5. KAPITEL
„Was hältst du von dem Haus?“, fragte Harry einige Zeit später, als sie zu viert um einen geplünderten Picknickkorb herum am Strand saßen.
„Das Haus ist eine Wucht“, antwortete Amy und blickte zum Leuchtturm hinauf. Sie spürte, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg, als sie an Harrys leidenschaftlichen Kuss dachte.
Auch Harry betrachtete nachdenklich das Anwesen. „Es ist sehr groß“, sagte er.
Ashley und Oliver standen auf und begannen von neuem, mit den ausrollenden Wellen um die Wette zu laufen. Ihre Wangen hatten eine gesunde frische Farbe angenommen, und ihr Lachen erfüllte die freundliche Abendstimmung.
Amy konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ausflug so genossen zu haben. Sie drehte die leere Kaffeetasse, die sie in der Hand hielt, und blickte verträumt aufs Meer hinaus. „Ich kann mir gut vorstellen, wie schön die Lichter der Fähre des Nachts vom Wohnzimmer aus zu sehen sind.“
Sie sah zu, wie Harry sich eine letzte Weintraube in den Mund steckte. Und wie süß würden deine Lippen schmecken, würdest du mich jetzt noch einmal küssen, sann sie. Einen Moment lang dachte sie wirklich, er würde es tun, doch er begann, die Überreste vom Picknick einzusammeln.
Amy half ihm, dann stiegen sie wieder ins Auto. Als sie das Maklerbüro erreichten, waren Ashley und Oliver bereits eingeschlafen, und es fing an zu nieseln. Während Amy im Auto wartete und den Regentropfen zusah, die geräuschlos die Scheiben hinunterrollten, befiel sie eine seltsame Trauer, so als müsse sie den einzigen Ort verlassen, an dem sie sich wirklich wohl fühlte.
Harry Griffith war an sich ein sehr gewissenhafter Mann. Für ihn zählten harte Fakten, denn in seiner Branche ging es durchweg um sehr hohe Einsätze. Seit seinem siebten Lebensjahr hatte er nichts Unüberlegtes mehr getan. Und dennoch unterschrieb er gerade die Kaufverträge für den Leuchtturm, obwohl er eigentlich nur den Schlüssel hatte abgeben wollen. Er konnte nicht aufhören, sich Amy in dem großen Wohnzimmer vorzustellen, wo der warme Schein des Kaminfeuers sich in ihrem goldbraunen Haar spiegeln würde. Oder Amys schlanke, aber dennoch weibliche Figur, wenn sie, weich und warm und einladend in seinem Bett lag.
Und als ob das nicht ausreichte, um allen Prinzipien zu trotzen, hörte er in Gedanken das fröhliche Lachen der Kinder und das leise Rauschen der Brandung.
„Ich bin sicher, Sie werden glücklich auf der Insel“, sagte Mrs Caldwell.
„Ja, ich auch“, pflichtete Harry ihr bei, doch er dachte weder an die wunderschöne Aussicht, noch an die Krebse und Hummer, die er fangen würde. Er war besessen von Amy Ryan – vom ersten Augenblick an.
Als er durch den Regen zum Wagen zurücklief, sah Amy so nervös und besorgt aus, wie er sich fühlte. „Ich habe das Haus gekauft“, verkündete er, kaum dass er die Tür zugeschlagen und den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte. Wieder einmal war Harry von sich selbst überrascht, denn nur wenige Sekunden zuvor hatte er beschlossen, Amy vorerst noch nichts von dem Kauf zu erzählen, bis sie sich besser kannten.
Die Neuigkeit schien Amy zu erschrecken, aber Harry glaubte, in ihren wunderbaren haselnussbraunen Augen auch eine gewisse Zufriedenheit zu erkennen. Ganz sicher war er sich jedoch nicht, obwohl es ihm gewöhnlich nicht schwerfiel, Leute zu durchschauen.
„Du würdest im ganzen Land kein schöneres Haus finden“, sagte sie nach einem Moment des Schweigens.
