Kapitel 7

Kreuzzüge

August 2005 – Deutschland/Eifel – Air Base Spangdahlem – Forschungsareal C.A.P.U. T.

 

Disneyland, dachte Hannah, als sie am Abend in ihr Domizil zurückkehrte. Nach Ankunft der Zeitreisenden hatten die Amerikaner alles darangesetzt, ihnen eine möglichst realistische mittelalterliche Umgebung |183|zu schaffen. Aus Gründen der Tarnung hatte man nach längerem Hin und Her darauf verzichtet, außerhalb des Forschungsgeländes eine Burg anzumieten oder gar zu bauen. Stattdessen errichtete man neben der wiederhergestellten Transferhalle eine klobige Betonkonstruktion auf drei Etagen, die mittelalterlich eingerichtete Wohn- und Schlafräume für die acht Zeitreisenden und ihre Freunde bereithielt. Ein paar Kulissenbauer großer Filmgesellschaften hatten mächtige offene Kamine und massive Eichenholzdecken in die Empfangshalle eingebaut, ohne zu wissen, wofür das Pentagon ein solches Kasperletheater benötigte. Flämische Bodenfliesen, Scherenstühle, hölzerne Klapptische, orientalische Teppiche an den Wänden und auf dem Boden komplettierten das Bild eines angeblich mittelalterlichen Feudalsitzes aus dem beginnenden 14. Jahrhundert.

Dass sie dabei mit ihren Hollywoodfantasien weit übers Ziel hinausgeschossen waren, konnten nur diejenigen beurteilen, die schon einmal im Mittelalter gewesen waren.

Auf Elektrizität hatte man, zumindest was die Beleuchtung betraf, weitgehend verzichtet und kreisförmige Eisenkandelaber anbringen lassen, die an langen Ketten von der Decke baumelten und mit Kerzen aus echtem Bienenwachs bestückt waren. Gegen Abend wurde regelmäßig ein Feuer im Kamin der Haupthalle entzündet.

Alles in allem war das Interieur viel zu düster. Fehlten nur noch die irischen Wolfshunde und der obligatorische Schlossgeist, und die Szenerie eines Gruselschockers wäre perfekt gewesen. Hannah war das Lachen darüber längst vergangen, vor allem, weil man das Ganze nicht etwa geschaffen hatte, um es den mittelalterlichen Bewohnern so gemütlich wie möglich zu machen, sondern um deren Lebensweise in vermeintlich authentischer Umgebung studieren zu können.

Bis ins kleinste Detail analysierte das Pentagon, wie sie aßen, tranken, sangen, lachten, stritten und debattierten und – da war sich Hannah sicher – welche sexuellen Präferenzen sie hatten. Immerhin lebten drei Paare in diesem Haus und zwei Junggesellen, die allesamt ewige Keuschheit geschworen hatten. Dass manche mit ihren Gelübden gebrochen hatten, war ein offenes Geheimnis, das von ihren Gastgebern zwar nicht thematisiert, aber mit Interesse zur Kenntnis genommen wurde.

Doch ganz gleich, wie sich die Beziehungen unter den Templern |184|und ihren Mitmenschen auch entwickelten, was hier ablief, war weit schlimmer als das Leben in einem Affenkäfig. Hannah spürte erneut Wut über ihre Lage in sich aufsteigen. Mit einem Seufzer und dem innigen Wunsch, dieser Alptraum möge bald beendet sein, machte sie sich auf den Weg in die Küche. Als sie den Empfangsraum vor der Wohnhalle durchquerte, wurde sie von Gero abgefangen. Er trug immer noch den schwarzen Overall und zog sie so leidenschaftlich in seine starken Arme, dass ihr schwindlig wurde. Genießerisch küsste er sie auf den Mund und vergrub dann seine Nase in ihrem kastanienfarbenen Haar. »Du riechst wunderbar«, murmelte er. Seine Lippen bahnten sich einen Weg zu ihrem Ohr und dann zu ihrem Nacken, den er hingebungsvoll liebkoste. Hannah gab sich seiner Zuwendung seufzend hin, obwohl sie ihn am liebsten sofort zur Rede gestellt hätte. Das Gespräch mit Hertzberg ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, und die Tatsache, dass Gero nichts darüber hatte verlauten lassen, hätte sie eigentlich wütend machen sollen, doch stattdessen genoss sie die Kraft, mit der er sie hielt. Der Gedanke, diesen Mann eines Tages verlieren zu können, war weitaus furchterregender als ein Sprung in einen tiefschwarzen Abgrund und sorgte dafür, dass der Groll, den sie gegen ihn hegte, auf der Stelle verflog.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Ich weiß«, erwiderte er. Dann ließ er sie so plötzlich los, wie er sie umarmt hatte, schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln und schlenderte ohne ein weiteres Wort in Richtung ihrer Privatunterkünfte, um zu duschen. Hannah folgte ihm mit Blicken. Er wechselte noch ein paar Worte mit Johan und Arnaud, bevor er in einem Gang verschwand.

Die anderen Templer saßen bereits am Tisch. Arnaud de Mirepaux, der ihr wie so oft zuzwinkerte, und Stephano des Sapin, den sie in seiner freundlich zurückhaltenden Art nicht recht zu durchschauen vermochte, spielten Schach. Matthäus hockte daneben, den kindlich blonden Lockenschopf in ein Buch versenkt. Nebenbei kraulte der Dreizehnjährige Heisenberg, Hannahs schwarzen Kater. Johan, der Agent Jack Tanner im nachmittäglichen Zweikampf in einen Schwächeanfall getrieben hatte, schäkerte mit der Miene eines unterwürfigen Ehemannes mit Freya von Bogenhausen, die ihm aus einem |185|neumodischen Magazin vorlas und sich offenbar über die Bilder diverser Stars und Sternchen amüsierte. Nur Struan, der wie immer nach Feierabend den Overall gegen Jeans und T-Shirt gewechselt hatte, starrte nachdenklich ins Kaminfeuer. Der melancholische Blick des Schotten wollte so gar nicht zu seinem kantigen Gesicht und seiner mächtigen Erscheinung passen. Über seiner breiten Brust spannte sich ein orangefarbenes Shirt mit der Aufschrift »Highlander«, das ihm Paul Colbach anlässlich seiner Genesung vor Wochen geschenkt hatte. Nach den schweren Folterungen, die Struan kurz vor seinem Zeitsprung in die Zukunft im Herbst 1307 hatte erdulden müssen, wäre er beinahe gestorben.

Dass der Schotte wieder kämpfen konnte, grenzte an ein Wunder. Die Schergen des französischen Königs hatten ihm gnadenlos zugesetzt, nachdem sie ihm Anfang November 1307 im Wald von Parily aufgelauert und mit einer Armbrust aus nächster Nähe auf ihn geschossen hatten. Der fingerdicke Pfeil hatte ihm das Schlüsselbein zersplittert, und die anschließende Spezialbehandlung der Gens du Roi, bei dem man ihm trotz seiner Ohnmacht auf einer Streckbank mehrere Rippen gebrochen und einen Lendenwirbel so stark ausgerenkt hatte, dass er einen Bruch erlitt, hatte ihm vorübergehend die Beine gelähmt. In seiner Zeit wäre er gestorben – oder zumindest ein Krüppel geblieben. Aber nach der Rettung durch Toms Timeserver ins Jahr 2004 hatten die Neurochirurgen im US-Klinikum Landstuhl ganze Arbeit geleistet. Die amerikanischen Militärärzte waren auf schwerste Kriegsverwundungen spezialisiert und flickten sogar Soldaten zusammen, denen Granaten den gesamten Unterkörper zerfetzt hatten.

Somit hatte der Transfer, den Tom initiiert hatte, um Hannah aus dem 14. Jahrhundert zu retten, auch etwas Gutes gehabt. Zudem konnte Amelie, Struans feenhaft schöne Frau, nach einer Fehlgeburt und dem Trauma der Ereignisse im Jahr 1307 durch den Zeittransfer ins Jahr 2004 geholt und nicht nur körperlich, sondern auch psychisch einigermaßen stabilisiert werden. Aber wer sie aus früheren Zeiten kannte, wusste, dass sie nie mehr so fröhlich und unbeschwert sein würde, wie sie gewesen war, als sie den Schotten kennengelernt hatte.

Amelie kompensierte ihre Ängste, indem sie Struan nicht von der |186|Seite wich – und wenn er beschäftigt war, hielt sie sich in der Küche auf, um bei der Zubereitung mittelalterlicher Speisen zu helfen, oder sie ging in die Kapelle, um zu beten. Die Amis, wie Hannah die Mitarbeiter des Pentagon und der NSA nannte, hatten sogar für eine Kapelle gesorgt und einen katholischen Militärkaplan engagiert, der bei der Abendmesse stets ein mittelalterliches Ordensgewand trug. Danach stellte die Ordonnanz der NSA – in lächerliche Pagenkostüme gekleidet – mittelalterlich anmutende Klapptische auf und deckte sie mit Steinguttellern, glasierten Tonkrügen und bunten Gläsern. Pünktlich um neunzehn Uhr begann man, Speisen und Getränke aufzutragen.

