Kapitel 16

Und führe mich nicht in Versuchung …

Juli 1153 – Jerusalem

 

Arnaud hatte die ganze verrückte Geschichte, so gut es ging, in Worte gefasst. Rona und Lyn hatten ihm aufmerksam zugehört und dabei offenbar den Entschluss gefasst, ihm zu helfen.

»Wenn das alles wahr ist, was du sagst«, bemerkte Rona entschlossen, »müssen wir schnellstens von hier verschwinden.«

»Das Jahr 2005 wäre eine Alternative«, erklärte Lyn, da nun gewiss war, dass die Plombe mit den verschlüsselten Informationen über den Server, die sie bereits 1148 auf dem Tempelberg in einem Massengrab versenkt hatte, tatsächlich bei Ausgrabungen im Jahr 2004 gefunden worden war.

»Man könnte es immerhin als Teilerfolg bezeichnen«, bestätigte Rona ernüchtert, »dass die Plombe achthundert Jahre später von Wissenschaftlern gefunden und der Inhalt von den dortigen Spezialisten gewürdigt wurde.« Sie musterte Arnaud mit einer gewissen Selbstgefälligkeit. »Ansonsten wärst du ja nicht hier. Aber es bestätigt nicht, dass wir mit unserer Mission den Templerorden gerettet und die Geschichte verändert haben. Um herauszufinden, ob wir das grausame Regime der Neuen Welt trotzdem verhindern konnten, müssten wir wissen, was hundert Jahre später geschehen ist.«

»Wir könnten selbst versuchen, die Dinge ab 2005 zu verändern«, bemerkte Lyn. »Falls es den Wissenschaftlern dort gelingt, uns in ihre Zeit zu transferieren.«

»Dafür müssen sie erst einmal den Server in den Griff bekommen«, sagte Rona und richtete ihren Blick auf Arnaud, der sie soeben zu |438|daran erinnert hatte, dass es auch im Jahr 2005 offensichtlich ein Problem mit der Technik gegeben hatte.

Arnaud nahm dankbar die graue Kutte mit dem grünen Kreuz entgegen, die ihm Lyn besorgt hatte. Das Gewand eines vom Aussatz befallenen Ritters würde ihn vor neugierigen Blicken schützen. Immer wieder schaute Lyn auf den Gang, um sicherzugehen, dass keine weiteren Nonnen im Anmarsch waren. Die beiden Schwestern hatten ihm noch nicht erzählt, warum sie ausgerechnet im Kloster Sankt Lazarus zu finden gewesen waren und welche Rolle ihr Gönner André de Montbard spielte. Doch dass sie bereit waren, mit Arnaud zusammen nach Jerusalem zu fliehen, um ihm zu helfen, seine Kameraden zu befreien, stand fest.

»Ioveta und ihre Mitschwestern dürfen auf keinen Fall erfahren, dass du geheilt bist«, flüsterte Rona und warf Arnaud einen verschwörerischen Blick zu. »Schon allein deshalb musst du hier weg. Für diese Leute ist das ein Wunder, und du wärst eine Berühmtheit, die sich im gesamten Heiligen Land herumspricht. Das können wir in unserer Situation wirklich nicht gebrauchen.«

»Und was schlagt ihr vor?« Arnaud zog eine Braue hoch. »Ich bin allein, und ihr beiden seid Frauen. Wie sollen wir meine Brüder aus dem Kerker der Templer befreien?«

»Uns wird schon was einfallen«, beruhigte ihn Rona. »Wir warten, bis es dunkel wird. Dann machen wir uns davon.«

 

Bei Anbruch der Nacht schlich Rona zu den Verschlägen, wo die Pferde standen.

»Was hast du vor?«, raunte Arnaud, während er jede ihrer Bewegung mit Blicken verfolgte. Beide Frauen sahen nicht nur umwerfend gut aus, sie waren auch außergewöhnlich mutig. »Sag nur, du willst diese Klepper stehlen? Damit kommen wir keine drei Fuß weit!«

»Es sind die einzigen ohne Brandzeichen«, belehrte ihn Rona. »Bei den anderen Tieren könnte man uns im Nu nachweisen, dass sie gestohlen sind. Auf Pferdediebstahl steht hier der Tod. Das solltest du eigentlich wissen.«

Arnaud grinste. »Erstens muss man erwischt werden, und zweitens glaube ich nicht, dass das bei mir noch ins Gewicht fallen würde. Wenn die Templer und ihr Großmeister meiner habhaft geworden sind, wird |439|es nicht mehr lange dauern, bis ich die Blumen von unten betrachten kann.«

»Denkst du eigentlich immer nur an dich?«, entgegnete Rona verärgert. »Bernard de Tramelay ist ein übler Hund, der zu allem fähig ist. Er wollte uns in den Harem eines Emirs verkaufen, um die leeren Kassen seines Ordens zu füllen. Wenn Ioveta uns nicht auf Geheiß ihrer Schwester aufgenommen und Zuflucht gewährt hätte, säßen wir nun in einem schummerigen Frauenhaus in Damaskus und müssten irgendeinem arroganten Kerl zu Willen sein.«

»Haremsdamen?« Arnaud schmunzelte verblüfft. »Ich habe von Frauen und Mädchen gehört, die es als eine Ehre empfinden, einem solchen Mann zu dienen.«

Ronas Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich wohl kaum etwas Schlimmeres vorstellen konnte. »Ich frage mich, wie diese Frauen eine solche Behandlung ertragen, ohne schreiend davonzulaufen.«

Er würde es nicht sagen, aber bei Ronas Anblick hielt er die Vorstellung, mit ihr auf kostbaren Kissen zu liegen und bei duftendem Räucherwerk von ihr verwöhnt zu werden, für ziemlich verlockend. Irgendwie waren diese Kalifen und Emire zu beneiden – selbst wenn sie eines Tages dafür in der Hölle schmoren würden. Plötzlich huschte ein Lächeln über sein bärtiges Gesicht, und er sah Rona ohne Scheu in die Augen. »Warum hast du mich eigentlich geküsst, als wir uns in der Küche begegnet sind? Ich meine, wenn dir das alles so zuwider ist?«

Abrupt wandte Rona sich ab, so dass er ihr Mienenspiel nicht mehr sehen konnte. »Ich wollte wissen, ob eine solche Berührung von einem Mann wirklich so außerordentlich ist, wie meine Schwester behauptet.«

»Das heißt, du hast es noch nie getan?« Arnaud versuchte vergeblich, nicht allzu verwundert zu klingen.

»Nein«, sagte sie knapp und vermied es immer noch, ihn anzuschauen.

»Und«, fragte er neugierig. »War es … außerordentlich?« Arnaud trat näher an sie heran und half ihr beim Aufzäumen der Tiere. Wobei er sie von der Seite betrachtete und ihre vollen Lippen fixierte. Eine merkwürdige Spannung entstand zwischen ihnen, die ihn reizte, noch weiterzugehen.

»Nein«, antwortete sie barsch, hob den Kopf und sah ihm angriffslustig in die Augen. »Vergiss es und sieh zu, dass wir vorankommen.«

|440|»Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin«, antwortete er mit Blick auf ihre nicht weniger schöne Schwester, die sich geschäftig gab, indem sie mit Leichtigkeit zwei Sättel gleichzeitig herantrug.

»Schon gut«, erwiderte Rona, und damit schien die Sache für sie erledigt zu sein.

Arnaud überlegte fieberhaft, wie es möglich sein sollte, mit solchen Schönheiten unbemerkt in die Heilige Stadt zu gelangen, erst recht, wenn sie – wie er – von den Templern gesucht wurden. Vielleicht war es möglich, die Wachen zu bezahlen, damit man sie auch ohne lästige Fragen in die Stadt einziehen ließ.

»Ich habe mein Geld in der Kammer vergessen«, bemerkte er in einer plötzlichen Eingebung. Nervös strich er über seine neue Kutte, unter der er zwar sein Schwert an einem Gürtel verborgen hielt, aber nicht den kleinen Lederbeutel mit Goldmünzen, den Gero ihm gegeben hatte. Ohne jegliche Mittel würden sie kaum eine Chance haben, jemanden zu bestechen oder sich Pferde und Waffen zu besorgen, mit denen er und seine eingekerkerten Kameraden nach einer möglichen Befreiungsaktion fliehen konnten.

»Ich habe nicht nur dein Geld gerettet«, erwiderte Rona und zog einen länglichen Lederbeutel mit Schnur aus der Tasche ihres hellen Nonnengewandes, »sondern auch deine Papiere.«

»Hab Dank!« Arnaud blickte sie erstaunt an, dann folgte ein breites Lächeln. »Du bist ein Engel. Wie kann ich das gutmachen?«

Rona blickte auf, auch weil sich plötzlich Stimmen näherten. »Darüber reden wir später.«

Arnauds Naturell ließ es nicht zu, dass er seine Meinung für sich behielt.

»Also wenn du mich fragst, haben wir keine Zeit mehr, diese Viecher aufzuzäumen, es wäre es besser, wenn wir zu Fuß gehen.«

»Dann gehen wir eben zu Fuß«, bestimmte Rona mit einem Funkeln in den Augen. »Dann haben wir wenigstens Zeit genug, eine Strategie zu entwickeln, wie wir deine Freunde befreien können.«

 

Gero kratzte sich beunruhigt den Bart. Drei Nächte und drei Tage waren vergangen, und noch immer saßen sie in diesem Rattenloch. Inständig hoffte er, dass Arnaud noch am Leben war. Missmutig zerrte er an seinen Ketten. Es war unerträglich, nichts tun zu können, was ihre |441|Situation verbesserte. Eines musste er seinen Templerbrüdern aus dieser Zeit lassen. Sie machten ihre Sache äußerst gründlich. Keiner von ihnen hatte den Hauch einer Chance zu entfliehen. An Hand- und Fußgelenken trugen sie Ketten, die nur mit Hammer und Meißel aufgeschlagen werden konnten, und der Käfig, in den man sie gesteckt hatte, bestand aus fingerdicken Eisenstäben. Die Tür war zudem mit einem gewaltigen Schloss verriegelt worden. Den Schlüssel trug einer der wachhabenden Templer, die abwechselnd durch die Gänge patrouillierten.

