ZWANZIGSTES KAPITEL
Die Frist ist abgelaufen

1

Der Tag, an dem Thad Beaumonts Gnadenfrist endete, hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Tag Mitte Juli als einem in der dritten Juniwoche. Thad fuhr die achtzehn Meilen zur University of Maine unter einem Himmel von der Farbe dunstigen Chroms, und die Klimaanlage in seinem Suburban lief auf Hochtouren, ungeachtet ihrer verheerenden Auswirkung auf den Benzinverbrauch. Ihm folgte ein dunkelbrauner Plymouth. Er kam nie näher als bis auf zwei Wagenlängen heran, fiel aber auch nie weiter als auf fünf zurück. Nur selten gestattete er einem anderen Wagen, zwischen sich und Thads Suburban zu kommen; wenn sich an einer Kreuzung oder in der Schulzone in Veazie zufällig einer in die Zwei-Wagen-Kolonne einfädelte, dann überholte der braune Plymouth rasch - und wenn das nicht sofort möglich war, zog einer von Thads Beschützern die Haube vom Blaulicht auf dem Armaturenbrett und ließ es ein paarmal aufleuchten.
Thad fuhr überwiegend mit der rechten Hand und benutzte die linke nur, wenn es unbedingt nötig war. Die Hand war inzwischen etwas besser geworden, aber sie schmerzte immer noch teuflisch, wenn er sie nicht vorsichtig genug bewegte oder die Finger beugte, und er ertappte sich immer noch dabei, daß er die letzten paar Minuten der Stunde zählte, nach deren Ablauf er eine weitere Percodan einnehmen konnte.
Liz hatte nicht gewollt, daß er zur Universität fuhr, und die zu ihrer Bewachung abgestellten Staatspolizisten hatten es auch nicht gewollt. Für sie lagen die Dinge ganz einfach: sie hatten ihr Vier-Mann-Team nicht teilen wollen. Bei Liz war es etwas komplizierter. Das, wovon sie redete, war seine Hand; sie sagte, die Wunde könnte wieder aufbrechen, wenn er zu fahren versuchte. Aber in ihren Augen lag etwas völlig anderes. Ihre Augen waren voll von George Stark.
»Was zum Teufel ist denn so wichtig, daß du überhaupt fahren mußt?« hatte sie wissen wollen, und das war eine Frage, auf die er gefaßt sein mußte, denn das Semester war schon seit geraumer Zeit vorüber, und er hielt keine Sommerkurse ab. Was er sich schließlich ausgedacht hatte, waren die Unterlagen für den Sonderkurs.
Sechzig Studenten hatten sich für den von der Fakultät angebotenen Sonderkurs über kreatives Schreiben angemeldet. Das waren etwas mehr als doppelt so viele, als sich im letzten Herbstsemester für diesen Kurs beworben hatten, aber damals (elementar, mein lieber Watson) hatte die Welt - einschließlich des Teils, der an der University of Maine Englisch studierte - noch nicht gewußt, daß der langweilige alte Thad Beaumont gleichzeitig der tolle George Stark war.
Also hatte er Liz gesagt, er wollte diese Unterlagen holen und sie durcharbeiten, um aus den sechzig Bewerbern fünfzehn auszuwählen - sie waren das Maximum, das er für einen Kurs über kreatives Schreiben annehmen konnte (und wahrscheinlich vierzehn mehr, als er tatsächlich unterrichten konnte).
Natürlich hatte sie wissen wollen, warum er das nicht aufschieben konnte, mindestens bis Ende Juli, und natürlich hatte sie ihn darauf hingewiesen, daß er es im Vorjahr bis Mitte August aufgeschoben hatte. Er hatte auf die stark gestiegene Zahl der Bewerbungen verwiesen und dann tugendhaft hinzugesetzt, er wollte die Trödelei des letzten Sommers nicht zur Gewohnheit werden lassen.
Schließlich hatte sie aufgehört, Einwände zu erheben - nicht, weil seine Argumente sie überzeugt hatten, dachte er, sondern weil sie begriffen hatte, daß er unbedingt fahren wollte. Sie wußte ebenso gut wie er, daß sie früher oder später auch wieder hinaus mußten; sich im Haus verstecken zu müssen, bis irgend jemand George Stark getötet oder verhaftet hatte, war keine sehr erfreuliche Alternative. Dennoch waren ihre Augen voll gewesen von einer dumpfen, fragenden Angst.
Thad hatte sie und die Zwillinge geküßt und war schnell gegangen. Sie sah aus, als würde sie gleich weinen, und wenn er noch da war, wenn sie das tat, dann würde er zu Hause bleiben.
Es ging natürlich nicht um die Bewerbungen für den Sonderkurs.
Die Frist war abgelaufen.
Als er an diesem Morgen aufgewacht war, war er selbst von dumpfer Angst erfüllt gewesen, einem Gefühl, das so unangenehm war wie ein Magenkrampf. George Stark hatte am Abend des 10. Juni angerufen und ihm eine Woche gegeben, in der er mit dem Roman über den Raubüberfall mit dem gepanzerten Wagen anfangen sollte. Thad hatte immer noch nichts dergleichen getan - aber erstaunlicherweise sah er von Tag zu Tag deutlicher, wie das Buch aussehen könnte. Er hatte sogar ein paarmal davon geträumt. Es war wesentlich angenehmer, als im Schlaf durch sein eigenes, verlassenes Haus zu wandern und erleben zu müssen, wie Dinge zerfielen, wenn er sie berührte. Doch an diesem Morgen war sein erster Gedanke gewesen: Die Frist. Die Frist ist abgelaufen.
Das bedeutete, daß es an der Zeit war, wieder mit George zu reden, so ungern er das auch tat. Es war an der Zeit, herauszufinden, wie wütend George war. Nun - die Antwort darauf glaubte er zu kennen. Aber es war immerhin möglich, daß der gerissene alte George, wenn er sehr wütend war, so wütend, daß er die Kontrolle über sich zu verlieren begann, und wenn Thad ihn so sehr reizen konnte, daß er die Kontrolle restlos verlor, einen Fehler machte und sich irgendwie verriet.
Verliere den Zusammenhalt.
Thad hatte den Eindruck, daß George sich bereits verraten hatte, als er Thads Hand gestattete, diese Worte in sein Tagebuch zu schreiben. Das heißt, wenn er nur sicher sein konnte, was sie zu bedeuten hatten. Er hatte eine Idee - aber er war nicht *sicher. Und ein Irrtum zu diesem Zeitpunkt konnte mehr als nur * Leben kosten.
Deshalb war er unterwegs zur Universität, unterwegs zu seinem Büro im Gebäude der Englischen und Mathematischen Fakultät. Er war nicht unterwegs, um die Unterlagen für den Sonderkurs zu holen - obwohl er das tun würde -, sondern weil es dort ein Telefon gab, das nicht angezapft war, und weil er etwas unternehmen mußte. Die Frist war abgelaufen.
Als er einen Blick auf seine linke Hand warf, kam ihm der Gedanke (nicht zum erstenmal in dieser langen, langen Woche), daß das Telefon nicht die einzige Möglichkeit war, mit George Stark Kontakt aufzunehmen. Das hatte er bewiesen - aber der Preis war sehr hoch gewesen. Es war nicht lediglich die unerträgliche Pein, sich einen spitzen Bleistift in den Handrücken zu stoßen, oder das Entsetzen, zusehen zu müssen, wie sein außer Kontrolle geratener Körper sich auf Starks Befehl etwas antat - auf Befehl des gerissenen alten George, der nicht mehr zu sein schien als das Gespenst eines Mannes, den es nie gegeben hatte. Den wahren Preis hatte er in seiner Seele gezahlt. Der wahre Preis war das Eintreffen der Sperlinge gewesen, das entsetzliche Begreifen, daß hier Mächte am Werk waren, die noch größer und noch unbegreiflicher waren als George Stark selbst.
Die Sperlinge, davon war er mehr und mehr überzeugt, bedeuteten Tod. Aber für wen?
Er fürchtete sich davor, die Sperlinge zu riskieren, wenn er wieder mit George Stark Kontakt aufnehmen wollte.
Und er konnte sehen, wie sie kamen; er konnte sehen, wie sie an jenem mystischen Ort auf halbem Wege der zwischen ihnen bestehenden Verbindung eintrafen, jenem Ort, an dem er mit Stark um den Besitz der einen Seele würde kämpfen müssen, die sie beide gemeinsam hatten.
Er fürchtete zu wissen, wer bei einem Kampf an diesem Ort gewinnen würde.

