2005 – Israel/Tel Aviv
»Der Timeserver hat bei der Explosion einen womöglich irreparablen Schaden erlitten«, erklärte Tom so leichthin, als ob es sich dabei um einen defekten Rasenmäher handelte. »Um feststellen zu können, warum ein Rücktransfer nicht möglich ist, müssen wir zurück nach Deutschland. Nur im Labor kann ich feststellen, ob es Möglichkeiten gibt, eine Reparatur vorzunehmen.« Er hockte vor einer der vielen Metallkisten, die Stück für Stück von Lafours Männern in die Vans verladen |394|wurden, und schaute mit betont unschuldigem Blick zu Hannah auf. Sie war erst vor wenigen Sekunden in dem fast leeren Forschungszelt aufgetaucht, um zu erfahren, was er nach dem Unfall zu tun gedachte.
»Der Energieumwandler, der den parallel verlaufenden Zeitstrom unterbricht, um die entsprechenden Moleküle an der codierten Stelle herauszuschneiden und in der gegenwärtigen Zeit wieder einzusetzen, ist durch große Hitzeeinwirkung beschädigt worden«, erklärte Tom nüchtern. »Leider fehlen uns entsprechende Ersatzteile. Es sieht ganz danach aus, als ob einer der aus der Zukunft stammenden Frequenz-Quarze etwas abbekommen hätte. Dumm ist, dass die Steine in ihrer molekularen Zusammensetzung auf der Erde nicht vorkommen, und bisher waren wir nicht in der Lage, sie künstlich herzustellen. Anscheinend handelt es sich um extraterrestrisches Material. NASA-Experten vermuten, dass das Gestein vom Mars stammt, aber bis wir das herausfinden können, dauert es noch eine ganze Weile. Es sei denn, das Problem liegt woanders, und wir finden Alternativen.«
»Lafour behauptet«, entgegnete Hannah hoffnungsvoll, »dass eine erste Analyse nach dem Unfall ergeben hat, dass man trotz des misslungenen Rückholversuchs nach wie vor etwas in die Vergangenheit transferieren kann. Also ist das Gerät nicht völlig zerstört.«
»Ja«, antwortete Tom, »er hat recht. Wir haben gleich im Anschluss an unseren gestrigen Fehlschlag etwas Derartiges unternommen. Paul hat eine Nachricht verfasst, die unseren Leuten vor Ort mitteilt, was geschehen ist und warum es nun länger dauert, bis wir sie zurücktransferieren können. Wir haben sie in eine Plombe gesteckt und an jenen Ort transferiert, wo die Männer auf uns warten sollten. Es scheint funktioniert zu haben, aber genau wissen wir es natürlich nicht, weil es kein Feedback gibt.«
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Hannahs Stimme zitterte.
Mit einem Seufzer erhob er sich und ging auf sie zu.
»Reg dich nicht auf! Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Gero und die anderen so bald wie möglich zurückzuholen. Sie sind mit ausreichend Geldmitteln versorgt und kennen sich in der Epoche gut genug aus, um eine Weile dort leben zu können.« Wie zum Trost breitete er seine Arme aus und wagte es sogar zu lächeln.
»Du redest, als ob der Heimflug nach einem Urlaub ausgefallen wäre.« Hannah dachte nicht einmal im Traum daran, auf sein Angebot, |395|sie zu umarmen, einzugehen, und nahm eine abwehrende Haltung ein. »Ist dir eigentlich klar, wie absurd das ist?«
Tom blieb vor ihr stehen und schaute auf sie herab. Er war immer schon groß und sportlich gewesen, aber nun kam er ihr noch größer vor, ja geradezu bedrohlich.
»Ich verspreche dir, wir tun unser Bestes, um eine Lösung zu finden. Glaubst du, ich bin mit dieser Entwicklung glücklich? Ganz zu schweigen von den amerikanischen Behörden, die dem Präsidenten rasche Ergebnisse versprochen haben. Wenigstens tragen ich und mein Team keine Schuld, dass es so gekommen ist. «
Die Art, wie er es sagte, selbstgefällig und ohne jeden Anflug von Bedauern, trieb sie zur Weißglut. Angewidert wich sie zurück. »Warum beschleicht mich das Gefühl, dass dir der Unfall gerade recht kommt?«
Seine braunen Augen zeigten keine Regung. »Ich weiß, was dir im Kopf herumspukt«, erwiderte er kühl. »Aber so ist es nicht. Ich konnte schließlich nicht voraussehen, dass Lafour sich nicht an die Spielregeln hält. Von unserer Seite war alles geklärt. Ich habe getan, was ich konnte, um die Risiken so gering wie möglich zu halten.«
»Und was soll jetzt werden? Werdet ihr wenigstens weitere Soldaten entsenden, um sie zu schützen, bis das Teufelsding wieder funktioniert und man die gesamte Mannschaft wieder zurückholen kann?«
»Aus gegebenem Anlass hat das Pentagon auf Befehl des Präsidenten untersagt, weitere Menschen und Gegenstände in die Vergangenheit zu transferieren«, erwiderte Tom mit tonloser Stimme.
»Gibt es denn wirklich gar keine Möglichkeit, wenigstens Kontakt aufzunehmen?«, entgegnete Hannah aufgebracht. »Vielleicht könnte man einen Ort ausmachen, an dem sie Botschaften hinterlegen. Ich meine, dann wüsste man wenigstens, ob es ihnen gutgeht.«
Tom wich ihrem fordernden Blick aus. »Paul hatte für die Rückmeldung auf unsere Botschaft einen toten Briefkasten vorgeschlagen. Mitten in Jerusalem, in der Basilika des Heiligen Grabes. Teile davon befanden sich damals noch im Bau. Dort hätte man die Information, wie wir den speziellen Quarz herstellen können, den wir für die Reparatur so dringend benötigen, ohne Probleme in einer Metallplombe deponieren können.«
»Was bedeutet ›können‹ oder ›hätten‹?« Hannahs Stimme bebte vor Aufregung. »Sag nur, ihr habt schon nachschauen lassen? Ich meine, |396|selbst ich weiß, dass Zeit relativ ist, und wenn ihr den Hinweis gestern transferiert habt, müsste schon heute etwas in dem Depot zu finden sein. Vorausgesetzt, eure Botschaft wurde von den Richtigen entdeckt.«
»Die NSA hat in einer Nacht-und-Nebel-Aktion jeden Stein an besagter Stelle umdrehen lassen …« Er zögerte einen Moment und senkte den Blick, bevor er den Satz zu Ende brachte. »Leider negativ.«
Hannah packte Tom am Kragen seiner Jacke und zog ihn zu sich hin, so nahe, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten.