Hannah hasste dieses Theater und hätte weiß Gott was dafür gegeben, in ihr altes Haus nach Binsfeld zurückkehren zu können, um schlicht den Pizza-Service anzurufen, den Gero zwar nicht besonders schätzte, aber Matthäus wäre damit in jedem Fall eher zu begeistern gewesen als mit glasiertem Neunauge oder gefülltem Schwan.

Amelie stand in der Küche und prüfte, ob das Fleisch auf dem Spieß durchgebraten war. Dem Küchenchef, der wegen einer Verschwiegenheitsverpflichtung, die er gegenüber der amerikanischen Regierung abgegeben hatte, niemals mehr ein normales Leben würde führen können, gab sie einen Wink, dass er den Braten zum Anschneiden freigeben durfte.

Beschäftigungstherapie, schoss es Hannah durch den Kopf. Die engelblonde Französin besaß auch einen Stickrahmen und eine Spindel zur Herstellung von Garn, das niemand benötigte, außer sie selbst, um Brüsseler Spitze zu klöppeln, die sie dann zur Herstellung ihrer hochmittelalterlichen Accessoires benötigte, die sie grundsätzlich nicht ablegen wollte.

Hertzberg hatte einige versierte Kostümschneiderinnen engagiert, damit Amelie sich auch weiterhin aus einem entsprechenden Fundus bedienen konnte. Hannah rechnete es dem Professor hoch an, dass er die psychologische und kulturelle Komponente einer Zeitreise früh erkannt hatte und wusste, dass das Festhalten an Traditionen Amelie eine gewisse Sicherheit in der Fremde vermittelte.

Freya, die im 14. Jahrhundert in einem Beginenkonvent gelebt hatte, reagierte völlig anders als Amelie. Sie besaß einen robusten Charakter und war nach einer Eingewöhnungsphase auf alles neugierig, was ihr an |187|Neuem widerfuhr, auch wenn es Johan den letzten Nerv kostete, dass sie am liebsten in engen Jeans oder in einem Minikleid herumlief. Hannah konnte ihm ansehen, wie sehr er litt, wenn die männlichen Forschungsmitarbeiter seiner Frau hinterherstarrten, als ob es sich um Miss Universum persönlich handelte.

Hannah umarmte die rothaarige Begine zur Begrüßung, nachdem sie vom Tisch aufgestanden und ihr entgegengekommen war, um sie willkommen zu heißen.

Freya runzelte die Stirn, während sie Hannah näher betrachtete. »Geht’s dir nicht gut?«

Der Begine konnte man nichts vormachen. Sie besaß ein natürliches Verständnis für die Gefühle der Menschen in ihrer Umgebung und wusste, dass Hannah sich mitschuldig fühlte, weil sie nicht tun und lassen konnten, wonach ihnen der Sinn stand.

»Mir geht es einigermaßen«, antwortete Hannah und fasste sich an die Stirn. »Ich habe nur ein wenig Kopfweh.«

»Du siehst blass aus. Soll ich dir einen Weidenrindentee zubereiten lassen?«

»Danke, nein …« Hannah musste erneut lächeln. Freyas Hilfsbereitschaft war ein echter Lichtblick. »Ich fürchte, ich schlafe zu wenig.«

»Johan schläft auch fast keine Nacht.« Freya setzte einen mitfühlenden Blick auf. »Er grübelt immerzu, wo das alles noch hinführen soll. Aber ich bin froh, dass wir hier gelandet sind. Wir könnten das Paradies auf Erden haben, wenn wir es schaffen, uns selbst genug zu sein. Wir haben ausreichend zu essen und wohnen wie die Könige. Es gibt keine französischen Truppen, die uns nach dem Leben trachten, und kein Papst und kein Orden kann uns zu unsinniger Keuschheit zwingen.«

Freya warf einen Blick auf Johan, den sie trotz seiner entstellenden Brandnarben im Gesicht so abgöttisch liebte, dass sie ihm bis in die Hölle gefolgt wäre.

Ihr Kopf schnellte herum, und sie lächelte, als ihr Blick zu Hannah zurückkehrte. »Nicht zu vergessen der elektrische Föhn, mehrmals warm duschen am Tag und die Toilette mit Wasserspülung! Also wenn du mich fragst, ich find’s herrlich.« Dann nickte sie Richtung Eingangsportal, und ihr Blick wurde melancholisch. »Allerdings würde ich |188|gern noch viel mehr darüber erfahren, was auf uns dort draußen wartet.«

»Johan und die anderen werden niemals mit dem zufrieden sein, was ihnen das Leben innerhalb dieser Mauern bietet«, gab Hannah zu bedenken. »Ich kann ihren Schmerz spüren und leide mit ihnen. In ihrem alten Leben waren sie stolze, aufrichtige Krieger, und nun sind sie nur noch Lafours Marionetten. – Diese Scheißamerikaner«, zischte sie, »nehmen unseren Männern jede Würde.«

»Die Würde kann einem niemand nehmen«, erwiderte Freya und schaute Hannah fest in die Augen. »Es sei denn, man nimmt sie sich selbst.«

Am liebsten hätte Hannah von dem Gespräch zwischen Tom und Lafour und dem geplanten Einsatz der Männer erzählt, um Freya davon zu überzeugen, dass ihre Gastgeber es ganz und gar nicht gut mit ihnen meinte. Doch sie wollte die Beginenschwester nicht beunruhigen, schon gar nicht, bevor sie nicht selbst mit Gero über die Angelegenheit gesprochen hatte.

Als sie in die Eingangshalle zurückkehrte, begegnete ihr Anselm Stein, der mit einem zufriedenen Grinsen zur Tür hereinschlenderte. Seit ihrem unfreiwilligen Abstecher ins 14. Jahrhundert gehörte der dunkelhaarige Mittelalterexperte, dessen abgeschnittener Zopf inzwischen auf Schulterlänge nachgewachsen war, zu den Mitarbeitern des Instituts C.A.P.U. T. Er war der einzige Außenstehende, der vom amerikanischen Geheimdienst die Erlaubnis erhalten hatte, außerhalb des Camps zu leben. Etwas anderes war Lafour und den Sicherheitsexperten der NSA auch gar nicht übrig geblieben. Selbst wenn Anselm über die hier laufenden Forschungen bestens Bescheid wusste, war und blieb er deutscher Staatsangehöriger, und man konnte ihn nicht zwingen, etwas zu tun, das er nicht wollte. Es sei denn, man hätte ihn einfach verschwinden lassen wollen, doch das hätte lange Schatten auf das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebern geworfen, deren Wirkung nicht abzusehen gewesen wäre. Und so weit schien selbst Lafour nicht gehen zu wollen, zumindest solange Anselm den amerikanischen Geheimdiensten bei ihrer Arbeit keine Schwierigkeiten bereitete. Dafür hatte man ihm zugesichert, ihn in die weitere Entwicklung einzubinden, was er allein aus Freundschaft gegenüber Hannah und Gero und den übrigen Templern unmöglich ablehnen konnte.

|189|Neben Freya war er der Zweite, der die ganze Angelegenheit nach wie vor positiv bewertete. Obwohl sein Zeitreiseabenteuer auf der Festung Chinon mit dem gewaltsamen Tod von Templerkomtur Henri d’Our einen grausigen Abschluss genommen hatte, empfand Anselm es als Gnade, echten Templern begegnet zu sein und einen Blick in die Welt des Mittelalters geworfen zu haben.

Die braunen Augen zu Schlitzen verengt, ging er lachend auf Hannah zu und streckte ihr eine Flasche besten französischen Rotwein entgegen.

»Uralt, ein echtes Schätzchen aus der Provence«, bemerkte er mit einem gewichtigen Ausdruck in der Stimme. »Sagen wir, ich habe keine Kosten und Mühen gescheut.«

»Ich wüsste nicht, dass es etwas zu feiern gäbe.« Hannah nahm ihm mit einer unwirschen Geste die Flasche aus der Hand und betrachtete das Etikett. Beiläufig registrierte sie, dass der edle Tropfen gut und gerne 500 Euro gekostet hatte. »Aber vielleicht hast du recht, und es ist genau das richtige Gesöff, um mich zur Abwechslung mal hemmungslos zu betrinken.«

In der anderen Hand hielt er ihr die gut gefüllte Tüte eines bekannten Fastfood-Restaurants entgegen, auf dem ein gut sichtbares M prangte.

