3. KAPITEL
Amy atmete ein paarmal tief durch, ehe sie durch die Terrassentür wieder in den Garten hinaustrat. Voller Erstaunen stellte sie fest, dass Harry Griffith sich die Sympathien ihrer beiden Kinder im Handumdrehen erobert hatte.
Ashley saß auf der Schaukel, die Tyler vor ein paar Jahren an einem Ast des großen Kastanienbaums befestigt hatte, und strahlte vor Glück, während Harry sie immer wieder anstieß. Oliver stand mit einer für ihn höchst ungewöhnlichen Seelenruhe daneben und wartete geduldig, bis er an die Reihe kam.
Amy schnürte es die Kehle zu, diese drei so ungezwungen und vertraut miteinander spielen zu sehen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich fest eingebildet, sie könnte ihren Kindern beides sein: Mutter und Vater. Aber jetzt sah sie, wie die Kinder in Gegenwart eines Mannes – in Harrys Gegenwart – aufblühten.
Amy sah ihnen einige Minuten lang zu, ehe sie zum Grill hinüberging, um nach dem Lachs zu sehen. Das fröhliche, unbeschwerte Lachen ihrer Kinder berührte sie zutiefst. Als Amy sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen wischte, brausten Oliver und Ashley plötzlich an ihr vorbei.
„Ich hole sie!“, schrie Oliver seine Schwester an.
„Nein, ich will sie holen!“, rief Ashley ebenso laut zurück.
Mimi suchte unter dem Rhododendronstrauch Schutz.
„Hey, was …“ Amy drehte sich zu ihnen um – und blickte wieder einmal direkt in Harry Griffiths blaue Augen.
Er zuckte mit den Schultern und lächelte sie in einer Weise an, die sie mitten ins Herz traf. „Es war nicht meine Absicht, einen Streit herauszufordern“, sagte er. „Ich hätte vielleicht doch selbst zum Wagen gehen sollen, um die Torte zu holen, die ich mitgebracht habe.“
Amy senkte den Blick. „Kanntest du Tyler gut?“, fragte sie. Harry stand so nahe bei ihr, dass sie sein dezentes Aftershave riechen konnte, und dieser Duft verursachte einen wahren Gefühlstumult bei ihr.
„Wir haben fast ein Jahr zusammen verbracht“, antwortete er, „und sind nach der Schule, so gut es ging, in Kontakt geblieben.“ Er hielt inne und betrachtete nachdenklich den weißen Flieder, der ein paar Meter weiter eine romantische Laube bildete. „Ich kannte Tyler wahrscheinlich besser als die meisten Leute …“, erklärte er und sah Amy wieder an, „… aber nicht so gut wie du.“ Harry hob den Arm und strich Amy mit dem Daumen eine Träne von der Wange.
Amy blieb keine Zeit, irgendetwas zu sagen, denn in diesem Moment kamen die Kinder wieder in den Garten, und sie trugen die Torte gemeinsam. Harry bedankte sich so überschwänglich bei ihnen, als hätten sie lebenswichtige Medikamente durch feindliche Linien geschmuggelt.
„Ich denke, wir sollten jetzt essen“, schlug Amy vor. „Es wird spät.“
Oliver und Ashley zogen ihre Stühle um den Tisch herum und setzten sich rechts und links neben Harry an eine Längsseite, während Amy ihnen gegenüber auf der anderen Seite Platz nahm. Sie beneidete ihre Kinder um die Aufmerksamkeit, die sie plötzlich erhielten, und hätte diese am liebsten allein für sich beansprucht.
„Mom sagt, du und Dad wart Freunde“, sagte Oliver zehn Minuten später, nachdem er seinen Teller geleert hatte. Erwartungsvoll sah er Harry an.
Harry legte eine Hand auf Olivers Schulter. „Sehr gute Freunde“, bestätigte er. „Tyler war einer der besten Männer, die ich je kennengelernt habe.“
Olivers Sommersprossengesicht strahlte vor Stolz, aber einen Moment später wurde er wieder ernst. „Manchmal“, gestand er, „kann ich mich gar nicht mehr richtig an ihn erinnern. Ich war erst vier, als er … als er starb.“
„Vielleicht kann ich dir da behilflich sein“, sagte Harry sanft, zog seine Brieftasche aus dem Jackett und holte vorsichtig ein altes, offensichtlich oft benutztes Foto heraus. „Das wurde drüben, am Lake Chelan, in Washington, aufgenommen.“
Ashley und Oliver stießen sich beinahe die Köpfe, als sie sich beide gleichzeitig über Harrys Schoß beugten, um das Bild zu betrachten. Es zeigte zwei lachende junge Männer, die stolz zwei riesige Regenbogenforellen hochhielten.