»Heißt das im Klartext, ich werde Gero niemals wiedersehen?«
»Hannah …« Tom fasste sie bei den Handgelenken und versuchte vergeblich ihre Finger von seinem Overall zu lösen. »Ich kann nichts tun. Die Sache ist gründlich schiefgegangen, keine Frage. Und nun müssen wir sehen, wie wir das wieder geradebiegen.«
»Wird er zu mir zurückkommen?« Nun schrie sie ihn an, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Wird Gero zu mir zurückkehren?«
»Keine Ahnung«, flüsterte er.
Abrupt ließ sie ihn los. »Ich bin schwanger, Tom! Von Gero! Was soll ich meinem Kind erzählen, wenn es seinen Vater niemals zu sehen bekommt? Soll ich etwa sagen: Er ist verschollen – in der Vergangenheit?« Ihre Stimme überschlug sich vor Zorn.
Tom richtete sich auf und blickte sie aus schmalen Lidern an. »Du wusstest von Beginn an, auf was du dich einlässt. Du wusstest, dass unsere Auftraggeber deinen Templern niemals die Chance geben würden, ein normales Leben zu führen. Du wusstest, dass Gero kein Mann sein würde, der abends um fünf von der Arbeit nach Hause kommt, damit du das begeisterte Hausmütterchen geben kannst. Karen hat dir aus genetischen Gesichtspunkten dringend davon abgeraten, mit ihm ein Kind zu zeugen. Und ich habe dich von Beginn an davor gewarnt. Er kommt aus einer anderen Zeit, das wäre sowieso niemals gutgegangen. Außerdem wusstest du, dass man seit Wochen beabsichtigt, ihn in einen weiteren Einsatz zu schicken.«
Hannah schwankte in dem Gefühl, nicht nur ihre Sprache zu verlieren, sondern auch ihren Verstand.
Tom schien zu spüren, dass er zu weit gegangen war, als Hannah lautlos zu weinen begann.
»Mein Gott, Hannah«, sagte er leise, wagte es aber nicht, sie zu berühren. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen.«
|397|»Es tut dir leid?«, flüsterte Hannah fassungslos und sah zu Boden. In das Gesicht des Mannes zu blicken, der mit gespielter Anteilnahme auf sie herabschaute, hätte bedeutet, dass sie sich augenblicklich vergessen würde: ihm die Augen auskratzen, ihm an den Hals springen und ihn erwürgen würde. So hob sie lediglich ihr Knie und rammte es ihm in die Weichteile.
Tom blieb kaum Zeit zu einem erstickten Schrei, bevor er zusammenklappte wie ein Schweizer Taschenmesser und zu Boden ging. Die braunen Locken verdeckten sein Gesicht, und Hannah konnte nicht sehen, ob er nur die Augen geschlossen hielt oder tatsächlich bewusstlos war.
Sofort liefen einige der Soldaten herbei, die zuvor mit den Kisten beschäftigt gewesen waren. Sie zogen Hannah von dem am Boden liegenden Tom weg. Dann kamen jene Sanitäter, die sich am Tage zuvor vergeblich um Mike Tapleton gekümmert hatten, und scharten sich in nahezu rührender Anteilnahme um Dr. Tom Stevendahl, der allem Anschein nach tatsächlich das Bewusstsein verloren hatte.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?« Die gefährlich leise Stimme des Generals riss Hannah wenige Minuten später aus ihren Gedanken.
Anstandslos hatte sie sich von zwei schwer bewaffneten Soldaten in Lafours persönlichen Überwachungs-Van führen lassen, um ihm wegen ihrer brutalen Attacke gegen den Chef-Physiker von C.A.P.U. T. Rede und Antwort zu stehen.
»Ihren Exverlobten trifft keine Schuld«, verteidigte er Tom. »Er hat mir selbst erklärt, warum ein Rücktransport aus der Vergangenheit zurzeit nicht möglich ist.«
»Meine Auseinandersetzung mit Tom hat andere Gründe, die Sie nichts angehen«, erwiderte sie betont gleichmütig. »Was den Rest betrifft, so war mir von Beginn an klar, dass ganz allein Sie die Verantwortung für den vorhandenen Schaden tragen.«
Ihr undurchsichtiger Blick glitt an ihm vorbei und ging weiter durch das abgedunkelte Fenster des Vans, irgendwohin, nach draußen in die Wüste, zu den steinigen Hügeln, die Zeitzeugen einer mehr als achthundert Jahre währenden Vergangenheit waren. Wenn es doch nur eine Spur geben würde, die ihr verraten konnte, ob Gero den Trip heil überstanden hatte! Die Angst um ihn drehte ihr den Magen um und nahm |398|ihr jegliche Kraft. Obwohl sie erst im zweiten Monat schwanger war, glaubte sie, das winzige Wesen bereits in ihrem Innern zu spüren. Tom hatte recht, sie hätte nicht schwanger werden dürfen, aber die Sehnsucht nach einem normalen Familienleben war einfach zu groß gewesen. Haltsuchend stand sie im Mittelgang des geräumigen Transporters und klammerte sich an einen Aufbau für Videoequipment, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Sie konnten es nicht lassen«, zischte sie anklagend. »Sie mussten Tanner und Tapleton bewaffnen, obwohl der Befehl des Pentagons gegenteilig lautete und Hertzberg dringend davon abgeraten hatte, explosives Material mitzunehmen.«
»Ich kann Sie nur warnen, junge Lady«, erwiderte der General und stand auf. Er packte ihr Handgelenk und zog sie von ihrem Drehsessel, auf dem sie zuvor seinen Anweisungen gemäß Platz genommen hatte, respektlos auf die Füße. »Niemand kann beweisen, dass ich entsprechende Befehle erteilt habe, und ich werde nicht zulassen, dass Sie mir solche Absichten unterstellen.«
Hannah entzog sich ihm mit einiger Kraftanstrengung. »Leider können die Betroffenen nichts mehr dazu sagen«, erklärte sie mit einer gehörigen Portion Ironie in der Stimme. »Tapleton ist tot und Tanner auf immer verschwunden. Wie ich Sie einschätze, werden Sie alles unternehmen, damit eine Aufklärung des Unfalls unterbleibt. Wahrscheinlich wollen Sie gar nicht, dass die Männer gerettet werden.«
»Ob wir die Mission abbrechen, liegt alleine in der Verantwortung des Pentagon und des Präsidenten«, rechtfertigte sich Lafour. »Die Vermutung, wir hätten kein Interesse an der Rückkehr dieser Männer, ist absurd. Schließlich sollten sie eine wichtige Mission erfüllen. Nach allem, was die Dateien des Servers hergegeben haben, steht der Dritte Weltkrieg bevor. China und Indien werden uns in wenigen Jahren überrollen wie die neun Plagen des Alten Testaments, und niemand weiß, was genau wir dagegen unternehmen können, weil uns wichtige Fakten fehlen.«
Lafour versuchte überzeugend zu wirken, indem er zum Fenster ging und die Arme vor seiner breiten Brust verschränkte, während er hinausstarrte. Die meisten Zelte waren bereits im Abbau begriffen. Der Platz mitten in der Wüste, auf dem am Tag zuvor noch ein geheimes |399|wissenschaftliches Lage-Zentrum existierte, sah so jungfräulich aus wie eine Woche zuvor. Fettschwanzschafe nagten an ausgetrockneten Sträuchern, und der Wind fegte über die kahle Landschaft. Der Himmel hatte sich zugezogen. Allein ein paar Fahrzeuge der amerikanischen Botschaft mit Diplomatenkennzeichen deuteten auf ein amerikanisches Kommandounternehmen hin.