»Ist Matthäus schon da?« Anselm grinste entwaffnend. Er konnte sich denken, was Hannah beim Anblick dieses Mitbringsels erwidern würde.

»So was nennt man Kulturschock.« Hannah warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Bis vor einem halben Jahr hat Matthäus ausschließlich natürlich zubereitete Lebensmittel gegessen. Mit dem Zeug verdirbst du seinen empfindlichen Geschmack. Hast du daran schon einmal gedacht?«

Anselm lächelte versöhnlich. »Aber du gibst zu, dass ich damit weit mehr Erfolg habe als mit Brot, Käse und Haferbrei?« Er drehte die Tüte und las den Analysebericht eines bekannten Lebensmittellabors vor. »Das hier wird wenigstens permanent untersucht. Im Gegensatz zu ungekühltem Fleisch, auf dem schon tagelang die Fliegen gesessen haben …«

»Ach, verdammt …« Hannah schaute an ihm vorbei in Richtung Matthäus, der in der Halle saß und Anselm längst entdeckt hatte. Beim |190|Anblick von Anselm und der Tüte huschte dem Knappen ein Strahlen übers Gesicht.

»Ich finde es erschreckend«, fuhr Hannah fort, »wie schnell er seine Herkunft vergessen hat. Er ist kaum ein halbes Jahr hier und spricht Deutsch ohne Akzent und ein lupenreines amerikanisches Englisch. Er schiebt sich einen Hamburger nach dem anderen rein und schaltet ständig den Fernseher an – wenn man ihn lässt.« Sie nahm noch einen Schluck Rotwein, den sie sich kurz zuvor in ein Glas gegossen hatte. »Inzwischen bin ich mir sicher, dass es ein gewaltiger Fehler war, Tom und seinen Leuten zu vertrauen …«

Anselm, der wusste, dass Hannah selten vor dem Essen Alkohol zu sich nahm, warf ihr einen entgeisterten Blick zu und zog sie hinter eine gewaltige Eichentür, die normalerweise den Zugang zur Küche versperrte. »Da stimmt doch was nicht?«

»Du hast Nerven.« Hannah stieß einen Seufzer aus und gab ihm die Flasche zurück. Dann ließ sie die Schultern sinken. »Hat hier je was gestimmt?« Krampfhaft schluckte sie ihre Tränen hinunter.

Anselm legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie sanft zu sich heran. »Hey, Baby … du wirst doch deshalb nicht weinen, oder? Nimm es, wie es ist. Du kannst ohnehin nichts daran ändern.«

»Und ob!«, stieß sie mit heiserer Stimme hervor. »Ich habe es geahnt, und ich hätte es verhindern können – wenn ich damals auf Gero gehört hätte und wir nicht nach Chinon zurückgeritten wären.«

»Und dann? Du weißt nicht, was geschehen wäre, wenn wir … du … ich … seinen Befehl befolgt hätten. Vielleicht wären wir alle längst tot. Von französischen Söldnern zu Tode gefoltert, von Diebesbanden erschlagen oder an einer Seuche gestorben. Wer weiß das schon?«

»Natürlich wären wir tot …« Hannah lachte gereizt und verdrängte die Tränen. »Kein Mensch kann siebenhundert Jahre überleben. Aber womöglich hätten wenigstens Gero und seine Kameraden ein menschenwürdiges Dasein gehabt.«

»Ja – vielleicht«, erwiderte Anselm. »Oder einen ziemlich menschenunwürdigen Tod – wenn ihnen die Flucht nicht gelungen wäre. Aber du vergisst, dass es Struan und Amelie in jedem Fall erwischt hätte, falls wir nicht mit Toms Unterstützung zurückgekehrt wären.«

»Ja …« Hannah warf einen Blick auf den schwarzgelockten schottischen Templer, der eher aussah wie ein feuriger Spanier oder ein Sarazene |191|und der inzwischen aufgestanden war, vermutlich, um nach seiner Frau zu suchen.

»Von den schweren Verletzungen ist ihm nichts mehr anzusehen. Vielleicht hast du recht«, murmelte sie. »Ich sollte dankbarer sein.«

Anselm lächelte wehmütig. »Bevor ich nach Chinon gekommen bin, hätte ich nichts dagegen gehabt, auf der Breydenburg als Waffenmeister in Pension zu gehen oder dem Deutschen Orden als Ritter beizutreten …« Anselm sah sie mit aufrichtigem Bedauern an. »Aber nach dem, was wir dort erlebt haben, ist von meiner Ritterromantik nicht viel übrig geblieben, und das Schicksal wollte anscheinend, dass wir hierher zurückkehren. Dabei hatte ich gehofft, dass man Gero und seine Leute nach unserer Rückkehr nicht wie Außerirdische behandelt. Aber schon als Lafour und seine Männer uns im Donjon von Coudray entgegenstürmten, war mir klar, dass man unseren Templern kein Leben als Normalbürger ermöglichen würde.«

»Die Amis haben sie allesamt zu Laborratten degradiert«, erwiderte Hannah verbittert. »Mich würde es nicht wundern, wenn Lafour sogar ihr Verhalten auf dem Klo studieren lässt, weil er wissen will, ob sie im Sitzen oder im Stehen pinkeln.« Sie wandte sich ab und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Es ist grauenhaft und entwürdigend, und ich kann nichts dagegen tun!«

Anselm setzte ein halbherziges Lächeln auf. »Denkst du, er würde tatsächlich so weit gehen, euch auf der Toilette zu beobachten?«

»Lafour kennt keine Grenzen.« Hannah schnaubte verächtlich. »Seitdem ich weiß, dass er damals sogar Kameras in meinem Schlafzimmer hat installieren lassen, stöhne ich immer noch ein bisschen lauter, wenn es zur Sache geht. Aber das ist nicht das Schlimmste«, stieß sie leise hervor und zog Anselm noch weiter hinter die Tür. »Ich habe durch Zufall erfahren, dass die Amerikaner ihre Drohung wahrmachen wollen und eine Expedition in die Zeit des Zweiten Kreuzzuges planen, um die beiden dort verschollenen Wissenschaftlerinnen aus der Zukunft in unsere Zeit zu retten. Gero und seine Leute sollen ihnen dabei helfen, indem sie die beiden aus dem Jerusalem des Jahres 1153 evakuieren.«

»Bist du sicher?« Anselm sah sie überrascht an. »Warum rekrutieren sie nicht jemand anderen für diese Aufgabe? Lafour könnte doch seine eigenen Kettenhunde in ein Ritterkostüm stecken, ins mittelalterliche Jerusalem einschleusen und die Mädels dort herausholen.«

|192|»Fehlanzeige.« Hannahs Stimme klang resigniert. »Die Analyse des Timeservers hat ergeben, dass die Nachricht der beiden Frauen, die Hagen in einer Metallplombe übermittelt wurde, tatsächlich im Jahr 1148 auf dem Tempelberg abgesetzt wurde. In den Dateien des Servers gibt es jedoch Anzeichen, dass die beiden bis 1153 im Heiligen Land gelebt haben. Allerdings ist dort nichts über die Umstände zu finden. Wir wissen nicht, ob sie als Gefangene gehalten wurden oder ob man sie wie Königinnen verehrt hat. In Geschichtsbüchern und Aufzeichnungen tauchen sie freilich nicht auf. Die Templer haben ihre Anwesenheit allem Anschein nach geheim gehalten. Danach verliert sich ihre Spur. Niemand weiß, ob sie sich bis zum Tag ihres Verschwindens in Jerusalem aufgehalten haben. Hertzberg ist der Überzeugung, dass im Jahr 1153 ausschließlich autorisierten Personen Zugang zum Hauptquartier der Templer oder zum Königspalast gewährt wurde. Das bedeutet, nur ein echter Ordensritter ist vor Fehlern gefeit. Wo Templer draufsteht, muss auch Templer drin sein. Ich muss dir nicht erzählen, dass der Orden tausende komplizierte Losungen nutzt, an denen sich die Eingeweihten erkennen. Du musst die Regeln beherrschen und wissen, wann und wie man grüßt, wie man sich verbeugt und wer welchem Dienstgrad Befehle zu erteilen hat, sonst fliegst du sofort auf. Wer als Betrüger entlarvt wird und den Verdacht der Spionage auf sich zieht, muss mit schweren Folterungen rechnen und wird anschließend gehängt. Und weil man nicht weiß, wo sich die beiden Frauen aufhalten und in welcher Verfassung sie sich befinden, müssen Profis ran, die bei der Bevölkerung keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Gero und seine Brüder sollen als initiierte Ordensbrüder das Auffinden der beiden Frauen garantieren und zugleich ihren Transfer in die Zukunft sichern. Wobei ich mich frage, was Lafour dort mit Tanner und Tapleton anfangen will.«

