hören, und ein Schatten senkte sich über die verwaiste Tür ihres Gefängnisses. Anselm sah auf und entdeckte zwei Kerkerwächter, die sich an dem Schloss zu schaffen machten.
Einer der beiden Soldaten fixierte Matthäus mit einem Grinsen. Anselm verstand nicht, was der Wachmann seinem Kameraden zuraunte, aber Khaled, der nicht weit von ihm entfernt unvorsichtigen Ratten auflauerte, schien im Bilde zu sein. Der Assassine hob kaum merklich den Kopf, und Anselm beobachtete, wie sich seine sehnigen Muskeln anspannten, als der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Der zweite Wachsoldat hatte seinen Krummsäbel gezückt und warf einen misstrauischen Blick in die Zelle.
Khaled hatte Anselm erzählt, dass manche Gefangene aufgrund ihrer Verzweiflung enorme Kräfte entwickelten. Sein Vorgänger hatte einer unvorsichtigen Wache das Genick gebrochen, als der Mann bei der Essensverteilung den Gitterstäben zu nahe gekommen war. Natürlich hatte der Mitgefangene dafür mit dem Leben bezahlt. Angeblich |468|hatte man ihm bei lebendigem Leib den Hoden abgeschnitten und ihm dann den Bauch aufgeschlitzt und seine Eingeweide an die Hunde verfüttert. Zur Abschreckung all jener, die gedachten, etwas Ähnliches zu versuchen.
Anselm fragte sich, was die Soldaten von ihnen wollten und was Khaled vorhatte. Denn dass der Assassine etwas im Schilde führte, konnte er förmlich spüren.
»Was wollen die hier?«, flüsterte Anselm. Nervös schaute er zu den beiden Soldaten hin, als der Erste die Tür öffnete, und der andere ihn sicherte.
»Wahrscheinlich kommen sie, um den Jungen zu holen«, murmelte Khaled ohne sichtbare Regung. »Der Leibdiener des Wesirs bevorzugt junges Geflügel, besonders wenn es blond und männlich ist und aussieht wie ein Engel. Wundert mich sowieso, warum man den Burschen in dieses Verlies gesteckt hat. Normalerweise findet sofort bei Ankunft der Gefangenen eine Auslese statt. Frauen und Kinder werden gewöhnlich als Sklaven gehalten, um im Palast zu dienen, aber die Aufgaben, die sie dort erhalten, bringen sie in der Regel nicht um …«
Anselm hielt den Atem an. Nicht zu wissen, was Hannah, Freya und Amelie widerfahren war, quälte ihn schon genug, aber dass der Junge wegen ihm seine Unschuld verlor, war nicht zu ertragen. Noch lag Matthäus auf der anderen Seite des Käfigs und verschlief eingerollt wie eine Katze den Tag.
Anselm wollte aufspringen und kämpfen, doch sein arabischer Bruder hielt ihn mit erstaunlicher Kraft zurück.
»Warte«, flüsterte er. »Lass sie näher herankommen. Wenn der Junge wach wird und sich wehrt, haben wir eine Chance, sie zu überwältigen.«
Ohnmächtig beobachtete Anselm, wie Matthäus instinktiv erschrak, als eine Hand grob nach seinem Arm packte. Bevor er mit einem erstickten Schrei aufsprang, um zwischen Anselm und Khaled eine trügerische Sicherheit zu suchen, hatte ihn der fatimidische Soldat schon um die Taille gepackt und hielt ihn fest. Doch Matthäus hatte seine Lektionen in der Templer-Komturei von Bar-sur-Aube gründlich gelernt. Er trat den Angreifer vor das Schienbein und schnappte mit den Zähnen nach seiner Hand, wobei er dessen Daumen erwischte und mit einer solchen Wucht zubiss, dass der Soldat ihn fluchend losließ. Matthäus |469|rannte panisch in den hinteren Teil des Verlieses, um sich den Blicken der Soldaten zu entziehen. Während der erste Soldat noch mit seiner Wunde beschäftigt war, trat der zweite hinzu, um Matthäus mit erhobenem Säbel zu folgen.
Khaled stellte ihm ein Bein. Der Mann ging zu Boden und verlor dabei seine Waffe. »Jetzt!«, zischte er Anselm ins Ohr. Ohne Vorwarnung wurde er von Khaled am Arm gepackt und in eine Schlacht mitgerissen, deren Verlauf ihn völlig überrollte. In einer unmenschlichen Geschwindigkeit, die er seinem nackten, total abgemagerten Leidensgenossen niemals zugetraut hätte, ergriff Khaled den am Boden liegenden Säbel und enthauptete die beiden überraschten Wachen in zwei blitzschnellen Drehungen mit einer solchen Wucht, dass deren Blut gegen die Kerkerwände spritzte.
All das geschah in beinahe völliger Lautlosigkeit, und bevor Anselm sich die Frage stellte, was als Nächstes passieren würde, vernahm er ein: «Fass mit an!«
Gemeinsam zogen sie die Leichen in den hinteren Teil der Kammer, wo sie für einen Moment in der Düsternis verschwanden. Matthäus war am ganzen Leib zitternd hervorgetreten und versuchte zu helfen, indem er auf Khaleds Befehl die Köpfe der beiden Söldner nach einem Moment des Zögerns mit spitzen Fingern an den Haaren fasste und dem Assassinen hinterhertrug.
Anselm schaute sich aufgeschreckt um, während Khaled ihn anwies, den Säbel des zweiten Toten an sich zu nehmen.
Danach riss Khaled einer der Wachen Hose und Hemd vom Leib und schlüpfte hinein. Beide Kleidungsstücke waren zu groß, so dass er sie mit einem ledernen Gürtel auf Taille fixieren musste, den er einem der Kerle als Erstes genommen hatte. Die halbhohen Stiefel des Mannes zog er nicht an, sondern schnürte sie an den Riemen zusammen und band sie an den Gürtel. In einer fließenden Bewegung entledigte er sich mit dem Dolch des zweiten Soldaten seiner viel zu langen Barttracht, indem er die Haare zwei Finger breit vom Kinn entfernt kappte. Auch seine langen, verfilzten Haupthaare stutzte er mit wenigen Handgriffen bis auf Schulterlänge.