Die einzelnen Zellen waren so angebracht, dass sämtliche Gefangenen einen Ausblick auf die Folterkammer hatten, und obwohl hier unten schon genug vergessene Seelen schmorten, hatte man vor zwei Tagen einundzwanzig Sarazenen von der Festung Blanche Garde hierher überführt. Die armen Teufel hatte es bei einem Kampf im offenen Feld erwischt.

Tanner hockte apathisch in einer Ecke und beobachtete mit glanzlosen Augen, wie ein bulliger Kerkermeister in einem Lederschurz einen dieser Sarazenen mit glühenden Eisen traktierte. Das Geschrei und der Gestank von verbranntem Fleisch waren kaum zu ertragen. Immer wieder wurde der Gefolterte mit dem Kopf in einen vollen Eimer mit Wasser gesteckt. Lange genug, dass er zu ertrinken drohte. Aber nicht lange genug, dass er es tat. Inmitten seines Gewinsels und seiner atemlosen Bekenntnisse, dass er nichts wisse, flehte er zu Allah, dass er ihn endlich sterben ließ.

Aus den Forderungen der Folterknechte konnte Gero heraushören, dass es nicht darum ging, dass die Sarazenen ihrem Glauben abschworen. Offenbar wollte man spezielle Dinge von ihnen wissen. Immer wieder fielen die Worte »Askalon«, »Schatzkammer« und »Gold«.

Niemanden schien der Lageplan der Festung zu interessieren, welche Angriffsstrategien der befehlshabende Wesir der Fatimiden verfolgte und wie viele Krieger unter seinem Kommando standen. Einzig das Vermögen des ägyptischen Kalifen stand in Frage, ob es sich noch in der Festung befand oder ob es inzwischen über den noch offenen Hafen nach Damiette abtransportiert worden war.

Zwischendurch erschien Berengar von Beirut in seiner Templerchlamys und beobachtete mit einem siegessicheren Grinsen, wie seine Leute einen Gefangenen an den Zehen aufhängten, nachdem die Torturen |442|zuvor nichts ergeben hatten, und damit begannen, ihn zu häuten. Die unmenschlichen Laute, die der Kerl von sich gab, als der erste Peiniger einen Dolch ansetzte, ließen Berengar gänzlich unbeeindruckt.

Aus den Augenwinkeln sah Gero, wie Tanner sich geräuschlos übergab, als die Folterknechte ungerührt fortfuhren. Seine eigenen Männer hockten mit regloser Miene am Boden und ließen sich nicht anmerken, wie sehr sie das Verhalten der Templerbrüder entsetzte. Natürlich wussten Gero und die anderen von der Folter. Sie gehörte zum unseligen Repertoire eines jeden Krieges. Aber jedem von ihnen war bewusst, dass es ein Werk des Satans war, das selbst den standhaftesten Christen an den Rand des Verderbens führen konnte. Henri d’Our hatte sie stets davor gewarnt und beschworen, dieses Instrument der Wahrheitsfindung nur im äußersten Notfall anzuwenden. »Weil man dabei Gefahr läuft, dass die eigene Seele von der Hölle verschlungen wird, und das lange, bevor man selbst das Zeitliche segnet«, hallte es in Gero nach.

Stephano geisterten wohl ähnliche Erinnerungen durch den Kopf, denn er bekreuzigte sich hastig.

Eine Geste, die Berengar nicht entging. Mit hämischer Miene trat er an das Gitter heran, das sie von ihm trennte.

»Schaut euch gut an, was mit Verrätern geschieht«, sagte er. »Morgen, nach dem Kapitel ist euer Leben keinen Kupferpfennig mehr wert als das dieser gottlosen Heiden.«

»Ihr macht einen Fehler«, entgegnete Gero düster. »Wir sind reinen Herzens und können jederzeit ohne schlechtes Gewissen vors Jüngste Gericht treten. Ganz im Gegensatz zu Euch selbst. Allein an dieser Prozedur wird deutlich, dass Ihr Eure Seele mit Freuden beschmutzt, indem Ihr Euch benehmt wie ein wildes Tier, das kein Gewissen hat. Denkt Ihr ernsthaft, es ist recht, dass Ihr Euch in den Kleidern Eurer Feinde zeigt und unschuldige Männer, Frauen und Kinder mordet? Und das nur, um Eurem König ein paar kriegswillige Untertanen in die Arme zu treiben, die ihn bei seinem aussichtslosen Kampf unterstützen?«

»Halt’s Maul, du Hund«, erwiderte Berengar in breitem Altfranzösisch. »Sonst werde ich es dir stopfen, weil du unseren König beleidigst und unseren Glauben.«

»Es ist ein falsch verstandener Glauben«, erwiderte Gero unbeeindruckt, »|443|wenn Ihr denkt, dass er einzig mit Blutvergießen zu verteidigen ist. Aber das werdet Ihr noch lernen, auch wenn Ihr bitter dafür bezahlen müsst.«

Dass der Kampf der Christen gegen die Sarazenen gegen Ende dieses Jahrhunderts bei den Hörnern von Hattin in einem furchtbaren Desaster enden würde, wusste Gero bereits, ebenso, dass die Templer für die bevorstehende Besetzung von Askalon in ähnlicher Weise bezahlen würden, wenn auch nicht mit ganz so hohen Verlusten. Aber es würde ein Anfang sein – der schließlich zum Ende führte.

»Was fällt Euch ein …« Berengar richtete sich auf und zückte sein Schwert.

»Ihr werdet sterben«, erklärte Struan mit Gleichmut in der Stimme. Er hockte da – wie ein Fels in der Brandung, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt und die mächtigen Arme lässig vor der Brust überkreuzt. Seine schwarzen Pupillen fixierten Berengar wie die eines unseligen Sehers, der die Zukunft längst kennt. Der Schotte wusste wie alle seine inhaftierten Brüder, was in den nächsten Wochen geschehen würde, wenn es nicht gelingen sollte, den Orden und seine Führung zur Vernunft zu bringen. »Und nicht nur Ihr, sondern auch Euer Großmeister und seine Getreuen«, fügte er mit seiner rauen Stimme hinzu. »Die Sarazenen von Askalon werden Euch köpfen und Eure Leiber an den Festungsmauern aufhängen – in kaum zwei Wochen. Aber so, wie es aussieht, werdet Ihr verdient zur Hölle fahren.«

»Stru!«, zischte Johan entsetzt. »Du redest dich um Kopf und Kragen.«

Berengars Augen weiteten sich vor Wut. »Wenn hier jemand stirbt, dann wirst du es sein, und zwar schon übermorgen. Du siehst aus wie ein Sarazene, und du benimmst dich auch so. Ich werde unserem Meister von deinen Weissagungen berichten, auf dass man dich morgen im Kapitel wegen Gotteslästerung und Ketzerei anklagt. Was dich nicht nur den Mantel kostet, sondern deinen öffentlichen Tod durch Verbrennen zur Folge haben wird. Eine kostspielige Angelegenheit in einem Land, dem es chronisch an Brennholz mangelt. Aber das sollte es uns wert sein. Ich bin mir sicher, dass die ganze Angelegenheit bei einem solch stattlichen Kerl wie dir ein ziemliches Spektakel werden wird.«

Struan schaute ihm regungslos in die Augen, seine Miene nahm |444|einen gelangweilten Ausdruck an. »Mach’s dir doch selbst«, erwiderte er lapidar. »An mir haben sich schon andere die Zähne ausgebissen.«

»Warts ab, sarazenischer Bastard«, zischte Berengar heiser und spielte dabei auf Struans nachtschwarze Augen und das ebenso schwarze Haar an. »Ich freue mich jetzt schon darauf, dich um Gnade winseln zu hören.«

 

Arnaud und seine Begleiterinnen waren mit dem Gedanken losgezogen, möglichst rasch Abstand zu diesem vermaledeiten Kloster zu gewinnen. Aber je schneller sie vorankamen, umso mehr bedauerte er, doch kein Pferd genommen zu haben. Die Frauen legten ein Tempo vor, bei dem er kaum mithalten konnte. Sein Herz schlug wie wild, als sie zu fortgeschrittener Stunde ein Dorf erreichten, das von Jerusalem angeblich eine halbe Stunde Fußweg entfernt lag.

»Wo sind wir?«, fragte Arnaud mit bebender Stimme, bemüht, nicht zu atemlos zu klingen, zumal Rona und ihre Schwester nicht die geringste Anstrengung zeigten.

»Das ist Faradis«, erklärte Rona. »Wahrscheinlich hat man den Ort so genannt, weil er wie das Paradies der Muslime und Christen über zahlreiche Obst- und Olivengärten verfügt, die allesamt wild wachsen und keinerlei Pflege bedürfen.« Zielsicher führte sie ihn und ihre Schwester durch die Nacht, und während Arnaud kaum etwas erkennen konnte, pflückte Lyn hier und da wilde Äpfel und Pflaumen. Auf Anhieb fand sie eine ummauerte Quelle mit reinem, wohlschmeckendem Wasser. Arnaud kniete vor dem steinernen Becken nieder, in dem sich knietief klares Wasser staute, wie er im Mondlicht erkennen konnte. Nachdem sich Rona und Lyn nur zögernd an dem kühlenden Nass bedient hatten, steckte Arnaud gierig seinen Kopf in das Wasser und trank in großen Zügen. Danach ließ er sich keuchend neben dem Becken nieder und trocknete Gesicht und Haare mit dem Ärmel seines Gewands. Weil weit und breit kein anderer Dorfbewohner zu sehen war, entschloss er sich, den beiden Schwestern ein paar intimere Fragen zu stellen, die ihn ernsthaft beschäftigten.