2

Alan Pangborn saß in seinem Zimmer im Büro des Sheriffs von Castle County, das sich in einem Flügel des Rathauses befand. Auch für ihn war es eine lange, anstrengende Woche gewesen - aber das war nichts Neues. So war es immer, wenn es in Castle Rock Sommer geworden war. Vom Memorial Day bis zum Labour Day hatten alle Polizisten in Maine sämtliche Hände voll zu tun.
Vor fünf Tagen waren auf der Route 117 vier Wagen zusammengestoßen, ein böser Unfall, bei dem Alkohol im Spiel gewesen war und der zwei Menschen das Leben gekostet hatte. Zwei Tage später hatte Norton Briggs mit einer Bratpfanne auf seine Frau eingeschlagen, und sie war auf dem Küchenfußboden gelandet. Norton hatte seiner Frau im Verlauf von zwanzig turbulenten Ehejahren manchen Schlag versetzt, aber diesmal glaubte er offenbar, er hätte sie umgebracht. Er schrieb einen Brief voll von Reue und orthographischen Fehlern und nahm sich dann mit einem.38er Revolver das Leben. Als seine Frau, die auch kein großes Licht war, aufgewacht war und den auskühlenden Leichnam ihres Peinigers neben sich liegen sah, hatte sie den Gasherd aufgedreht und den Kopf hineingesteckt. Die Sanitäter vom Rettungsdienst in Oxford hatten sie gerettet. Gerade noch.
Zwei Kinder aus New York waren vom Haus ihrer Eltern am Castle Lake losgezogen und hatten sich wie Hänsel und Gretel im Wald verirrt. Acht Stunden später hatte man sie gefunden, verängstigt, aber unversehrt. John LaPointe, Alans zweiter Deputy, war in weniger guter Verfassung; er war bei der Suche in intensiven Kontakt mit Giftsumach gekommen. Zwei Sommergäste hatten sich um das letzte Exemplar der Sonntagsausgabe der New York Times in Nan’s Luncheonette geprügelt; eine weitere Prügelei hatte es auf dem Parkplatz des Mellow Tiger gegeben; ein Wochenend-Fischer hatte sich bei dem Versuch, seine Angel besonders schwungvoll auszuwerfen, am See die Hälfte des linken Ohres abgerissen; drei Fälle von Ladendiebstahl; eine Festnahme wegen Drogenbesitzes im Universe, Castle Rocks Billardund Videospiel-Paradies.
Nur eine typische Juniwoche in einer Kleinstadt, eine Art Eröffnungsfeier für den Sommer. Alan hatte kaum genug Zeit, in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken. Dennoch kehrten seine Gedanken immer wieder zu Thad und Liz Beaumont zurück - zu ihnen und zu dem Mann, der hinter ihnen her war. Dem Mann, der Homer Gamache umgebracht hatte. Alan hatte mehrfach mit der New Yorker Polizei telefoniert - da war ein gewisser Leutnant Reardon, der inzwischen vermutlich von ihm die Nase gestrichen voll hatte -, aber man hatte dort nichts zu berichten.
An diesem Vormittag war Alan in ein unvermutet friedliches Büro gekommen. Sheila Brigham lagen keinerlei Meldungen vor, und Norris Ridgewick döste mit den Füßen auf dem Schreibtisch draußen im Dienstraum. Eigentlich hätte Alan ihn wecken müssen - wenn Danforth Keeton, der Vorsitzende des Stadtrats, hereinkam und Norris so hingeflegelt liegen sah, würde er einiges zu hören bekommen -, aber auch für Norris war es eine harte Woche gewesen. Es war Norris gewesen, der nach dem Unfall auf der Route 117 die Leichen vom Pflaster gekratzt hatte, und er hatte seine Sache gut gemacht, auch wenn sich ihm der Magen umgedreht hatte.
Jetzt saß Alan hinter seinem Schreibtisch und warf Schattentiere auf einen Sonnenfleck an der Wand - und wieder kehrten seine Gedanken zu Thad Beaumont zurück. Nachdem Thad sich damit einverstanden erklärt hatte, hatte Dr. Hume in Orono bei Alan angerufen und ihm mitgeteilt, daß die neurologischen Untersuchungen, denen Thad sich unterworfen hatte, negativ gewesen waren. Die Erinnerung an diesen Anruf brachte Alan wieder auf Dr. Hugh Pritchard, der Thad Beaumont operiert hatte, als dieser elf Jahre alt und von Berühmtheit noch weit entfernt war.
Ein Kaninchen hoppelte über den Sonnenfleck an der Wand. Ihm folgte eine Katze, und ein Hund jagte die Katze.
Laß es auf sich beruhen. Es ist verrückt.
Natürlich war es verrückt. Und natürlich würde er es auf sich beruhen lassen. Es würde nicht lange dauern, bis wieder etwas geschah, um das er sich kümmern mußte; um das zu wissen, brauchte man kein Hellseher zu sein. So liefen die Dinge nun einmal im Sommer in Castle Rock. Man hatte so viel um die Ohren, daß man keine Zeit zum Nachdenken hatte, und manchmal war es gut, daß es so war.
Ein Elefant folgte dem Hund, schwang einen Schattenrüssel, der in Wirklichkeit Alan Pangborns linker Zeigefinger war.
»Ach was«, sagte er und zog das Telefon zu sich heran. Gleichzeitig grub seine andere Hand die Brieftasche aus seiner Gesäßtasche. Er drückte auf den Knopf, der ihn automatisch mit dem Revier der Staatspolizei in Oxford verband, und erkundigte sich, ob Henry Payton, der Chef der Kriminalabteilung, im Hause war. Er war es. Alan hatte noch Zeit zu denken, daß anscheinend auch die Staatspolizei zur Abwechslung einmal einen ruhigen Tag haben mußte, und dann meldete sich Henry.
»Alan? Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte fragen«, sagte Alan, »ob Sie vielleicht Lust hätten, den Head Ranger im Yellowstone National Park für mich anzurufen. Die Nummer könnte ich Ihnen geben.« Er betrachtete sie mit gelinder Verwunderung. Es war fast eine Woche her, daß er sich die Nummer von der Auskunft beschafft hatte, und er hatte sie auf die Rückseite einer Visitenkarte notiert. Jetzt hatten seine geschickten Finger sie fast eigenmächtig aus der Brieftasche gezogen.
»Yellowstone?« Henrys Stimme klang belustigt. »Ist das nicht die Gegend, in der sich Yogi Bear herumtreibt?«
»Nein«, sagte Alan lächelnd. »Das ist Jellystone. Und der Bär steht nicht im Verdacht, irgend etwas angestellt zu haben. Jedenfalls, soweit ich weiß. Ich muß mit einem Mann sprechen, der dort seinen Urlaub verbringt, Henry. Das heißt - ich weiß nicht, ob ich tatsächlich mit ihm sprechen muß, aber ein Gespräch mit ihm würde mich beruhigen. Die Sache kommt mir irgendwie unabgeschlossen vor.«
»Hat es mit Homer Gamache zu tun?«
Alan führte den Hörer ans andere Ohr und ließ die Visitenkarte, auf der er die Nummer des Head Rangers von Yellowstone notiert hatte, unbewußt über die Knöchel wandern.
»Ja«, sagte er, »aber wenn Sie eine Erklärung von mir verlangen sollten, würde sie sich reichlich albern anhören.«
»Also nur eine Ahnung?«
»Ja.« Und er stellte zu seiner Überraschung fest, daß er tatsächlich eine Ahnung hatte - er wußte nur nicht, worauf sie sich bezog. »Der Mann, mit dem ich sprechen möchte, ist ein Arzt im Ruhestand. Er heißt Hugh Pritchard. Seine Frau ist bei ihm. Der Head Ranger weiß vermutlich, wo sie sich aufhalten - soweit ich informiert bin, muß man sich anmelden, wenn man in den Park kommt -, und wahrscheinlich halten sie sich auf einem Campingplatz auf, wo es ein Telefon gibt. Sie sind beide in den Siebzigern. Wenn Sie den Head Ranger anrufen, gibt er die Nachricht wahrscheinlich an Pritchard weiter.«
»Mit anderen Worten, Sie meinen, ein Ranger in einem Nationalpark nimmt den Anruf eines leitenden Beamten der Staatspolizei ernster als den eines lausigen County Sheriffs.«
»Sie haben eine äußerst diplomatische Art, die Dinge beim Namen zu nennen, Henry.«
Henry Payton lachte vergnügt. »Ja, die habe ich. Also gut, Alan - es macht mir nichts aus, Ihnen ein bißchen Arbeit abzunehmen, solange Sie nicht von mir verlangen, daß ich tiefer in die Sache einsteige.«
»Nein, das ist alles«, sagte Alan dankbar. »Mehr verlange ich nicht.«
»Einen Moment. Ich bin noch nicht fertig. Solange Ihnen klar ist, daß ich das Gespräch nicht auf Amtskosten führen kann. Der Captain schaut sich die Liste der Gespräche an. Und zwar sehr genau. Und wenn er dieses Gespräch auf der Liste entdeckt, wird er wissen wollen, wieso ich das Geld der Steuerzahler dazu verwende, in Ihrer Suppe zu rühren. Sie verstehen, worauf ich hinaus will?«
Alan seufzte resigniert. »Sie können die Nummer meiner privaten Kreditkarte benutzen«, sagte er, »und Sie können dem Head Ranger sagen, Pritchard möchte mich per R-Gespräch anrufen. Ich mache dann einen entsprechenden Vermerk auf der Telefonliste und bezahle das Gespräch aus eigener Tasche.«
Am anderen Ende der Leitung trat eine kurze Pause ein, und als Henry wieder sprach, klang seine Stimme ernster. »Die Sache ist Ihnen wirklich wichtig, nicht wahr?«
»Ja, Ich weiß nicht, warum, aber es ist so.«
Es folgte eine weitere Pause. Alan spürte, daß Henry Payton mit sich kämpfte, ob er Fragen stellen sollte. Doch dann siegte Henrys besseres Wesen. Oder vielleicht, dachte Alan, auch nur sein Sinn fürs Praktische. »Okay«, sagte er, »ich rufe an und sage dem Head Ranger, daß Sie diesen Hugh Pritchard im Zusammenhang mit einem Mordfall in Castle County, Maine, sprechen möchten. Wie heißt seine Frau?«
»Helga.«
»Und wo kommen sie her?«
»Aus Fort Laramie, Wyoming.«
»Okay, Sheriff, und jetzt kommt das dicke Ende. Wie lautet die Nummer Ihrer Telefon-Kreditkarte?«
Seufzend gab Alan sie ihm.
Eine Minute später wanderte die Schattenparade wieder durch den Sonnenfleck an der Wand.
Wahrscheinlich wird der Mann gar nicht zurückrufen, dachte er, und wenn er es tut, dann kann er mir wahrscheinlich nicht das geringste sagen, was für mich von Nutzen wäre. Etwas anderes ist gar nicht denkbar.
Aber in einer Hinsicht hatte Henry recht gehabt: er hatte eine Ahnung. Irgendeine Ahnung. Und sie verließ ihn nicht.