»Ich denke, ich bin hübsch genug, damit wir ausgehen können.« Mit einem Augenzwinkern klopfte Khaled dem immer noch völlig paralysierten Matthäus auf die Schulter und drückte ihm einen Dolch in die |470|Hand. »Zu deinem Schutz«, raunte er und fügte hinzu: »Gut gemacht, Junge.«
Dann wandte er sich, ohne zurückzuschauen, dem Ausgang des Käfigs zu, dessen Gittertor weit offen stand. »Kommt«, sagte er und bedeutete Anselm und Matthäus, ihm zu folgen.
»Wohin?« Anselm zögerte einen Moment und horchte auf das Stöhnen und Jammern aus den anderen Verliesen, das den Kampf und die Gegenwehr der Wachen übertönt hatte. Obwohl sich nun eine Chance auftat, diesem Rattenloch zu entkommen, packte ihn die Angst, dass man sie erwischen könnte, und an das, was danach geschah, wollte er lieber gar nicht denken. Draußen vor dem Gefängnis patrouillierten Dutzende von blutrünstigen Fatimiden. Die Männer zu überwältigen wäre mit Khaleds Talenten vielleicht möglich gewesen, aber die Festung zu verlassen erschien angesichts der hohen Mauern und verschlossenen Tore illusorisch.
»Vertrau mir, Anselm.« Khaled warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Kannst du schwimmen?«
»Klar.«
»Und der Junge?«
»Ich denke schon?« Anselms Blick wanderte zu Matthäus, der zögernd nickte.
»Allah wird uns helfen.« Khaled blickte kurz zur Decke des Verlieses und deutete dann auf den Latrinenschacht, in dem ein blaugrünes Licht schimmerte. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sich Anselm an den Timeserver erinnert. Bevor er verstand, was Khaled vorhatte, begann der Assassine mit bloßen Händen das Gitter am Boden aufzustemmen.
»Hilf mir«, befahl Khaled, der das schwere, kreisförmige Gitter an einer Seite bereits angehoben hatte, es jedoch alleine nicht schaffte, das schwere Teil vollständig zur Seite zu hieven.
Anselm zögerte nicht, aber augenblicklich wurde ihm bewusst, dass er mit seiner Flucht die Frauen nicht nur im Stich lassen, sondern sie auch in Gefahr bringen würde. »Ich kann nicht«, stieß er hervor, wobei er gleichzeitig mit Khaled das Gitter aus einer Verankerung katapultierte. Unter ihnen brodelte in etwa drei Meter Tiefe der Zulauf zum Meer.
»Was willst du denn? Es geht doch«, bemerkte der Assassine zufrieden.
»Das meine ich nicht«, erwiderte Anselm nervös. »Was wird aus meinen |471|drei Begleiterinnen? Ich kann sie doch nicht einfach hier zurücklassen.«
»Sind sie schön?« Khaled blickte kurz auf, während er das Gitter so weit zur Seite schob, dass sie ohne Probleme durch den Zugang passten.
»Mehr als das.« Anselm schüttelte es bei dem Gedanken, die Frauen könnten für ihre Flucht mit Folter und Tod büßen.
»Dann mach dir keine Gedanken«, beruhigte ihn Khaled mit einem Grinsen. »Das Schlimmste, was ihnen passieren kann, ist, dass sie von Wesir al-Russak oder seinen Lakaien gevögelt werden. Kein vernünftiger Mann würde eine schöne Frau töten, die ihm die Befriedigung seiner Lust verspricht.«
Anselm hatte nicht das Gefühl, dass ihn dieser Gedanke beruhigte.
»Wenn wir jetzt nicht verschwinden«, beschwor ihn Khaled, »werden sie uns schnappen und auf der Stelle töten.« Mit einem Blick auf Matthäus, der vor Aufregung schlotterte, bedurfte es keiner weiteren Argumente mehr, Khaled zu folgen.
Nacheinander tauchten sie in das warme, salzhaltige Wasser, das von einer Landzunge her durch einen unterirdischen Zufluss rauschte. Prustend kam Anselm zu Tage, wegen des umherschwimmenden Unrats bemüht, kein Wasser zu schlucken. Im Zwielicht der Höhle erfasste ihn Erleichterung, als er den Kopf des Jungen erblickte, der sich paddelnd wie ein Hund über Wasser hielt. Matthäus hatte den Sprung ebenfalls ohne Probleme überstanden. Er schwamm auf Anselm zu und klammerte sich mit einer Hand an dessen Schulter. Khaled tauchte neben ihnen auf und sah mit einem Mal viel jünger aus, nachdem er sich den Dreck aus dem Gesicht gewaschen und die Haare zurückstrichen hatte. »Folgt mir!«, befahl er ihnen und war schon wieder unter der Wasseroberfläche verschwunden, um sich mit einem kraftvollen Stoß, Richtung Höhlenausgang zu bewegen.
Anselm sah noch einmal nach oben, zu dem breiten Loch hinauf, wo sich düster der Kerker erstreckte.
»Halt dich an mir fest!«, empfahl er Matthäus, und dann schwamm er, den Jungen im Schlepptau, dem Assassinen hinterher.
Freya hatte das Unglück früh genug kommen sehen, obwohl auch sie die Geschichten aus den Frauenhäusern der Heiden nur vom Hörensagen kannte.
|472|Seit zwei Tagen waren sie nun in dieser Festung gefangen, und nachdem man sie zu Beginn untersucht und nach ihrer Herkunft befragt hatte, führte man sie wenig später in einen prunkvoll ausgestatteten Palast, in dem ausschließlich Frauen ihr Dasein fristeten – oder Männer, die nach einer Kastration keine richtigen Männer mehr waren. Zunächst hatte man ihnen aufgetragen, sich zu waschen, und ihnen neue, saubere Kleidung zugeteilt. Erst am Abend des darauffolgenden Tages führte sie die ältere Frau, die sie im Palasthof in Empfang genommen hatte, in einen dampfenden Hamam, wo man sie aufforderte, ihre Kleider wieder abzulegen und ausschweifend zu baden. Freya staunte, als sie an den Wänden der Badestube die türkis leuchtenden Mosaiken erblickte, die über und über mit Goldplättchen besetzt waren.
Auch Hannah schaute sich um und war wie gebannt. Überall lagen halbnackte Schönheiten, in dünne Tücher gehüllt, und betrachteten sie mit einer unverhohlenen Neugier, als wären sie seltene Tiere. Das Gefühl, sich in einer Menagerie zu befinden, verstärkte sich noch durch die kunstvoll geschmiedeten Käfige, die von der Decke baumelten und in denen allerlei Vögel zwitscherten. Erst als Amelie sich laut protestierend weigerte, ihre Kleider abzulegen, löste Hannah sich aus ihrer Erstarrung. Erschrocken registrierte sie, wie der Eunuch zu einer ledernen Knute griff und drohte, damit zuzuschlagen, falls Amelie ihren Widerstand nicht aufgab.