Harry sah über die Schulter nach den schlafenden Kindern. „Glaubst du, sie würden zum Abendessen aufwachen? Wir könnten auf dem Festland irgendwo anhalten …“
Amy schüttelte den Kopf. „Vielen Dank für das Angebot“, sagte sie sanft. „Aber ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich sie nach Hause bringe. Sie haben schon einen sehr erlebnisreichen Tag hinter sich. Wenn ich sie jetzt noch einmal wecke, sind sie nachher so aufgekratzt, dass sie gar nicht mehr einschlafen werden.“
Wieder machte Harry eine neue Erfahrung: Er war unsicher. Vielleicht war er Amy zu nahe getreten, als er sie im Leuchtturm geküsst hatte. Vielleicht fragte sie sich, was für eine Art Freund er Tyler gewesen sein mochte. Harry hätte wissen müssen, dass er sie nicht einfach küssen durfte, aber er konnte ihr nicht widerstehen.
„Und wie wär’s mit morgen Abend?“, fragte er, ehe er über die Konsequenzen seiner Beharrlichkeit nachdenken konnte.
Amys Lächeln war so lieblich und gleichzeitig reserviert, dass Harry das Bedürfnis verspürte, sie in den Arm zu nehmen und zärtlich zu streicheln. „Oliver und Ashley werden den morgigen Tag mit Tylers Familie verbringen“, sagte sie, und Harry fragte sich, ob sie erwartete, dass er seine Einladung aus diesem Grund zurücknahm.
„Du aber nicht?“, fragte er stattdessen.
Amy zuckte leicht mit den Schultern. „Sie haben mich immer gern da. Aber ich denke, es tut den Kindern gut, ihre Großeltern einmal ganz für sich zu haben.“
Harry vermochte das alberne Glücksgefühl, das ihn befiel, kaum zügeln. „Fein, dann hast du also Zeit, mit mir essen zu gehen?“
Er spürte, dass sie einen inneren Kampf mit sich austrug, der ihm nicht einmal, während er die Überfahrt bezahlte und den Wagen auf die Fähre fuhr, verborgen blieb. Die plötzliche Angst, sie könne ablehnen, brachte ihn beinahe um den Verstand.
„Gern. Ich freue mich darauf“, sagte sie schließlich mit sanfter, etwas unsicherer Stimme.
Mit einiger Anstrengung gelang es Harry, einen Freudenschrei zu unterdrücken, und stattdessen, wie er hoffte, ein weltmännisches Lächeln zustande zu bringen.
„Ich mich auf. Ich mich auch.“
„Das ist genau das Richtige“, bestätigte Charlotte, nachdem Amy ihre Schränke nach einem geeigneten Kleid für die Abendverabredung durchforstet hatte und nun ein hautenges, silbernes, schulterfreies Cocktailkleid hochhielt. Tyler hatte Charlotte als seine „Lieblingsschwester“ bezeichnet, dabei war sie seine einzige. Sie hatte sehr viel Ähnlichkeit mit ihm. Charlotte war eine von Amys besten Freundinnen; daran hatte Tylers Tod nichts geändert.
Das glitzernde Cocktailkleid war teuer gewesen. Sie hatte es erst vor wenigen Monaten für ein Bankett zu Ehren ihres Vaters gekauft und es seitdem nicht mehr getragen.
„Vielleicht ist es etwas zu schick.“ Zögernd legte Amy es auf ihr Bett. „Ich weiß ja nicht, was er vorhat. Vielleicht holen wir uns nur ein paar Calamares an einem Strandimbiss.“
„Mit Harry Griffith?“, fragte Charlotte. „Nie im Leben, Amy. Der Mann hat Klasse! Glaub mir, er wird im Smoking und mit einem Blumenstrauß in der Hand vor deiner Tür stehen.“
So viel Romantik ließ Amys Herz schneller schlagen. Doch sie schämte sich dieser Reaktion sofort. Es würde Tyler sehr verletzen, zu wissen, wie sehr sie sich zu Harry Griffith hingezogen fühlte. Andererseits hatte jedoch Tyler selbst ihr prophezeit, dass sie Harry eines Tages heiraten und sogar zwei Kinder von ihm gebären würde. – Das war alles höchst verwirrend.