»Heißt das, er will, dass unsere beiden untalentierten NSA-Agenten den Trip begleiten?« Anselm schaute überrascht auf. »Aber die beiden sind weit davon entfernt, mit einem Schwert umgehen zu können, von ritterlichem Benehmen ganz zu schweigen.« Die Vorstellung, dass man die beiden Ex-Marines ins Mittelalter transferieren wollte, entlockte ihm ein Grinsen. »Man könnte ihnen eine Pappnase aufsetzen und sie als Gaukler engagieren. So etwas war damals ziemlich beliebt.«

»Offiziell sollen sie das Sanitätsteam stellen, aber ich bin mir nicht |193|sicher, ob Lafour sie nicht aus anderen Gründen einsetzt«, erklärte Hannah mit spöttischem Blick. »Wenn ich richtig gehört habe, denkt er daran, sie mit modernen Waffen auszustatten, damit sie eingreifen können, falls es ernst wird. Vielleicht sollen sie auch nur sicherstellen, dass Gero und seine Kameraden nicht aus der Reihe tanzen.«

Anselm schüttelte verständnislos den Kopf. »Das passt doch nicht. Einerseits legt er Wert auf den Einsatz echter Templer, andererseits will er Agenten der NSA am Einsatz beteiligen und sie mit modernen Waffen ausstatten, die bei jeder Durchsuchung sofort auffallen würden.«

»Wer weiß«, entgegnete Hannah, »was ihm sonst noch alles im Kopf herumschwirrt. Vielleicht will er die Kämpfe in Afghanistan und im Irak kurzerhand ins zwölfte Jahrhundert verlegen.«

Anselm hob ungläubig die Brauen. »Und was sagt Tom dazu? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man ein solches Risiko für die weitere Raum-Zeit-Entwicklung eingehen kann, ohne zu wissen, welche Auswirkungen es haben wird?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe wahnsinnige Angst, Gero für immer zu verlieren.«

»1153?« Anselm stieß ein kurzes fatalistisches Lachen aus. »Das ist 150 Jahre früher als 1307 …« Plötzlich verstummte er. Hannah konnte sich denken, warum. Hatte man das Jahr 1307 schon als eine Zeit bezeichnen können, in der man leicht eines grausamen Todes sterben konnte, so galt dies für 1153 erst recht.

Hannahs Blick wurde zusehends mutloser. »Mein Gott … ich werde wahnsinnig, wenn der Präsident auf dem Einsatz besteht.«

»Hast du mit Gero darüber gesprochen?«

»Nein.«

»Warum nicht?« Anselm sah sie erstaunt an.

»Weil er noch nicht mit mir darüber gesprochen hat.« Hannah warf einen hastigen Blick in die Halle, wo Gero inzwischen frisch geduscht und umgezogen, in beigefarbener Trekkinghose und Kurzarmhemd auf der hölzernen Bank neben Matthäus Platz genommen hatte. Zusammen mit dem Jungen studierte er ein bunt bebildertes Wissenschaftsbuch für Jugendliche, das Matthäus sich im Bibliothekszimmer ausgesucht hatte.

»Was soll das bedeuten?« Anselm folgte verständnislos ihrem Blick.

|194|»Ich weiß es nicht von ihm«, gestand Hannah, wobei ihr die Verärgerung immer noch anzusehen war. »Allerdings haben er und die anderen bereits mit Hertzberg über den Einsatz beraten und den Plänen der Amerikaner zugestimmt – zu abenteuerlichen Konditionen. Hertzberg hat sie mit der Errettung des Ordens und der Erhaltung Jerusalems für die Christen geködert. Ich kann kaum glauben, dass Gero so denkt, aber solange er schweigt, kann ich keine besseren Argumente für einen solchen Unsinn vorbringen.«

»Jerusalem …«, wiederholte Anselm nachdenklich. »Das ist ein ziemlich starkes Argument. Nichts könnte einen Templer mehr berühren als die Errettung jener Stadt, die die Herkunft des Ordens begründet.« Er sah sie zweifelnd an. »Ich bin mir nicht sicher, ob du Erfolg haben wirst.«

 

Beim Abendessen wurde kein Wort gesprochen. Die fünf Templer pflegten diese Tradition des Schweigens während der Nahrungsaufnahme, die ihr Orden vor neunhundert Jahren vom Orden der Benediktiner übernommen hatte, und alle Mitbewohner und Gäste respektierten diese Regel, die man auch aus gewöhnlichen Klöstern kannte.

Hannah beobachtete, wie Matthäus als einzig anwesender Knappe das Tischgebet eröffnete, wie immer feierlich und voller Ernsthaftigkeit, als säße er nicht in einem modernen Gebäude der amerikanischen Streitkräfte im Jahr 2005, sondern noch immer im Jahr 1307 im Refektorium der Templerkomturei von Bar-sur-Aube.

Der Junge hatte seinen blonden Lockenkopf gesenkt, so dass seine schulterlangen Haare sein Gesicht verdeckten, und hielt die Hände exakt gefaltet wie Michelangelos Engel. Die Litanei, die er, ohne abzulesen, in Latein verkündete, dauerte gut fünf Minuten, die Hannah jedes Mal wie eine Ewigkeit erschienen. Erst als Matthäus geendet hatte, durfte man mit dem ersten Gang beginnen. Dem Jungen war die Freude über seinen aufgewärmten Super-Burger anzusehen, den er statt des üblichen Menüs mit großem Appetit vertilgte.

Hannah schaute in die Runde, die neben den Templern und ihren Frauen auch aus Mitarbeitern der NSA und des wissenschaftlichen Teams bestand, denen ein mittelalterliches Candlelight-Dinner mit echten Rittern offenbar attraktiver erschien als ein hastig heruntergeschlungenes |195|Fast-Food-Menü mit Neonbeleuchtung in der benachbarten Mitarbeiterkantine. Hannah vermisste Paul Colbach und Kate Baxter. Der luxemburgische Computerspezialist und die schottische Medizinwissenschaftlerin waren seit Monaten ein Paar und gesellten sich des Öfteren zum Abendessen hinzu, um ein wenig über den Forschungsalltag und allgemeine Dinge zu plaudern. Tom hatte sich seit der letzten Auseinandersetzung mit Hannah nicht mehr blicken lassen, und Lafour wusste offenbar, dass er an dieser Tafel nicht willkommen war. Lediglich Tanner und Tapleton tauchten ab und an zum anschließenden allabendlichen Beisammensein auf, um mehr über das Zusammenleben in einem Ritterorden zu erfahren. An diesem Tag jedoch war Johan im Training wohl etwas zu weit gegangen, jedenfalls hatte Tanner sich nach den gemeinsamen Schwertkampfübungen kaum noch auf den Beinen halten können, weil sein Kreislauf verrückt gespielt hatte und er anschließend kollabiert war – was Johan eine Beschwerde Lafours wegen Gefährdung der allgemeinen Sicherheit eingebracht hatte und Tanner einen Kurzaufenthalt in der Krankenstation.

Arnaud, der dunkelhaarige Südfranzose am Tisch gegenüber, zwinkerte Hannah abermals zu, als er bemerkte, dass sie selbstvergessen durch ihn hindurchschaute. Sie erwiderte seine Geste nicht wie gewöhnlich mit einem Lächeln, sondern schaute auf den Tisch, wo sie in ihrer Gemüsesuppe herumrührte, in der Hoffnung, dass ihr niemand anmerkte, wie wütend und gleichzeitig besorgt sie war.

Verdammte Heuchler, ging es ihr durch den Kopf, als sie abwechselnd von Gero zu Struan schaute, die sich nicht das Geringste anmerken ließen. Anschließend beobachtete sie verstohlen Johan van Elk, dessen vernarbtes Gesicht sie Tag für Tag an die Schrecken eines mittelalterlichen Feldzuges erinnerten, aber auch ihm war nichts anzumerken. Danach wanderte ihr Blick zu Freya und Amelie, die nichtsahnend bei Tisch saßen und wie üblich nicht mit ins Kalkül gezogen wurden, wenn es darum ging, in einen Kampf zu ziehen. Hannah hatte eine ähnliche Situation schon einmal erlebt, als Gero auf der Burg seines Vaters beschlossen hatte, dass man ohne Frauen nach Frankreich ziehen wollte, um Henri d’Our aus den Folterkammern des französischen Königs zu befreien. Hertzberg hatte recht, wenn er behauptete, dass das Keuschheitsgelübde früherer Ritterorden seinen Sinn gehabt |196|hatte. Templer und Frauen, das passte nicht zusammen. Jedenfalls nicht, wenn es sich um Ehefrauen handelte, denen etwas am Leben ihrer Männer lag.