»Widerstand macht die ganze Angelegenheit nur noch schlimmer«, flüsterte Freya ihr zu. Mit einem Blick auf Hannah, die trotz der Hitze am ganzen Körper zitterte, fügte sie hinzu: »Seid stark, meine Freundinnen. Was immer auch folgt, ihr werdet es überleben, und das ist im Augenblick das Wichtigste.«
Ein paar kindliche Diener, ausnahmslos dunkelhäutig, in weiße Hosen gekleidet und mit freiem Oberkörper, führten sie zu einem Waschbecken, das etwas tiefer gelegen war. Man bedeutete ihnen, die schmale Marmortreppe hinabzusteigen, deren Stufen mit Rillen versehen waren, damit man nicht ausrutschte. Nackt und vor Aufregung bebend, standen Freya, Hannah und Amelie in dieser Mulde, während die Knaben leicht erhöht außerhalb warteten, um ihnen Körper und Haare mit Schwämmen und einer wohlriechenden Olivenseife zu waschen.
»Großer Gott«, flüsterte Hannah, »ich glaube, mir wird schlecht.«
|473|»Heilige Jungfrau«, wimmerte Amelie leise. »Ich ertrage das nicht!« »Bleibt besonnen, Schwestern«, raunte Freya. »Solange es nicht schlimmer kommt, solltet ihr zufrieden sein.«
»Schlimmer kommt?« In Hannahs Stimme war die Panik nicht zu überhören.
»Was meinst du damit?«, fragte Amelie schrill.
»Dass man uns umbringt«, zischte Freya. »Oder hast du schon einmal gehört, dass man jemanden wäscht, bevor man ihn tötet?«
»Leichen werden gewaschen«, erwiderte Amelie wenig hilfreich. »Vielleicht ist es ihnen hinterher zu mühsam.«
Schließlich wurden sie von den Knaben mit lauwarmem Wasser übergossen, das genau die richtige Temperatur hatte, um ihre gerötete Haut auf angenehme Weise zu erfrischen. Als auch der letzte Seifenrest entfernt worden war, traten drei junge Mädchen in rosafarbenen Seidenkleidern hinzu. Nur wenig älter als die Knaben, trockneten sie die drei erwachsenen Frauen mit samtweichen Handtüchern und salbten sie anschließend von Kopf bis Fuß mit Jasminöl ein. Danach führten sie die drei in einen größeren Nebenraum, der nicht weniger prachtvoll mit Palmen in Töpfen und gepolsterten Liegen ausgestattet war. Ihnen wurde befohlen, sich auf eine Liege zu legen und auf den Barbier zu warten. Ein halbnackter Mann erschien, mit weichen Muskeln und mädchenhaftem Gesicht, schrill geschminkt, mit schwarzem Khol um die Augen, das lackschwarze Haar mit Öl in den Nacken gekämmt – augenscheinlich ein Eunuch.
Freya schluckte, als er sich mit einem höllisch scharfen Rasiermesser an ihrer Scham zu schaffen machte. Und als wäre dies noch nicht genug, bemalte er ihre nun völlig enthaarten Wölbungen mit zierlichen Hennablumen.
Als der Eunuch sein Werk vollendet hatte, wurden Freya und ihre Leidensgenossinnen noch einmal von den jungen Mädchen parfümiert und ihre feuchten Haare mit groben Kämmen geordnet. Eines der Mädchen tupfte ihnen mit einem Finger ockerfarbenes Lippenrot auf und umrandete mit einem Khol-Pinsel geschickt die Augen. Ein anderes Mädchen brachte ihnen drei fast durchsichtige hellblaue, bodenlange Seidengewänder. Die Farbe des Stoffes würde ihre helle Haut noch porzellanfarbener erscheinen lassen.
Freya hatte längst bemerkt, dass nur wenige von den etwa fünfzig |474|weiblichen Haremsbewohnerinnen, die sich in den verschiedenen Räumen auf seidenen Kissen räkelten oder sich in lasziver Trägheit dem Bade und der Schönheitspflege hingaben, europäischen Ursprungs waren. Die meisten hatten schräg stehende, dunkle Augen und schwarzes Haar. Bei manchen war auch die Haut beinahe schwarz. Aber ganz gleich, über welche besonderen Vorzüge sie auch verfügten, alle starrten mit einer gewissen Bewunderung zu ihnen herüber.
Plötzlich war Adiba, die alternde Haremswächterin, wieder zugegen, die sie hierhergeführt hatte. Sie ging auf Amelie zu, die mit ihren hellblonden, hüftlangen Locken am meisten auffiel. Ohne Erklärung griff sie nach ihrem Handgelenk und wollte sie fortführen. Amelie wehrte sich heftig, indem sie zu schreien begann und sich in ihrer Panik versteifte. Adiba rief ihr in gebrochenem Altfranzösisch zu, dass sie auserwählt sei, und deutete auf einen kunstvoll verbrämten Arkadengang oberhalb der Halle. Dort saß angeblich der Wesir hinter einem Paravent und hatte ihr den Vorzug gegeben. Die Haremswächterin war offenbar der Ansicht, dass Amelie sich glücklich schätzen dürfe, weil manche der Frauen jahrelang darauf warteten, von ihm beachtet zu werden. Amelie schien wenig beeindruckt, und je mehr die Frau sie zwingen wollte, mit ihr zu kommen, desto mehr Widerstand entwickelte sie.
Als die Frau nach ihr schlug und sie als störrische Kamelstute beschimpfte, begann Amelie heftig nach Atem zu ringen und verlor schließlich das Bewusstsein. Freya und Hannah eilten ihrer Freundin zu Hilfe und beugten sich über sie, ohne auf die hysterisch zeternde Alte zu achten, die sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Freya überprüfte Amelies Atmung, und Hannah half ihr, deren Beine auf ein Kissen zu legen. Nur langsam kam Amelie wieder zu sich. Vor lauter Aufregung erbrach sie. Die Alte stieß einen unverständlichen Fluch aus, weil sie Amelie in diesem Zustand unmöglich dem Wesir vorführen konnte
Von der verdeckten Balustrade erklang eine männliche Stimme und gab einen Befehl. Einen Moment später wandte die Alte sich Freya zu.