Charlotte wedelte mit der Hand vor Amys Gesicht. „Hallo, Schwesterlein“, neckte sie, „bist du noch bei mir?“
Amy schreckte aus ihren Gedanken hoch und wandte sich abrupt um, um in ihrer Kommode nach einer Strumpfhose zu suchen. „Sag mal, wie lange dauert es normalerweise, bis … man akzeptiert, dass man Witwe geworden ist?“
Ihre Schwägerin schwieg einen Moment, dann legte sie mitfühlend eine Hand auf Amys Schulter. „Ich glaube nicht, dass es da irgendwelche Regeln gibt. Aber Tyler würde es nicht gefallen, dass du ihm den Rest deines Lebens nachtrauerst, Amy, das weiß ich.“
Amy schluckte heftig, um die Tränen zurückzudrängen, die ihr in den Augen brannten. „Ich habe ihn so sehr geliebt.“
Charlotte nahm Amy in die Arme und drückte sie kurz. „Ich weiß“, sagte sie. „Aber, Amy, er ist nicht mehr da, und du bist noch jung. Du kannst dich nicht die nächsten vierzig Jahre hinter deiner Karriere verstecken, um Tyler dann irgendwann ins Jenseits zu folgen. Du gehörst unter Menschen. Du musst leben.“
„Wer sagt das?“, fragte Amy, aber sie wusste, dass Charlotte recht hatte. Das Leben war etwas Wertvolles; es zu vergeuden, wäre eine unverzeihliche Sünde.
Charlotte gab Amy einen kleinen Schubs aufs Badezimmer zu. „So, und jetzt gehst du da hinein und genehmigst dir ein ausgiebiges Bad. Ich setze die Kinder bei Mom und Dad ab.“
„Danke“, sagte Amy heiser vor Rührung und umarmte ihre Schwägerin noch einmal.
Dann befolgte sie Charlottes gut gemeinten Rat. Sie blieb in dem wohl duftenden Schaumbad liegen, bis das Wasser nahezu kalt war. Dann schminkte sie sich, zog ihr Cocktailkleid an und band ihr Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammen. Nur ein paar wenige blonde Strähnen umrahmten noch ihr Gesicht.
Als es schließlich klingelte, war Amy gerade dabei, nervös im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
Harry trug einen Smoking – genau wie Charlotte es ihr prophezeit hatte – und sah so sexy aus wie einer jener Männer, die auf Werbefotos für teure Schweizer Armbanduhren zu sehen waren. In einer Hand hielt er einen Strauß exotischer, rosafarben und weiß blühender Blumen.
Als er Amy erblickte, vertiefte sich das Blau seiner Augen noch. Dann lächelte er und hielt ihr den Blumenstrauß hin, zusammen mit einem weißen Briefumschlag.
„Du bist die schönste Frau der ganzen westlichen Welt“, sagte er. Seine tiefe, vibrierende Stimme berührte Amy wie ein intimes Streicheln.
„Komm doch bitte herein.“ Amy klang bedeutend gefasster, als sie sich im Moment fühlte. Sie bewunderte die samtenen, pastellfarbenen Lilien für einen Moment, dann betrachtete sie das Kuvert von beiden Seiten.
„Deine Dividende auf Tylers Einlage in die Opalminen“, erklärte Harry mit rauer Stimme. Er räusperte sich – ohne Erfolg. „Ich wollte ihn dir eigentlich schon gestern geben.“
Amy zögerte.
„Mach ihn auf“, forderte Harry sie auf, während er die Tür hinter sich schloss.