Erst nachdem die letzten Teller abgeräumt waren, erhob sich ein Murmeln. Hannah hielt es nicht länger bei Tisch. Die ganze Zeit über hatte sie darüber nachgedacht, wie sie Gero zur Rede stellen konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Sie hätte bis heute Nacht warten können, wenn sie alleine im Bett lagen, doch das dauerte ihr zu lange. Außerdem befürchtete sie, dass die Wände in ihren Unterkünften Ohren hatten und Lafours Leute sie belauschten.

Hinter der Halle hatten die Amerikaner einen Garten mit einer Laube und einem Lagerfeuerplatz anlegen lassen. Selbst dort konnte man vor einem Lauschangriff nicht sicher sein, aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich irgendwohin abzusetzen, wo sie ungestört waren. Die Luft war warm, und obwohl die Sonne schon tief stand, verzichtete Hannah darauf, eine Strickjacke über ihr rückenfreies Kleid zu ziehen. Gero hatte es zu Beginn ihrer Ehe missbilligt, wenn sie so freizügig herumlief. Darin hatte er ähnliche Ansichten wie Johan und Struan. Aber sie hatte ihm erklärt, dass sie trotz aller Rücksichtnahme auf ihn nicht bereit war, auf ein selbstbestimmtes Leben zu verzichten, selbst dann nicht, wenn sie ihn liebte und in mittelalterlich geprägter Demut als ihren Herrn und Meister akzeptierte, wie er sich mitunter scherzhaft auszudrücken pflegte.

Im Augenblick hätte sie sein Machogehabe nur zu gerne akzeptiert, wenn er ihr dafür versprochen hätte, Lafours Jerusalemtrip zu boykottieren.

Arnaud und Stephano, denen solche Auseinandersetzungen fremd waren, standen vom Tisch auf und folgten ihr, während Gero noch auf sich warten ließ. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie er mit Matthäus sprach. Die Augen des Jungen glänzten jedes Mal, wenn sich sein Herr mit ihm beschäftigte. Gero war dem Jungen mehr als der eigene Vater, den er kaum kennengelernt hatte, weil der kurz nach der Geburt in einer der vielen Schlachten gefallen war, die damals noch Mann gegen Mann ausgefochten wurden. Matthäus’ Onkel, der getötete Templerkomtur Henri d’Our, hatte seinen Neffen bei Geros Rückkehr aus Zypern im Jahre 1303 als Knappe in dessen Obhut gegeben, und seitdem waren die beiden unzertrennlich.

|197|Um den Jungen tat es ihr am meisten leid. Die Amerikaner hatten selbst vor dem Jungen nicht haltgemacht und begleiteten seine Ausbildung zum Ritter, die von Gero und seinen Kameraden wie selbstverständlich weiter betrieben wurde, auf Schritt und Tritt mit einer Highspeed-Kamera. Der Gedanke, was aus Matthäus werden sollte, wenn Gero etwas zustoßen würde, quälte Hannah nicht erst, seit sie um die Pläne der Amerikaner wusste.

»Ma Chérie? Alles gut?« Arnaud grinste sie an, seine Hand streifte wie unbeabsichtigt ihren Arm. Der Sohn eines Markgrafen aus dem Languedoc besaß einen unverwechselbaren südländischen Charme, und mit seinen dunkelbraunen Locken und dem verwegenen Dreitagebart war er der Prototyp eines Gigolos. Mit Sicherheit hatte er den Damen seinerzeit reihenweise die Köpfe verdreht. Sein Vater stammte aus der Provence, und seine Mutter war eine Poulani gewesen. Sie war einer Ehe zwischen einem fränkischen Ritter und der Tochter eines Emirs im Heiligen Land entsprungen. Daher beherrschte Arnaud neben Altfranzösisch und Latein ein einwandfreies Arabisch, das seine Großmutter ihm beigebracht hatte. Ein Grund, warum man ihn im Jahre 1305 ohne Zögern bei den Templern von Bar-sur-Aube aufgenommen hatte. Hannah hatte er in einer stillen Stunde einmal erzählt, dass seine Familie zu den frühen Unterstützern des Ordens zählte und schon immer die jüngsten Söhne dem Templerorden überantwortet hatte. Niemand hatte ihn gefragt, ob er lieber ein Troubadour werden wollte oder ob es ein Mädchen gab, an dem sein Herz hing. Im Mittelalter hatte man keine Rücksicht auf die Wünsche junger, männlicher Adliger genommen, die zu Ehren der Familie einem Orden beitreten mussten. Davon war nun kaum noch etwas zu ahnen. In Jeans und kurzärmeligem Hemd sah Arnaud aus wie jeder andere gutaussehende Kerl auf der Straße. Niemand, der die Umstände nicht kannte, würde vermuten, dass er noch vor einigen Monaten in einer siebenhundert Jahre entfernten Welt die Chlamys eines Templers getragen hatte.

Arnaud nahm seine Laute mit nach draußen und setzte sich auf einen abgesägten Baumstamm, wo er das Instrument zu stimmen begann. Jemand hatte ein Lagerfeuer entfacht, und von den knisternden Tannenholzblöcken stiegen Funken und wohlriechender Rauch auf. Gedankenversunken widmete sich Arnaud seiner Musik. Hannah liebte die sanften, orientalischen Klänge, die der ehemalige Kreuzritter |198|mit seinen geschickten Fingern den Saiten dieses uralten Instruments entlockte, aber noch betörender war seine dunkle, eindringliche Stimme, die bei den meisten, die ihm zuhörten, für eine Gänsehaut sorgte. Nicht wenige seiner Stücke waren der Feder Thibaults de Champagne entsprungen, gleichzeitig König von Navarra und berühmtester Minnesänger des 13. Jahrhunderts. Thibaults leidenschaftliche Liebe zu Blanche von Kastilien hatte ihn zu unzähligen Liebesliedern inspiriert. Hannah mochte deren archaischen Klang und den herben Charme der Texte. Sie erzählten von der unerfüllten Sehnsucht wartender Frauen, die einsam auf Burgzinnen saßen und vergeblich auf die Rückkehr ihres Geliebten hofften, der Monate zuvor ins Heilige Land aufgebrochen war, um es von den Heiden zu befreien. Doch im Augenblick konnte Hannah sich nicht auf die Musik konzentrieren. Ihr Blick fiel auf Arnauds Brandnarben, die man ihm vor siebenhundert Jahren bei schwersten Folterungen im Donjon du Coudray zugefügt hatte und die immer noch auf seinen sehnigen Unterarmen schimmerten. Wie die anderen Templer wäre er wohl lieber gestorben, als seinen Orden zu verraten, und dass er vor seiner Rettung durch den Timeserver dem Tod näher gewesen war als dem Leben, hatte Hannah mit eigenen Augen gesehen. Ob er und Stephano, dem es in den Kerkern König Philipps IV. kaum besser ergangen war, ein Trauma zurückbehalten hatten, wusste Hannah nicht zu sagen. Ihr Innerstes vor anderen zu verschließen gehörte zu den Grundlagen ihrer Ausbildung als Templer. Wahrscheinlich würde niemand je erfahren, wie es wirklich in den Herzen dieser ehemaligen Ordensritter aussah und was in ihnen vorging, seit man sie so unvermittelt in die Zukunft transferiert hatte.

Hannah kannte die Angst, die nach ihren schrecklichen Erlebnissen im Kerker von Chinon geblieben war und die sie manchmal schweißgebadet aus entsprechenden Alpträumen hochfahren ließ. Dann entspannte sie sich erst wieder, wenn Gero sie mit seiner Zärtlichkeit beruhigte.

Als Arnaud von seiner Laute zu Hannah aufsah, trafen sich ihre Blicke. Er lächelte sie an, aber in seinen braunen Augen lag unendlich viel Melancholie. Er sehnte sich zurück ins Languedoc des 14. Jahrhunderts. Er wollte nach Hause, wie die anderen, dorthin, wo man seine Sprache kannte und seine Ansichten akzeptierte.

|199|Gero hockte sich neben Hannah auf den durchgesägten Baumstamm und nahm ihre Hand. Er sagte nichts, küsste ihre Finger und starrte abwesend ins Feuer. Als Struan und Amelie hinzukamen, schaute er kurz auf und lächelte.