„Dein Vater und ich waren siebzehn damals.“ Harry zog nachdenklich die Stirn in Falten. „Wir waren in einem Ruderboot draußen auf dem See, soweit ich mich erinnere. Deine Tante Charlotte hatte sich über uns geärgert und war zum Ufer zurückgeschwommen. Allerdings hatte sie die Riemen mitgenommen. Das war ganz schön peinlich, denn wir mussten uns von einer alten Frau in einem Paddelboot zum Steg ziehen lassen.“
Amy musste herzhaft lachen, als sie sich daran erinnerte, wie Tyler ihr dieses Erlebnis geschildert hatte.
Nachdem jeder ein Stück von Harrys Torte gegessen hatte, schickte Amy die Kinder zu Bett. Widerwillig kamen sie ihrem Wunsch nach und verabschiedeten sich von Harry. Amy und Harry blieben noch lange am Gartentisch sitzen, obwohl die Sonne bereits untergegangen war und es etwas kühler wurde.
„Es tut mir leid, dass ich bei Tylers Beerdigung nicht dabei sein konnte“, brach Harry nach einer ganzen Weile das Schweigen, das Amy als seltsam angenehm empfunden hatte. „Ich war im Outback und erfuhr erst drei Wochen später von dem, was geschehen war.“
„Das macht nichts. Ich hätte deine Anwesenheit wahrscheinlich nicht einmal bemerkt.“ Amys Stimme wurde heiser bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Tag. „Ich war ziemlich mitgenommen.“
Harry strich sich mit der Hand durchs Haar. Es war das erste Anzeichen einer Gefühlsregung, das Amy bei ihm bemerkte. „Für mich wäre es wichtig gewesen“, sagte er, „mich von Tyler zu verabschieden. Jetzt, da ich hier bin, werde ich sein Grab aufsuchen und ihn fragen, was in aller Welt er sich dabei gedacht hat, einfach so abzutreten und uns allein zu lassen … Er war gerade fünfunddreißig!“
„Ich war auch wütend auf ihn“, gestand Amy leise. „Einen Tag ging es ihm noch prächtig, und am nächsten war er im Krankenhaus. Die Ärzte sagten, eine solche Operation sei reine Routine, es gäbe keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und als ich Tyler direkt vor dem Eingriff noch einmal sprach, scherzte er darüber, dass er seinen Blinddarm in einem Glas aufbewahren wollte.“ Sie hielt inne und lächelte kurz. Sicher waren Harry die tragischen Einzelheiten mittlerweile bekannt, aber aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, weiterzuerzählen.
„Offenbar hat Tyler das Anästhetikum nicht vertragen, und so kam es zum Herzstillstand. Die Ärzte haben alles versucht, um ihn zu retten, aber sie bekamen sein Herz nicht mehr zum Schlagen. Er war einfach … gegangen.“
Harry umschloss Amys Hand mit warmen, starken Fingern. „Es tut mir so leid“, sagte er.
Amy hörte, wie eine der Terrassentüren aufgeschoben wurde, und vermutete, dass es eines ihrer Kinder sei. Es hätte sie auch gewundert, wenn sie nicht gefragt hätten, ob sie noch eine Weile aufbleiben dürften. Aber als Amy aufsah, fuhr sie erschrocken vom Stuhl hoch. Max stand in der Tür. In der Hand hielt er den Werkzeugkasten.
„O Max! Entschuldigen Sie, ich …“ Sie hatte ihn völlig vergessen.
Max winkte ab und sah mit einem vielsagenden Blick auf Harry hinunter, der mit dem Rücken zu ihm saß. „Es ist alles in Ordnung jetzt, Mrs Ryan“, sagte er. Dann zuckte er ein paarmal mit den Augenbrauen, um anzudeuten, dass er Amys Gast begutachtet und für harmlos befunden hatte.
Aber da irrte er sich! Harry Griffith war in der Lage, ganz neue Gefühle und Bedürfnisse in Amy zu wecken, und das machte ihn verdammt gefährlich.
„Mr Griffith wollte gerade gehen“, verkündete Amy kurz entschlossen. „Vielleicht könnten Sie ihn zu seinem Wagen geleiten …“
Schmunzelnd sah Harry sie an, schüttelte dann kaum merklich den Kopf und stand auf. „Ich habe noch etwas Geschäftliches mit dir zu besprechen. Aber ich denke, das kann bis morgen warten.“
Amy wusste, was Harry mit „etwas Geschäftlichem“ meinte – Tyler hatte es ihr angekündigt. Das Ganze wurde ihr langsam zu gespenstisch.
Sie stand ebenfalls auf.
„Das war ein wundervoller Abend“, sagte Harry. „Vielen Dank für alles.“
Seine Abschiedsworte gingen Amy noch im Kopf herum, als sie Harry abfahren hörte. Sie war seine elegante Ausdrucksweise nicht gewöhnt. Tyler hätte ihr einfach einen Klaps gegeben und gesagt: „Super, der Lachs, mein Schatz! Hast du Lust, mir den Rücken zu massieren?“
„Mom?“
Amy schrak aus ihren Gedanken auf. Ashley stand in der Terrassentür und hielt ihre Lieblingspuppe im Arm.