»Fakt ist«, erwiderte Hannah, »dass die Welt endlich all ihre sinnlosen Kriege beenden sollte. Eine solche Gewissheit benötigt keine Frauen aus der Zukunft. Daran sollte Ihre Nation arbeiten, anstatt weiterhin weltweit Frauen und Kinder zu unschuldigen Witwen und Waisen zu machen.«
Hannah näherte sich Lafour, bis sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Er roch nach Whisky und Zigarren.
»Als wenn es so einfach wäre«, sagte er mit einem ironischen Grinsen. »Um Frieden in die Welt zu bringen, braucht es ein Opfer. Das hat schon Jesus Christus gewusst.«
»Mit dem Unterschied, dass Christus sich selbst geopfert hat und nicht andere«, entgegnete ihm Hannah verbittert.
Lafour wich ihr irritiert aus. Umso besser, du Schwein, dachte sie. Das zeigt, dass du ein Gewissen hast, selbst wenn es verkümmert ist.
»Sie haben mir meinen Mann genommen«, flüsterte sie und unterdrückte ihre Tränen. »Und meinem Kind seinen Vater. Sie haben unser aller Leben zerstört, und das nicht erst seit gestern.«
Sie würde nicht weinen. Nicht jetzt und nicht hier, obwohl Angst und Trauer sie zu überwältigen drohten. Die Frage, wie sie das alles Matthäus und Freya und Amelie beibringen sollte, wollte sie sich gar nicht erst stellen.
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?« Lafour zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht war plötzlich bleich. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir erwarten.« Mit hochgezogenen Brauen wandte er sich ab, ging ein paar Schritte durch den Van, vorbei an Überwachungsbildschirmen und roten Telefonen. Wahrscheinlich um Abstand zu gewinnen, vielleicht aber auch, um sich eine weitere Zigarre anzuzünden. Nein, er rief eine Soldatin, die Hannah hinausbegleiten sollte. Einen Moment unbeobachtet, traf Hannah eine Entscheidung und griff blitzschnell nach einer Pistole, die unter einer Konsole gelegen hatte. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, den General in ihre Gewalt zu |400|bringen, um den von ihr gewünschten Fortgang der Ereignisse zu erzwingen. Aber das wäre angesichts all der Sicherheitskräfte töricht gewesen. Hastig versteckte sie daher die Waffe in ihrem Rucksack. Keine Sekunde zu früh.
»Sie können gehen«, sagte Lafour und wandte den Kopf. »Sergeant Blake wird Sie zu Ihrem Transporter begleiten.«
Hannah nickte und gab sich alle Mühe, nicht ertappt zu wirken. Hastig drängte sie sich an ihm vorbei zum Ausgang, wo die blonde Soldatin auf sie wartete. Dabei presste sie ihren Lederrucksack eng an ihren Körper. Ohne ein Wort geleitete die Soldatin Hannah zu einem abgedunkelten Kleinbus, der sie und die anderen Zivilisten nach Tel Aviv zur amerikanischen Botschaft bringen würde.
»Und? Was hat er gesagt?« Freya stand in Jeans und gelbem T-Shirt an einem der Kleinbusse.
Anselm war mit Matthäus bereits gestern Abend zur Botschaft zurückgekehrt, nachdem festgestanden hatte, dass Gero und seine Kameraden nicht wie geplant zurückkehren würden. Der Junge hatte verrückt gespielt und hemmungslos zu weinen begonnen, als der Server das nötige Signal verweigert hatte. Hannah wollte ihm nicht zumuten, die Anspannung und den Zweifel der Anwesenden vor Ort ertragen zu müssen, ob es doch noch gelingen konnte, einen erfolgreichen Transfer hinzubekommen.
Freya bändigte mit Mühe ihre hüftlange, rote Mähne, die der Wind in alle Richtungen fegte. Ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht glühte vor Aufregung. Fast versteckt hinter ihr tauchte Amelie auf, die ihre blonden Haare wie immer zu einem Zopf geflochten hatte. Sie trug immer noch das Kleid, das sie am Tag ihres Zusammenbruchs angehabt hatte.
»Werden sie dich bestrafen, weil du Tom angegriffen hast?«, wisperte sie ängstlich.
Hannah war bemüht, ein ironisches Lächeln zu unterdrücken.
»Wenn hier jemand bestraft werden müsste, dann bestimmt nicht ich«, erwiderte sie tonlos. »Aber leider gibt es keine gerechte Strafe für das Verschwindenlassen von Menschen, jedenfalls nicht, wenn es auf diese Weise geschieht.«
»Soll das etwa heißen …« Amelie wirkte mit einem Mal noch bleicher. »… ich werde Struan nie wiedersehen?«
|401|Freya blickte sie erschrocken an. »Kann er nichts tun, um sie zurückzuholen?«
»Es gibt noch Hoffnung …«, beeilte sich Hannah zu sagen. »Aber …« Sie stockte und nahm die zierliche Französin mütterlich in den Arm. »Ich werde dafür sorgen, dass du Struan wiedersiehst. Ich verspreche es dir.«
»Sag uns die Wahrheit«, forderte Freya sie auf. »Denkst du ernsthaft, wir wissen nicht, was hier gespielt wird?«
Vorsichtig legte Hannah die Fakten dar, immer darauf bedacht, dass sie keine ungebetenen Zuhörer hatten.