3

Während Alan Pangborn mit Henry Payton sprach, parkte Thad Beaumont seinen Wagen auf einem der für die Englische Fakultät reservierten Parkplätze und stieg dann aus, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß er nicht mit der linken Hand anstieß. Einen Moment lang stand er nur da und nahm den Tag und die ungewohnt schläfrige Ruhe auf dem Campus in sich auf.
Der braune Plymouth kam neben seinem Suburban zum Stehen, und die beiden großen Männer, die ausstiegen, verscheuchten jeden Traum von Frieden, den er gern gehegt hätte, schon im Entstehen.
»Ich muß nur für ein paar Minuten in mein Büro hinauf«, sagte Thad. »Sie können unten bleiben, wenn Sie wollen.« Er warf einen Blick auf zwei vorübergehende Mädchen, vermutlich auf dem Weg zum Ostflügel, um sich für einen Sommerkurs anzumelden. Das eine trug ein schulterfreies Top und Jeans-Shorts, das andere ein fast nichtexistentes Minikleid, rückenfrei und mit einem Saum, der nur um den Herzschlag eines starken Mannes von der Rundung ihres Hinterteils entfernt war. »Und die Szenerie genießen.«
Die beiden Polizisten hatten sich umgedreht, um den Mädchen nachzuschauen, als wären ihre Köpfe auf Drehzapfen montiert. Jetzt drehte sich der Ranghöhere - Thad wußte nicht mehr recht, ob er Ray Garrison oder Roy Harriman hieß - wieder zu ihm um und sagte bedauernd: »Täten wir nur zu gerne, Sir, aber es ist besser, wenn wir mit hinaufkommen.«
»Aber ich brauche nur in den ersten Stock...«
»Wir warten auf dem Flur.«
»Ihr habt keine Ahnung, wie mich diese ganze Geschichte allmählich deprimiert«, sagte Thad.
»Vorschrift«, sagte Garrison (oder Harriman). Es war offensichtlich, daß es für sie keine Rolle spielte, ob Thad deprimiert - oder vielleicht auch glücklich - war.
»Ja, Vorschrift«, sagte Thad. Er gab auf.
Er steuerte auf den Seiteneingang zu. Die beiden Polizisten folgten ihm im Abstand von einem Dutzend Schritten; Thad fand, daß sie in Zivil noch mehr wie Polizisten aussahen, als es ihnen in Uniform jemals gelungen wäre.
Nach der stillen, feuchten Hitze draußen traf Thad die Kälte der Klimaanlage wie ein Schlag, und er hatte das Gefühl, als fröre ihm das Hemd an der Haut fest. Das Gebäude, von September bis Mai von Leben und Lärm erfüllt, war an diesem Samstagvormittag im Spätfrühling so verlassen, daß es fast unheimlich war. Am Montag, wenn der erste dreiwöchige Sommerkurs begann, würde etwa ein Drittel des normalen Gedränges und Geschiebes herrschen, aber an diesem Tag empfand Thad doch eine gewisse Erleichterung darüber, daß seine Polizeieskorte in der Nähe war. Er rechnete damit, daß der erste Stock, in dem sein Büro lag, völlig menschenleer und er damit der Notwendigkeit enthoben war, ihre Anwesenheit erklären zu müssen.
Wie sich herausstellte, war der erste Stock nicht völlig menschenleer, aber er kam dennoch leichten Kaufs davon. Rawlie DeLesseps wanderte, vom Gemeinschaftsraum kommend, den Flur entlang zu seinem Büro hinüber, auf seine vertraute Rawlie-DeLesseps-Art - es sah aus, als hätte er vor kurzem einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen, einen Schlag, unter dem sowohl sein Gedächtnis als auch seine motorische Kontrolle gelitten hatten. Er bewegte sich träumerisch in Schlangenlinien von einer Seite des Flurs zur anderen und betrachtete die an die verschlossenen Türen seiner Kollegen gehefteten Cartoons, Gedichte und Ankündigungen. Es konnte sein, daß er auf dem Weg zu seinem Büro war, es sah so aus, doch selbst seine nächsten Bekannten hätten es abgelehnt, eine Wette darauf einzugehen. Zwischen seinen Zähnen klemmte der Stiel einer riesigen gelben Pfeife; die Pfeife war leer, war es seit Ende 1985, als ihm sein Arzt nach einer leichten Herzattacke das Rauchen verboten hatte. Am Rauchen hat mir ohnehin nie viel gelegen, pflegte Rawlie mit seiner sanften, zerstreuten Stimme zu sagen, wenn ihn jemand nach der Pfeife fragte. Aber ohne das Ding zwischen den Zähnen, meine Herren, wüßte ich nicht, wohin ich gehen sollte oder was ich tun müßte, wenn ich überhaupt das Glück hätte, irgendwo anzukommen.
Zumeist erweckte er den Eindruck, als wüßte er das selbst mit seiner Pfeife im Mund nicht. Manche Leute kannten Rawlie jahrelang, bevor sie herausfanden, daß er keineswegs der zerstreute Professor war, der er zu sein schien. Manche fanden es nie heraus.
»Hallo, Rawlie«, sagte Thad, auf der Suche nach dem passenden Schlüssel.
Rawlie blinzelte ihn an, ließ seinen Blick zu den beiden Männern hinter Thad schweifen und tat sie als nicht von Belang ab; dann richtete er die Augen wieder auf Thad.
»Hallo, Thaddeus«, sagte er. »Ich dachte, Sie hätten in diesem Jahr keinen Sommerkurs.«
»Habe ich auch nicht.«
»Wie sind Sie dann auf die Schnapsidee gekommen, am ersten wirklich schönen Sommertag ausgerechnet hier aufzukreuzen?«
»Muß mir die Unterlagen für den Sonderkurs holen«, sagte Thad. »Ich habe nicht vor, länger hier zu bleiben, als unbedingt sein muß, das können Sie mir glauben.«
»Was haben Sie denn mit Ihrer Hand angestellt? Sie ist ja bis zum Handgelenk schwarz und blau.«
»Nun ja«, sagte Thad verlegen. Die Geschichte ließ ihn als Trunkenbold oder Schwachkopf oder beides erscheinen - aber sie ließ sich leichter schlucken als die Wahrheit. Daß die Polizisten sie so widerspruchslos akzeptierten wie jetzt Rawlie, erfüllte Thad mit einer Art bitterer Belustigung - es hatte keine einzige Frage darüber gegeben, wie er es fertiggebracht haben mochte, die eigene Hand in der Tür seines Schlafzimmerschrankes einzuklemmen.
Er hatte instinktiv gewußt, welche Geschichte er erzählen mußte. In gewisser Hinsicht war es dasselbe, wie dem Interviewer von People (er ruhe in Frieden) zu erzählen, George Stark sei nicht in Castle Rock, sondern in Ludlow erschaffen worden, und daß Stark mit der Hand schrieb, weil er nie Maschineschreiben gelernt hatte. Liz etwas vorzulügen, hatte er gar nicht erst versucht - aber er hatte darauf bestanden, daß sie über das, was wirklich vorgefallen war, kein Wort verlauten ließ. Sie war einverstanden gewesen. Er hatte allerdings versprechen müssen, nie wieder mit Stark Kontakt aufzunehmen. Er hatte ihr dieses Versprechen gegeben, wußte aber, daß er es möglicherweise nicht würde halten können; und er vermutete, daß Liz dies in den Tiefen ihres Unterbewußtseins gleichfalls wußte.
Jetzt musterte Rawlie ihn mit echtem Interesse. »In einer Schranktür«, sagte er. »Herrlich. Haben Sie vielleicht Verstecken gespielt? Oder war es irgendein absonderlicher Sexualritus?«
Thad grinste. »Mit absonderlichen Sexualriten habe ich schon 1981 aufgehört«, sagte er. »Auf ärztlichen Rat. Nein, ich habe einfach nicht aufgepaßt. Die ganze Geschichte ist mir irgendwie peinlich.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Rawlie - und dann zwinkerte er. Es war ein sehr subtiles Zwinkern, nur das leichte Flattern eines geschwollenen und faltigen alten Augenlids - aber es war ganz eindeutig. Hatte er geglaubt, Rawlie würde die Geschichte schlucken? Eher würden Schweine fliegen.