Amy riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf und zog den Scheck heraus. Obwohl es ihr finanziell gut ging, war sie von dem angegebenen Betrag überrascht. Er war hoch genug, um ein komfortabel ausgestattetes Einfamilienhaus damit bezahlen zu können.
„Tyler muss aber eine enorme Summe investiert haben“, stellte sie fest.
„Nun, genau genommen war es das Geld, das seine Großmutter ihm zu seinen Geburtstagen geschenkt hat. Er hatte es gespart“, erzählte Harry.
Amy ging in Tylers ehemaliges Arbeitszimmer hinüber und legte den Scheck in eine der Schreibtischschubladen. Nachdem sie die Blumen in Wasser gestellt und die hübschen Blüten noch einmal voller Rührung betrachtet hatte, reichte Harry ihr den Arm und führte sie zu einer weißen Limousine, die mitsamt Chauffeur vor dem Haus auf sie wartete. Harry half Amy auf den mit rauchblauem Velours gepolsterten Rücksitz und nahm neben ihr Platz.
„Ich habe ganz vergessen, mich für den Scheck zu bedanken“, sagte Amy betreten, als der große Wagen geräuschlos anrollte. So nah, wie Harry neben ihr saß, konnte sie nicht umhin, an den Kuss zu denken, den sie am Tag zuvor miteinander geteilt hatten, und bei diesem Gedanken wurde ihr unermesslich warm.
Harry zuckte nur mit den Schultern. „Das Geld steht dir rechtmäßig zu“, sagte er. Dann hob er die Hand und wickelte eine von Amys gelockten Haarsträhnen um den Finger. „So ein bezauberndes Wesen“, sagte er wie zu sich selbst. „Wenn es etwas so Liebenswertes und Zauberhaftes wie dich gibt, dann muss es auf der Welt auch irgendwo Einhörner geben.“
Amy wurde schwindelig. „Ein netter Spruch“, sagte sie nach einem Moment völliger Sprachlosigkeit.
„Oh, das ist kein Spruch“, versicherte er und lächelte selbstbewusst. „Ich meine jedes Wort davon.“
Amy glaubte ihm. Gleichzeitig zweifelte sie an ihrem Verstand. Sicher würde er ihr jetzt noch erzählen, dass keine Frau ihn je so verstanden hatte wie sie, und sie fragen, ob sie nicht mitkommen wolle in sein Hotelzimmer, um sich seine Briefmarkensammlung anzusehen.
Amy strich sich mit der Zunge über die Lippen. Es war eine schnelle Bewegung, eine Sache von kaum einer Sekunde. Aber Harrys Blick folgte ihr, und es schien, als würde die Zeit für ihn angehalten, als befände er sich allein mit Amy im weiten Universum.
Und trotz der leise brodelnden Leidenschaft, die Amy vom ersten Moment an für diesen Mann empfunden hatte, traf sein zweiter Kuss sie völlig unvorbereitet. Harry nippte zärtlich an ihren Lippen, als koste er einen vorzüglichen Wein. Dennoch durchzuckte Amy eine Hitzewelle nach der anderen. Gemessen an dieser heftigen Reaktion hätte er sie eigentlich viel intensiver küssen müssen.
Als er ihre Brust umfasste, stöhnte sie leise auf und warf den Kopf zurück. Harry liebkoste ihren Hals, die zarte Haut unterhalb ihrer Ohren und die Stelle, an der ihr Herzschlag pulsierte.
Dann entsann er sich plötzlich des Fahrers, den Amy zu ihrer eigenen Bestürzung völlig vergessen hatte, und richtete sich auf. Als Amy sein Lächeln sah und das hauchzarte Streicheln seines Daumens an ihrer Wange spürte, blieb ihr vollends die Luft weg.
Harry brauchte ihr nicht zu sagen, dass er mit ihr schlafen wollte – sein Blick sagte alles.
Wenig später hielt die Limousine in der Innenstadt an, und der Chauffeur stieg aus, um ihnen die Tür zu öffnen. Amy war der kühlen Abendbrise, die sie umfing, äußerst dankbar.