Amelies Augen füllten sich mit Tränen. »Sag mir, dass das nicht wahr ist«, flüsterte sie, als Hannah geendet hatte. »Die Heilige Muttergottes ist meine Zeugin, ich kann ihn nicht noch einmal verlieren. Dann will ich endgültig nicht mehr leben.« Sie hatte Struan schon zweimal tot geglaubt. Dass sie dies kein drittes Mal verkraften konnte, glaubte Hannah ihr aufs Wort. Dicke Tropfen kullerten über Amelies perfekt gerundete Wangen. Verzweifelt versuchte sie des Ansturms ihrer Trauer Herr zu werden, indem sie die Tränen wegblinzelte. »Tom hat’s doch versprochen«, stammelte sie in gebrochenem Deutsch, als ob sie noch immer nicht begreifen konnte, dass er keine Macht hatte, an dieser Misere etwas zu ändern. »Er hat gesagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Struan hat sich darauf verlassen, sonst wäre er nicht mit den anderen in diese Hölle gezogen. Er würde mich nicht noch einmal im Stich lassen.« Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.
Hannah wusste von Gero, dass die Männer nicht so viel Vertrauen in Toms Fähigkeiten gesetzt hatten, wie Amelie vermutete. Aber sie hatten andere Gründe gehabt, diesen Schritt zu gehen. Geheime Gründe, die jegliches Risiko rechtfertigten.
»Was ist mit dem Professor und Tanner?« Freya konnte sich allem Anschein nach nicht vorstellen, dass man den einflussreichen alten Gelehrten und den smarten Soldaten aus Lafours Armee so einfach verloren gab.
»Du hast es doch bei Tapleton gesehen«, erklärte Hannah. »Sie haben seine sterblichen Überreste noch am selben Tag in die USA ausgeflogen, um sie zu untersuchen. Wahrscheinlich hat man seiner Mutter erzählt, er habe einen Autounfall gehabt und sei vollkommen verbrannt.«
|402|»Kann man denn wirklich nichts tun?«, bemerkte Amelie mit Verzweiflung in der Stimme.
»Doch, man kann etwas hin transferieren. Wenige Stunden nach dem Unfall haben sie eine Botschaft in die Vergangenheit geschickt, aber es gab keine Antwort.« Hannah fasste kurz zusammen, was Tom ihr über Pauls Idee und das unbefriedigende Ergebnis erzählt hatte. »Der Präsident hat nunmehr alle weiteren Experimente mit sofortiger Wirkung einstellen lassen.«
»Aber wenn du sagst, dass man etwas hintransferieren kann …?« Freya sah sie hoffnungsvoll an. »Ich kann mir zusammenreimen, was du meinst …« Ihre Miene war verschwörerisch.
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wir sollten uns beraten, bevor es zu spät ist«, erklärte Hannah.
Am Abend würden sie zusammen mit dem Delegationsstab, zu dem auch Tom, Paul und Karen gehörten, in der Botschaft von Tel Aviv übernachten. Gleich an nächsten Morgen würden sie zusammen mit Tom und seinem Laborteam mit einer amerikanischen Militärmaschine von Hatserim nach Spangdahlem zurückfliegen.
All dies trieb Hannah zur Eile. Sie öffnete ihren Rucksack und ließ Freya einen Blick hineinwerfen. Augenblicklich verlor die ansonsten unerschütterliche Begine ihre Fassung. »Wo hast du die denn her?«, fragte sie atemlos, als sie die Beretta zwischen Bürste, Papiertaschentüchern und Ausweispapieren entdeckte. Ihre Augen weiteten sich ängstlich. Johan hatte ihr erklärt, dass die modernen Waffen eine weitaus gnadenlosere Bedrohung darstellten als jedes Schwert und jede Lanze.
»Während du in unserer Zeit noch eine Chance hast zu überleben«, hatte er einmal zu ihr gesagt, »weil Gott der Herr dich mit Können und einem kostbaren Schwert gesegnet hat, so kann dich in dieser Zeit jedes Kind mit einem einzigen Schuss selbst aus großer Entfernung töten.«
Amelie stellte sich auf Zehenspitzen, um in die Tasche zu blicken, doch Hannah entzog ihr jäh die Sicht, indem sie den Rucksack mit einer Klappe verschloss und ihn schulterte, als wäre nichts Besonderes darin.
»Was hast du vor?«, wisperte Amelie. Ihre großen blauen Augen spiegelten Freyas Entsetzen wider. »Willst du den General töten? Oder Tom?«
|403|»Nicht, wenn es nicht sein muss«, entgegnete Hannah. »Aber ich benötige euer Vertrauen, eure Verschwiegenheit und eure Mithilfe, wenn mein Plan zum Erfolg führen soll.«
Hannah hatte sich informiert, welcher Teil der amerikanischen Botschaft Karen und Paul zugewiesen worden war. Er lag nur einen Sprung von ihren eigenen Unterkünften entfernt. Tom, der normalerweise auch dort untergebracht war, gastierte zurzeit mehr unfreiwillig auf der hauseigenen Krankenstation. Zwei Flure weiter hatte man vorübergehend ein provisorisches Labor eingerichtet, in dem der Timeserver bis zu seinem Abtransport am nächsten Tag unter sicherem Verschluss aufbewahrt wurde. Tom, Paul und Karen besaßen eine Chip-Karte, mit der sie die streng gesicherten Räume jederzeit betreten konnten.
Gegen Mitternacht machte sich Hannah mit Freya, Amelie und dem Jungen auf den Weg zu Karen Baxter. Unter dem Vorwand, sich von Dr. Karen Baxter wegen ihrer Schwangerschaft untersuchen lassen zu wollen, hatte sie Private Jim Roalence, einem jungen Sicherheitsmitarbeiter der Botschaft, den Zugang zu deren Unterkunft abgerungen. Für ihn schien einzig wichtig, dass die Frauen und der Junge zum Team von C.A.P.U. T. gehörten.
Karen war für Hannah im wahrsten Sinne des Wortes eine Schlüsselperson. Nur sie würde ihr helfen können, ihren waghalsigen Plan zu realisieren.
Roalence schien zu wissen, wo sich Karen im Moment aufhielt, jedenfalls brachte er Hannah und ihre Begleitung direkt zum Labor.
Freya, Amelie und der Junge blieben vor der letzten Schleuse stehen, weil Roalence darum gebeten hatte, einzeln einzutreten. Danach entfernte er sich kommentarlos.