Hannah schluckte, als sie an die Miene vollkommenen Glücks dachte, die sich trotz der unsäglichen Schmerzen auf dem Gesicht des Schotten abgezeichnet hatte, als er eines Morgens die schlafende Amelie Bratac im Bett neben sich entdeckte. Gero hatte Tom so lange bekniet, bis er und seine Techniker die Freigabe für einen weiteren Einsatz des Timeservers erhalten hatten, um das Mädchen aus der Vergangenheit zu holen. Gero hatte sich trotz des Risikos, die eine Zeitreise mit sich brachte, bereit erklärt, Amelie aus der Burg seiner Eltern in die Gegenwart zu holen. Amelie hatte dort auf Struans Rückkehr aus Franzien gewartet, und als selbst nach Wochen jedes Lebenszeichen von ihm und seinen Kameraden ausgeblieben war, hatte sie das Kind, das sie von ihm erwartete, im siebten Monat verloren. Aber das Einzige, was für den Schotten gezählt hatte, war, dass sie lebte und ihn immer noch liebte, obwohl er ihr Flehen, nicht nach Frankreich zurückzugehen, in den Wind geschlagen hatte. Ihre pure Anwesenheit hatte ihm nach ihrer Ankunft in der Zukunft Kraft und Zuversicht verliehen, wieder gesund zu werden.

Freya von Bogenhausen nahm mit einer geschmeidigen Bewegung neben Johan Platz, der sie umarmte und küsste. In Gegenwart der Wissenschaftler, Techniker und NSA-Agenten bewachte er sie wie ein Kampfhund, weil er ihnen noch mehr misstraute als seinen Geschlechtsgenossen vor siebenhundert Jahren.

»Der größte Nachteil in eurer Zeit ist«, hatte er einmal zu Hannah gesagt, »dass man seine Konkurrenten nicht zum Kampf herausfordern und töten darf.« Als Templer und Nonne hätten sie im 14. Jahrhundert kaum eine Chance gehabt, sich ihre Liebe einzugestehen.

Stephano, ein ruhiger, blonder Ritter, bei dem Hannah hätte wetten mögen, dass er sich eher für Männer interessierte, stimmte in einem klaren Tenor in das Lied des Troubadours ein, und auch die anderen Kameraden sangen nach und nach leise mit. Gero spielte sanft mit Hannahs Fingern, und sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, ohne ihn zu erwidern. Wenn sie ihn ansah, würde sie ihre Gedanken verraten, wenn sie es ohnehin nicht schon längst getan hatte.

|200|Amelie und Freya saßen wie hypnotisiert neben ihren Männern und wippten leise mit den Füßen, als Anselm, der eben erst hinzugekommen war, ein Tamburin zückte und es im Takt gegen sein Handgelenk schlug. Irgendwo am Abendhimmel zog ein runder, blasser Mond auf, und eine Nachtigall sang, als ob sie Arnaud Konkurrenz machen wollte. Alles hätte so unglaublich schön sein können.

Hannah ertrug diese scheinbare Idylle nicht länger. Ohne ein Wort erhob sie sich und ging in Richtung der Parkplätze. Von hier aus konnte sie das große Rolltor und die Wachkabine sehen, vor dem ein bewaffneter Marinesoldat in Schutzweste, die Maschinenpistole im Anschlag, patrouillierte.

Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich und spürte, wie eine warme Hand sie an ihrer bloßen Schulter zurückhielt.

»Warte«, sagte eine vertraute, dunkle Stimme. »Was ist mit dir?«

Gero war ihr lautlos gefolgt. »Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?« Seine Stimme war heiser. »Du benimmst dich schon den ganzen Tag so merkwürdig.«

»Nicht hier«, erwiderte sie leise.

»Und wo willst du hin?«

»Wir können zur Burg fahren. Ich werde Hertzberg anrufen«, erwiderte sie und zückte ihr Mobiltelefon.

Das Gespräch dauerte nicht lange. Der Professor hatte ein Einsehen, dass sie mit Gero eine Weile allein sein wollte. Wahrscheinlich ahnte er, dass sie mit ihm über das bevorstehende Projekt reden wollte. Die Ruine der Breydenburg lag nur ein paar Autominuten entfernt.

Hannah besaß einen Passierschein und eine Ausnahmegenehmigung, die es ihr erlaubte, nach mündlicher Ankündigung auch mit Gero das Areal der Forschungseinrichtung zu verlassen. Manchmal meldeten sie einen gemeinsamen Ausritt zu Pferd an, und ab und an nahmen sie den Wagen, um zum ehemaligen Stammsitz seiner Familie zu fahren. Für einen Ausritt war es mittlerweile zu spät. Ihr Golf, den sie sich nach dem Umzug hierher gekauft hatte, stand auf einem Parkplatz nicht weit vom Einfahrtstor entfernt. Ihre Tasche mit den Schlüsseln lag auf der unverschlossenen Beifahrerseite. Sie hatte vergessen, sie herauszunehmen, nachdem sie am Vormittag auf der Air Base zu tun gehabt hatte. Wer sollte hier schon etwas stehlen, wo jede kleinste Regung von Kameras überwacht wurde?

|201|Gero stieg ohne Murren ein, obwohl es ihm nicht gut dabei ging. Er ritt zwar wie der Teufel, wechselte aber die Farbe, sobald er in einem Wagen saß und der Motor gestartet wurde.

Die Fahrt würde nicht lange dauern. Gero ahnte, dass Hannah zu seinem früheren Zuhause fahren wollte. Vor siebenhundert Jahren ein stolzer Adelssitz, war die Burg dieser Tage nur noch eine Ruine.

Hannah zeigte kurz ihren Ausweis, als sie die sechs Meter hohe Betonabgrenzung erreichte. Der Wachhabende war informiert und ließ sie ohne Einwand passieren. Nach zwanzig Minuten erreichten sie das Liesertal. Hannah parkte den Wagen unweit des Flusses an einem Waldweg, der hinauf zur ehemaligen Breydenburg führte. Wortlos stieg Gero aus. Er brauchte jedes Mal einen Moment, um die Trauer, die er beim Anblick dieser menschenleeren Gegend empfand, zu bewältigen. Früher hatten hier Hunderte von Knechten und Mägden ihren Frondienst geleistet, und das ganze Tal war von Gerüchen nach verbranntem Holz, frisch gebackenem Brot und einer Gerstenbrauerei erfüllt gewesen, die seine Eltern unterhalb der Burg betrieben hatten.

 

Gero fasste Hannah bei der Hand, als sie gemeinsam den Anstieg zur Burg antraten. Er sagte es nicht, aber er benötigte ihren Beistand, das Gefühl, ihr nahe zu sein, und es machte ihn glücklich zu wissen, dass Hannah selbst dort gewesen war, vor Hunderten von Jahren, als die Burg noch in voller Blüte gestanden hatte. Gero erinnerte sich noch gut an Hannahs Erstaunen, als er sie in das Innere der Burg geführt hatte. Ihre Begeisterung für das gediegene Ambiente, die prachtvollen Möbel und die Tatsache, dass es in seiner Zeit mitnichten so erbärmlich und schmutzig zugegangen war, wie es in modernen Geschichtsbüchern verbreitet wurde. Geros Mutter hatte den Haushalt mitsamt dem Gesinde straff organisiert, und das Gebäude mit seinen Türmen, Erkern und den zwanzig Metern hohen Wehrmauern war in einem einwandfreien Zustand gewesen.

Hannah hatte das Gebäude als Märchenschloss bezeichnet und sich in den Kleidern, die seine Mutter für sie hatte anfertigen lassen, wie eine Prinzessin gefühlt.

Natürlich hatte es auch Momente gegeben, in denen sie ihm und seinen Leuten Barbarei vorgeworfen hatte – wegen abgeschnittener Zungen, Nasen und Ohren, Strafen, die ihm für Vergehen wie üble |202|Nachrede, Diebstahl und Schnüffelei ganz selbstverständlich erschienen, sicherten sie doch dem Volk ein ruhiges, ungestörtes Dasein. Gero versuchte immer noch vergeblich zu verstehen, warum sie sich so sehr über gefolterte Raubmörder in Käfigen aufgeregt hatte, die man selbstverständlich zum Tode verurteilt auf der Burg seines Onkels gehängt hatte. Was war so abwegig daran, deren Köpfe zur Abschreckung des Gesindels auf Spieße zu stecken und auf den Außenmauern der Burg verschrumpeln zu lassen?

Beim Anblick einer knorrigen Eiche erinnerte Gero sich noch lebhaft an Hannahs grenzenlose Erleichterung, weil die Obstbäume rund um die Breydenburg frei von baumelnden Skeletten waren. Sie hatte sich regelrecht davor gegruselt, und das nur, weil sie auf dem Weg vom Rhein zum Haus seiner Eltern an einem Gehängten vorbeigeritten waren, den man als Mahnung an einem Baum aufgeknüpft und den Raben überlassen hatte, die – zugegeben – gründliche Arbeit geleistet hatten.