Plötzlich drängte sich ihm ein neuer Gedanke auf. »Rawlie, halten Sie noch immer dieses Seminar über Volksmythen ab?«
»Jeden Herbst«, sagte Rawlie. »Lesen Sie Ihr eigenes Vorlesungsverzeichnis nicht, Thaddeus? Rutengänger, Hexen, Allheilmittel, magische Zeichen der Reichen und Berühmten. Es ist heute beliebter als je zuvor. Warum fragen Sie?«
Auf diese Frage gab es, wie Thad herausgefunden hatte, eine Allzweck-Antwort; es gehörte zu den größten Vorzügen eines Schriftstellerdaseins, daß man auf »Warum fragen Sie?« immer eine Antwort parat hatte. »Nun, ich habe eine Idee für eine Geschichte«, sagte er. »Ich bin noch im Stadium der Recherchen, aber ich glaube, es könnte etwas daraus werden.«
»Und was möchten Sie wissen?«
»Haben Sperlinge im amerikanischen Aberglauben oder in den Volksmythen irgendeine bestimmte Bedeutung?«
Rawlies gerunzelte Stirn begann der Topographie eines fremden, für menschliche Lebewesen ganz offensichtlich ungeeigneten Planeten zu ähneln. Er kaute auf dem Stiel seiner Pfeife. »So aus dem Stegreif fällt mir nichts ein, Thaddeus, aber - ich frage mich, ob das der wirkliche Grund für Ihr Interesse ist.«
Eher würden Schweine fliegen, dachte Thad abermals. »Nun - vielleicht nicht, Rawlie. Vielleicht nicht. Vielleicht habe ich das nur gesagt, weil sich der wirkliche Grund nicht in drei Sätzen erklären läßt.« Sein Blick wanderte kurz zu seinen Wachhunden, dann kehrte er zu Rawlies Gesicht zurück. »Im Augenblick habe ich nicht viel Zeit.«
Rawlies Lippen umspielte die ganz schwache Andeutung eines Lächelns. »Ich glaube, ich verstehe. Sperlinge - ganz gewöhnliche Vögel. Zu gewöhnlich, um im Volksglauben irgendeine tiefere Bedeutung zu haben, würde ich meinen. Aber wenn ich es recht bedenke - ich glaube, da ist etwas. Obwohl ich in diesem Zusammenhang eher an Ziegennelker denke. Aber ich schaue nach. Wie lange wollen Sie hierbleiben?« »Höchstens eine halbe Stunde.«
»Nun, vielleicht finde ich auf Anhieb etwas in Barringers Folklore of America. Es ist zwar im Grunde nicht mehr als ein Kochbuch für Aberglauben, aber trotzdem ganz nützlich. Und notfalls kann ich Sie ja anrufen.«
»Ja, das können Sie.«
»Eine schöne Party, die Sie und Liz für Tom Carroll gegeben haben«, sagte Rawlie. »Aber Ihre Parties sind ja immer die schönsten. Liz ist viel zu reizend, um ihre Frau zu sein. Sie sollte Ihre Geliebte sein.«
»Danke. Ich werde es an sie weitergeben.«
»Der alte Tom«, fuhr Rawlie fort. »Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, daß Tom Carroll in den grauen Hafen der Emeritierung eingelaufen ist. Mehr als zwanzig Jahre lang habe ich ihn im Nebenzimmer mit Donnergetöse furzen gehört. Ich vermute, sein Nachfolger wird etwas leiser sein. Oder zumindest etwas diskreter.«
Thad lachte.
»Wilhelmina hat sich auch gut amüsiert«, sagte Rawlie. Seine Lider zuckten verschmitzt. Er wußte sehr gut, was Thad und Liz von Billie hielten.
»Das freut mich«, sagte Thad. Billie Burks und die Vorstellung, daß sie sich amüsiert haben konnte, waren seiner Ansicht nach unvereinbar - aber da sie und Rawlie dazu beigetragen hatten, ihm ein dringend erforderliches Alibi zu verschaffen, mußte er wohl froh sein, daß sie dagewesen war. »Und wenn Ihnen in dieser anderen Sache etwas einfällt...«
»Sperlinge und ihr Platz in der Welt des Unsichtbaren. Ja.« Rawlie nickte den beiden Polizisten hinter Thad zu. »Guten Morgen, meine Herren.« Er wich ihnen aus und setzte dann den Weg zu seinem Büro ein wenig zielstrebiger fort. Nicht viel zielstrebiger, aber ein wenig.
Thad sah ihm gedankenverloren nach.
»Wer war das?« fragte Garrison oder Harriman.
»DeLesseps«, murmelte Thad. »Professor für Grammatik und Amateur-Volkskundler.«
»Sieht aus wie jemand, der eine Landkarte braucht, um den Weg nach Hause zu finden«, sagte der andere Polizist.
Thad ging auf die Tür seines Büros zu und schloß sie auf. »Er ist wesentlich intelligenter, als er aussieht«, sagte er und öffnete die Tür.
Thad nahm nicht wahr, daß Garrison (oder Harriman) neben ihm stand, eine Hand in seinem überweiten Sportjackett, als er das Zimmer betrat. Er durchlebte einen Augenblick verspäteter Angst, aber das Büro war natürlich leer, und, nachdem das Zeug, das sich im Verlauf eines Jahres auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte, beseitigt worden war, so aufgeräumt, daß es wie tot aussah.
Aus keinem erklärbaren Grund überfiel ihn eine plötzliche und fast übelkeiterregende Flut des Heimwehs, der Leere und des Verlustes - eine Mischung aus Gefühlen, die einem tiefen, unvermuteten Kummer glich. Es war wie in seinem Traum. Ihm war, als wäre er gekommen, um Abschied zu nehmen.
Hör mit dem verdammten Unsinn auf befahl er sich, und ein anderer Teil seines Verstandes erwiderte gelassen: Die Frist, Thad. Die Frist ist abgelaufen, und ich glaube, es war ein schwerer Fehler, nicht zu tun, was der Mann von dir verlangt hat.
»Wenn Sie Kaffee möchten, können Sie im Gemeinschaftsraum welchen bekommen«, sagte er. »Die Kanne dürfte voll sein, wie ich Rawlie kenne.«
»Wo ist der?« fragte Garrisons (oder Harrimans) Partner.
»Zwei Türen weiter, an der anderen Seite des Flurs«, sagte Thad, mit dem Aufschließen des Aktenschrankes beschäftigt. Er drehte sich um und bedachte sie mit einem Lächeln, das ihm entsetzlich falsch vorkam. »Ich denke, wenn ich schreie, werden Sie mich hören.«
»Sehen Sie nur zu, daß Sie wirklich schreien, wenn etwas passiert«, sagte Garrison (oder Harriman).
»Mach ich.«
»Ich könnte Manchester bitten, Kaffee zu holen«, sagte Garrison (oder Harriman), »aber ich habe allmählich das Gefühl, daß Sie ein bißchen allein sein möchten.«
»So ist es.«
»Geht in Ordnung, Mr. Beaumont«, sagte er. Er musterte Thad eindringlich, und plötzlich wußte Thad auch wieder, daß er Harrison hieß. Genau wie der Ex-Beatle. Blöd von ihm, das zu vergessen. »Aber denken Sie bitte daran, daß all diese Leute in New York an einer Überdosis von Alleinsein gestorben sind.«
Ach? Ich dachte, Phyllis Myers und Rick Cowley wären im Beisein der Polizei gestorben. Er dachte daran, es laut auszusprechen, aber er tat es nicht. Schließlich versuchten die Männer nur, ihre Pflicht zu tun.
»Keine Sorge, Trooper Harrison«, sagte er. »Hier ist es heute so still, daß man sogar die Tritte eines barfüßigen Mannes hören müßte.«
»Okay«, sagte Harrison. »Wir sind an der Tür auf der anderen Seite des Flurs.«
»In Ordnung.«
Sie gingen, und Thad öffnete die Akte mit den Bewerbungen für den Sonderkurs. Vor seinem geistigen Auge sah er Rawlie DeLesseps’ schnelles, unauffälliges Zwinkern. Und er lauschte der Stimme, die ihm erklärte, daß die Frist abgelaufen war, daß er eine Grenze überschritten hatte und auf der dunklen Seite angekommen war, der Seite, auf der die Ungeheuer lauerten.