Karen blickte überrascht auf und lächelte freundlich. Sie hatte einen Haufen Papier vor sich liegen, offenbar Protokolle, die den gestrigen Unfall beschrieben. Hannah konnte das Mitleid in ihren graugrünen Augen erkennen, als sie von ihrem Schreibtisch zu ihr aufschaute.
»So setz dich doch«, sagte sie und bot ihr eine Tasse schwarzen Tee an, der in einer weißen Thermoskanne bereitstand.
»Ich benötige deine Hilfe.« Hannah nahm Platz und hielt ihren halb geöffneten Rucksack auf dem Schoß. Karen, die über ihrem dunkelblauen Kostüm wie üblich einen weißen Laborkittel trug, wirkte noch |404|bleicher als in den Tagen zuvor. Normalerweise konnte man ihr die sechsundvierzig Jahre nicht ansehen, aber die dunklen Schatten unter ihren Augen verrieten, dass auch an ihr die Geschehnisse der vergangenen achtundvierzig Stunden nicht spurlos vorübergegangen waren.
»Ich habe schon von Tom gehört, dass du schwanger bist. Hast du dir überlegt, einen Abbruch vornehmen zu lassen?« Ihr Blick schwankte zwischen Mitgefühl und Unsicherheit.
Hannah hatte nicht vermutet, dass Karen ihr vor Freude um den Hals fallen würde, aber dass sie die Taktlosigkeit besaß, von Abtreibung zu sprechen, ließ erneut Zorn in ihr aufsteigen und gab ihr gleichzeitig die Gewissheit, dass sie das Richtige tat.
»Nein«, sagte sie kühl. »An Abtreibung habe ich bestimmt nicht gedacht.« Plötzlich hatte sie die Beretta in der Hand, deren Diebstahl in Lafours Van überraschenderweise noch niemandem aufgefallen zu sein schien.
Karen öffnete den Mund, um zu schreien, doch Hannah entsicherte die Pistole so gekonnt, dass sie sofort verstummte.
Tanner hatte Gero vor Monaten die Funktionsweise dieser Pistole erklärt, und Hannah hatte zufällig danebengesessen.
»Sag nur, du willst uns aus Rache alle erschießen?«, flüsterte Karen und sah sie eindringlich an. »Ich meine, es ist nicht meine Schuld, dass …«
»Ich bin nicht hier, um mich für das Verhalten des Pentagon an dir oder Paul zu rächen. Ich will, dass ihr beide mir einen Gefallen tut.«
Karen sah sie aus schmalen Lidern an. »Was hast du vor?«
»Es scheint ziemlich aussichtslos zu sein, dass Gero und seine Kameraden jemals zu uns zurückkehren. Deshalb haben die Frauen und ich einen Entschluss gefasst. Wir wollen, dass Paul und du uns dorthin bringen, wo unsere Männer gestrandet sind. Das ist schon alles.«
»Hast du den Verstand verloren?« Karen sah sie entgeistert an. »Wenn Paul und Tom es nicht schaffen, Alternativen zu finden, die den Rückholmechanismus des Servers wieder in Gang setzen, werdet ihr keine Chance haben, jemals zurückzukehren. Ist euch das klar?«
»Und wenn wir es nicht wagen, unseren Männern zu folgen«, erwiderte Hannah entschlossen, »bleibt uns noch nicht einmal das.«
»Und was wird aus dem Kind? Es könnte Schaden nehmen, und was wird sein, wenn du es unter achthundert Jahre zurückliegenden Bedingungen zur Welt bringen musst? Ihr könntet beide sterben.«
|405|»Das ist es mit wert. Denn ohne den Mann, den ich liebe, bin ich schon so gut wie tot.«
»Warum könnt ihr nicht noch ein paar Tage verstreichen lassen. Vielleicht findet Tom schneller eine Lösung des Problems, als ihr denkt?« Karen versuchte, Zeit zu schinden.
»Weil wir ab morgen keine Chance mehr haben werden, an den Server heranzukommen, und wenn Tom erst wieder auf den Beinen ist, wird er mich wohl kaum in dieser Absicht unterstützen.« Hannah hielt die Pistole auf Karen gerichtet und verdrängte die Vorstellung, was geschehen würde, wenn das Ding plötzlich von alleine losging.
»Jesus!« Karen stand auf und ging langsam auf sie zu. »Du weißt nicht, was du da von uns verlangst. Ihr seid nicht vorbereitet, und wir wissen nicht, ob es funktioniert, ob der Server eure DNA akzeptiert oder ob ihr in jener Zeit ankommt, die ihr gewählt habt.« Karen machte einen weiteren Schritt auf sie zu.
Hannah reagierte sofort, indem sie die Pistole hochriss und auf Karens Kopf zielte. »Bleib stehen, oder ich schieße. Bei Gott, ich mache keine Scherze! Entweder du tust, was ich sage – oder es geschieht ein weiteres Unglück!«
Karen blieb stehen. Hannah konnte erkennen, dass die sonst so hartgesottene Ärztin es offenbar nun doch mit der Angst zu tun bekam.
»Ich bin schwanger«, stieß Hannah mit zusammengebissenen Zähnen hervor, »und in diesem Zustand ist man bekanntlich zu allem fähig. Ich will, dass mein Kind seinen Vater kennenlernt. Und wenn er nicht zu mir kommen kann, will ich zu ihm. So einfach ist das.«
Karen strich sich nervös die kurzen, blonden Locken aus dem Gesicht und befeuchtete ihre Lippen, bevor sie antwortete. »Also gut. Dein Entschluss steht fest. Und was ist mit den anderen?«
»Natürlich wollen die anderen mitkommen.«
»Sicher?« Karens Blick offenbarte ihren Zweifel. »Ins zwölfte Jahrhundert?«
»Was wäre, wenn Paul dort unten wäre?«, fragte Hannah. »Achthundert Stufen hinab in einem unendlich weit entfernten Abgrund, und du wüsstest, er kommt nie mehr zurück?«
»Es ist kein Abgrund«, belehrte Karen sie. »1153 ist hier, direkt dort, wo wir stehen, aber wir können es nicht sehen, weil es in einer benachbarten Zeitdimension stattfindet.«
|406|»Ebene oder Abgrund«, erwiderte Hannah gereizt. »Was spielt das jetzt für eine Rolle? Gero, Struan und Johan sind nicht bei uns, und wenn wir mit ihnen reden, leben oder lachen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.« Wieder hob sie die Waffe. Sie wollte die Sache erledigt wissen, und zwar bevor Lafour hier aufkreuzte und sie festnehmen ließ, weil sie seine Waffe gestohlen hatte und die Verantwortung für eine Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv trug.