»Wie kommt es, dass ihr auch bei Nacht sehen könnt und so kräftige Beine und Lungen habt, dass selbst ich euch kaum folgen kann?«

»Dort, wo wir herstammen, kann man die Statur und die Ausstattung eines Menschen künstlich bestimmen«, erwiderte Rona. »Noch |445|vor der Geburt fügte man den Samenzellen, die das Ei befruchten sollen, Anteile von Katze, Fisch oder Hund hinzu. Was dazu führt, dass der daraus entstehende Mensch ein Teil dieser Eigenschaften übernimmt.«

»Hört sich an wie schwarze Magie«, erwiderte er vorsichtig. »Obwohl ich bei meinem Ausflug in die Zukunft schon einiges gehört und gesehen habe, was ich mir zuvor in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte, wundere ich mich langsam über nichts mehr, außer darüber, wie Gott es so gleichmütig zulässt, dass man ihm ständig ins Handwerk pfuscht.«

»Dem, was du schwarze Magie nennst, hast du deine Heilung zu verdanken.« Ronas Stimme klang angriffslustig. »Und es hat weder etwas mit irgendeinem Gott noch mit Zauberei zu tun. Es handelt sich dabei um fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, die ein Teil der Natur sind.«

»Und?«, entgegnete Arnaud. »Ist eure Welt ohne Gott besser geworden?« Er schnaubte verdrossen. »Anscheinend nicht, denn sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen und rätseln, wie es weitergehen soll.«

»Davon verstehst du nichts«, gab Rona barsch zurück. »Erst durch die religiöse Verblendung in dieser Zeit wurde der Samen des Bösen gelegt. Hätte es unter Christen und Muslimen nicht ständig diese verdammten Glaubenskriege gegeben, säßen wir jetzt nicht hier. Die Menschheit kann nicht mit dem Glauben gerettet werden, sondern ausschließlich mit seriösem Wissen. Man muss klar unterscheiden können, was Fortschritt und was Rückschritt ist. Mit gegenseitigem Blutvergießen ist es jedenfalls nicht getan.«.

»Rona«, warf Lyn beschwichtigend ein, »du wirst ungerecht. Er ist ein Templer und kein moderner Historiker. Wie soll er eine Ahnung davon haben, was richtig und was falsch ist, wenn ihm mehr als tausend Jahre Erfahrung fehlen?«

»Ich bin nicht blöd«, verteidigte sich Arnaud, der nicht wusste, ob er sich für Lyns Verständnis begeistern oder beleidigt sein sollte, weil sie ihn seiner Ansicht nach als einen Trottel hinstellte. »Ich habe inzwischen einiges gesehen und gehört, von dem ich vorher nichts wusste: Zeitreisen, Kaffeemaschinen, Wasserspülungen, Glühbirnen, Flugzeuge, Autos – Pistolen und Bomben nicht zu vergessen. Aber allem Anschein nach hat nichts davon bei den Menschen zu mehr Vernunft |446|geführt. Oder wie erklärt es sich, dass sie in achthundert Jahren die gleichen Fehler begehen wie in dieser Zeit? Es liegt nicht am Glauben«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Auch nicht an den Menschen, die hier leben. Die Leute in der Zukunft sind keinen Deut besser als wir. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, von Jahr zu Jahr wird es schlimmer. Nein«, er schüttelte energisch den Kopf, »es geht um Macht und um Reichtum. Heute und in tausend Jahren. Daran wird sich nichts ändern – ganz gleich, wie viele Zeitreisen noch unternommen werden. Solange sich die Menschen in ihrem Egoismus, ihrem Neid und in ihrer Missgunst nicht ändern, werdet ihr keinen Erfolg haben, etwas zum Besseren zu führen.«

»Vielleicht hast du recht«, bestätigte Rona mit einem Stirnrunzeln. »Möglicherweise hat Lion einen Fehler gemacht, als er bei den Templern ansetzen wollte, um die Geschichte zu verändern. Vielleicht hätten wir in 2005 eine neue Chance, die Menschheit zur Vernunft zu bringen. Ich meine, wenn wir ihnen zeigen könnten, dass sie in jeder Beziehung am Abgrund stehen.« Sie schwieg für einen Moment. »Na ja«, sagte sie leise. »Falls es uns gelingt, dorthin zu gelangen, wäre es immer noch besser als nichts.«

»Falls sich überhaupt etwas verändern lässt«, fügte Arnaud hinzu, »und unser Maleficus es schafft, diese vermaledeite Maschine in Ordnung zu bringen.«

Rona seufzte. »Dieser verfluchte Timeserver hat von Beginn an nicht das getan, was er sollte. Ich befürchte, nicht euer Maleficus in der Zukunft trägt Schuld daran, sondern Lion – unser Verbindungsmann im Jahr 2151. Schließlich war er es, der die Anleitung zur Technik in einem stillgelegten Bunker gefunden und weiterentwickelt hat.«

»Vielleicht sind sie beide verantwortlich«, kam es Arnaud in den Sinn, »es könnte gut sein, dass die Pläne, die euer Lion dort gefunden hat, von seiner eigenen Erfindung stammten. Schließlich war es eure Maschine, die unser Maleficus im Jahr 2005 benutzt hat. Was wäre, wenn sie bei der Eroberung durch eure Feinde vernichtet wurde und die Pläne im besagten Bunker versteckt wurden?«

»Ein interessanter Gedanke.« Lyn blickte überrascht auf.

Fasziniert registrierte Arnaud ihre leuchtenden Pupillen, die im schwachen Mondlicht aufblitzten. »Das würde bedeuten«, führte er weiter aus, »der Timeserver hätte sich faktisch selbst erfunden.«

|447|»Du hast recht«, sagte Lyn und warf ihm einen bewundernden Blick zu. »Das Auffinden der fragmentierten Pläne wurde nur möglich, weil Lion den Server mit uns in die Vergangenheit transferiert hat. Und die davon erhaltenen Pläne brachten ihn auf die Idee, das Gerät weiterzuentwickeln, ohne dass er bemerkte, dass die Handschrift dazu aus seiner eigenen Feder stammte.«

Rona nickte anerkennend. »Nimm’s mir nicht übel«, sagte sie zu Arnaud und rang sich ein Lächeln ab. »Ich hätte nicht erwartet, dass ein Kerl, der achthundert Jahre früher geboren wurde, einen solchen Zusammenhang eher erkennt als wir selbst.«

»Sollte das jetzt ein Kompliment sein, oder was?« Wieder einmal wusste Arnaud nicht, was er von Ronas Äußerungen halten sollte.

Sie grinste ihn an und verpasste ihm einen sanften Stoß in die Seite. »Hey, ich meine es ernst. Du bist wirklich gut. Wenn das stimmt, was du sagst, wäre es nicht nur ein Paradoxon, sondern würde auch bedeuten, dass die Amerikaner sich weiter mit der Technik beschäftigt und trotzdem nichts erreicht haben. Was befürchten lässt, dass es ihnen nicht gelungen ist, uns von hier fortzuholen.«

»Könntet ihr die Maschine reparieren, wenn ihr Zugang zu ihr hättet?« Arnaud sah sie hoffnungsvoll an. »Paul, der die Botschaft geschrieben hat, von dem ich euch erzählt habe, hat darin um eine Rückmeldung gebeten. Falls wir euch finden und ihr beschreiben könntet, wie eine Reparatur vonstattengehen könnte, sollten wir eine Nachricht an einer bestimmten Stelle in Jerusalem hinterlegen.«

»Abgesehen davon, dass wir erst mal dorthin kommen müssen«, antwortete Lyn für ihre Schwester, »kennen wir die Funktionsweise des Quantenmodulators nicht bis ins Detail, und alles, was mit dem Energieumwandler zu tun hat, kann leicht zur Katastrophe führen, wenn man die falschen Entscheidungen trifft.«

»Lion hat uns lediglich in die elementaren Abläufe und Formeln eingeweiht. Normalerweise gab es sogar eine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme in die Zukunft, aber sie ist in unserem Server bereits ausgefallen, kurz nachdem wir hier gelandet waren. Es war – wie bei euch – nicht vorgesehen, dass wir uns längere Zeit in der Vergangenheit aufhalten, schon gar nicht, dass wir selbstständig an der Programmierung herumspielen.«

»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit?« Arnaud spürte plötzlich |448|Zuversicht. »So, wie es aussieht, ist die Maschine, die mein deutscher Bruder im Jahr 2004 gefunden hat, genau jene, die sich nun in Montbards Obhut befindet. Das heißt, irgendwann landet sie in der Zukunft, und sei es nur, weil die Zeit verstreicht und der Orden sie in Gewahrsam hält. Wäre es nicht möglich, sie mit einer Botschaft zu versehen, die Tom erklärt, was er tun muss, um die Reparatur der Maschine vorzunehmen?«

»Wenn wir tun würden, was du sagst«, erwiderte Rona genervt, »hätte er die Botschaft dann nicht längst finden müssen? Ich meine, er hält sie achthundert Jahre später in Händen und findet nichts. Entweder ist er zu dumm, oder wir werden keine Gelegenheit mehr bekommen, das Programm zu beeinflussen.«

»Vielleicht hat er etwas darin übersehen, das ihm die Lösung bringt?« Arnaud gab sich alle Mühe, hoffnungsvoll zu klingen.