Im Nachhinein war Gero froh, dass er ihr einiges mehr hatte bieten können als Folterkammern, Schwertkämpfe und Hungersnöte, die offenbar immerzu in den Köpfen moderner Historiker herumgeisterten. Er dachte dabei an sein Schlafgemach, das kunstvoll geschnitzte Bett, die nach Rosenblüten duftenden Seidenkissen und wie glücklich sie darin gewesen waren.

Als ob sie diese Erinnerung zurückholen wollte, schaute Hannah zu ihm auf. »Ich frage mich«, sagte sie leise, während sie die ersten Mauerreste erreichten, »was wohl geschehen wäre, wenn wir nicht nach Chinon gegangen wären, um Henri d’Our zu retten? Glaubst du, wir hätten hier glücklich werden können?«

Gero überlegte nicht lange. »Nicht solange meine Kameraden im Donjon du Coudray zu Tode gequält worden wären. Ich … wir mussten nach Franzien zurückgehen und sie dort herausholen. Es blieb uns keine andere Wahl.«

»Und was würdest du tun, wenn wir zu deinen Eltern zurückkehren könnten?« Die Frage war absurd, weil es nicht danach aussah, dass die Amerikaner sie in diesem Wunsch unterstützen würden.

»Wenn Tom mitspielen würde«, setzte er hoffnungsvoll an, »ginge ich auf der Stelle zurück – mit dir und Matthäus. Ich würde es gerne versuchen, mit euch beiden in unserer Zeit zurechtzukommen. Manchmal |203|denke ich, mein Vater hätte uns helfen können, einen Weg in die Freiheit zu finden.«

»Das heißt, du würdest mich tatsächlich mitnehmen?« Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch sein Gesicht blieb unbewegt.

»Es ist nur ein Traum. Solange ich der zweitgeborene Sohn und ein verfolgter Templer bin, würden wir meine Familie in Gefahr bringen und könnten keine eigene Familie gründen. Aber was erzähle ich dir? Schließlich warst du selbst dort.« Er seufzte und blickte sehnsüchtig in die Ferne. »Tom würde uns den Gefallen ohnehin nicht tun. Na ja, er schon«, er lachte bitter, »weil er mich hasst und am liebsten gleich morgen loswerden würde, aber die Amerikaner werden ihn hart bestrafen, wenn er sich von seinen Gefühlen leiten lässt.« Mit schmerzverzerrter Miene schaute er Hannah in die Augen. »So leid es mir tut, du hast einen Unfreien geheiratet, einen Entrechteten, der dir niemals die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben geben kann. Jedenfalls nicht solange wir hier bleiben«, er blickte auf die Ruinen, als ob dort ein Fenster in die Vergangenheit existierte, » und selbst dort nicht. Wenn ich es mir recht überlege, war ich noch nie wirklich frei.« Er packte sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Unter solchen Umständen ist es wohl besser, auf Nachkommen zu verzichten. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass unsere Kinder unter Aufsicht von General Lafours Sklaventreiber aufwachsen.«

 

Hannah spürte den Stich in ihrem Herzen. Was wäre, wenn Gero erfuhr, dass sie bereits schwanger war?

»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns niemals getroffen hätten«, wandte sie kaum hörbar ein. »So müssen wir zeitlebens von etwas träumen, das wir uns beide sehnlich wünschen, aber trotzdem nicht haben können.«

Ihr Blick fiel auf die Ruinen, die nichts mehr von der Erhabenheit dieses ehemals stolzen Gemäuers preisgaben.

»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht zur Heiligen Jungfrau bete und sie um Erbarmen bitte.« Gero strich Hannah das kastanienfarbene, schulterlange Haar aus dem Gesicht und sah sie an, als ob er sie mit »der Heiligen Jungfrau« gemeint hätte.

Er sprach nicht weiter, sondern zog sie ein Stück unterhalb des Felsens zum Fundament des ehemaligen Bergfrieds. An einem aufragenden |204|Mauerrest machten sie halt. In der halb verschütteten Katakombe, deren Einstieg sich hinter einem Berg von Schutt verbarg, waren seine Eltern bestattet worden. Siebenhundert Jahre in Stein gehauene Trauer. Gero faltete die Hände und betete mit gesenktem Kopf ein stilles »Gegrüßt seiest du, Maria«.

Es war ein Ort, der nach Ehrlichkeit verlangte. Ein Ort, der alles in Gero, aber auch in Hannah bloßlegte, was sie vor anderen mühsam hinter einer Fassade der Überlegenheit zu verstecken versuchten. Hier hatte er seine erste Frau zu Grabe getragen, und hier hatte er – siebenhundert Jahre später – um Hannahs Hand angehalten. Sie sah die Tränen in seinen Augenwinkeln und wandte sich ab, um nicht selbst weinen zu müssen.

»Vermisst du Elisabeth?« Hannah hatte bisher vermieden, nach seiner verstorbenen Frau zu fragen, aber plötzlich beschlich sie ein Gefühl der Unsicherheit. Was hätte er getan, wenn Elisabeth am Leben geblieben wäre? Was würde er tun, wenn es Tom möglich sein würde, jemanden in deren Zeit zu schicken, um seine erste Frau zu retten?

Im Augenblick wusste niemand, ob eine solche Veränderung möglich war, aber schließlich forschte man in diese Richtung.

Gero besiegelte sein Gebet mit einem lauten »Amen«. Plötzlich wollte Hannah wissen, ob er – falls der Zeitablauf sich verändern ließe – lieber mit Elisabeth leben würde als mit ihr.

»Natürlich vermisse ich sie«, gab er unumwunden zu, »so wie ich dich auch vermissen würde, wenn ich dich – was Gotte verhüten möge – dem Allmächtigen zurückgeben müsste.«

Hannah schluckte nervös. »Kannst du verstehen, dass ich manchmal ein bisschen eifersüchtig auf sie bin? Ich meine, sie nimmt immer noch ein Teil deines Herzens ein.«

»Ja, das tut sie«, sagte er dumpf und wich ihrem prüfenden Blick aus. »Aber mein Herz ist groß genug, damit ihr beide euch darin nicht ins Gehege kommt.«

»Würdest du zu ihr zurückgehen, wenn Tom es möglich machen könnte?«

»Er kann es nicht«, antwortete Gero diplomatisch. »Die Wissenschaftler sagen, dass niemand mit dem C.A.P.U. T. 58 dorthin zurückgehen kann, wo er schon einmal gewesen ist.«

»Ich könnte gehen«, forderte Hannah ihn heraus. »Ich war noch |205|nicht in dieser Zeit. Ich könnte sie warnen, dass es besser für sie ist, kein Kind mit dir zu bekommen.«

»Und dann?« Gero sah sie herausfordernd an. »Willst du ihr auch gleich ein Verhütungsimplantat verpassen oder ihr ausreden, mit mir ins Heu zu gehen?« Sein Blick war leicht ironisch. »Was wäre, wenn wir beide uns dort über den Weg laufen. Denkst du, ich würde dir glauben, dass du aus der Zukunft kommst und uns warnen willst? Ich würde denken, du bist eine Verrückte …«

Vielleicht hätte man sie tatsächlich als Irre vom Hof gejagt. Oder sogar der Inquisition übergeben.

»Ja, du hast recht«, bemerkte sie resigniert. »Wahrscheinlich würdest du mich als Hexe verbrennen lassen.« Sie verfluchte sich selbst, weil sie das Thema überhaupt angesprochen hatte.

Die Umstände, die zu Elisabeths Tod geführt hatten, waren nicht weniger grausam gewesen als eine Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Ein völlig falsch gesetzter Kaiserschnitt, der nicht Mutter und Kind retten sollte, sondern der ausgeführt worden war, damit man das Kind bei lebendigem Leib taufen konnte, was ein christliches Begräbnis möglich machte.

»Glaubst du«, fuhr Gero genervt fort, »ich hätte auch nur eine Nacht bei Elisabeth gelegen, wenn ich gewusst hätte, was danach geschieht?«

Hannah bemerkte, dass seine Stimme zitterte. Unwillkürlich war sie auf gefährlichem Terrain gelandet.

Wenn es nicht mehr möglich war, Gero oder Elisabeth zu warnen, weil das Geschehene längst eingetreten war, warum versuchte man dann überhaupt in der Zeit zurückzugehen?

Sie brachte es kaum über sich, seinen Blick zu erwidern, geschweige denn, ihn wegen Hertzbergs Aussage zur Rede zu stellen. Doch sie musste es tun, weil ihr die Frage zu wichtig war.