»Hey, du!« Ihre Stimme klang aufgebracht. Wahrscheinlich fürchtete sie ernsthafte Konsequenzen, wenn sich Freya nun auch noch verweigern würde. Doch die liebeskundige Begine dankte stumm der Heiligen Jungfrau, dass die Wahl des Wesirs nun auf sie gefallen war. |475|Amelie war fürs Erste zu nichts zu gebrauchen, und Hannah machte ihr auch nicht den Eindruck, als ob sie mit einer solchen Situation vertraut wäre.
»Freya?«, rief Hannah ihr aufgewühlt hinterher, als sie hocherhobenen Hauptes ihrer nervösen Anführerin folgte.
»Macht euch keine Sorgen!«, rief Freya zurück. »Ich weiß, was zu tun ist.«
Ohne Protest ließ sie sich bis vor die Gemächer des Wesirs begleiten.
Zwei finster dreinblickende Wachen vor dem majestätisch anmutenden Spitzbogenportal riskierten noch nicht einmal einen Blick, als man sie durch die halb geöffnete Tür in die Gemächer ihres Herrn und Gebieters führte.
Komm, Mädchen! machte Freya sich Mut. Sechs Monate in einem Kölner Freudenhaus sollten ausreichen, damit einem kein männliches Bedürfnis fremd war. Sie erinnerte sich an nach Schnaps und Schweiß stinkende Freier, denen es nicht selten bereits gekommen war, bevor sie sich entkleidet hatte – oder sie hatten schlichtweg versagt, weil sie zu betrunken waren. Gelegentlich waren es auch stattliche Burschen gewesen, mit denen sie unverhofft die Freuden des Beischlafs genossen hatte. Gedanken an perverse Kerle, die schmerzhafte oder abartige Liebespraktiken gefordert hatten, verdrängte sie lieber. Noch einmal atmete Freya tief durch. Für das Leben ihrer Freundinnen würde sie alles ertragen, ganz gleich, wie schlimm es auch sein würde.
Der Raum, den sie betrat, war wie alle Kammern in diesem Palast großzügig mit glänzendem Marmor ausgelegt. Dicke, seidige Teppiche mit eindeutig erotischen Darstellungen schmückten Boden und Wände und wurden von Öllichtern in bunten Glasampeln illuminiert, die an langen Silberketten von der Decke herab baumelten. Räucherpfannen verbreiteten einen süßlichen Geruch. Freya schnupperte kurz. Kein Zweifel, es waren Opiumdämpfe sowie Düfte von Moschus und Ambra. Sie sah sich vorsichtig um und suchte in all der Pracht nach dem Mann, der sie erwartete. Doch das Einzige, das sie entdeckte, waren zwei kleine Mohren, die einem riesigen, cremefarbenen Baldachinbett, in dem niemand verweilte, mit einem gefiederten Wedel zufächelten.
»Schließt die Tür!« Die Stimme kam von irgendwoher, und Freya erschrak. Die Stimme war angenehm dunkel und sprach ein perfektes |476|Französisch. Freya tat, was man ihr gesagt hatte, und wartete auf weitere Befehle.
»Leg dich ins Bett.«
Schritt für Schritt näherte sie sich dem prunkvollen Aufbau, dessen Seiten von goldfarbenen Seidenschabracken umhüllt waren, die man mit einem Zug herunterlassen konnte, wie sie wegen der seitlich gedrehten Kordeln vermuten durfte. Von den halb geschlossenen Balkonfenstern wehte kühle Abendluft herein. Ihr rotes langes Haar strich im Gehen sanft über ihren kräftigen, fast nackten Po.
Beinahe schüchtern blieb sie vor den mit goldfarbener Seide ausgelegten Laken stehen. Ihre Anspannung darüber, wie ihr Freier wohl aussah, wuchs.
Abrupt zuckte sie zusammen, als plötzlich eine hochgewachsene Gestalt hinter sie trat und mit großen, gepflegten Händen ihre Brüste massierte. Der Mann war ungemein sanft und roch fantastisch nach Sandelholz. Beinahe andächtig schob er ihr rotes Haar zur Seite und küsste ihr Nacken und Ohren. In Nu überzog eine Gänsehaut ihren gesamten Körper. Freya wagte es nicht, etwas zu sagen, geschweige denn, sich zu bewegen.
Die mit ihren Fächern wedelnden Mohren ließen sich nicht das Geringste anmerken und schauten stur geradeaus. Langsam ging der Mann um sie herum, wie einer der vielen Geparden, die ihr bei ihrer Ankunft in einem Gehege im Palasthof aufgefallen waren. Beinahe verstohlen blickte sie an ihm hoch, als er direkt vor ihr stehen blieb, und war überrascht, wie attraktiv er war. Er trug einen halboffenen, weißen Seidenmantel. Sein kurzer, gepflegter grauer Bart umrahmte das kantige Gesicht eines Anführers, aus dem die schwarzen Augen regelrecht herausleuchteten. Das tiefbraune, halblange Haar war bereits mit einigen Silberfäden durchsetzt und mit Duftöl durchtränkt. Straff zurückgekämmt, ließ es sein Profil mit der langen, leicht gebogenen Nase und dem breiten Mund noch markanter erscheinen. Immer noch lag eine Hand auf ihren Brüsten, die bezeugte, dass seine Haut um einiges dunkler war als ihre, aber nicht schwarz, sondern eher ein helles Nussbraun.
Ihr Freier lächelte, wohl auch, weil ihre vor Staunen leicht geöffneten Lippen ein größeres Kompliment für ihn waren, als es Worte hätten sein können. Selbst seine elfenbeinfarbenen Zähne schimmerten makellos, und sein Atem roch nach Pfefferminze.
|477|»Oh!« Freya schnappte nach Luft, als er seine kräftige Hand zwischen ihre Schenkel wandern ließ. Mit halb geöffneten Lidern ließ sie es geschehen, dass der Mann sie an ihrer empfindlichsten Stelle berührte und sie mit der anderen Hand völlig entkleidete. Anschließend erforschte er ihren Körper mit seinen Händen. Dabei verweilte er an den intimsten Stellen und massierte sie sanft. Als er sich näher an sie heranschob, spürte sie, dass sein Mantel aufgesprungen war und sein erigiertes Glied ihren Bauchnabel streifte.
»Du bist die wundervollste Stute in meinem Palast«, raunte der Mann schwer atmend und küsste sie auf den Mund. »Es wäre mir eine Ehre, dir einen hübschen, kleinen Hengst zeugen zu dürfen.«
Bloß das nicht!, dachte Freya und war froh, dass sie wusste, wie sie eine Schwangerschaft verhindern konnte.