»Und wo sind die anderen?« Karen spähte durch eine Glaswand in einen benachbarten Flur, der aus Sicherheitsgründen durch eine Lichtschranke versperrt wurde.
»Sie stehen abmarschbereit vor der Tür«, erklärte Hannah nüchtern.
Karen zögerte einen Moment.
»Denk an Paul«, half Hannah ihr nochmals auf die Sprünge. »Glaubst du ernsthaft, du könntest dich so leicht damit abfinden, ihn nie wiederzusehen? Zumal wenn du ein Kind von ihm erwartest?«
Karen seufzte entnervt und zückte ihre Chipkarte, die ihr Zugang zu allen gesicherten Privaträumlichkeiten gewährte und gleichzeitig die Lichtschranke zum Tresorraum aufheben konnte. »Okay, dann lass uns nach nebenan gehen.«
Sie öffnete die Schleuse, und Hannah staunte nicht schlecht, als sich außer Freya, Amelie und Matthäus plötzlich auch Anselm unter den Wartenden eingefunden hatte.
»Matthäus hat sich vollständig angezogen aus unserem Zimmer geschlichen«, erklärte ihr Anselm, »und als ich fragte, wo er hinwolle, und er mir sagte, er müsste dringend zu dir, wusste ich, dass du irgendetwas Verrücktes vorhast.« Sein Blick auf die Pistole verriet, wie verrückt ihr Vorhaben tatsächlich sein musste. Er sah genauso verschlafen aus wie der Junge, war aber in Lederhose, Boots und knielangem Schnürhemd abmarschbereiter als jeder andere hier im Raum. Den Bart frisch gestutzt, hatte er seine schulterlangen braunen Haare im Nacken zu einem Zopf gebunden.
Der Blick seiner sonst so warmen, braunen Augen wurden noch härter, als Hannah die Waffe auf ihn richtete. »Niemand wird uns davon abbringen können, auch du nicht, verstanden?«
»Ich hoffe, du weißt, was du hier tust«, sagte er ernst. »Die Amis |407|spaßen mit solchen Geschichten nicht. In Alabama wird man für Geiselnahme gehängt.«
»Na und?« Sie lachte unecht. »Schon vergessen? Dort, wo Gero sich aufhält, kannst du wegen eines gestohlenen Apfels gehängt werden.«
»Also liege ich richtig. Du und die anderen wollt ihm und seinen Männern folgen?« Sein Blick schweifte über ihre unzureichende Kleidung für dieses Vorhaben. »Habt ihr Geld?«
Hannah schüttelte den Kopf.
»Waffen?«
»Nur diese hier.« Demonstrativ hob sie die Beretta, wie ein Bankräuber, der die Kassierer beeindrucken will. »Und die können wir nicht mitnehmen. Du hast gesehen, was Mike damit angerichtet hat.«
»Tolle Geschichte – und was machst du, wenn du von einem Heer feindlicher Reiter angegriffen wirst?«
»Abhauen«, erwiderte sie ärgerlich.
»Du hast also nicht den geringsten Plan?« Anselm verzog den Mund zu einem halbherzigen Grinsen.
»Nein«, entgegnete Hannah. »Wir wollen Gero und die anderen finden, und dann werden wir sehen, was weiter passiert.«
Er schüttelte den Kopf, und sein Blick wanderte von Hannah zu Karen.
»Ihr wollt also …« Sein Blick traf Amelie. Sie war die Einzige der drei Frauen, die sich umgezogen hatte und nun mit einem bodenlangen, hellblauen Surcot und einer weißen Cotte ein halbwegs brauchbares Outfit trug. Dann wanderte sein Blick zu Matthäus, der sich – ähnlich wie Freya – begeistert der aktuellen Mode angepasst hatte. »Superman«, stand in rotgelben Lettern auf seinem knallblauen T-Shirt. »… in Jeans und T-Shirt mal eben ins zwölfte Jahrhundert reisen«, vollendete er den Satz.
»Als ob wir auch das nicht schon längst hinter uns hätten. Notfalls klauen wir uns ein paar Klamotten von irgendeinem Basar«, hielt Hannah ihm entgegen.
»Worauf Handabhacken steht, falls man erwischt wird«, erwiderte Anselm und spielte auf ihren beinahe tödlich verlaufenen Trip ins Jahr 1307 an. »Diesmal wird uns niemand zurückholen können.«
»Uns?« Hannahs Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Heißt das, du willst uns begleiten?«
|408|»Auf keinen Fall werde ich euch alleine ziehen lassen. Zumal wir nicht in Jerusalem herauskommen werden, wenn wir hier starten. Wir werden außerhalb des mittelalterlichen Jaffa landen. Danach werden wir durch eine feindliche Wüste nach Jerusalem reisen müssen. Niemand von uns kennt sich dort aus.«
Damit hatte er recht, wie Hannah zugeben musste. Selbst Freya und Amelie waren gut einhundertfünfzig Jahre später geboren und niemals im Outremer gewesen.
»Macht es dir nichts aus«, Freya warf Anselm einen fragenden Blick zu, »wenn wir niemals hierher zurückkehren können. Und du dein Leben dort fristen musst?«
»Wieso fristen?« Anselm grinste ironisch, dann schaute er Matthäus an, der den sprachlichen Schlagabtausch in Mittelhochdeutsch ebenso fasziniert verfolgte wie Karen. »Unser Auskommen wäre gesichert. Wir könnten eine McDonalds-Kette eröffnen und unsere Burger an Pilger verkaufen. Ich bin sicher, wir wären im Nu gemachte Leute.«
Matthäus nickte begeistert. Der Gedanke, selbst nach einem Zeitsprung nicht auf sein heißgeliebtes Fast Food verzichten zu müssen, schien ihm zu gefallen.
»Meinst du wirklich«, fuhr Anselm an Freya gerichtet fort, »ich könnte mir, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, ein Leben ohne euch vorstellen?«
Unvermittelt waren Schritte zu hören. Plötzlich stand ein Soldat vor der Tür, und Hannah ließ blitzschnell die Waffe hinter ihrem Rücken verschwinden.
Es war einer von Lafours Männern.
»Alles in Ordnung hier unten?«, fragte er beiläufig, den Blick auf Dr. Baxter gerichtet.
Karen zögerte keinen Moment und nickte entspannt. »Ja, alles klar«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Lediglich Blutdruckmessen und Herztöne abhören, spätestens in einer halben Stunde sind wir durch.«
Der Mann verschwand so schnell, wie er gekommen war.