4

Das Telefon stand da und läutete nicht.
Na los, dachte er, während er die Bewerbungen auf dem Schreibtisch neben der von der Universität gestellten IBM Selectric aufstapelte. Na los, na los, hier bin ich, stehe direkt neben einem Telefon ohne Wanze, also los, George, ruf mich an, sag mir, was Sache ist.
Aber das Telefon stand da und läutete nicht.
Dann wurde ihm klar, daß er in einen Aktenschrank schaute, der nicht nur gelichtet, sondern völlig leer war. In seine Gedanken versunken hatte er alle Akten herausgeholt, nicht nur die Unterlagen der Studenten, die an einem Kurs über kreatives Schreiben interessiert waren. Sogar die Fotokopien derjenigen, die Transformationale Grammatik belegen wollten, das von Noam Chomsky verkündete Evangelium, interpretiert vom Dekan der Leeren Pfeife, Rawlie DeLesseps.
Thad trat an die Tür und schaute hinaus. Harrison und Manchester standen an der Tür des Gemeinschaftsraumes und tranken Kaffee. In ihren riesigen Pranken sahen die Becher aus wie Mokkatassen. Thad hob die Hand. Harrison folgte seinem Beispiel und fragte, ob es noch lange dauern würde.
»Fünf Minuten«, sagte Thad, und beide Polizisten nickten.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, legte die Unterlagen über das kreative Schreiben beiseite und begann, die anderen wieder in den Schrank zu packen. Er tat es so langsam wie möglich, gab dem Telefon Zeit zum Läuten. Aber das Telefon stand auch weiterhin einfach da.
Er hörte ein Läuten, irgendwo ein ganzes Stück den Flur entlang, von einer geschlossenen Tür gedämpft, irgendwie gespenstisch in der ungewohnten Sommerstille des Gebäudes. Vielleicht hat George die falsche Nummer gewählt, dachte er und lachte nervös. Tatsache war, daß George nicht anrief. Tatsache war, daß er, Thad, sich geirrt hatte. Wie es schien, hatte George einen anderen Trick im Ärmel. Weshalb sollte ihn das überraschen? Tricks waren George Starks spécialité de la maison. Dennoch - er war sich so sicher gewesen, so absolut sicher...
»Thaddeus?«
Er fuhr zusammen, hätte fast den Inhalt des letzten halben Dutzends Akten auf den Boden fallen lassen. Als er sicher war, daß sie ihm nicht aus der Hand gleiten würden, drehte er sich um. Rawlie DeLesseps stand an der Tür. Seine große Pfeife ragte ins Zimmer wie ein waagerechtes Periskop.
»Entschuldigung«, sagte Thad. »Ich bin ein bißchen erschrocken, Rawlie. In Gedanken war ich zehntausend Meilen weit weg.«
»Jemand möchte Sie an meinem Apparat sprechen«, sagte Rawlie verbindlich. »Muß sich in der Nummer geirrt haben. Gut, daß ich gerade da war.«
Thad spürte, wie sein Herz langsam und heftig zu pochen begann - es war, als hätte er eine Kesselpauke in der Brust, und jemand hätte begonnen, mit einem beträchtlichen Maß an rhythmischer Energie darauf einzuschlagen.
»Ja«, sagte Thad. »Das ist wirklich gut.«
Rawlie warf ihm einen taxierenden Blick zu. Die blauen Augen unter seinen geschwollenen, leicht geröteten Lidern waren so hellwach und fragend, daß es fast unhöflich war - sie standen in keinem Verhältnis zu dem heiteren, scheinbar unbedarften Verhalten eines zerstreuten Professors. »Ist alles in Ordnung, Thaddeus?«
Nein, Rawlie. Seit einiger Zeit läuft ein wahnsinniger Mörder frei herum, der ein Teil von mir ist, ein Kerl, der sich offensichtlich meines Körpers bemächtigen und mich zwingen kann, verrückte Dinge zu tun, zum Beispiel einen Bleistift in meine Hand zu stechen, und ich betrachte jeden Tag, den ich bei klarem Verstand hinter mich gebracht habe, als einen Sieg. Die Wirklichkeit ist aus den Fugen geraten, alter Freund.
»In Ordnung? Weshalb sollte nicht alles in Ordnung sein?«
»Mir ist, als spürte ich den schwachen, aber unverkennbaren Geruch von Ironie, Thaddeus.«
»Muß ein Irrtum sein.«
»Wirklich? Warum sehen Sie dann aus wie ein in das Licht von Autoscheinwerfern geratenes Reh?«
»Rawlie...«
»Und der Mann an meinem Apparat hörte sich an wie ein Vertreter, dem man am Telefon etwas abkauft, um sicherzugehen, daß er nicht an der Haustür erscheint.«
»Es ist nichts, Rawlie.«
»Na schön.« Rawlie machte nicht den Eindruck, als wäre er überzeugt. Thad verließ sein Büro und eilte den Flur entlang auf Rawlies Zimmer zu.
»Wo wollen Sie hin?« rief Harrison ihm nach.
»Professor DeLesseps hat einen Anruf für mich in seinem Büro«, erklärte er. »Die Telefonnummern hier folgen aufeinander. Der Anrufer muß sich verwählt haben.«
»Und hat dabei zufällig das einzige andere Mitglied der Fakultät erwischt, das heute hier ist?« fragte Harrison skeptisch.
Thad zuckte die Achseln und setzte seinen Weg fort.
Rawlie DeLesseps’ Büro war aufgeräumt, behaglich und nach wie vor vom Geruch seiner Pfeife erfüllt - zwei Jahre Abstinenz waren offenbar nicht imstande, dreißig Jahre Genuß auszulöschen. Der Raum wurde beherrscht von einem Pfeilwurfbrett mit einem daraufmontierten Foto von Ronald Reagan. Ein dickes Buch, Franklin Barringers Folklore of America, lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Der Hörer lag neben dem Apparat auf einem Stapel leerer Prüfungshefte. Thad betrachtete ihn und spürte, wie ihn die alte Angst mit ihren vertrauten, erstickenden Falten überfiel. Ihm war, als würde er in eine Decke eingehüllt, die dringend gewaschen werden mußte. Er wendete den Kopf, sicher, daß alle drei - Rawlie, Harrison und Manchester - ihn beobachteten. Doch der Türrahmen blieb leer, und aus einiger Entfernung konnte er Rawlies Stimme hören. Er hatte Thads Wachhunde in ein Gespräch verwickelt. Thad zweifelte nicht daran, daß das Absicht gewesen war.
Er nahm den Hörer und sagte: »Hallo, George.«
»Du hast deine Woche gehabt«, sagte die Stimme am anderen Ende. Es war Starks Stimme, aber Thad fragte sich, ob die Stimmanalysen auch jetzt noch identisch sein würden. Starks Stimme hatte sich verändert. Sie war rauh und heiser geworden, wie die Stimme eines Mannes, der bei einem Sportfest zu lange und zu laut gebrüllt hat. »Du hast deine Woche gehabt, und du hast keinen Finger gerührt.«
»So ist es«, sagte Thad. Ihm war sehr kalt. Er mußte sich bemühen, nicht zu zittern. Die Kälte schien aus dem Telefon zu kommen, aus den Löchern der Hörmuschel hervorzudringen wie Eiszapfen. Aber er war gleichzeitig sehr wütend. »Und ich werde es auch nicht tun. Eine Woche, ein Monat, zehn Jahre - das ändert nicht das mindeste. Warum akzeptierst du das nicht, George? Du bist tot, und du wirst es bleiben.«
»Du irrst dich, alter Freund. Und wenn du herausfinden willst, wie tödlich dieser Irrtum ist, brauchst du nur so weiterzumachen.«
»Weißt du, wie du dich anhörst, George?« fragte Thad. »Du hörst dich an, als fielest du auseinander. Und deshalb willst du, daß ich wieder schreibe, nicht wahr? Verliere den Zusammenhalt, das war es, was du geschrieben hast. Das heißt, daß du biologisch abbaust, ist es nicht so? Es wird nicht mehr lange dauern, bis du einfach zerkrümelst wie ein alter Zwieback.«
»Für dich ändert das nichts, Thad«, erwiderte die heisere Stimme. Sie wechselte von einem rauhen Leiern zu einem knirschenden Geräusch, das sich anhörte wie Kies, der von einem Kipplaster rutscht, und dann zu einem quiekenden Flüstern - als hätten die Stimmbänder ein oder zwei Sätze lang völlig versagt - und kehrte dann zum Leiern zurück. »Nichts von dem, was mit mir passiert, geht dich etwas an. Damit willst du nur vom Thema ablenken, alter Freund. Du wirst noch heute anfangen, sonst könnte es dir schlecht ergehen. Und du würdest nicht der einzige sein.«
»Ich werde nicht...«
Klick! Stark hatte aufgelegt. Thad betrachtete einen Moment lang nachdenklich den Hörer, dann legte er gleichfalls auf. Als er sich umdrehte, standen Harrison und Manchester an der Tür.