»Ich befürchte«, erklärte Rona mit angespannter Miene, »selbst wenn es uns gelingen würde, eine Botschaft zu schreiben und er etwas damit anfangen könnte, hätten wir keinen Erfolg. Soweit ich es der Mitteilung entnommen habe, die du nachträglich per Transfer erhalten hast, fehlt eurem Tom und seinen Leuten ein bestimmter pyroelektrischer Kristall, der bei der Explosion zerstört wurde.«

Arnaud konnte im Halbschatten des Mondes sehen, wie sie konzentriert ihre ansonsten makellos glatte Stirn runzelte. »Das entsprechende Mineral mit einer ganz speziellen Gitternetzstruktur, das Lion für den Energiewandlungsprozess benutzt hat, ist nicht irdischer Natur«, fuhr sie fort. »Es wurde erst um 2050 auf dem Mars entdeckt und sorgt dafür, dass die Energieausbeute bei einem Rücktransfer aus der Vergangenheit erheblich größer ist als beim Transfer in die Vergangenheit. Die Abläufe verhalten sich vergleichbar mit der Schwerkraft. Ein Apfel, den man fallen lässt, benötigt ja auch weniger Kraftanstrengung als einer, den man aufheben muss. Das heiß, man benötigt für das Herauslösen eines Objektes aus einer parallelen Zeitdimension weit mehr Energie als für das Einfügen.

Das hängt damit zusammen, dass die molekulare Struktur auf der Vergangenheitsebene nicht im gleichen, sondern in einem parallelen System verankert ist, in das man zunächst einmal eindringen muss, bevor man etwas herauslösen kann. Dadurch wird eine größere Energiemenge benötigt als in der Gegenwart, wo der Server selbst Teil dieses |449|Netzwerkes ist und deshalb die abgehenden Strukturen leichter aus dem Gesamtsystem herausschneiden kann. Die jeweilige Re-Integration des Objektes verbraucht in beiden Systemen etwa gleich viel Energie. Die unterschiedlichen Erfordernisse auf den verschiedenen Ebenen sind der Grund, warum der Energiewandler mit zwei getrennten Kammern angelegt wurde und nun offenbar nur noch auf der abgebenden Ebene funktioniert.«

»Du verzeihst«, erklärte Arnaud mit einem gewissen Bedauern in der Stimme, »wenn ich dir nun wirklich nicht mehr folgen kann.«

»Kein Problem.« Rona schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln, das sein Herz höher schlagen ließ. »Das Dumme ist, dass man es selbst 2005 nicht automatisch verstehen wird. Mit diesem Kristall hat man später eine Form der Energiegewinnung wiederbelebt, von der man damals nicht überzeugt war, dass so etwas überhaupt je funktionieren könnte.«

»Aber sagtest du nicht, Lion, euer Meister, hätte die Pläne zum Bau der Maschine gefunden? Dann müssen die Vorbesitzer doch zumindest eine Ahnung davon gehabt haben, wie der Mechanismus funktioniert?«

Rona zuckte mit den Schultern. »Es waren nur Pläne. Vielleicht ist man erst nach der Mars-Mission darauf gekommen, dass der zerstörte Kristall der Schlüssel zu einer höheren Energieausbeute ist. Bis dahin hätte man ja ohnehin keine Möglichkeit gehabt, den Frequenzquarz zu ersetzen.«

Einen Moment lang war es still, bis Arnaud wieder das Wort ergriff. »Wenn wir in der Sache nichts anderes tun können, als abzuwarten, sollten wir wenigstens versuchen, jenen zu helfen, bei denen uns noch Hoffnung bleibt.«

»Ja«, sagte Rona und erhob sich vom Rand des Beckens. »Oberhalb des Dorfes gibt es einen Lagerplatz, wo wir unbehelligt rasten können – zumindest so lange, bis in Jerusalem die Stadttore geöffnet werden. Morgen früh beschaffen wir uns im Dorf ein paar Kleider und verwandeln uns in das, was Großmeister Tramelay gerne aus uns machen würde – muslimische Haremsdamen, die ihren syrischen Pascha begleiten.«

»Eine wunderbare Idee.« Arnaud konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und folgte den beiden zu einer kleinen Anhöhe, wo sich eine |450|Schafshöhle befand, deren Eingang von Bäumen und Büschen getarnt wurde.

»Wir werden Meister André aufsuchen und ihn bitten, bei der Befreiung deiner Kameraden zu helfen«, versicherte ihm Rona. »Ich kenne niemanden sonst, der eine Ahnung davon hat, wie man auf die Führungsriege der Templer Einfluss nehmen könnte.«

Nachdem Arnaud Zweige und vertrocknete Grasbüschel gesammelt hatte, entfachte er mit zwei Steinen ein heimeliges Feuer. Trotz der Tageshitze war die Nacht kühl, und die Frauen hatten nichts dagegen, dass Arnaud sich dicht neben sie setzte, um sie zu wärmen.

»Ich kann jetzt schon sagen, dass es Montbard nicht gutheißen wird, wenn er erfährt, auf welche Weise wir Sankt Lazarus den Rücken gekehrt haben«, sagte Rona und ließ es zu, dass Arnaud seinen Arm um ihre Taille legte.

Lyn ließ ihre Bemerkung unkommentiert und verteilte das Obst, das sie gesammelt hatte. Schweigend kauten sie vor sich hin. »Bernard de Tramelay«, begann Rona nach einer Weile, »hat den jungen König gegen André de Montbard aufgehetzt, weil der noch immer zu dessen Mutter steht. Obwohl ich weiß, dass Montbard seine Einstellung zur Königin ein wenig geändert hat, seit er die Gewissheit hat, dass sie bei der misslungenen Eroberung von Damaskus ihre Finger im Spiel hatte. Allerdings blieb ihm nicht viel anderes übrig, als weiterhin zu ihr zu stehen. Mit den Machenschaften von König Balduin und seinen Getreuen wollte er schon gar nichts zu tun haben. Vor zwei Jahren hat man Montbard wegen seiner Treue zur Königin von seinem Posten als Seneschall enthoben, und damit war die Konkurrenz für Tramelay als Großmeister aus dem Weg geräumt, nachdem Everhard de Barres sich kurzfristig und ohne erkennbaren Grund entschlossen hatte, sein Kreuz niederzulegen, um sich in einem Kloster in Frankreich zu verkriechen.«

»Das mit Montbard ist im Orden bekannt«, erwiderte Arnaud. »Wir wissen es aus unseren Chroniken. Außerdem war ich vor drei Tagen mit Gero, meinem Ordensbruder und Kommandeur, selbst bei Meister André, weil wir dachten, er könne uns einen Hinweis auf euren Verbleib liefern. Aber er hat uns gnadenlos vor die Tür gesetzt, was den Verdacht in uns schürte, dass er auch von den Übergriffen auf die jüdische Siedlung weiß.«

|451|»Ausgeschlossen«, warf Lyn dazwischen. »Mit solchen Machenschaften hat er nichts zu tun, im Gegenteil. Sie sind der Grund, warum er mit dem jungen König gebrochen hat.«

»Habt ihr André gesagt, wer ihr seid und woher ihr kommt?« Rona sah ihn überrascht an.

»Ich habe es versucht.« Arnaud wandte den Blick ab und lächelte bitter. »Er hat mich behandelt wie einen Idioten.«

»Ich denke, er versucht verzweifelt, uns und unser Geheimnis zu schützen«, erklärte Lyn. »Er hat zwar die Weisen des Hohen Rates, die ihn unterstützen, aber auch ihm sind die Hände gebunden, was mögliche Veränderungen im Orden betrifft. Denn obwohl er um die Geschehnisse in der Zukunft weiß, ist es ihm und seinen Vertrauten bisher nicht gelungen, einen entscheidenden Einfluss auf den Fortlauf der Dinge zu nehmen. Es liegt daran, dass er mit diesen Informationen nicht offen umgehen kann. Du kannst dir bestimmt denken, dass man jeden, der es wagt, das geheime Wissen und dessen Herkunft offenzulegen, als Ketzer verbrennen würde. Montbard hat in der Vergangenheit versucht, mit kleinen, apokalyptisch anmutenden Weissagungen Einfluss zu nehmen, doch das hat ihm den Verdacht eingebracht, mit teuflischen Mächten im Bunde zu stehen. Königin Melisende hat ihren ehemals treuen Freund Montbard schon mehrmals vor einer Anklage des kirchlichen Gerichts gerettet, weil sie ihr Vermögen unter anderem dazu nutzt, die verantwortlichen Pfaffen bei Laune zu halten. Denn solange die beiden die Kirche auf ihrer Seite haben, sind sie faktisch unangreifbar.«

»Kennt Melisende euer Geheimnis?« Arnaud sah sie fragend an.

»Wo denkst du hin?« Rona schüttelte energisch den Kopf. »André würde sie niemals einweihen. Er sagt, sie sei zu schwatzhaft und zu machtbesessen, als dass man ihr ein solches Mysterium anvertrauen könnte. Trotzdem ist sie Meister André mit Leib und Seele ergeben. Obwohl – eher nur mit der Seele. Die beiden sind kein Liebespaar. Sie berühren sich noch nicht einmal zur Begrüßung. Aber Melisende schätzt seine Treue und respektiert seine Unterstützung für uns. Aber zu mehr reicht es nicht. Vielleicht hat sie auch andere Beweggründe, die wir nicht kennen und deshalb nicht ausreichend verstehen.«

Arnaud zog seine dunklen Brauen zusammen. »Was meinst du mit anderen Beweggründen?«

|452|»Lyn und ich sind uns einig, dass sie uns längst vernichtet hätte, wenn sie keinen Vorteil darin sähe, Montbard zu unterstützen. Sie hat uns vor einer Verfolgung Tramelays bewahrt. Allerdings war sie von Beginn an nicht gut auf uns zu sprechen, was in ihrer weiblichen Eifersucht begründet sein mag. Sie bezichtigte Lyn, ihr den Liebhaber genommen zu haben. Ein Mann namens Khaled war es, der uns nach dem Transfer in der Wüste aufgelesen hat. Er war Sarazene und bis dahin treuer Vasall der Königin, wenn du verstehst, was ich meine. Er war der Anführer eines Kontingents von Assassinen, das dem Königshof zu verschiedenen Zwecken diente. Lyn und er haben …« Sie stockte einen Moment und warf ihrer Schwester einen mitfühlenden Blick zu. »Er hat sie zu seiner Gefährtin gemacht.«

Arnaud sah Lyn erstaunt an. »Du warst mit einem Assassinen zusammen?« Er war nie zuvor einem Assassinen begegnet. Angeblich waren sie noch gefährlicher als die Mameluken, deren Blutrünstigkeit kaum zu überbieten war.