»Mich hast du überzeugt«, murmelte Karen, als sie gemeinsam mit Hannah und ihrem Gefolge den Weg zu den Gästesuiten fortsetzte. »Aber an deiner Stelle würde ich die Pistole bereithalten, am besten auf mich gerichtet, wenn du willst, dass Paul bei eurer Nummer tatsächlich |409|mitspielt. Er wird nicht gerade begeistert sein – und ohne ihn geht es nicht. Er hat neben Tom den zweiten Chip-Code, der nötig ist, um den defekten Server zu starten.«
»Houere Schäiss!« Paul stieß einen saftigen luxemburgischen Fluch aus, als er sah, dass Karen von Hannah mit einer Pistole bedroht wurde. »Sind jetzt alle wahnsinnig geworden, oder was ist hier los?« Er hatte sich schon bettfertig gemacht und stand halbnackt, lediglich mit einer Jogginghose bekleidet im Eingang zum Bad.
Karen trat an ihn heran und nahm ihn, von Hannah beobachtet, beiseite. Flüsternd erklärte sie ihm die Umstände. Zwischendurch schüttelte er immer wieder fassungslos den Kopf.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Es ist eure Entscheidung.« Hastig zog er ein schwarzes Sweatshirt über seinen drahtigen Oberkörper. Seine helle, von Sommersprossen übersäte Haut hatte vor Aufregung eine Rosatönung angenommen. Unter den Augen von sechs angespannten Menschen schlüpfte er in seine Turnschuhe und nahm seinen weißen Laborkittel vom Haken, in dessen Taschen sich ein elektronischer Schlüssel zu einem weiteren Tresor befand, in dem er seine Chipkarte während der Nacht aufbewahrte. »Ich kann verstehen, was in euch vorgeht«, sagte er leise, als sie zurück auf den langen, beleuchteten Flur gingen. »Aber ich bin mir sicher, dass es keine gute Idee ist, euch in dem zu unterstützen, was ihr vorhabt.«
Ob man den Timeserver jemals reparieren konnte, war ungewiss, es sei denn, man gelangte in den Besitz einer brauchbaren Arbeitsanleitung.
»Ihr müsst mir etwas versprechen.« Paul hielt kurz inne, bevor er zusammen mit seinen Begleitern die nächste Schleuse durchquerte. »Wenn ihr tatsächlich auf die gesuchten Frauen trefft«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, »sagt ihnen, sie sollen mir eine Arbeitsanweisung schicken, wie man den Server wieder in Gang bringen kann. Dann wäre es mir möglich, euch alle zurückzuholen. Gesetzt den Fall, ihr wollt es so.«
Hannah warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wäre die Nachricht nicht längst dort, wenn ich dir jetzt einen Ort nenne und wir dort nachschauen würden?«
»Das ist die spannende Frage«, erwiderte Paul und lächelte schwach.
»Quantenphysikalisch gesehen, spielt Zeit keine Rolle«, erklärte Karen, |410|während sie den mit Notlicht beleuchteten Flur entlangliefen. »Wir wissen noch nicht genug, um sicher sagen zu können, wie die einzelnen Phänomene sich verhalten. Vielleicht liegt morgen ein Zettel im Depot am Heiligen Grab, der gestern noch nicht dort gewesen ist. Vielleicht aber auch nicht.«
Von weitem tauchten zwei Wachmänner auf, die, mit MPs bewaffnet, den Gang entlangmarschierten. Auf Anweisung Lafours schoben sie eine Sonderschicht, um den Aufbewahrungsraum des Servers bis zum Abflug nach Deutschland zu bewachen. Kerzengerade standen sie vor der Tür und schauten verdutzt, als plötzlich Karen vor ihnen auftauchte und mit ihr eine Gruppe von unangemeldeten Besuchern.
Hannah verlor jeglichen Mut. Paul und Karen würden es angesichts der beiden bulligen Aufpasser niemals schaffen, sie in den Tresorraum zu schleusen. Vielleicht ließ Paul deshalb Karen den Vortritt, damit sie die beiden wie auch immer becircte.
»Guten Abend, meine Herren«, sagte sie lächelnd, und bevor auch nur einer der beiden etwas erwidern konnte, hatte sie zwei Injektionspistolen aus ihrer Laborkitteltasche gezogen und sie den Männern an die Halsschlagader gesetzt. Im Reflex ließen sie die MPs fallen und fassten sich an die Einstichstelle. Noch bevor sie zu einer weiteren Reaktion fähig waren, sackten sie zu Boden.
Paul öffnete scheinbar ungerührt die unbewachte Tür mit seinem Chip-Code und wandte sich an Anselm. »Hilf mir, die beiden in den Serverraum zu schaffen. Sie werden eine Weile schlafen und sich praktischerweise hinterher an nichts mehr erinnern, nicht wahr, Schatz?« Er schenkte Karen ein unsicheres Lächeln und machte sich dann mit Anselm daran, die beiden Soldaten aus dem Sichtfeld der Überwachungskameras zu räumen.
Hannah drängte ihre Freundinnen zur Eile. »Los, geht schon hinein. Wir müssen aus dem Flur raus, bevor noch jemand kommt.«
Karen schloss als Letzte die Tür und verriegelte sie elektronisch.
Paul hatte zuvor eine Verbindung ins Netzwerk des amerikanischen Botschaftsgebäudes hergestellt und sämtliche Kameras, die diesen Raum überwachten auf Standbild geschaltet, so dass niemand in der Überwachungszentrale sehen konnte, wie viele Menschen sich plötzlich darin aufhielten. Der Metallkoffer, den Paul mit Karens Hilfe aus einem Stahlschrank holte, sah harmlos aus. Der Server darin, schwarz |411|und so groß wie eine Zigarrenkiste, machte keinen besonders spektakulären Eindruck. Auch war ihm nicht anzusehen, dass er beschädigt war. Das änderte sich auch nicht, als Karen einen gregorianischen Gesang von einem speziellen Band abspielte
Türkisfarbene Funken sprühten und sammelten sich zu einer nebligen Lichterwolke.