5

»Wer war das?« fragte Manchester.
»Ein Student«, sagte Thad. An diesem Punkt war er sich nicht einmal sicher, weshalb er log. Das einzige, das er mit Sicherheit wahrnahm, war ein entsetzliches Gefühl im Magen. »Nur ein Student. Wie ich gedacht hatte.«
»Woher wußte er, daß Sie hier sind?« fragte Harrison. »Und wieso hat er die Nummer dieses Herrn hier gewählt?«
»Ich gebe auf«, sagte Thad demütig. »Ich bin ein russischer Geheimagent. Das war mein Kontaktmann. Ich komme unauffällig mit.«
Harrison war nicht verärgert, zumindest machte er nicht den Eindruck, als wäre er es. Der leicht verdrossene Vorwurf, der in seinem Blick auf Thad lag, war wesentlich wirkungsvoller als Verärgerung. »Mr. Beaumont, wir versuchen, Ihnen und Ihrer Frau zu helfen. Ich weiß, wie lästig es ist, auf Schritt und Tritt von zwei Männern begleitet zu werden, aber wir versuchen wirklich nur, Ihnen zu helfen.«
Thad war beschämt - aber nicht beschämt genug, um die Wahrheit zu sagen. Das schlimme Gefühl war nach wie vor da, das Gefühl, daß etwas schiefgehen würde, daß etwas schiefgegangen war. Und noch etwas anderes obendrein. Ein leichtes Flattern auf seiner Haut. Ein Gefühl wie von Würmern in seiner Haut. Druck auf den Schläfen. Es waren nicht die Sperlinge; er glaubte jedenfalls nicht, daß sie es waren. Doch sein seelisches Barometer, von dessen Vorhandensein er nicht einmal etwas geahnt hatte, fiel. Es war auch nicht das erste Mal, daß er dieses Gefühl hatte. Ähnliches, wenn auch weniger stark, hatte er vor acht Tagen auf dem Weg zu Dave’s Market empfunden, und auch in seinem eigenen Büro, als er die Unterlagen heraussuchen wollte. Ein dumpfes, kribbeliges Gefühl.
Es ist Stark. Er ist irgendwie bei dir, in dir. Er beobachtet dich. Wenn du etwas Falsches sagst, wird er es wissen. Und dann wird jemand es ausbaden müssen.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. Ihm war klar, daß Rawlie DeLesseps, der hinter den beiden Polizisten stand, ihn mit stillen, neugierigen Augen beobachtete. Er würde jetzt lügen müssen, und die Lügen kamen ihm so selbstverständlich und mühelos in den Sinn, daß er es für durchaus möglich hielt, daß George Stark selbst sie dort erzeugte. Er war sich nicht ganz sicher, ob Rawlie mitmachen würde, aber um sich deshalb den Kopf zu zerbrechen, war es ein wenig zu spät. »Ich bin ein bißchen nervös.«
»Verständlich«, sagte Harrison. »Ich möchte nur, daß Sie einsehen, daß nicht wir der Feind sind, Mr. Beaumont.«
Thad sagte: »Der junge Mann, der angerufen hat, wußte, daß ich hier bin, weil er gerade aus der Buchhandlung kam, als ich vorbeifuhr. Er wollte wissen, ob ich einen Sommerkurs abhalte. Das Telefonverzeichnis der Fakultät ist nach Abteilungen aufgegliedert, und die Angehörigen jeder Abteilung sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Es ist sehr klein gedruckt, wie jeder bezeugen kann, der einmal versucht hat, es zu benutzen.«
»In dieser Beziehung ist es ein widerliches Buch«, pflichtete DeLesseps mit der Pfeife im Mund ihm bei. Die beiden Polizisten drehten sich um und sahen ihn einen Moment lang überrascht an. Rawlie bedachte sie mit einem ernsten und ziemlich eulenäugigen Blick.
»Rawlie steht im Telefonverzeichnis direkt unter mir. Wir haben in diesem Jahr niemanden, dessen Name mit C anfängt.« Er warf Rawlie einen kurzen Blick zu, aber Rawlie hatte die Pfeife aus dem Mund genommen und tat so, als unterzöge er das Innere des Kopfes einer eingehenden Untersuchung. »Und das hat zur Folge«, schloß Thad, »daß ich immer seine Anrufe bekomme und er meine. Ich habe diesem Studenten gesagt, daß er Pech hat. Bis zum Herbst habe ich frei.«
So, das war das. Er hatte das Gefühl, vielleicht eine etwas zu ausführliche Erklärung geliefert zu haben; aber die eigentliche Frage war, wann Harrison und Manchester an der Tür von Rawlies Büro angelangt waren und wie viel sie gehört hatten. Zu Studenten, die sich nach einem Sommerkurs erkundigen, sagt man normalerweise nicht, daß sie biologisch abbauten und bald zerkrümeln würden.
»Ich wünschte, ich hätte bis zum Herbst frei«, seufzte Manchester. »Sind Sie bald so weit, Mr. Beaumont?«
Thad stieß innerlich einen erleichterten Seufzer aus und sagte: »Ich muß nur noch ein paar Akten in den Schrank zurücklegen.«
(Und eine Notiz mußt du für die Sekretärin schreiben.)
»Und außerdem muß ich natürlich noch eine Notiz für Mrs. Fenton schreiben«, hörte er sich sagen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, weshalb er das sagte; er wußte nur, daß er es sagen mußte. »Sie ist die Sekretärin der Englischen Abteilung.«
»Haben wir noch Zeit für einen Becher Kaffee?« fragte Manchester.
»Natürlich. Vielleicht sogar ein paar Kekse, wenn die Barbarenhorden welche übriggelassen haben«, sagte er. Dieses Gefühl, daß die Dinge aus den Fugen geraten waren, daß etwas schiefgelaufen war, war wieder da, stärker als je zuvor. Eine Notiz für Mrs. Fenton hinterlassen? Himmel, das war ein Witz.
Als Thad Rawlies Büro verließ, fragte Rawlie: »Kann ich Sie eine Minute sprechen, Thaddeus?«
»Natürlich«, sagte Thad. Er wollte Harrison und Manchester sagen, sie sollten sie allein lassen, er würde gleich nachkommen, sagte sich aber - widerstrebend -, daß eine solche Aufforderung unangebracht war, wenn man Argwohn zerstreuen wollte. Und zumindest Harrison hatte seine Antenne ausgefahren. Vielleicht noch nicht vollständig, aber doch ein ganzes Stück.
Schweigen tat ohnehin die besseren Dienste. Als er sich Rawlie zuwendete, wanderten Harrison und Manchester langsam den Flur entlang. Harrison sprach ein paar Worte mit seinem Partner und blieb dann an der Tür des Gemeinschaftsraums stehen, während Manchester auf die Suche nach Keksen ging. Harrison konnte sie sehen, aber Thad war überzeugt, daß sie außer Hörweite waren.
»Das war wirklich eine hübsche Geschichte, das mit dem Telefonverzeichnis«, bemerkte Rawlie und klemmte den Stiel der Pfeife wieder zwischen die Zähne.
»Rawlie, das ist nicht, was Sie denken.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was es ist«, sagte Rawlie sanft, »und ich gebe zwar ein gewisses Maß an menschlicher Neugier zu, bin aber nicht sicher, ob ich es wirklich wissen will.«
Thad lächelte ein wenig.
»Und ich hatte den Eindruck, daß Sie Tom Carroll absichtlich vergessen haben. Er ist zwar jetzt im Ruhestand, aber als ich das letzte Mal nachschlug, stand er im Telefonverzeichnis noch zwischen uns beiden.«
»Rawlie, ich muß jetzt weiter.«
»So ist es«, sagte Rawlie. »Sie müssen eine Notiz für Mrs. Fenton schreiben.«
Thad spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Althea Fenton, die seit 1961 die Sekretärin der Englischen Abteilung gewesen war, war im April an Kehlkopfkrebs gestorben.
»Der eigentliche Grund, weshalb ich Sie aufgehalten habe«, fuhr Rawlie fort, »ist der, daß ich möglicherweise herausgefunden habe, was Sie wissen wollten. Über Sperlinge.«
Thad spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Wie meinen Sie das?«
Rawlie tippte auf Barringers Folklore of America.
»Sperlinge, Seetaucher und vor allem Ziegenmelker sind Psychopompen«, sagte er, nicht ohne einen gewissen Triumph in der Stimme. »Ich wußte doch, daß es mit Ziegenmelkern irgendetwas auf sich hatte.«
»Psychopompen?« fragte Thad zweifelnd.
»Das Wort kommt aus dem Griechischen«, sagte Rawlie, »und bedeutet Seelenbegleiter. In diesem Fall solche, die die Seelen der Menschen auf ihrem Weg zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten begleiten. Barringer zufolge sind Seetaucher und Ziegenmelker die Begleiter der Lebenden; wie es heißt, versammeln sie sich an Orten, an denen jemand sterben wird. Ihre Aufgabe ist es, die Seelen gerade Verstorbener zu ihrem jeweiligen Platz im Jenseits zu begleiten.«
Er warf Thad einen bedächtigen Blick zu.
»Ansammlungen von Sperlingen haben, zumindest Barringer zufolge, eine ominösere Bedeutung. Da heißt es, Sperlinge wären die Begleiter der Toten.«
»Was bedeutet...«
»Was bedeutet, daß ihre Aufgabe darin besteht, verlorene Seelen ins Land der Lebenden zurückzuführen. Sie sind, mit anderen Worten, die Vorboten der Untoten.«
Rawlie nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte Thad eindringlich.
»Ich weiß nicht, in welcher Lage Sie sich befinden, Thaddeus, und ich glaube, ich will es auch nicht wissen. Aber ich rate ihnen zur Vorsicht. Zu äußerster Vorsicht. Sie sehen aus wie ein Mann, der in einer sehr schwierigen Lage ist. Wenn es irgend etwas gibt, das ich für Sie tun kann, dann sagen Sie es bitte.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Rawlie. Und ich bin ihnen dankbar für Ihr Schweigen.«
»Zumindest in dieser Hinsicht sind Sie und meine Studenten einer Meinung.« Aber die sanften Augen, die Thad über die Pfeife hinweg musterten, waren voller Besorgnis. »Geben Sie auf sich acht.«
»Das werde ich tun.«
»Und wenn die Männer Ihnen überallhin folgen, um Sie in diesem Bemühen zu unterstützen, Thaddeus, wäre es vielleicht klug, sie ins Vertrauen zu ziehen.«
Es wäre herrlich, wenn er das könnte, aber es ging hier nicht um das Vertrauen, das er in sie setzte. Wenn er tatsächlich den Mund aufmachte, würden sie bestimmt das letzte bißchen Vertrauen verlieren, das sie in ihn setzten. Und selbst wenn er Harrison und Manchester genügend vertraute, um mit ihnen sprechen zu können, würde er doch nicht wagen, es zu tun - nicht, bevor ihn das krabbelnde Gefühl in seiner Haut verlassen hatte. George Stark beobachtete ihn. Und die Frist war abgelaufen.
»Danke, Rawlie.«
Rawlie nickte, bat ihn noch einmal, auf sich achtzugeben, und zog sich dann in sein Büro zurück.
Thad machte sich auf den Weg zu seinem eigenen Büro.