Die Hand glitt über ihren Hintern, und er zog sie näher zu sich heran. Sie öffnete stöhnend die Lippen und ließ es zu, dass seine Zunge ihre liebkoste. Um seinen Hals baumelte eine Seidenkordel, die einen intensiven Duft nach edlen Hölzern verströmte. Freya legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich eng an ihn. Er umfasste sie ganz und dirigierte sie mit einer eindeutigen Geste auf das Bett.
Als er neben ihr lag, löste er mit einer beiläufigen Bewegung seiner Hand die Kordel, die den Vorhang gehalten hatte. Der kostbare Damast fiel herab und tauchte das Lager in ein Licht gedämpfter Intimität.
»Ich will, dass du dich mir mit Freuden hingibst«, hauchte er. »Und dass du mich Malik nennst, mein feuriges Mädchen.«
Nichts leichter als das, dachte Freya, doch in ihrer Vorstellung verwandelte sich der Heide in Johan. Mit einem Seufzer ließ sie sich zurück in die seidigen Kissen sinken und protestierte nicht, als der Kopf des Mannes zwischen ihren gespreizten Schenkeln verschwand. Seine raue Zunge entfachte in ihr ein wohliges Feuer der Lust und sorgte dafür, dass sie ihre Bedenken vergaß. Malik war ein Meister der Liebeskünste. Er führte sie in die indische Liebe ein, indem er sie aufforderte, ihr hennagefärbtes Geschlecht auf sein hartes Glied aufzupflanzen und an ihm hinunterzurutschen bis zum Ende des Schafts. Die schlanken Beine mit den seinen ineinander verhakt, drang er tief in sie ein und versetzte sie in einen regelrechten Rausch. Keuchend kam ihm Freya entgegen, als er den Rhythmus verstärkte und sie gleichzeitig küsste und streichelte.
|478|Wie benommen lag sie später neben ihm in den Kissen. Zögernd kehrte ihr klares Bewusstsein zurück, das sie an Hannah und Amelie erinnerte – und auch an Anselm und den Jungen, deren Schicksal sie vielleicht auch günstig stimmen konnte, indem sie dem Wesir zu Willen war. Ganz nebenbei dachte sie wieder an Johan, der wohl kaum gutheißen würde, dass sie auf diese Weise versuchte, Malik al-Russak bei Laune zu halten.
Maliks Lippen wanderten küssend über ihre Brüste.
»Ich werde dich zu meiner Hauptkonkubine ernennen«, flüsterte er. »Deine beiden Begleiterinnen werde ich dem Kalifen von Kairo zum Geschenk machen. Az-Zafir bi Dinillah besitzt einen wunderbaren Harem und ist immer an schönen Frauen interessiert. Deinen Gefährtinnen wird es an nichts fehlen, und sie müssen nicht fürchten, um seine Gunst kämpfen zu müssen.«
Freya erstarrte. Solche Aussichten würden Hannah und Amelie mit Sicherheit nicht gefallen. Ihr Einsatz war also noch nicht beendet. Genau genommen fing er erst an.
Anselm kämpfte gegen den Sog, den die Brandung verursachte. Die Flut hatte eingesetzt. Der Zufluss war zwar recht breit, aber der Abstand zur Höhlendecke betrug nicht mehr als eine Armlänge. Khaled schwamm voran und wurde immer wieder gegen Anselm und den Jungen zurückgeworfen, wenn die nächste Welle ins Innere der Höhle drängte. Erst beim anschließenden Sog hatten sie eine reelle Chance, wieder ein Stück vorwärtszukommen. Obwohl ihnen der Höhleneingang von Ferne schon entgegenleuchtete, konnte Anselm kaum abschätzen, wie viele Meter sie überwinden mussten, bis sie endlich die offene See erreichten. Immer wieder schluckte Matthäus Wasser, und Anselm hatte Mühe, ihn über der Oberfläche zu halten, zumal ausladende Schwimmbewegungen nicht möglich waren und die rauen Höhlenwände keine Überstände boten, um sich festhalten zu können. Khaled wandte sich zu ihnen um und bot Matthäus mit einem Nicken an, dass er sich an ihm festhalten durfte. »Los, Franke!«, keuchte er. »Du wirst doch jetzt nicht schlappmachen. Denk an den Jungen und daran, dass wir alle jemanden haben, für den es sich lohnt, hier herauszukommen.«
Anselm hatte nicht mehr die Kraft zu antworten, und als Matthäus |479|bei seinem Wechsel zu Khaled für einen Moment untertauchte, fuhr ihm der Schreck durch die Glieder. Khaled tauchte und hob den Kopf des Jungen schließlich über Wasser. Danach half er dem panisch röchelnden Jungen, bis sie endlich ihr Ziel erreicht hatten. Die Brandung wurde immer heftiger und beim Herausschwimmen aus der Höhle mussten sie noch einmal achtgeben, dass die aufschäumende Gischt sie nicht gegen die scharfkantigen Felsen warf. Wie drei Katzen, die dem Ersäufen in einem verschnürten Jutesack entkommen waren, schleppten sie sich mit letzter Kraft an einen menschenleeren, winzigen Sandstrand. Über ihnen ragten knapp hundert Meter Küstenfelsen steil in die Höhe, auf deren Plateau die Festung und der Palast thronten. Im Schatten eines Felsvorsprungs fielen sie auf die Knie und blieben schweratmend liegen. Nach längerer Zeit in der Dunkelheit stach die gleißende Sonne von einem azurblauen Himmel in ihre Augen, aber sie wärmte auch auf angenehme Weise die nasse Kleidung.
»Ah, tut das gut«, murmelte Khaled mit halbgeschlossenen Lidern und hob genießerisch seine Nase in die feuchte Meeresluft, die von der tosenden Brandung herangetragen wurde. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch mal erleben würde.«
Anselm stemmte sich rücklings auf die Ellbogen und spähte in die Ferne. Von weitem sah man die aufgebauschten Segel der Schiffe, die den Hafen von Askalon ansteuerten, um die seit Monaten von Christen belagerte Festungsbesatzung mit Weizen, Obst, Frischfleisch und Süßwasser zu versorgen. Als Lohn erhielten sie erbeutete Sklaven, wie Khaled ihm erklärt hatte. Von Frauen hatte er vorsorglich nicht gesprochen, aber Anselm konnte sich denken, dass es nicht total abwegig war, wenn auch Hannah und ihre Freundinnen im Handumdrehen zur Handelsware wurden, falls es Interessenten für sie gab, woran kaum ein Zweifel bestehen konnte.