Das Restaurant, in das Harry sie führte, bot eine angenehm intime Atmosphäre. Außer den Kerzen, die auf den Tischen standen, gab es kaum eine Beleuchtung, und Amy hoffte, dass ihr erhitztes Gesicht bei dem gedämpften Licht nicht so auffallen würde. Harry brauchte nicht zu wissen, wie sehr sein Kuss sie entflammt hatte.
Amy entschied sich für einen Meeresfrüchtesalat, Harry wählte ein saftiges Steak. Dazu tranken beide einen trockenen Weißwein. Nach dem Essen forderte Harry Amy zum Tanz auf. Und auch dies wurde ein alarmierend erregendes Erlebnis für Amy, obwohl sich noch zahlreiche andere Paare auf der Tanzfläche tummelten.
An der Art, wie Harry sie führte, war nichts auszusetzen. Er hielt sie eng umschlungen, sodass ihre Brüste und Oberschenkel sich berührten, und dennoch reagierte Amys Körper auf seine Nähe mit einer Intensität, auf die sie nichts im Leben vorbereitet hatte.
Als Harry die Lippen zu einem sanften Lächeln verzog, wusste Amy, dass er gespürt hatte, was mit ihr geschah.
„Es führt kein Weg daran vorbei, Schatz“, flüsterte er an ihrer Schläfe. „Irgendwann wird es passieren. Heute Nacht, morgen, nächste Woche …“
Er hatte recht. Aber sosehr Amy sich auch nach ihm sehnte; der Gedanke an eine solche, ihr bisher unbekannte, maßlose Leidenschaft machte ihr Angst.
Ohne Amys Hand freizugeben, strich er mit dem Zeigefinger die Konturen ihrer Lippen nach. „So wunderschön“, hauchte er.
Amy schloss die Augen. „Könnten … könnten wir uns wieder hinsetzen? Bitte.“
Harry führte sie an ihren Tisch zurück. Obwohl er ihr beim Hinsetzen die Hand hielt, als sei sie eine Prinzessin, konnte Amy sich nicht überwinden, ihm in die Augen zu sehen. Ihre Wangen glühten so heiß wie die Kerze auf ihrem Tisch. Sie hatte sich ihm auf der Tanzfläche praktisch völlig hingegeben, und das nur aufgrund der Art, wie er sie gehalten hatte.
Harry streckte die Hand aus und tippte ihr mit dem Finger unter das Kinn. „Wir haben Zeit, Amy“, sagte er.
Dass er sie nicht erneut zum Tanz aufforderte, erleichterte Amy. Sie wusste nicht, wie lange sie solch intime Berührungen noch würde ertragen können, ohne sich lächerlich zu machen.
Nach einem abschließenden Irish Coffee verließen sie das Restaurant.
„Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen“, log Amy, als sie wieder im Auto saßen. Innerlich bebte sie immer noch vor Begierde, einer Sehnsucht, die er in ihr geweckt hatte.
Harry grinste. „Wir können doch nicht einfach wegfahren und den Fahrer hierlassen, oder?“, neckte er.
Nervös blickte Amy nach vorn. Der Chauffeur war nirgends zu sehen. „Vielleicht könnte ich mir einfach ein Taxi …“
Doch Harry schüttelte den Kopf, ehe sie noch ausgesprochen hatte. „Wenn ich eine Frau ausführe“, sagte er in betont australischem Akzent, „dann bringe ich sie auch wieder nach Hause. Komm her, Amy.“
Es war beängstigend, wie sehr sie sich seines Aftershaves bewusst war, der Weichheit der ledernen Sitzpolsterung und der zärtlichen Forderung in seinen dunklen blauen Augen. Sie versuchte, an Tyler zu denken, aber zu ihrer Verwunderung konnte sie sich nicht einmal mehr genau an sein Gesicht erinnern.