»Wie wäre es mit einer geheimen Stelle am Tempelberg?« Hannah zog fragend eine Braue hoch, während sie erleichtert beobachtete, wie der Server die grünblauen Lichtmoleküle zu einer Hand verdichtete. »Dort gibt es bestimmt einen Ort, wo wir eine Information hinterlegen könnten.«
»Es ist nicht leicht, ein sicheres Versteck zu finden, an dem sich die nächsten achthundert Jahre garantiert niemand vergreifen wird«, gab Anselm zu bedenken. »Gerade der Tempelberg ist nach der Rückeroberung Jerusalems durch Saladin 1187 Dutzende Male umgebaut worden. Außerdem ist es in der heutigen Zeit schwierig, dorthinzugelangen. Die Gegend gehört zum arabischen Teil der Stadt und wird ständig von Unruhen erschüttert. Ohne Taschenkontrolle kommt niemand an den palästinensischen Polizisten vorbei. Und auf dem Plateau werden Besucher ständig auf Waffen und Bomben kontrolliert.«
»Die Amerikaner verfügen über palästinensische Spitzel, die ihnen aushelfen können, aber ob sie solche Leute in die Sache mit reinziehen wollen, ist fraglich.« Karen sah ihn an, während Paul weitere Einstellungen vornahm.
»Aber es gibt da eine möglicherweise interessante Stelle«, fuhr Anselm fort, »dort, wo früher das deutsche Hospital von Sankt Maria gestanden hat. Es wurde lange vor der Eroberung durch die Christen erbaut und später zerstört. Soweit ich weiß, wurde es nicht mehr aufgebaut. Die Reste davon findet man südwestlich der Klagemauer, unterhalb einer steinernen Treppe, die hoch in die Stadt führt. Dort steht noch ein gotischer Torbogen von lilafarbenen Glyzinien umrankt. Am Fuße des Torbogens befindet sich ein gepflasterter Weg. Am rechten Pfeiler könnten wir eine Plombe unter den Steinen vergraben.«
Anselm war so sehr in den Vorstellungen von einem sicheren Nachrichtenweg versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Paul Hannah aufforderte, ihre Hand in den rotierenden Nebel zu legen. »Falls wir etwas zu vergraben haben«, fügte er hinzu. »schließlich kann zurzeit |412|niemand mit Sicherheit sagen, ob die beiden gesuchten Frauen sich überhaupt noch in der Stadt befinden.«
»Wenn wir eine Nachricht erhalten, die uns in die Lage versetzt, die Reparatur durchzuführen, könnten wir euch innerhalb weniger Tage zurückholen. Ihr müsstet uns bloß Zeit und Ort nennen, von wo aus wir euch zurücktransferieren sollen.«
»Falls ihr es schafft, das Ding je wieder in Gang zu setzen.« Anselm sah Paul zweifelnd an.
»Wissenschaft lebt vom Experimentieren«, erwiderte Paul. »Nicht vom Lamentieren, pflegte mein Professor zu sagen.«
Er blickte mit ernster Miene auf, als der Server begann, Hannahs DNA zu checken, und offenbar keine Einwände bestanden. »Bist du sicher, dass du das wirklich willst?«
»Ja«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Wir gehören zu unseren Männern. Selbst wenn sie sich in der Hölle befinden.«
Karen konnte man ansehen, dass sie Hannahs Entschlossenheit berührte. Sie schluckte, als Matthäus wie selbstverständlich neben Hannah trat und seine eigene Hand in den Nebel legte. Der Junge hatte anscheinend nicht den geringsten Zweifel, ihr wohin auch immer zu folgen.
25. Juli 1153 – dieses Datum hatte als Ankunftszeit für Geros Transfer gestanden.
Karen kramte rasch einen Beutel aus ihrer Laborkitteltasche hervor und reichte ihn an Hannah weiter, während der Server den Countdown begann. »Schmerztabletten, Penicillin und was gegen Durchfall«, erklärte sie beinahe entschuldigend. »Ich dachte, vielleicht kann es euch helfen, auch wenn ihr nicht weit damit kommen werdet, sollte es uns nicht gelingen, euch baldmöglichst zurückzuholen.«
Hannah nahm ihre bescheidene Gabe dankbar entgegen. »Wir haben das Know-How, und das ist das Wichtigste. Oder?«
Karen nickte mit gespielter Zuversicht.
»Danke«, sagte Hannah, ohne Karen in die Augen zu sehen. Sie wollte nicht über Risiken nachdenken und erst recht nicht über Vernunft und Unvernunft. Was hier ablief, war mit beidem nicht zu erklären.
Dann kamen Amelie und Freya an die Reihe. Auch sie ließen sich keinerlei Zweifel anmerken. Anselm atmete noch einmal tief durch, als |413|er seine Hand in den Nebel tauchte und der Countdown zur DNA-Prüfung von einer Frauenstimme zum fünften Mal heruntergebetet wurde.
»Transfer gestattet«, sagte die Stimme, und für einen Moment sah es so aus, als ob Jubel ausbrechen würde, doch die Gesichter wurden gleich wieder ernst.
»Good luck«, sagte Paul, und das Einzige, was ihm blieb, war, sich mit Karen in eine Ecke des Tresorraums zurückzuziehen und darauf zu hoffen, dass alles glattlief.
Nachdem die anderen verschwunden waren, griff Karen zu Pauls Erstaunen zum Telefon. »Was hast du vor?«
»Den General anrufen.«
»Damit er uns suspendieren lässt?«
»Nicht doch.« Sie lächelte wissend. »Damit er uns weiterhin protegiert.«
Erst als Karen zu sprechen begann, verstand er zögernd, was hier vorging.
»General«, sagte Karen mit gedämpfter Stimme. »Ihre Einschätzung war richtig. Hannah Schreyber hat genauso reagiert, wie Sie es vorausgesehen haben. Sie war es, die ihre Pistole genommen hat, und sie war es auch, die mich damit zum Transfer der Truppe gezwungen hat. Wenn wir Glück haben, werden sie und die anderen Zeitreisenden einen Weg finden, uns die notwendigen Informationen zukommen zu lassen. Und wegen eines erzwungenen Transfers kann uns das Pentagon nicht belangen.«
Paul klappte die Kinnlade herab, nachdem sie aufgelegt hatte. »Er hat davon gewusst?«
»Meinst du wirklich, die NSA hätte nicht bemerkt, wenn in diesem Gebäude Geiseln genommen werden? Lafour hat mich gleich nach dem Verschwinden der Waffe angerufen, weil er so etwas vermutete, und es schien ihm nicht ungelegen, dass Hannah einen Transfer erzwingen wollte.«
»Und ich dachte, wir können einander vertrauen?«
»Mach dir nichts draus«, erwiderte Karen. »Wir haben beiden Seiten geholfen.«
Paul schüttelte ungläubig den Kopf. »Und was wird, wenn sie nicht wiederkehren und dort unten sterben?«