„Ist Harry schon nach Hause gegangen?“
„Ja, Schätzchen“, sagte sie. „Er ist nett, nicht wahr?“
Ashley nickte. „Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Schade, dass er nicht mehr hier ist. Dann könnte er uns eine Kängurugeschichte erzählen.“
„Vielleicht kennt er gar keine …“
„Doch, natürlich“, meinte Ashley voller Überzeugung, während sie gemeinsam ins Haus gingen. Amy schloss die Terrassentür. „Wusstest du, dass es in Australien Schilder gibt, auf denen ein Känguru abgebildet ist, so wie bei uns die Wildwechsel-Schilder?“
Amy knipste die Außenbeleuchtung aus und sah noch einmal nach, ob alle Reste im Kühlschrank verstaut waren. Nichts an ihrem Geschirrspüler deutete darauf hin, dass Max sie auseinandergenommen hatte. „Nein, Schätzchen“, sagte sie. „Das wusste ich nicht. Aber es klingt einleuchtend, da es in Australien mehr Kängurus als Hirsche gibt. So, und nun ab ins Bett.“
Harry saß vornübergebeugt auf der Steinbank neben Tylers Grab, die Arme auf seine Oberschenkel gestützt. „Verdammt, Mann“, klagte er, „warum hast du nie erwähnt, wie schön sie ist? Du hast mir nie etwas erzählt von ihrem warmen Lachen oder ihrem seidigen Haar.“ Er seufzte schwer. „Na gut“, räumte er ein, „ich glaube, du hast sie einmal als ‘Naturwunder’ bezeichnet. Aber ich dachte, das sei nur so dahingesagt. Selbst die Fotos haben mich nicht darauf vorbereitet …“
Er stand auf und begann, nervös vor Tylers Grab auf und ab zu gehen. Sich des Nachts auf einem Friedhof aufzuhalten, machte ihm nichts aus. Er war nicht abergläubisch, und außerdem sehnte er sich schon lange nach dieser Gelegenheit, mit Tyler zu reden.
„Du hättest ja wenigstens noch ein paar Jahre mit uns verbringen können, weißt du“, brummte er und fuhr sich erneut mit der Hand durch seine sonst tadellos sitzende Frisur. „Da hattest du diese süße Frau, diese großartigen Kinder und eine tolle Karriere … und was hast du gemacht? Meine Güte, Tyler! Warum hast du nicht gekämpft?“
Die einzige Antwort, die er erhielt, war eine laue Brise und das beständige leise Rascheln der Blätter. Harry blieb stehen, stellte einen Fuß auf die Bank und betrachtete mit brennenden Augen den Grabstein. „Ich weiß“, sagte er in versöhnlicherem Ton, aber seine Stimme klang heiser, „du hattest wahrscheinlich deine Gründe, nicht länger bei uns zu bleiben. Aber eines sage ich dir: Ich werde noch mit dir abrechnen, wenn ich dich einhole. Bis dahin, nun, was mir wirklich unter die Haut gegangen ist … ist Amy. Und eure wunderbaren Kinder.“
Er hob den Kopf und sah eine Weile gedankenverloren zum Mond hinauf. Dann seufzte er. „Wir waren immer ehrlich zueinander, du und ich. Wir haben nichts zurückgehalten. Als ich deine Frau das erste Mal sah, Tyler, das war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.“
Als seine Worte in der Dunkelheit verhallt waren, versuchte er, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Er war noch nicht einmal fünf Minuten mit Amy Ryan zusammen gewesen, als er angefangen hatte, sich vorzustellen, wie sein Leben mit ihr aussehen könnte.
Er hatte nicht etwa davon geträumt, wie es sein würde, mit ihr zu schlafen, obwohl das sicher das kühnste aller Erlebnisse mit ihr sein würde. Nein, er hatte Amy mit einem Baby im Arm gesehen … seinem Baby. In Gedanken hatte er sie den langen weißen Sandstrand in der Nähe seines Hauses im Norden von Queensland entlanglaufen sehen, mit Ashley und Oliver, die sie zu fangen versuchten, und er hatte sie neben sich im Cockpit seines Flugzeugs sitzen sehen.
Das war ernst zu nehmen.
Sanft berührte er den Grabstein seines Freundes, dann wandte er sich ab und ging zum Parkplatz zurück. „Wenn du weißt, was gut für dich ist, Harry“, murmelte er, „dann gibst du Amy ihr Geld und gehst ihr in Zukunft ganz bewusst aus dem Weg.“
Harry stieg in seinen Mietwagen und ließ den Motor an. Zwischen ihm und Amy Ryan durfte nichts passieren! Dafür gab es einen ganz einfachen Grund: Sie zu berühren hieße, den Mann zu betrügen, dem Harry sein Leben anvertraut hätte.