Obwohl Amy vor Gericht aussagen würde, dass sie sich nicht einen Millimeter bewegt hatte, fand sie sich plötzlich in Harrys Armen wieder. Er küsste sie. Das war alles. Und dennoch schmolz Amy dahin wie heißes Wachs. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach einem anderen Mann als Tyler.
Die getönten Scheiben der großen Limousine boten ein hohes Maß an Privatsphäre, und der Umstand, dass der Fahrer jeden Moment zurückkehren konnte, verlieh der Situation einen Hauch berauschender Dringlichkeit.
Amy vernahm das Klicken der Zentralverriegelung und öffnete die Augen. Doch Harry tat nichts, als sie im Arm zu halten und zu küssen, langsam und genussvoll, als verzehre er eine exotische Nachspeise. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen, und Amy gelang es nicht, ihr Schicksal aufzuhalten. Die Erkenntnis, dass sie einverstanden wäre, würde Harry ihr jetzt vorschlagen, ihn in sein Hotelzimmer zu begleiten, schockierte sie.
Die Zentralverriegelung klickte erneut, und wieder riss Amy erschrocken die Augen auf. Harry saß in einer respektablen Entfernung neben ihr und wirkte so elegant und gefasst, als käme er geradewegs von seinem Friseur.
Amy dagegen befand sich in einem Schockzustand. Der Fahrer stieg ein, und Amy hörte, wie Harry ihm eine Adresse gab – ihre Adresse. In die Erleichterung, die sie verspürte, mischte sich auch ein Gefühl der Enttäuschung.
Vor der Haustür beugte Harry sich zu Amy hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Nase. „Du bist so schön“, sagte er, „ich konnte dir nicht widerstehen. – Das nächste Mal werde ich mich besser zu benehmen wissen.“
Amys Sinne waren immer noch völlig in Aufruhr. Sie wankte leicht, sodass Harry sie an den Ellenbogen fasste, um sie zu stützen. „Du könntest hereinkommen und noch eine Tasse Kaffee mit mir trinken“, sagte sie und biss sich im nächsten Moment verlegen auf die Unterlippe. Außer Tyler hatte es keinen anderen Mann in ihrem Leben gegeben, daher besaß sie wenig Erfahrung, wie man einen Mann kunstgerecht verführte.
Harrys Lächeln war sexy genug, um tödlich zu sein, obgleich auch ein wenig traurig. „Wenn ich heute Abend über diese Schwelle trete, Amy“, sagte er, „werde ich viel mehr als nur eine Tasse Kaffee wollen. Und keiner von uns beiden ist wirklich dazu bereit.“ Er gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn und ging davon.
In Amy hinterließ dieser harmlose, unverbindliche Abschiedskuss eine tiefe innere Leere. Ihre Fassung reichte gerade noch, um die Tür hinter sich abzuschließen und die Kette vorzulegen, aber als Mimi angelaufen kam und ihr mit ihrem seidigen Fell um die Fußgelenke strich, schluchzte Amy laut auf. Sie hob die Katze hoch, nahm sie in die Arme und rannte mit ihr die Treppe hinauf.
Die nächste halbe Stunde – während Amy ihr Kleid auszog, sich das Gesicht wusch und einen Baumwollschlafanzug überstreifte, weinte sie hemmungslos. Amy wusste, sie stand an einem Wendepunkt, von dem kein Weg zurückführte.
Um halb elf am nächsten Morgen klingelte das Telefon.
„Guten Morgen, Amy“, sagte Louise Ryan mit ihrer angenehmen Stimme. „Ich rufe an, weil ich dich um einen großen Gefallen bitten möchte.“
Amy war noch ziemlich verschlafen und fühlte sich matt und ausgelaugt nach dieser Nacht voller Tränen und Grübeleien. „Einen Gefallen?“
„John und ich fahren morgen nach Kansas, zu einem großen Familientreffen der Tylers. Wir wollten eigentlich nicht daran teilnehmen, aber in letzter Minute haben wir uns doch entschieden, es uns auch einmal gut gehen zu lassen. Und, nun, wir würden Oliver und Ashley gerne mitnehmen, wenn es dir nichts ausmacht.“
Amy musste über die zaghaft formulierte Frage ihrer Schwiegermutter lächeln. „Natürlich können sie mitfahren, Louise“, erklärte sie und begann unwillkürlich, sich Gedanken darüber zu machen, welche Möglichkeiten ihr diese unerwartete Gelegenheit bot.