»Wenn alles so aussichtslos ist, warum habt ihr den Amerikanern nachgegeben? Glaubst du tatsächlich an die Rettung Jerusalems vor Saladins Truppen? Oder steckt etwas anderes dahinter?«

Gero sah sie verblüfft an. »Woher weißt du davon?«

»Sag mir lieber, warum ich nicht davon wissen sollte.«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, erwiderte er diplomatisch und senkte den Blick. »Du hättest es früher oder später ohnehin erfahren.«

|206|»Ach ja? Denkst du? Und wenn nicht?« Hannah hob ihre feingeschwungenen Brauen, und in ihrer Stimme war die Ironie kaum zu überhören. »Du wolltest diesen Höllentrip also unternehmen, ohne dich von mir zu verabschieden.« Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt, doch eher hätte sie einen kapitalen Felsen in Bewegung bringen können. »Ich will nicht, dass du diesem Wahnsinn nachgibst! Jeder Einsatz des Timeservers birgt ein tödliches Risiko, und niemand weiß, was euch im Jahr 1153 erwartet. Soweit mir bekannt ist, waren die Zeiten damals weitaus miserabler als 1307. Im Heiligen Land wimmelte es von blutrünstigen Sarazenen, und die politische Situation war mindestens so undurchsichtig und unberechenbar, wie sie es heute im Irak oder in Afghanistan ist.«

Gero begegnete ihrem fordernden Blick mit kalter Berechnung. »Und trotzdem können es eure Soldaten nicht lassen, neue Kreuzzüge anzuzetteln? Offenbar hat niemand etwas dazugelernt.«

Sein verächtliches Grinsen verriet ihr, dass sie soeben den falschen Weg eingeschlagen hatte.

»Ich finde die heutige Politik der Amis genauso beschissen wie die der sogenannten christlichen Herrscher damals«, entgegnete Hannah. »Sag mir, wie man diesen Wahnsinn stoppen kann, und ich werde ihn stoppen!«

»Die Amerikaner haben uns vor vollendete Tatsachen gestellt.« Gero nahm eine angriffslustige Haltung ein. »Entweder gehen wir in der Zeit zurück und evakuieren diese unbekannten Frauen in die Zukunft, oder wir werden empfindliche Einbußen hinnehmen müssen, was unser Privatleben betrifft. Allem Anschein nach sind diese beiden Frauen ziemlich wichtig. Hertzberg meinte, sie müssten etwas wissen, das für den Fortbestand der Menschheit entscheidend sein könnte.«

»Lafour hat euch erpresst, und Hertzberg hat es zugelassen?« Hannah starrte ihn ungläubig an. Natürlich würde sie dem General und dessen hochverehrten Präsidenten eine solche Schweinerei zutrauen. Aber dass Hertzberg eine solche Drohung zuließ, machte sie fassungslos.

»Ich weiß nicht, wer diese Entscheidung getroffen hat. Sie wurde uns durch Agent Tanner übermittelt. Nach dem Gespräch mit Hertzberg habe ich mich mit Johan, Struan, Arnaud und Stephano beraten, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, Lafours Befehl |207|zu folgen.« Gero stöhnte leise auf. »Was bleibt uns schon anderes übrig?«

»Dann ist es also wahr. Sie wollen euch also tatsächlich zu diesem Einsatz zwingen.«

»Sieht ganz so aus«, erklärte Gero mit starrer Miene.

»Aber was ist mit Hertzberg? Er hat mir erzählt, du – ihr – hättet der Sache aus Überzeugung zugestimmt. Also hat er mich angelogen?«

»Verflucht!«, fauchte Gero verärgert. »Er war es, der uns zu manipulieren versucht hat, indem er uns erklärte, wir könnten auf diese Weise nicht nur den Orden, sondern auch gleich noch Jerusalem retten, indem wir eine Friedensbotschaft an die Templer überbrächten, mit der Empfehlung, sich den richtigen Prinzipien zu verschreiben und alles daranzusetzen, dass die drei großen Religionen friedlich miteinander kooperierten.«

Hannah sah ihn bestürzt an. »Hertzberg hat mir erklärt, das sei deine Idee gewesen.«

»Man kann ihm nicht trauen. Er arbeitet für Leute wie Lafour – das solltest du nie vergessen.« Gero zitterte leicht, als er weitersprach. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, doch Mitleid und Trost von einer Frau waren im Moment das Letzte, was er gebrauchen konnte, um nicht noch mehr von seinem Stolz zu verlieren.

»Ich habe zugestimmt, so verrückt mir die Sache auch erscheint. Denkst du, es fällt mir leicht, mich einer solchen Übermacht nicht widersetzen zu können?« Seine Finger umfassten ihre Schultern ungewollt hart. Hannah hielt still, obwohl er ihr wehtat. »Ich habe mit den Jungs darüber gesprochen. Wir alle hegen die verzweifelte Hoffnung, dass man uns endlich in Ruhe lässt, wenn wir diesen Auftrag hinter uns gebracht haben. Vielleicht eröffnet man uns dann endlich den Weg zurück nach Hause. Hertzberg hat in unserer Unterredung so eine Andeutung gemacht, als ob er ein gutes Wort für uns einlegen könnte, wenn wir tun, was man von uns erwartet.«

»Du hast vollkommen recht, Hertzberg ist ein Lügner!«, stieß Hannah mit erstickter Stimme hervor. »Genau wie Lafour. Ich hätte ihm nicht vertrauen dürfen.« Ihre Stimme wurde leiser. »Es ist alles meine Schuld. Wenn ich damals in Chinon Anselm und die anderen nicht zur Rückkehr gedrängt hätte …«

»Hätten wir uns vielleicht nie wiedergesehen«, sagte Gero leise. |208|»Was hier und jetzt geschieht, haben wir alleine den Amerikanern zu verdanken. Erinnerst du dich daran, was ich dir damals an dieser Stelle über die Verhältnisse in deiner Zeit gesagt habe? Dass sie sich offenbar nicht so sehr von den unseren unterscheiden.«

»Ja«, gestand Hannah und nickte mutlos. »Es hatte Gründe, warum ich dich und Matthäus vor ihnen verstecken wollte.«

Gero setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich wollte es anfangs nicht glauben, aber Lafour und seine Leute sind weitaus gefährlicher, als Philipp IV. von Franzien es jemals sein konnte. Zuerst, als sie Struan und mich vor dem Tode bewahrt haben, dachte ich noch, wir wären im Himmel – aber in Wahrheit ist alles schlimmer geworden.«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Jerusalem sehen und am Grab Jesu Christi für bessere Zeiten beten – und vielleicht noch ein bisschen mehr …«

Er schaute auf, und seine blauen Augen leuchteten unwirklich in der untergehenden Sonne.

»Was soll das heißen … ein bisschen mehr?«

»Ich kann und will nicht darüber reden …« Gero räusperte sich. »Aber es gibt da etwas, das uns möglicherweise von allen Übeln erlösen kann.«

»Und du willst mir nicht sagen, was das zu bedeuten hat?«

»Nicht, solange ich nicht weiß, ob es gelingt.«

»Werdet ihr zurückkehren?« Hannahs Herz hatte wild zu klopfen begonnen. Irgendetwas gab ihr das Gefühl, dass Gero eine Dummheit im Schilde führte.

»Warum sollten wir nicht zurückkehren wollen?«

»Na ja«, begann Hannah zögernd. »Immerhin könntet ihr 1153 wieder wie echte Templer leben. Vielleicht ist der Kampf gegen die Ungläubigen weitaus verlockender als ein Haufen korrupter Amerikaner, die euch hinter Mauern mit euren keifenden Ehefrauen einsperren, die nur an sich selbst denken?«

»He«, raunte Gero dumpf, »ich würde dich und Matthäus niemals aus freien Stücken im Stich lassen.« Er küsste sie zärtlich. »Natürlich komme ich zurück. Vorausgesetzt, Tom und seine Leute beherrschen ihr Handwerk, woran gewisse Zweifel erlaubt sein dürfen.«

Gero misstraute Tom auf ganzer Linie, zumal er wusste, dass der Däne den CAPUT 58, wie man den Timeserver zu seiner Zeit genannt |209|hatte, in einer Klosterkatakombe gefunden und nicht selbst konstruiert hatte. Sogar als anerkannter Quantenphysiker wusste Tom kaum mehr über dessen Wirkungsweise als jene Templer, die das Artefakt aus einer noch ferneren Zukunft über Jahrhunderte in einem Versteck verborgen gehalten hatten.

»Ich habe Angst«, sagte Hannah und umarmte Gero.

Er drückte sie an sich. »Das brauchst du nicht, Gott wird uns schützen. Und – ich liebe dich«, flüsterte er in ihr Haar. »Ganz gleich, was geschieht. Vergiss das nie.«

»Nein, tue ich nicht«, hauchte Hannah und schmiegte sich an seine breite Brust. Von weitem glaubte sie immer noch das Lachen der Kinder zu hören, denen sie an derselben Stelle vor siebenhundert Jahren beim Versteckspielen auf dem Burghof zugesehen hatte.