»Ich bin … nein – ich war seine Frau«, erklärte Lyn leise und starrte in die Nacht. »Kurz nach unserer Ankunft im Juli 1148 hat er mir im Felsendom vor Allah sein Wort gegeben, mich zu lieben bis ans Ende seiner Tage. Dass dieses Ende schon so bald eintreten würde, habe ich allenfalls geahnt.«

Arnaud schluckte ergriffen. »Selbst in meiner Zeit, also gut einhundertfünfzig Jahre später, wurde noch darüber gesprochen, dass die Eroberung von Damaskus für den Orden das reinste Desaster gewesen sei. Dreieinhalbtausend tote Fußsoldaten, nicht wenige davon unerfahrene Pilger. Unser Orden wurde noch hundert Jahre danach beschuldigt, mit den Sarazenen gemeinsame Sache gemacht zu haben.«

»Was nicht ganz falsch sein dürfte. Zumindest war ihnen unter Montbards Führung als Seneschall bekannt, dass die Chancen auf einen Sieg eher gering sein würden. Deshalb haben sie sich aus den Angriffen weitestgehend zurückgehalten und unter Kaiser Konrad die Nachhut gebildet. Dennoch wollten sie nicht auf eine Teilnahme an diesem Feldzug verzichten, falls es doch noch etwas zu holen gegeben hätte. Den Templern ist für solche Spielchen inzwischen das Geld ausgegangen«, erklärte Rona. »Ebenso wie König Balduin III. Die Belagerung von Askalon läuft seit dem Frühjahr ähnlich enttäuschend wie beim ersten Versuch im Jahr 1148. Nur dass sie diesmal gewinnen werden, |453|auch wenn es noch einige Tote geben wird. Sieben Monate lauern Adlige und Klerus wie die Katzen vor der Festung und warten, dass die Mäuse herauskommen. Aber die Sarazenen denken nicht daran, ihnen diesen Gefallen zu tun. Jedenfalls nicht, solange sie eine gut funktionierende Anbindung zum Meer haben. Von Ägypten aus werden sie mit Lebensmitteln, Pferden und Waffen versorgt. Während der Statthalter von Askalon und sein Gefolge noch aus goldenen Bechern trinken, geht den Christen nicht nur regelmäßig das Wasser aus, sondern auch das Brot. Dabei müssen der König und seine Barone ganze Armeen verköstigen. Seit Monaten treibt der Mangel an Weizen und Gerste die Brotpreise in die Höhe, von Fleisch und Obst ganz zu schweigen. Außerdem befinden sich fast alle Christen im Kampf, ganz gleich, ob sie Bauern oder ausgebildete Soldaten sind. Es gibt kaum noch Männer, die säen und ernten. Deshalb sind nun verstärkt die Frauen gefragt, was bäuerliche Qualitäten angeht. Auch als Geldgeber werden sie gerne gesehen. Königin Melisende verfügt immer noch über beachtliche Mittel, deren Versteck sie ihrem Sohn allerdings bisher vorenthalten hat und die sie niemals freiwillig herausrücken wird. Allein deshalb sollte man ihren Einfluss nicht unterschätzen, auch wenn ihr das offiziell niemand mehr zugestehen will.«

»Wenn du aus der Zukunft kommst«, bemerkte Lyn, »weißt du vielleicht, dass der Konflikt zwischen Mutter und Sohn die Christen hier vor einem Jahr an den Rand eines Bürgerkrieges getrieben hat. Seitdem ist die politische Lage in dieser Gegend instabil. Es ist erschreckend, aber alles ist genauso geschehen, wie es die Geschichtsdateien vorgegeben haben. Nichts konnte durch unsere Anwesenheit zum Positiven verändert werden.«

»Das mit Khaled tut mir aufrichtig leid«, sagte Arnaud aus voller Überzeugung, weil es ihn mehr berührte als alles andere. Ein rascher Blick zu Lyn bestätigte ihm, dass die junge Frau das Verschwinden des Mannes noch immer nicht verwunden hatte.

»Die Königin selbst trägt die Verantwortung für Khaleds Tod«, fügte Lyn leise hinzu. »Wie ich später herausfinden konnte, hat sie ihn damals nicht nur als Liebhaber benutzt, sondern auch dafür, ihre Unschuld an einer Bestechungsaffäre in diesem Krieg zu untermauern.« Ihre sonst so sanften Züge versteinerten. »Ich hasse Melisende«, sagte sie tonlos. »Und ich hasse alle, ganz gleich ob Muslime oder Christen, |454|die Menschen so etwas antun und ihre Gier hinter ihrem Glauben verstecken.«

»Also habt ihr das Gelübde im Lazarus-Orden gar nicht aus Überzeugung abgelegt?« Arnauds Augen suchten Ronas funkelnden Blick.

»Nein. Wir haben einfach das nachgesprochen, was man uns gesagt hat – und das war’s. Dort, wo wir herkommen, gibt es keinen Gott.«

Arnaud akzeptierte wortlos die Ungeheuerlichkeit, die sich hinter dieser simplen Erklärung verbarg. Toleranz gegenüber Andersgläubigen war etwas, das er unter der Führung von Henri d’Our gelernt hatte, aber dass jemand an gar nichts glaubte, hielt er für ziemlich bedauerlich. Somit würde sie niemals in den Genuss eines wie auch immer gearteten Paradieses gelangen.

»Das bedeutet, dass weder der Königshof noch Tramelay wissen, wo eure Wiege stand – und welche Fähigkeiten ihr besitzt?« Arnauds Frage war mehr eine Feststellung, die Rona mit einem Schmunzeln bestätigte.

»Montbard würde niemals jemanden ins Vertrauen ziehen, der seiner Meinung nach nicht würdig ist. Außer ihm und dem Hohen Rat wusste nur Khaled davon. Er genoss Montbards volles Vertrauen, und schließlich war er es, der uns zu ihm gebracht hat.«

Arnauds Blick glitt zu Lyn, die nachdenklich ins Feuer starrte und dann zu Rona. Gerne hätte er mehr über sie und ihre Schwester erfahren. Warum sie sich für einen solch gewagten Transfer gemeldet hatten, und wie es wohl dort aussah, wo sie ursprünglich herstammten.

 

Gero hatte in der Nacht kaum Schlaf gefunden. Und in den wenigen Stunden, die er schlief, hatte er von Hannah geträumt. Sie war ihm als Engel erschienen und hatte ihm offenbart, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte.

»Ich werde dir verziehen haben, wenn wir uns im Jenseits treffen«, hatte sie ihm mit einem Lächeln versichert und ihn zum Abschied zärtlich geküsst.

Im richtigen Leben würde sie anders reagieren. Eine Ohrfeige war das mindeste, was ihn erwartete, sollte er ihr jemals wieder unter die Augen treten. Wahrscheinlicher war, dass sie selbst im Paradies nichts mehr von ihm wissen wollte. Und recht hatte sie. Wie hatte er so einfältig sein können, zu glauben, er würde ausgerechnet hier eine Lösung finden, um in der Zukunft in Frieden miteinander leben zu können?

|455|Im Moment sah es ganz danach aus, als ob seine Kameraden und er ein unehrenhaftes und viel zu frühes Ende finden würden.

Ein Wächter rüttelte an den Gitterstäben, und ein anderer schlug mit einem Kampfhammer auf einen Eimer aus Eisen, damit auch der Letzte wusste, dass eine weitere Nacht zwischen stinkendem Stroh und furchtlosen Ratten zu Ende gegangen war. Struan warf Gero ein ermutigendes Lächeln zu, was äußerst selten vorkam und die Aussichtslosigkeit ihrer Situation nur noch mehr unterstrich. Heute war Sonntag, der Tag, an dem sie dem Generalkapitel vorgeführt werden sollten, das in diesen Zeiten noch in Jerusalem abgehalten wurde und in dem Berengar von Beirut als Komtur des Hauses den Vorsitz innehatte. Außerdem hatte sich hoher Besuch angekündigt, wie einer der Kerkerwächter mit einiger Häme verraten hatte. Bernard von Tramelay höchstselbst hatte seine Teilnahme zugesagt, obwohl er sich mitten im Krieg befand. Er wurde noch am Vormittag aus Gaza erwartet. Ralph von Bethlehem, den offiziellen Vertreter des Patriarchen, hatte man eingeladen, damit er als kirchlicher Advokat und Vertreter des Papstes die Verhandlung führte.

Das Ganze war ein Schauprozess, indem man sie vor Generalkapitel und Papst für all die Missetaten verantwortlich machte, die Tramelays verirrte Seelen in den vergangenen Monaten begangen hatten.

Deshalb lauteten die Anklagepunkte auch auf Verrat an die Sarazenen, Mord an den eigenen Brüdern und Häresie, da sie sich satanischer Mittel bedient hatten, um ihre Verbrechen durchzuführen. Dass die Ordensführung einen solchen Prozess dazu nutzte, um ihre Hände vor Papst und Klerus in Unschuld zu waschen und gleichzeitig zu beweisen, dass man sich für die lückenlose Aufklärung von solchen Anschuldigungen einsetzte, stand außer Frage.