Wie Amy weiter erfuhr, beabsichtigten John und Louise, mit ihrem Wohnmobil in den Mittleren Westen zu fahren. Zweifellos würde das den Kindern viel Spaß machen. Louise wollte später mit den Kindern vorbeikommen, um ihr Gepäck abzuholen.
„Oliver erzählte, dass du mit Harry Griffith ausgehst“, wechselte Louise dann das Thema.
Allein bei der Erinnerung an ihr nächtliches Intermezzo in der Limousine schoss Amy die Röte in die Wangen. Doch es gelang ihr, sich ihre Verlegenheit nicht anhören zu lassen. „Nun ja, wir sind einmal essen gewesen“, stellte sie richtig. Doch tief in ihrem Innersten wusste sie, dass es dabei nicht bleiben würde.
„Harry ist ein wunderbarer junger Mann“, schwärmte Louise.
„Ja“, pflichtete Amy ihr bei. Tatsächlich hatte sie jedoch ziemliche Bedenken, was Harry Griffith betraf, wenngleich auch sie selbst sich auf dem Rücksitz des großen Wagens wie ein Teenager benommen hatte.
Amy schluckte und wickelte sich nervös das Telefonkabel um den Zeigefinger. Eigentlich sollte sie Louise erzählen, was wirklich zwischen Harry und ihr vorgefallen war. Aber das war ihr zu riskant. Sie wollte sich John und Louise Ryans Sympathien nicht verscherzen. Schließlich waren sie die einzige Familie, die sie hatte.
„Dann sehen wir uns also später“, fuhr Louise fort, der Amys verlegenes Schweigen nicht aufgefallen zu sein schien. „Und vielen Dank, meine Liebe, dass wir die Kinder mit auf die Reise nehmen dürfen.“
Nach diesen Worten verabschiedeten sie sich herzlich voneinander. Amy duschte kurz und ging dann in kurzen Hosen und einem T-Shirt hinunter, um Mimi in den Garten zu lassen. Sie war gerade dabei, sich den Kaffee aufzubrühen, den sie an diesem Morgen dringend nötig hatte, als es klingelte und Harry vor der Tür stand.
„Morgen“, sagte er und lehnte sich lässig mit der Schulter gegen den Türrahmen. Er trug ausgewaschene Bluejeans und ein weißes Sweatshirt, und wirkte trotzdem so elegant wie eh und je. „Darf ich deine Einladung zu einer Tasse Kaffee jetzt annehmen?“
Amy, von seinem Besuch völlig überrumpelt, trat stumm zurück. Allein sein frisches Aussehen und der leidenschaftliche Blick, mit dem er sie musterte, reichten aus, um ihr ein aufregendes Prickeln über den Rücken zu jagen. Er brauchte sie nicht einmal zu berühren.
„Sind die Kinder da?“, wollte er wissen, während er an ihr vorbei in die Diele trat.
Amy schloss die Tür, dann ging sie ihm voraus in die Küche. „Nein. Sie sind bei den Ryans und schmieden Pläne für eine Reise.“ Als sie nach der Schranktür greifen wollte, hinter der die Kaffeetassen standen, umfasste Harry ihre schlanke Taille und drehte sie zu sich herum. Eingezwängt zwischen ihm und der Küchentheke, hatte Amy keine Möglichkeit, ihm auszuweichen.
Er hob die Hand und strich ihr zärtlich mit der Spitze des Zeigefingers über die Lippen. „Na großartig“, meinte er. „Dann hält dich ja nichts davon ab, morgen mit mir nach Australien zu fliegen.“