Allein deshalb musste er es schaffen, schnellstmöglich Gero und seine Brüder zu finden. Die fünf Templer waren die Einzigen, die sie retten konnten. Von der Festung erklang dreimal der langgezogene Ruf eines Horns, der ihn aus seinen Gedanken riss.
Khaled rollte sich herum und setzte sich auf. »Das ging ja schneller als gedacht«, stieß er grimmig hervor. Auf Anselms fragenden Blick hin erklärte er: »Das ist der Ruf für entkommene Häftlinge. Er verpflichtet die vor der Festung patrouillierenden Truppen zur Wachsamkeit.«
|480|»Bedeutet das, wir sind zwar nicht ertrunken, aber trotzdem erledigt?« Anselm strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht und zog die Brauen zusammen.
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Khaled ihn. »In der Umgebung wimmelt es von Franken, deshalb ist es unwahrscheinlich, dass man uns lange verfolgen wird. Ganz in der Nähe gibt es einen alten Handelsweg, den nur noch wenige nutzen. Aber um dorthin zu gelangen, müssen wir ein wenig klettern, und am besten wäre es, wenn wir uns hier irgendwo verstecken und die Dämmerung abwarten.«
»Die Sache hat doch mit Sicherheit noch einen weiteren Haken?« Anselm warf dem Assassinen einen misstrauischen Blick zu.
»Schon mal was von Treibsand gehört? Auf dem Weg nach Blanche Garde gibt es ein Wadi, dessen Wasserzufuhr von unterirdischen Quellen gespeist wird. Ich habe mal erlebt, wie einer meiner Männer samt Pferd darin verschwunden ist. Wobei es nicht so ist, dass man ertrinkt. Kopf und Rumpf bleiben zumeist an der Oberfläche. Aber sich alleine daraus zu befreien ist beinahe unmöglich.«
Anselm seufzte, und sein Blick wanderte zu Matthäus, dessen blonde Locken bereits zu trocknen begannen. Der Junge vertraute ihm, und Anselm durfte es nicht zulassen, dass ihm auch nur ein Härchen gekrümmt wurde.
»Wir müssen es lediglich schaffen, den ersten Belagerungsring der Christen zu erreichen. Spätestens dort trauen sich keine Fatimiden mehr hin«, erklärte Khaled.
Anselm blinzelte in die Sonne. »Mir und Matthäus werden sie abkaufen, dass wir Franken sind. Aber was ist mit dir? Werden sie dich nicht für einen Feind halten? Zumal du mir erzählt hast, dass die königlichen Truppen vor Jahren deine Leute geköpft haben.«
»Ganz recht, Franke«, stieß der Assassine hervor. »Ich sollte auf beiden Seiten vorsichtig sein. Aber bei mir gibt es eine ganze Menge Gründe, dorthin zurückzukehren, wo man mich so schändlich behandelt hat. Deshalb werden sich unsere Wege auch trennen, sobald ich euch in Sicherheit weiß. Was danach geschehen wird, ist sowieso nicht für deine unschuldigen Augen bestimmt.«
Anselm sah den Assassinen alarmiert an. »Willst du jemanden umbringen?«
»Ich will meine Ehre zurück, Franke«, knurrte Khaled gefährlich |481|leise. »Und jene, die sie mir genommen haben, werde ich nicht ungeschoren davonkommen lassen.«
Khaled führte sie im Schutz der Felsen zu einem schmalen Aufstieg, der in eine schwindelerregende Höhe führte. »Wenn wir die Ebene von Bir esh Shekier erreichen wollen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns an den Nestern der Möwen entlangzuhangeln«, erklärte er Anselm, der einen kritischen Blick hinab in die zerklüftete Tiefe warf. Was folgte, war eine abenteuerliche Klettertour, die Anselm an den Rand der Verzweiflung trieb. Mit waghalsigen Schritten suchte er den unebenen Boden nach Halt ab, während seine Finger sich in minimale Felsvorsprünge krallten. Vor ihm ging Matthäus, der eine verblüffende Trittsicherheit an den Tag legte.
Unter ihnen rauschte immer noch das Meer, als sie eine enge Felsnische erreichten, die gerade groß genug war, dass sie sich zu dritt hineinquetschen konnten, als plötzlich oberhalb des Felsens feindliche Reiter auftauchten, die suchend in den Abgrund spähten.
Anselm schlug das Herz bis zum Hals, als er hörte, wie nahe ihnen die arabisch sprechenden Stimmen kamen. Khaled bedeutete ihm mit einem Handzeichen, dass sie noch eine Weile hier ausharren mussten, um unbehelligt nach oben gelangen zu können. Trotz der Aufregung knurrte Anselm der Magen. Seit Tagen hatten sie nichts Anständiges gegessen, und die Aussicht auf Freiheit hatte ihn neuen Mut schöpfen lassen. Matthäus war äußerst tapfer. Kein Wort der Klage kam über seine Lippen.
Bis zur Dämmerung verharrten sie in diesem Felsspalt, was Anselm wie eine Ewigkeit erschien, zumal ihnen Khaled verboten hatte, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Aber solange sie nicht sicher sein konnten, dass ihre Feinde sich verzogen hatten, war es einfach zu gefährlich, die Flucht fortzusetzen.
Erst als die glutrote Sonne über dem Meer in den violett schimmernden Horizont abtauchte, konnten sie annehmen, dass ihre Verfolger verschwunden waren. Khaled gab das Zeichen zum Aufbruch. Am Kamm der Klippe angelangt, orientierte er sich noch einmal.
»Die Luft ist rein«, flüsterte er und gab ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen.
Anselm klebte die Zunge am Hals. Zum Glück schien der Assassine |482|trotz der hereinbrechenden Dunkelheit genau zu wissen, wohin er wollte.
»Wir marschieren Richtung Blanche Garde«, sagte er, als Anselm ihn nach seinem Ziel fragte.
»Die Templerburg?«
Khaled nickte. »Wobei wir uns an den von mir beschriebenen Weg halten werden.«
Anselm fragte sich, wie es sein würde, wenn er König Balduin III. begegnete oder dem uralten Patriarchen von Jerusalem, der, wenn man historischen Quellen Glauben schenken konnte, fast hundertjährig an der Belagerung von Askalon teilgenommen hatte.