»Du kannst mich mal«, murmelte Johan, als einer der wachhabenden Brüder Büßerhemden durch die Gitterstäbe warf, damit sie diese gegen ihre Templeruniformen tauschten. Schnaubend zog er sich die Hose herunter und streckte dem Bruder seinen nackten Hintern entgegen. Dann zog er sich mit halb herabgelassener Hose in eine Nische zurück, wo er sein Morgengeschäft auf einem stinkenden Holzeimer erledigte.

»Könnte sein, dass sie dir gleich deinen hübschen Allerwertesten mit der Peitsche verschönern«, rief ihm der wachhabende Bruder verärgert zu. »Wenn du nicht gehorsam bist.«

|456|Johan war sich darüber im Klaren, dass ihn vermutlich etwas weit Schlimmeres erwarten würde als die Rute des Meisters, die im Orden bei den üblichen Bagatellvergehen gerne vor dem gesamten Kapitel zum Einsatz kam.

»Wir werden unsere Chlamys nicht ablegen, solange wir nicht schuldig gesprochen sind«, fuhr Gero den Wachmann an. »Niemand hat das Recht, uns vorzuverurteilen.«

Bis auf Tanner, der offenbar gar nicht wusste, worum es hier eigentlich ging, und Johan, der immer noch auf dem Eimer hockte, traten Gero und seine Kameraden mit finsteren Blicken an das Gitter heran. Der wachhabende Bruder wich instinktiv zurück. Allein die physische Präsenz der Männer hielt ihn davon ab, auf dem Kleiderwechsel zu bestehen.

Einige Zeit später, nachdem er ihnen hastig Brot und Wasser durch die Gitterstäbe gereicht hatte, wurde es laut in den verzweigten Gängen. Eine Eskorte von zwanzig Brüdern – alle schwerbewaffnet und mit verschlossenen Gesichtern – blieb vor ihrem Käfig stehen.

»Aufmachen!«, hallte es hart von den Wänden wider.

Der Kommandeur, ein hagerer Kerl mit einem sonnenverbrannten Gesicht, hatte den Befehl erteilt, und prompt eilte ein Wächter herbei. Offenbar gehörte der junge Befehlshaber zu Tramelays Eskorte, die man wegen des anstehenden Prozesses vor Askalon abgezogen hatte. Ein Beweis dafür, wie wichtig dem Orden ihre Verurteilung war.

Gero sah angesichts dieser Übermacht keine Chance zu entkommen.

Von schwerbewaffneten Brüdern eskortiert, wurden sie aus dem Kerker an die Oberfläche des Tempelbergs geführt. Gero kniff die Lider zusammen, als er die Plattform erreichte. Der Morgen war heiß, und der helle Marmor reflektierte gnadenlos das gleißende Tageslicht.

Ihr Weg führte in die nachträglich angebaute Kapelle, die sich an das Refektorium von al-Aqsa anschloss und als Ort der Weihe und als Versammlungshalle diente.

Vor der Kapelle hatten sich etliche Männer im Templerhabit versammelt, aber auch kirchliche Würdenträger, die aufgrund ihrer Gewandung durchaus dem Orden zugeordnet werden konnten. Tramelay und seine Leute würden den Anlass gründlich zu nutzen wissen, um mit Gerüchten aufzuräumen, dass er und seine Leute hinter den Überfällen der vergangenen Wochen und Monate steckten.

|457|Ein Seitenblick zu Johan und Stephano versicherte Gero, dass er nicht der Einzige war, der still zu beten begonnen hatte.

Falls, wie zu erwarten war, ein Todesurteil fiel, würde man sich mit der Umsetzung nicht viel Zeit lassen. Nur mit einem harten Durchgreifen konnte man eine solche Sache aus der Welt schaffen und die aufgebrachten Gemüter beruhigen.

Am meisten ärgerte Gero sich über sich selbst und die mangelnde Planung, der sie trotz gewisser Einblicke in diese Zeit und ihres Wissens um vergangene Ordensangelegenheiten zum Opfer gefallen waren.

Gestorben aus Dummheit, müsste auf ihren Grabsteinen stehen – wenn man ihnen überhaupt ein ordentliches Begräbnis gewährte und sie nicht exkommuniziert in einem ungeweihten Loch verscharrt würden. Der Gedanke, dass ihnen dann das Paradies verwehrt sein und er Hannah nie wiedersehen würde, quälte Gero mehr als die Aussicht auf einen grausamen Tod.

Einzig erleichterte ihn, dass seine Männer trotz allem Haltung bewahrten. Lediglich Tanner taumelte umher wie ein Narr, was wohl daran lag, dass er sich ein Magenleiden eingefangen und sich die ganze Nacht lang übergeben hatte. Blieb zu hoffen, dass er nicht schon während der Verhandlung verstarb. So etwas konnte leicht als ein Gottesurteil ausgelegt werden und erschien deshalb nicht von Vorteil.

Ihre Wachen stießen sie an den Wartenden vorbei in die große, mit Licht durchflutete Halle, deren quadratische Glasfester ausschließlich im oberen Drittel der hell verputzten Wände eingelassen worden waren, damit von draußen niemand hereinschauen konnte.

Gnädigerweise wurde es Gero und seinen Mitangeklagten sogar erlaubt, sich auf einer hölzernen Bank niederzulassen, die seitlich zu den Tischen und Stühlen der Kapitelvorsitzenden aufgestellt worden war. Überhaupt schien Berengar von Beirut, der als Komtur neben dem Großmeister und Marschall Hugo Salomonis de Quily saß, alles darangesetzt zu haben, dass die Verhandlung ihres Verbrechens als ordentliche Versammlung des örtlichen Kapitels daherkam. Ein Protokollführer im braunen Habit saß zur Linken von Peter de Vezelay, der als Seneschall nicht fehlen durfte, und zeichnete mit Tinte und Federkiel alles urkundlich gesiegelt auf einem Stapel von Pergament auf, damit hinterher niemand sagen konnte, es sei bei dem Prozess nicht mit rechten Dingen zugegangen.

|458|Mit einem mulmigen Gefühl nahmen die fünf Angeklagten Platz, direkt gegenüber von Bischof Ralph, der sie mit mürrischer Miene taxierte.

Der hochdekorierte Kleriker und autorisierte Vertreter des Papstes im Heiligen Land war für den Anklagepunkt Häresie hinzugebeten worden. Der Bischof, ein glatzköpfiger, hagerer Mann, war ohne Zweifel ein überzeugter Asket. Solche Männer waren bekannt für ihre disziplinierte Haltung auch bei der Begehung von Sünden und entsprechend gnadenlos in ihrem Urteil.

Während den anderen Angeklagten die Unruhe anzusehen war, knurrte Struan gut hörbar der Magen.

»Himmel, Arsch und Zwirn«, zischte Johan, »ich könnte kotzen, und der Schotte denkt schon wieder ans Essen.«

»Ruhe da«, tönte Berengar von Beirut vom Richterpult aus. »Sonst sorge ich dafür, dass man euch umgehend die Zunge herausschneidet.«

Gero beobachtete, wie die übrigen Bänke sich mit Ordensrittern füllten. Gewöhnliche Brüder oder Brüder auf Zeit waren bis auf den Schreiber nicht zugelassen. Mit etwa fünfzig Teilnehmern war es fast eine intime Verhandlung, aber schließlich befand man sich mitten in einer Belagerung, was die Entscheidung, nur die ranghöchsten Brüder teilnehmen zu lassen, erklärte.

Kapitelversammlungen verliefen immer unter Ausschluss ordensfremder Personen. Normalerweise hatte der Orden kein Interesse daran, dass die Verfehlungen der Ritter nach außen drangen, und auch in diesem Fall ging es wohl eher darum, sich gegenüber dem Königshaus und seinen Verbündeten zu rechtfertigen. Wahrscheinlich würde man diesmal sogar so weit gehen, dafür zu sorgen, dass die Verhandlung und deren Ergebnis unter den Bewohnern Jerusalems bekannt wurden. Somit konnten alle Zweifel, der Orden würde seine eigenen Sünder nicht adäquat bestrafen, mit einem Schlag ausgeräumt werden.

Als der Letzte das eiserne Portal der Kapelle hinter sich geschlossen hatte, erhoben sich alle und sprachen ein Vaterunser. Dann folgte ein ellenlanger lateinischer Text, der die Vorsitzenden und zwölf Geschworenen, die das Ordenskapitel bei der Wahrheitsfindung unterstützen, auf das einstimmte, was von offizieller Seite erwartet wurde: eine Verhandlung nach dem Strafrecht des Ordens und damit im Namen des Herrn.

Eine Farce – wie Gero befand. Sein Blick wanderte entlang der vielen |459|unterschiedlichen Gesichter und landete in der letzten Reihe bei einem Mann, der ihm bestimmt nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen würde: André de Montbard.

Der grauhaarige Templer schaute ihn von weitem durchdringend an. Die braunen Augen des Mannes schienen ihn regelrecht zu durchbohren, als ob er ihn kennen würde, dabei hatten sie einander nur einmal gesehen. Gero fragte sich immer noch, ob sie es womöglich sogar Montbard zu verdanken hatten, dass sie nun gewaltig in der Klemme saßen.

Einzeln wurden sie mit ihrem offiziellen Namen aufgerufen, damit sie sich in Demut erhoben.

Mit geneigtem Haupt und gefalteten Händen standen sie da und rührten sich nicht. Lediglich Tanner trat unruhig von einem Bein auf das andere, weil ihm immer noch speiübel war.