6

Und natürlich muß ich eine Notiz für Mrs. Fenton schreiben.
Er unterbrach den Akt des Wegräumens der letzten Ordner, die er versehentlich herausgeholt hatte, und warf einen Blick auf die beigefarbene IBM Selectric. Neuerdings schienen sich Schreibinstrumente, große wie kleine, auf fast hypnotische Weise in sein Bewußtsein zu drängen. Im Laufe der letzten Woche hatte er sich mehr als einmal gefragt, ob in jedem eine andere Version von Thad Beaumont steckte. Wie böse Geister in einem Haufen Flaschen.
Ich muß eine Notiz für Mrs. Fenton schreiben.
Aber wie die Dinge lagen, brauchte man eher ein Ouija-Brett als eine Schreibmaschine, um sich mit der netten, aber leider verstorbenen Mrs. Fenton in Verbindung zu setzen, die Kaffee gekocht hatte, in dem der Löffel stand. Warum hatte er das überhaupt gesagt? An Mrs. Fenton hätte er zuallerletzt gedacht.
Thad stopfte den letzten Ordner in den Aktenschrank, schloß ihn ab und betrachtete seine linke Hand. Unter dem Verband hatte sie plötzlich zu brennen und zu jucken begonnen. Er rieb sie an seinem Hosenbein, aber daraufhin schien sie nur noch heftiger zu jucken. Das Gefühl einer intensiven Backofenhitze verstärkte sich.
Er schaute aus dem Fenster.
Auf den Telefondrähten auf der anderen Seite des Bennett Boulevard drängten sich Sperlinge. Andere saßen auf dem Dach der Krankenstation, und dann sah er, wie eine weitere Schar auf dem Tennisplatz landete.
Alle schienen ihn anzusehen.
Psychopompen. Die Vorboten der Untoten.
Jetzt wirbelte noch ein Schwarm von Sperlingen wie ein Zyklon aus verbranntem Laub herab und landete auf dem Dach der Bennett Hall.
»Nein«, flüsterte Thad mit zittriger Stimme. Seine Hand juckte und brannte.
Die Schreibmaschine.
Er konnte die Sperlinge und das Brennen und Jucken in seiner Hand nur loswerden, indem er die Schreibmaschine benutzte.
Der Drang, sich an die Maschine zu setzen, war so stark, daß er sich nicht abweisen ließ. Irgendwie kam er ihm auf entsetzliche Weise natürlich vor - wie das Verlangen, die Hand in kaltes Wasser zu stecken, wenn man sich verbrannt hat.
Ich muß eine Notiz für Mrs. Fenton schreiben.
Du wirst noch heute anfangen, sonst könnte es dir schlecht ergehen. Und du würdest nicht der einzige sein.
Dieses kribbelnde Gefühl in seiner Haut wurde immer stärker. Das Jucken strahlte in Wellen von dem Loch in seiner Hand aus, und seine Augäpfel schienen im Rhythmus dieses Gefühls zu pulsieren. Die Vision von Sperlingen vor seinem geistigen Auge wurde deutlicher. Es war in Bergenfield, in Bergenfield unter einem weißen Frühlingshimmel; es war 1960; die ganze Welt war tot bis auf diese schrecklichen, gewöhnlichen Vögel, und während er hinschaute, schwangen sie sich alle auf, und ihre gewaltige, flatternde Masse verdunkelte den Himmel. Die Sperlinge flogen wieder.
Vor dem Fenster von Thads Büro flogen alle, die auf den Telefondrähten, der Krankenstation und Bennett Hall saßen, flügelschlagend gleichzeitig auf. Ein paar Studenten, die den Hof überquerten, blieben stehen und beobachteten, wie der Schwarm am Himmel eine Linkskurve beschrieb und in Richtung Westen verschwand.
Das sah Thad nicht. Er sah nur die Gegend, in der er seine Kindheit verbracht und die sich jetzt in eine unheimliche Traumlandschaft verwandelt hatte. Er ließ sich vor der Schreibmaschine nieder und versank dabei noch tiefer in die zwielichtige Welt der Trance. Doch ein Gedanke blieb beharrlich in seinem Bewußtsein. Der gerissene alte George konnte ihn zwingen, sich hinzusetzen und die Tasten der IBM zu betätigen, ja, aber das Buch würde er nicht schreiben, einerlei, was auch passierte - und wenn er fest blieb, würde der gerissene alte George einfach auseinanderfallen oder aufhören zu existieren wie eine ausgeblasene Kerzenflamme. Das wußte er. Er fühlte es.
Seine Hand schien jetzt regelrecht zu toben, und ihm war, daß sie, wenn er sie sehen könnte, aussehen würde wie die Pfote einer Figur aus einem Zeichentrickfilm - vielleicht Wile E. Coyote -, nachdem man mit einem Vorschlaghammer daraufgehauen hat. Es war kein eigentlicher Schmerz, sondern eher das Ich-werde-gleich-wahnsinnig-Gefühl, das man hat, wenn die Stelle auf dem Rücken, die einzige, die man nicht erreichen kann, zu jucken beginnt. Kein oberflächliches Jucken, sondern tiefsitzendes, auf die Nerven gehendes, hämmerndes Jucken, das einen zwingt, die Zähne zusammenzubeißen.
Aber selbst das schien weit fort zu sein, völlig unwichtig.
Er setzte sich an die Schreibmaschine.