Gut eine Stunde liefen sie durch zerklüftetes Land und über ein paar mit knorrigen Bäumen bewaldete Hügel, bis sie eine karge Wüstenlandschaft erreichten und von Ferne schon wieder Stimmen zu hören waren.
Im faden Mondlicht schimmerte etwas Helles, und als sie näher herankamen, sahen sie, dass es das Skelett einer verendeten Kuh war. Um das mulmige Gefühl zu unterdrücken, das er beim Anblick dieser gespenstisch wirkenden Kulisse empfand, konzentrierte sich Anselm auf seine Schritte und auf den Jungen, der ihm dicht folgte. Ab und an gab der Untergrund nach, und Anselm spürte panikartige Hitze in sich aufsteigen, weil er befürchtete zu versinken. Aber noch mehr trieb ihn der unbändige Durst und die Hoffnung auf Wasser.
»Ich habe Hunger«, murmelte Matthäus, und im nächsten Moment wehte ihnen der Geruch von gebratenem Fleisch durch die Dunkelheit entgegen. Khaled verlangsamte seine Schritte und horchte in die Nacht. Mit einer Hand befahl er seinen Schützlingen, langsamer zu gehen. Er selbst schlich sich an den Kamm eines sandigen Hügels heran und verharrte dort, bis er Anselm das Zeichen gab, dass sie ihm kriechend bis an die Kante folgen sollten.
Anselm hielt den Atem an, als er in ungefähr zweihundert Metern ein Zeltlager erblickte. In direkter Nachbarschaft zu ein paar Palmen und einem Wasserloch hatte jemand vier Rundzelte errichtet. Bei näherer Betrachtung zählten sie achtzehn Kreuzritter, die es sich an einem hell lodernden Lagerfeuer gutgehen ließen. Den Wappen nach zu urteilen, die man auf Röcken und Schildern der Männer ausmachen konnte, handelte es sich um eine bunte Mischung aus Templern, Hospitalitern, |483|Rittern vom Heiligen Grab und einer versprengten Anzahl von angeheuerten Söldnern aus den umgebenden Baronien.
Ein Lamm und zwei Hasen brieten auf einem Spieß. Weinschläuche und Räucherpfannen machten die Runde. Hier und da war ein kehliges Lachen zu hören oder ein deftiger Fluch.
»Haschisch«, flüsterte Khaled mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme. »Allah ist groß! Das Kraut hat ihre Sinne betäubt. Besser könnten wir es nicht antreffen.«
Anselm sah ihn verständnislos an. »Sag bloß, du willst Matthäus und mich bei diesen bekifften Säufern zurücklassen?«
Khaled setzte ein breites Grinsen auf, das seine weißen Zähne im schwachen Schein des Feuers aufleuchten ließ. »Ich habe keine Ahnung, was du mit ›bekifft‹ meinst, aber offenbar hältst du nicht viel von deinesgleichen.«
»Das sind nicht meinesgleichen«, stellte Anselm unmissverständlich klar. »Zwischen denen und mir liegen achthundert Jahre.«
Khaled sah ihn verwundert an. »Was willst du mir damit sagen, Franke? Zwischen uns liegen auch achthundert Jahre, und bisher konnte ich noch nicht feststellen, dass du irgendwelche Eigenschaften besitzt, die meinen voraus wären.«
»Nein«, murmelte Anselm zerknirscht. »Uns trennt der kleine, aber feine Unterschied, dass du mühelos in der Lage bist, Kehlen durchzuschneiden und Köpfe abzuhacken, ohne eine Spur von Reue zu zeigen, geschweige denn Angst.«
Khaled gab ein leises, spöttisches Lachen von sich. »Erzähl mir nichts, Franke, gegen eure Kriegsmaschinen sind unsere Schwerter und Lanzen das reinste Engelswerkzeug. Ich habe es selbst gesehen. In der merkwürdigen Maschine, die Lyn mir gezeigt hat.« Der Assassine sah ihn aus schmalen Lidern an. »Bei euch tötet zwar keiner mehr Mann gegen Mann, aber dafür vernichtet ihr mit einem einzigen Schlag Tausende Leben – und dabei ist es euch ganz gleich, ob sich darunter Frauen, Kinder oder Alte befinden. Danach feiert ihr eure Feste und überlegt, was es morgen zu essen gibt.«
Anselm kniff die Lippen zusammen. »Ein Grund mehr« gab er reumütig zu, »so schnell wie möglich deine Freundin zu finden. Nur sie und ihre Schwester können uns in der Sache helfen.«
»Da magst du recht haben«, lenkte Khaled ein. »Aber ich halte es für |484|besser, wenn ihr bei diesen Ordensrittern zurückbleibt. Selbst wenn sie zu tief in den Becher geschaut haben. Ich habe mir überlegt, dass ich zurück zur Festung gehe.«
»Was?« Anselm konnte es kaum glauben. »Bist du verrückt? Ich denke, in Jerusalem wartet ein Mädchen auf dich. Warum willst du Gefahr laufen, dass sie dir in Askalon die Eier abschneiden und dich einen Kopf kürzer machen?«
»Das ist meine Sache«, erwiderte Khaled ruhig. »Ich hatte von Beginn an einen anderen Plan.«
Anselm sah ihn aufgebracht an. »Willst du die Festung nun ganz alleine erobern? Und was wird dann aus uns? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir uns darauf einlassen?«
Khaled schüttelte missmutig den Kopf. »Mein Vater hat immer gesagt: Zum Teufel mit den Franken. Er hatte recht, sie sind ziemlich stur, und ihr Handeln ist nicht nachvollziehbar.« Er hob eine Braue. »Übrigens nicht nur was die Männer betrifft – auch die Frauen …«
Mit einem Nicken bedeutete er Anselm, dass sie sich geduckt zurückziehen sollten, bis sie außer Sichtweite der Kreuzritter waren. Als sie sicher waren, dass sie nicht mehr gesehen werden konnten, richtete Khaled sich auf und marschierte in südliche Richtung.
»Wo willst du hin?« Anselm ergriff eine leichte Panik, dass der Assassine sie einfach sitzen ließ.
»Zum Lager«, antwortete Khaled, als ob das die selbstverständlichste Sache der Welt wäre. »Ich werde mich von Süden anschleichen. Wenn wir unseren Weg nach Jerusalem gemeinsam fortsetzen wollen, benötigen wir Pferde und was zu trinken.«
»Sie werden dich erwischen.«
»Sie sind bekifft.« Er grinste amüsiert. »Das Wort gefällt mir.« Im blassen Mondlicht unterschied er sich in nichts von den Räubern, die sie zuvor nach Askalon entführt hatten.