Dann erklärte der Beigeordnete anhand der von Anselm gefälschten Unterlagen, dass sie adliger Herkunft und vor zwei Jahren in einem Haus in Lothringen zur Aufnahme in den Orden gelangt waren. Dass die besagte Komturei völlig unbekannt war, schien niemandem aufzufallen.

»Bruder Gerard«, begann Berengar von Beirut leutselig, »bekennt Ihr Euch schuldig, vor vier Tagen am Fest des heiligen Benedikt auf dem Weg nach Jerusalem als Sarazene verkleidet ein jüdisches Dorf überfallen zu haben und dessen Bewohner sowie sechs unserer tapferen Brüder getötet zu haben?«

»Bei Gott dem Herrn«, erwiderte Gero mit fester Stimme, »ich bekenne mich nicht schuldig. Es war vielmehr umgekehrt. Eure Leute schreckten nicht davor zurück, sogar Kinder zu meucheln.«

Berengar verzog keine Miene und antwortete auch nicht, sondern wiederholte die Frage noch viermal, indem er sie den übrigen Angeklagten stellte, wobei er immer die gleiche Antwort erhielt.

Großmeister Tramelay, ein vierschrötiger Kerl mit rotem Gesicht und weißblondem Bart, hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. »Elende Verräter«, brüllte er mit erhobener Faust. »Man sollte euch hängen, und das ohne Prozess!«

Der Bischof zog ihn mit sanfter Gewalt zurück auf den Stuhl, doch jeder Anwesende konnte dem Großmeister ansehen, wie es weiter in ihm brodelte.

Berengar ließ sich davon nicht beeindrucken und führte die Aussage |460|von zwei Zeuginnen ins Feld, die man angeblich unter Anwesenheit der ehrenwerten Priorin Ioveta in der Abtei Sankt Lazarus verhört hatte. Die Priorin hatte das Verhör als Beisitzerin gegengezeichnet. Gero schwante nichts Gutes, als ihm klarwurde, dass es sich bei der Vernehmung um die beiden entführten Frauen gehandelt haben musste, die sie nach dem Überfall gerettet hatten. Dass die beiden nicht leibhaftig auf den Tempelberg vorgeladen worden waren, lag in der Tatsache, dass Kapitelversammlungen einer strengen Geheimhaltung unterlagen und die Anwesenheit von Frauen undenkbar war.

Wahrheitsgemäß hatten die beiden Jüdinnen dem Schreiber von dem Überfall berichtet, wobei der Ablauf des Verhörs so geschickt gestaltet worden war, dass sie die Frage, ob sie von Templern gerettet worden waren, ebenso mit Ja beantworten mussten wie die Frage, ob sie durch als Sarazenen verkleidete Templer zu Schaden gekommen waren.

Da weder Namen noch einzelne Personenbeschreibungen von ihnen verlangt wurden, konnte sich jeder der anwesenden Geschworenen die Sache nach seinem eigenen Gutdünken auslegen.

Bei der Frage, wie die Templer getötet worden waren, hatten die Frauen passen müssen.

Plötzlich stand der Begriff »schadhafte schwarze Magie« im Raum.

»Die Männer sind einfach von ihren Pferden gefallen«, hatte eine der Frauen berichtet. Auch dass Pferde auf der Stelle tot umgefallen seien, hatte sie ausgesagt.

Am Ende sprach sie von einem seltsamen Stock, mit dem einer der Männer auf ihre Beschützer gezielt hatte. Dann erzählte die Jüngere von Gero, der aus heiterem Himmel in einer Chlamys vor ihr gestanden und sie nach dem Datum gefragt hatte. Offenbar wusste er nicht, welchen Tag und welches Jahr man schrieb. Ein Indiz dafür, dass es sich trotz seiner himmelblauen Augen um einen Sarazenen gehandelt haben konnte, der sich nicht im christlichen Kalender auskannte. Die Männer seien ihr merkwürdig vorgekommen, allen voran derjenige, der den seltsamen Stock bedient hatte.

Die Überreste jenes merkwürdigen Stocks, jene Heckler & Koch, die den Angriff von Berengars Kampfhammer nicht überstanden hatte, lag nun zum Beweis in Einzelteilen aufgelöst vor Bischof Ralph, der sich wohl nicht getraute, das Teufelswerk anzufassen, sondern nur einen kurzen Blick darauf warf.

|461|»Die junge Frau«, bemerkte Berengar mit dozierender Stimme, »bezeichnete unsere hier anwesenden Brüder als Söhne des Ha-Satan, die sich hinter einer weißen Templerchlamys verstecken, aber in Wahrheit den Sarazenen zugetan sind.«

Ein Raunen ging durch den Saal, als kurz darauf ein einbalsamierter Leichnam hereingetragen wurde, der sich als einer der getöteten Templer erwies, den Tanner erschossen hatte.

Der Bischof erhob sich und inspizierte die winzige Wunde unterhalb der linken Brustwarze.

»Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?« Der Bischof schaute in die neugierige Menge. Kopfschütteln machte die Runde.

»Es war kein Pfeil und auch keine Lanze, dafür ist die Wunde zu klein. Und ein Schwert war es auch nicht. Also was war es dann?«

Sein bohrender Blick richtete sich auf Agent Tanner, der einfach dasaß und ihn anstarrte, als hätte man ihm eine Opiumpille verabreicht.

Ralph hatte in Latein gesprochen, was Tanner zwar verstand, doch er war immer noch grün im Gesicht und blieb ihm wegen eines heftigen Würgereizes eine Antwort schuldig.

»Seid ihr mit den Mächten des Bösen im Bunde?«, rief Ralph mit schneidender Stimme.

Als Tanner immer noch nicht antwortete, nahm der Bischof all seinen Mut zusammen und ging zum Pult, um die hölzerne Kiste mit den Überresten des merkwürdigen Gegenstandes an sich zu nehmen und Bruder Jacob von Tannenberg, wie Tanner hier offiziell hieß, unter die Nase zu halten. »Was ist das?«, fragte er forsch.

Tanner besann sich einen Moment. »Eine Heckler & Koch«, antwortete er mit verwaschener Stimme.

»Eine was?« Ralph schaute ihn begriffsstutzig an.

»Eine Pistole.« Tanner machte sich nicht die Mühe, das Wort zu übersetzen.

»Und du willst mir nicht verraten, was das bedeutet?«

»Es bedeutet«, erklärte Tanner entnervt, »damit kannst du … jemanden über den Haufen schießen.«

Ralph legte den Kopf schief und sah ihn prüfend an. »Bedeutet das«, er zögerte einen Moment lang, seines wichtigen Auftrittes durchaus bewusst, »du hast den Bruder mit dieser seltsamen Waffe getötet?«

|462|»Überleg dir genau, was du sagst«, zischte Gero.

»Ruhe im Saal!«, brüllte Berengar.

»Ja, verdammt«, keuchte Tanner verzweifelt. »Er hat es nicht anders verdient. Er hat Frauen und Kinder abgeschlachtet, genauso wie die restliche Bande.« Im nächsten Moment musste er sich vollends übergeben. Ralph sprang angewidert zurück, obwohl Tanner nur ein letzter Rest Galle aus dem Mund tropfte, was den Eindruck, dass er von einem Dämon besessen war, noch verstärkte.

Während Tanner sich stöhnend krümmte, fasste der Bischof offenbar einen Entschluss. »Wie Ihr alle sehen könnt, steckt der Teufel in ihm«, konstatierte er zufrieden. »Er gibt zu, mit diesem Teufelsstock unsere Brüder getötet zu haben – außerdem behauptet er, sie hätten an seiner Stelle das Dorf überfallen. Eine ungeheuerliche Beschuldigung, die wir keinesfalls dulden dürfen. Denn nicht nur der Ruf des Templerordens steht auf dem Spiel, auch der des Königs und seiner Barone. Deshalb erbitte ich das Ordenskapitel von Jerusalem, im Namen des Großmeisters ein gerechtes Urteil über diese Männer zu fällen, auf dass sie ihr schändliches Maul nie mehr gegen uns und die Ehre des Ordens erheben können.«

Gero und seine Kameraden wurden streng bewacht in einen Nebenraum geführt, während sich die zwölf Geschworenen, deren Vorsitz Tramelay übernommen hatte, zur Beratung zurückzogen. Zu Geros Überraschung war auch Montbard mit von der Partie. Gero ließ den graubärtigen Mann nicht aus den Augen, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dabei hatte er abermals Montbards durchdringenden Blick aufgefangen.

Nach einer Stunde kehrten die Templer zur Urteilsverkündung zurück in den Saal. Tramelay und seine Getreuen hatten mit den anderen Geschworenen ihre angestammten Plätze eingenommen, bis auf Montbard, der verschwunden blieb.

Berengar von Beirut ergriff mit einem kühlen, abgeklärten Gesichtsausdruck das Wort. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Angesicht unserer Muttergottes Maria«, begann er mit einem raschen Blick zu einer in Stein gemeißelten Muttergottesfigur. »In der Zeugenschaft der hier anwesenden Brüder obliegt es unserem Vater und Großmeister Bernard von Tramelay, Gott steh ihm allseits bei, folgendes Urteil zu sprechen.«

|463|Nun war es an Tramelay fortzufahren, der sich mit bitterböser Miene erhob.

»Die Geschworenen haben die hier Anwesenden mit einer Stimmenthaltung für schuldig befunden, im Auftrag der Sarazenen ein jüdisches Dorf überfallen und anschließend unsere zur Hilfe eilenden Brüder unter Anrufung des Teufels getötet zu haben. Ab sofort haben die Beschuldigten ihre Chlamys abzulegen und als reuige Sünder im Kerker auf die Vollstreckung ihrer Strafe zu warten, die morgen in aller Frühe bei Sonnenaufgang und ohne Zeugen in den Ställen des Salomo erfolgen wird, um das Ansehen des Ordens nicht weiter zu schädigen.«

Einen quälend langen Moment kostete Tramelay seine Überlegenheit aus.

»Tod durch Erhängen«, verkündete er überlegen. Dann fiel sein Blick der Reihe nach auf Gero, Johan, Stephano, Struan und Tanner, denen das Entsetzen durchaus anzusehen war. »Gott sei eurer sündigen Seele gnädig.«

 

Bei Sonnenaufgang schreckte Arnaud aus einem Alptraum hoch, als er ein plötzliches Rascheln vernahm. Aber kein Löwe stand vor ihm, wie er befürchtet hatte, sondern Rona, die ihn anlächelte und ihm ein paar Kleider zuwarf, die er überziehen sollte.

Verschlafen betrachtete Arnaud den bunten Kaftan, einen blauen Turban, ein Paar helle Stiefel sowie einen mit Nieten besetzten Gürtel, an dem er sein Schwert befestigen konnte. Für sich und Lyn hatte Rona ein hellblaues und granatapfelrotes Gewand mitgebracht und einen Gesichtsschleier, der alles verhüllte, bis auf ihre wunderschön schräg stehenden Augen. Mit einem freudigen Lächeln reichte sie ein paar zierliche Schuhe aus hellem Ziegenleder an ihre Schwester weiter. »Sind die nicht schön?«, fragte sie.

Lyn nickte und nahm sie mit einem Lächeln entgegen.

Bevor Arnaud fragen konnte, wo und mit welchen Mitteln sie die Sachen erstanden hatte, hatte sich Rona ihres bescheidenen Nonnengewandes entledigt und stand splitternackt vor ihm. »Ich habe mir einen Goldbesant aus deinem Beutel genommen«, sagte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag und begann sich ungeniert vor ihm umzuziehen.

Arnaud schluckte heftig, als sie sich neben ihn kniete und das restliche |464|Geld in seine Taschen steckte. Ihre Brüste waren ihm so nah wie zwei saftige Äpfel, in die er nur noch hineinbeißen musste. »Bist du von Sinnen?«, stieß er keuchend hervor und wich panisch zurück.

»Was ist mit dir los?«, fragte Rona mit verständnislosem Blick. »Es ist doch nur Geld, und ich wollte die Sachen nicht stehlen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.«

Arnaud wusste beim besten Willen nicht, wo er hinschauen sollte. »Es geht nicht ums Geld«, stellte er unmissverständlich klar. »Dass du einen Mann mit deinem Anblick in Verlegenheit bringen könntest, fällt dir nicht ein, oder?«

»Was heißt hier Verlegenheit?« Mit einem unsicheren Lächeln nahm Rona ihr Unterkleid in die Hand, um es auf die richtige Seite zu drehen.

Arnaud starrte auf ihren makellosen Körper, die langen Beine, die leicht gerundeten Hüften und ihre haarlose Scham. Sein Herz raste, und in seinem Schoß erhob sich ein Dämon.

»Ich … ich …«, stotterte er. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie unglaublich schön du bist?«

»Nein«, antwortete sie schlicht und fuhr fort, sich anzukleiden. »Und du? Wie steht’s mit dir?«

»Was hat das mit mir zu tun?« Ein Grinsen flog über seine Lippen. »Ich glaube nicht, dass man mich schön nennen könnte.«

»Zieh dich aus!«

»Was?«

»Na los, zieh dich aus! Ich will dich anschauen.«

Arnaud schüttelte ungläubig seinen braunen Lockenkopf. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Nichts ernster als das.« Ihr Blick war tatsächlich ernst, und Arnaud begann zögernd, sich des grauschwarzen Mönchskittels zu entledigen.

»Du siehst aus wie Adonis«, bemerkte sie schlicht, als er vollkommen nackt vor ihr stand.

Arnaud senkte den Kopf und sah an sich hinab. Die festen, leicht hervorstehenden Brustmuskeln, auf denen sich ein paar braune Härchen kringelten, die starken, sehnigen Arme, denen der Angriff der Löwen zu seiner eigenen Überraschung nicht mehr anzusehen war, der flache, muskulöse Bauch und ein ziemlich imposantes Geschlecht, das sich nicht unbedingt im Zustand der Ruhe befand, mussten ihrem interessierten |465|Blick standhalten. Auch seine Beine waren wohlgeformt und kräftig. Als er fragend und leicht verschämt aufschaute, lachte Rona befreit.

»Irgendwann würde ich das alles gerne einmal genauer betrachten. Aber nicht jetzt. Wir haben zu tun.« Dann verschwand sie aus der Höhle und ließ einen wie vom Donner gerührten Arnaud zurück, der sich zum zweiten Mal fragte, ob er soeben eine Erscheinung gehabt hatte.

Als er wenig später, als syrischer Kaufmann verkleidet, hinaustrat, sah er sich zwei perfekten Schönheiten gegenüber, die jedem Harem zur Ehre gereicht hätten. Lyn hatte sich bereits mit dem Kamel beschäftigt, das Rona in einem Mietstall geliehen hatte.

Am frühen Vormittag erreichten sie Jerusalem und wurden zu Arnauds großer Überraschung ohne Nachfragen eingelassen. Allein ihre prunkvolle Aufmachung schien die Wachhabenden von ihrer Rechtschaffenheit zu überzeugen. Doch anstatt sofort zum Palast zu gehen, suchten sie sich zunächst eine Herberge an der Kadhiya-Gasse, mit einem Hinterhof, der direkt an das arabische Viertel angrenzte, wo man für einen kleinen Aufschlag das Kamel in einem Mietstall abgeben konnte.

Nachdem sie ein geräumiges Zimmer bezogen hatten, in dem sich ein einziges großes Bett befand, das Onur, ein geschwätziger Syrer, ihnen mit ein paar anzüglichen Bemerkungen anpries, wandten sie sich wieder dem Gastraum zu, um etwas zu trinken. Ein paar arabische Pilger saßen an den Tischen bei einem späten Frühessen, bestehend aus Fladenbrot, Ziegenkäse und grünem Pfefferminzsud.

»Dreimal das Gleiche«, rief Arnaud dem beleibten Wirt zu.

Nachdem der Mann das Bestellte serviert hatte, setzte er sich wie selbstverständlich neben die Frauen und plauderte die neuesten Neuigkeiten aus. Es war durchgesickert, dass am Morgen auf dem Tempelberg eine Kapitel-Versammlung stattgefunden hatte, bei der mehrere vermeintliche Templer zum Tode verurteilt worden waren, wobei man munkelte, dass es sich bei den Männern in Wahrheit um Sarazenen gehandelt habe, die den Orden unterwandert hätten. »Allah sei ihren armen Seelen gnädig«, murmelte Onur mit verschwörerischem Blick. »Seitdem die Königin ihr Amt an ihren Sohn abgeben musste«, brummte er ärgerlich, »hat man als Muslim in dieser Stadt nichts mehr |466|zu lachen. Erst recht, seit bekannt ist, dass Nur ad-Din unsere Befreiung von den Franken vorantreibt. Also seht Euch vor«, empfahl er Arnaud.

»Wann ist die Hinrichtung?«, fragte Arnaud scheinbar beiläufig. Konzentriert nippte er an seinem heißen Sud und hörte entsetzt, dass das Todesurteil schon am nächsten Morgen vollstreckt werden sollte. Er gab sich jedoch gleichgültig, und auch den Frauen, die ihren Schleier zum Trinken gelockert hatten, konnte man keinerlei Gefühle ansehen.

Erst nachdem Onur in die Küche entschwunden war, ergriff Rona das Wort. »Wir müssen einen Boten zu Montbard schicken«, flüsterte sie, »der ihn hierherlockt. Im Palast können wir uns nicht blicken lassen, sonst laufen wir noch Melisende über den Weg.«

»Und wer sollte dieser Bote sein?«, fragte Arnaud.

»Hast du niemanden in dieser Stadt, dem du vertraust?« Lyn schaute ihn aus sanften blauen Augen an.

»Wie sollte ich?«, antwortete er ungeduldig. »Wir sind erst vor kurzem hier angekommen. Ich stamme selbst nicht aus dieser Zeit, und die Einzigen von uns, die nicht eingekerkert wurden, sind der Professor und ich.«

»Der Professor?« Rona warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Hertzberg«, erklärte Arnaud und trank noch einen hastigen Schluck, in der Hoffnung, dass ihn dieses Gebräu beruhigte. »Er ist ein uralter Gelehrter. Bei meiner Flucht aus Jerusalem lag er schwerverletzt im Hospital. Vielleicht ist er schon tot. Ich habe keine Ahnung.«

»Wenn er noch lebt, müssen wir ihn dort herausholen, und zwar schnell.« Rona blickte beunruhigt zur Tür, wo ein paar Ritter vom Heiligen Grab erschienen waren, um beim Wirt die Pacht einzutreiben. »Wenn sich irgendjemand auf dem Templerberg an euren Professor erinnert, wird man ihm eine Mitschuld ankreiden, und spätestens dann ist er so gut wie tot.«

»Lediglich Montbard ist in der Lage, ein Veto beim Großmeister und seinen Verbündeten einzulegen«, fügte Lyn hinzu, »zumindest was das Strafmaß deiner Brüder betrifft. Er gehört zu den zwölf Geschworenen der Kapitelversammlung, und über Melisendes Vermögen besitzt er einen gewissen Einfluss, die Dinge zum Guten zu wenden.«

»Vielleicht«, sagte Arnaud unvermittelt, »gibt es doch jemanden, den ich als Boten dorthinschicken könnte.« Er dachte an Jussuf, den kleinen |467|Bruder von Samira. Er und seine Schwester hatten ihm schließlich zur Flucht aus dieser Stadt geholfen. Warum sollten sie es nicht noch einmal tun?