»Trotzdem ist es gefährlich«, erwiderte Anselm.
Khaled hob eine Braue. »Langsam solltest du dich entscheiden, was du willst, Franke.«
»Von mir aus tu, was du nicht lassen kannst.« Anselm fragte sich, wie der Assassine einem Haufen von schwer bewaffneten Templern und Hospitalitern Tiere und Proviant stehlen wollte. Zumal er auf Anhieb als Feind zu erkennen war.
|485|»Ihr beiden werdet hier auf mich warten«, befahl Khaled leise. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und entschwand lautlos in die Nacht.
»Komm, Mattes«, flüsterte Anselm und gab dem Jungen einen Wink, dass er mit ihm zum Rand der Düne kriechen sollte, damit sie verfolgen konnten, ob Khaled entweder erfolgreich oder ihr Schicksal besiegelt war.
Zunächst passierte gar nichts, bis Anselm plötzlich einen Schatten sah, der sich in geduckter Haltung den Pferden näherte. Atemlos beobachtete er, wie sich eine Hand hinter einem Strauch erhob und nach einem der gut gefüllten Weinschläuche tastete, die darunterlagen. Wenige Schritte davon entfernt stritten zwei Hospitaliter darüber, wer das größere Stück Fleisch erhielt. Einer der Männer stand auf, offenbar in der Absicht seinen Anteil an dem gebratenen Lamm in Sicherheit zu bringen. Dabei torkelte er in Khaleds Richtung, stolperte, geriet ins Wanken und landete mit dem Kopf direkt neben dem Weinschlauch.
Die Hand war verschwunden. Anselm spürte die Enttäuschung darüber beinahe körperlich. Seine Kehle war so ausgetrocknet, dass ihn das Schlucken schmerzte.
Der Ritter, mit Kettenhemd und Schwert ausgerüstet, lag am Boden, das Gesicht nach unten, und rührte sich nicht. Anstatt ihm zu helfen, ließ sein Kamerad ihn liegen und machte sich im Weggehen bei den anderen darüber lustig, dass der Kerl auf der Stelle eingeschlafen war. Nach einer Weile sah Anselm, wie sich der Schlauch erneut bewegte, vorsichtig an der Nase des reglosen Betrunkenen vorbei in Richtung Gebüsch. Mit einem Mal war der Schlauch gar nicht mehr zu sehen, doch es schien niemandem aufzufallen. Die Männer, die um das Lagerfeuer herum saßen, waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Knappen hatten sie keine. So, wie es sich darstellte, handelte es sich um einen berittenen Vorposten der Hauptarmee, die, wie Khaled erklärt hatte, vorwiegend in Blanche Garde und der neu errichteten Templerfestung in Gaza zu finden war.
Anselm fiel ein Stein vom Herzen, als Khaled nach einer kleinen Ewigkeit mit zwei Pferden zurückkehrte. »Ich danke Gott dem Herrn«, raunte er und nahm den prall gefüllten Weinschlauch entgegen.
»Trinkt, so viel ihr mögt«, sagte Khaled.
|486|Anselm reichte den Schlauch zunächst an Matthäus weiter, der in gierigen Zügen trank. Doch dann hielt der Junge plötzlich schuldbewusst inne und reichte den Schlauch an Anselm weiter.
»Nur einen Schluck«, sagte Anselm und kippte den Rotwein hinunter, als wäre es Traubensaft. Als er Matthäus’ Blick bemerkte, setzte er ab und gab dem Jungen den Rest, nachdem Khaled abgewinkt hatte.
Khaled hatte noch eine weitere Überraschung auf Lager, die er, in ein Tuch eingewickelt, mit sich trug. Gebratenes Lamm und ein üppiges Fladenbrot, so groß wie drei Handteller. Mit schmutzigen Fingern teilte er Brot und Fleisch, das der Ritter im Fallen verloren hatte, in drei gerechte Portionen, die sie gierig hinunterschlangen, bevor Khaled sie zur Weiterreise antrieb.
Anselm ließ seine Hand über den Rücken eines der Pferde gleiten.
»Die haben doch bestimmt ein Brandzeichen? Was ist, wenn man uns in Jerusalem als Diebe entlarvt?«
»Es sind Sarazenenpferde. Die Hospitaliter haben die Gäule selbst geklaut. Jedenfalls sind die Insignien des Emirs von Damaskus am Hals eines der Tiere zu finden. Vielleicht war es auch ein Geschenk. Aber das soll uns jetzt nicht kümmern. Hauptsache, wir kommen so schnell wie möglich von hier weg, ohne jemandem in die Arme zu laufen.«
Khaled spielte auf einen Überwachungsring von ungefähr dreißig Kilometer an, der die Festung von Askalon umgab. Ein Mitgefangener hatte ihm im Kerker berichtet, dass König Balduin und seine Männer mithilfe der Ritterorden und der Barone seines Königreiches schon seit dem Frühjahr die Festung eingekreist hatten und seitdem die Umgebung kontrollierten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit patrouillierten christliche Reiter in dieser Gegend.
Khaled half Matthäus auf eines der Pferde. Anselm stieg hinter dem Jungen auf die Araberstute, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Khaled übernahm auf dem zweiten Pferd, einem temperamentvollen Hengst, die Spitze.
Eigentlich hatte Khaled nach Askalon zurückkehren wollen, um als Dieb verkleidet den Kelch zu stehlen, aber Anselm hatte recht. Seine Liebe zu Lyn war mindestens genauso stark wie die Sehnsucht nach Ruhm, Rache und Ehre. Dachte sie überhaupt noch an ihn?
Wenn er Anselm und den Jungen bis nach Jerusalem brachte, würden |487|alte Wunden aufbrechen und den Dämonen, die sich seit seiner Gefangennahme in seinem Herzen versteckten, zum Ausbruch verhelfen. Was wäre, wenn er seinen Groll auf Melisende nicht im Zaum halten konnte? Was, wenn Montbard ihm längst den Rücken gekehrt hatte und er feststellen musste, dass der alte Templer eine Mitschuld an seiner Gefangennahme und am grausamen Schicksal seiner Kameraden trug? Und was wäre, wenn Lyn nicht mehr an ihm interessiert war, ja vielleicht sogar inzwischen einem anderen gehörte?
Es wäre schlimmer als Folter und der Tod. Aber das ging den Franken nichts an. Er würde ihm helfen, die Heilige Stadt zu erreichen. Nicht mehr und nicht weniger.