7

In dem Augenblick, in dem er den Motor einschaltete, verschwand das Jucken - und mit ihm die Vision von den Sperlingen.
Aber die Trance blieb bestehen, und in ihr steckte ein unerbittlicher Befehl; da war etwas, das geschrieben werden mußte, und ihm war, als schriee ihm sein ganzer Körper zu, es zu tun, es zu tun, es hinter sich zu bringen. Auf seine Art war das noch schlimmer als die Vision der Sperlinge oder das Jucken in seiner Hand. Dieses Gefühl schien von einem Ort tief in seinem Unterbewußtsein auszustrahlen.
Er spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und saß dann einen Moment lang nur da, abwesend und gedankenverloren. Dann legte er die Finger in der Ausgangsposition des Zehnfingersystems auf die mittlere Tastenreihe, obwohl er schon seit Jahren nicht mehr nach dem Zehnfingersystem schrieb.
Sie blieben zitternd einen Moment dort liegen, und dann zogen sich alle bis auf die Zeigefinger zurück. Wenn Stark schrieb, tat er es offenbar auf die gleiche Art wie Thad - mit beiden Zeigefingern. Das war zu erwarten gewesen; die Schreibmaschine war nicht das Instrument seiner Wahl.
Er spürte ein kurzes Aufflackern von Schmerz, als er die Finger seiner linken Hand bewegte, aber das war auch alles. Seine Zeigefinger tippten langsam, aber es dauerte trotzdem nicht lange, bis die Botschaft auf dem weißen Blatt stand. Sie war bestürzend kurz. Der Kugelkopf wirbelte herum und produzierte sieben Worte:
Weisst du, woher mein Anruf kam, Thad?
Plötzlich wurde die Welt vor seinen Augen wieder klar. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie solche Bestürzung, solches Entsetzen empfunden. Großer Gott, natürlich - es war so folgerichtig, so offensichtlich.
Der Dreckskerl hat von meinem Haus aus angerufen! Er hat Liz und die Kinder!
Er wollte aufstehen, ohne jede Ahnung, wohin er gehen sollte. Er war sich nicht einmal bewußt, daß er es tun wollte, bis plötzlich der Schmerz in seiner Hand aufflackerte wie eine glimmende Fackel, die kräftig durch die Luft geschwungen wird, damit sie hell auflodert. Seine Lippen zogen sich von den Zähnen zurück, und er gab einen leisen, stöhnenden Laut von sich. Er ließ sich wieder auf den Stuhl vor der IBM sinken, und bevor er recht wußte, was geschah, hatten sich seine Hände wieder auf die Tasten gelegt.
Sechs Worte diesmal.
Sag es niemandem, sonst sterben sie
Er starrte die Worte dumpf an. Sobald er den letzten Buchstaben getippt hatte, war alles plötzlich wie abgeschnitten - als wäre er eine Lampe, und jemand hätte den Stecker herausgezogen. Keine Schmerzen mehr in seiner Hand. Kein Jucken mehr. Kein kribbelndes Gefühl mehr unter der Haut.
Die Vögel waren fort. Die dumpfe Trance war fort. Und Stark war auch fort.
Aber er war natürlich keineswegs wirklich fort. Stark hütete das Haus, während Thad nicht da war. Sie hatten zwei Staatspolizisten zur Bewachung des Hauses zurückgelassen, aber das war belanglos. Er war ein Idiot gewesen, ein kompletter Idiot, als er sich eingebildet hatte, zwei Polizisten könnten etwas ändern. Selbst eine Kompanie Marineinfanterie hätte nichts ändern können. George Stark war kein Mensch; er war so etwas wie ein Tiger-Panzer, der zufällig wie ein Mensch aussah.
»Wie weit sind Sie?« fragte Harrison hinter ihm.
Thad fuhr zusammen, als hätte ihm jemand eine Reißzwecke ins Genick gestochen - und das ließ ihn natürlich an Frederick Clawson denken, der sich auf Dinge eingelassen hatte, die ihn nichts angingen - und der dadurch, daß er sagte, was er wußte, Selbstmord begangen hatte.
Sag es niemandem, sonst sterben sie starrte ihm von dem Blatt Papier in der Schreibmaschine entgegen.
Er streckte die Hand aus, zog das Blatt aus der Maschine und knüllte es zusammen. Er tat es, ohne sich umzusehen und festzustellen, wie nahe Harrison herangekommen war. Das wäre ein Fehler gewesen. Er versuchte völlig gelassen zu erscheinen. Er hatte nicht das Gefühl, gelassen zu sein; er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Er wartete darauf, daß Harrison ihn fragte, was er geschrieben hätte und warum er es aus der Schreibmaschine herausziehen mußte, bevor jemand es lesen konnte. Als Harrison nicht sprach, tat es Thad.
»Ich denke, ich bin fertig. Zum Teufel mit der Notiz. Ich bringe diese Unterlagen sowieso zurück, bevor Mrs. Fenton überhaupt merkt, daß sie fort sind.« Das zumindest entsprach der Wahrheit - es sei denn, Althea schaute zufällig vom Himmel herab. Er stand auf und betete, daß seine Beine ihm nicht den Dienst versagten und ihn wieder auf den Stuhl sinken ließen. Die Beine trugen ihn, obwohl sie sich so taub anfühlten wie Stelzen. Er stellte erleichtert fest, daß Harrison an der Tür stand und ihn überhaupt nicht ansah. Einen Moment zuvor hätte Thad noch schwören können, daß ihm der Mann regelrecht ins Genick atmete.
Harrison verzehrte einen Keks und blickte an Thad vorbei auf die paar Studenten, die gemächlich über den Hof schlenderten.
»Mann, dieser Ort ist ja völlig tot«, sagte der Polizist.
Und meine Familie vielleicht auch, bevor ich heimkomme.
»Warum verschwinden wir dann nicht von hier?« fragte er Harrison.
»Gute Idee.«
Thad bewegte sich auf die Tür zu. Harrison bedachte ihn mit einem amüsierten Blick. »Heiliger Strohsack«, sagte er. »An den Geschichten von zerstreuten Professoren scheint doch etwas daran zu sein.«
Thad blinzelte nervös, dann blickte er herunter und sah, daß er das zusammengeknüllte Blatt Papier nach wie vor in der Hand hielt. Er wollte es in den Papierkorb werfen, aber seine unsichere Hand ließ ihn im Stich. Es traf auf den Rand und fiel daneben. Bevor er sich bücken und es ergreifen konnte, war Harrison an ihm vorbeigeglitten. Er hob den Papierball auf und warf ihn spielerisch von einer Hand in die andere. »Wollen Sie ohne die Akten gehen, um derentwillen Sie hergekommen sind?« fragte er. Er deutete auf den Stapel Bewerbungen für den Sonderkurs über kreatives Schreiben, die, von einem roten Gummiband zusammengehalten, neben der Schreibmaschine lagen. Dann fuhr er fort, den Papierball mit den letzten beiden Botschaften Starks von einer Hand in die andere zu werfen - von rechts nach links, von links nach rechts, hin und her. Thads Augen folgten dem Ball, und er konnte in einer der Knitterfalten ein paar Buchstaben erkennen:
ag es niemand
»Ach ja, die Akten. Danke.«
Thad hob die Akten auf und ließ sie beinahe wieder fallen. Jetzt würde Harrison den Papierball in seiner Hand auseinanderfalten. Er würde es tun, und obwohl Stark ihn im Moment nicht beobachtete - Thad war ziemlich sicher, daß er es nicht tat -, würde er bald wieder damit anfangen. Und wenn er das tat, würde er Bescheid wissen. Und wenn er Bescheid wußte, würden Liz und die Zwillinge sterben.
»Nichts zu danken.« Harrison warf den zusammengeknüllten Papierball in Richtung Papierkorb. Er rollte fast um den ganzen Rand herum und fiel dann hinein. »Zwei Punkte«, sagte er und trat auf den Flur hinaus, damit Thad die Tür abschließen konnte.

8

Er machte sich, gefolgt von den beiden Polizisten, auf den Weg nach unten. Rawlie DeLesseps steckte den Kopf aus seinem Büro heraus und wünschte Thad einen guten Sommer, falls sie sich nicht vorher wiedersehen sollten. Thad wünschte ihm das gleiche mit einer Stimme, die - zumindest in seinen eigenen Ohren - recht normal klang. Ihm war zumute, als funktionierte er mit Autopilot. Dieses Gefühl hielt an, bis er den Suburban erreicht hatte. Als er die Akten auf den Beifahrersitz warf, fiel sein Blick auf den Münzfernsprecher an der anderen Seite des Parkplatzes.
»Ich will eben meine Frau anrufen«, sagte er zu Harrison. »Sie fragen, ob ich noch irgend etwas einkaufen soll.«
»Das hätten Sie oben tun sollen«, sagte Manchester. »Hätte Ihnen einen Vierteldollar gespart.«
»Ich habe es vergessen«, sagte Thad. »Vielleicht bin ich wirklich ein zerstreuter Professor.«
Die beiden Polizisten wechselten einen amüsierten Blick und stiegen in ihren Plymouth, wo sie die Klimaanlage einschalten und ihn durch die Windschutzscheibe hindurch im Auge behalten konnten. Thad war zumute, als hätte sich sein Inneres in einen Haufen Glasscherben verwandelt. Er fischte einen Vierteldollar aus der Tasche und steckte ihn in den Apparat. Seine Hand zitterte, und er verwählte sich bei der zweiten Ziffer. Er legte den Hörer auf, wartete, bis sein Vierteldollar wieder herausgefallen war, versuchte es dann noch einmal und dachte: O Gott, das ist genau wie an dem Abend, an dem Miriam starb. Ganz genau so wie an dem Abend.
Es war die Art von déjà vu, auf die er nur zu gern verzichtet hätte.
Beim zweitenmal schaffte er es, und dann stand er da und preßte den Hörer so fest ans Ohr, daß es schmerzte. Er versuchte ganz bewußt, sich zu entkrampfen. Er durfte Harrison und Manchester nicht merken lassen, daß etwas nicht stimmte - das durfte er auf gar keinen Fall. Aber er schien nicht imstande, seine Muskeln zu lockern.
Stark nahm beim ersten Läuten den Hörer ab. »Thad?«
»Was hast du mit ihnen gemacht?« Als ob er trockene Baumwollklumpen ausspeien müßte. Und im Hintergrund konnte er die Zwillinge aus Leibeskräften schreien hören. Thad empfand ihr Geschrei als seltsam beruhigend. Es war nicht das heisere Gebrüll, das Wendy von sich gegeben hatte, nachdem sie die Treppe heruntergefallen war; es war ein aufgeregtes, vielleicht auch ein wütendes Weinen, aber kein Schmerzensgeheul.
Aber Liz - wo war Liz?
»Überhaupt nichts«, erwiderte Stark, »wie du selber hören kannst. Ich habe ihnen kein einziges Haar auf ihren kostbaren Köpfchen gekrümmt. Noch nicht.«
»Liz«, sagte Thad, den plötzlich einsames Entsetzen überspülte wie eine lange, hohe Brandungswelle.
»Was soll mit ihr sein?« Der spöttische Ton war grotesk, unerträglich.
»Hol sie an den Apparat!« bellte Thad. »Wenn du willst, daß ich auch nur ein einziges verdammtes Wort unter deinem Namen schreibe, dann holst du sie an den Apparat!« Und da war ein Teil seines Verstandes, dem offenbar selbst ein derartiges Extrem an Entsetzen und Überraschung nichts anzuhaben vermochte, der warnte: Gib auf dein Gesicht acht, Thad. Sie können dein Profil sehen. Ein Mann schreit nicht in den Hörer, wenn er zu Hause anruft und seine Frau fragt, ob sie noch genug Eier im Kühlschrank hat.
»Thad! Aber Thad!« Stark tat, als wäre er beleidigt, doch Thad wußte mit grauenhafter und aufreizender Gewißheit, daß der Dreckskerl grinste. »Du hast wirklich eine verdammt schlechte Meinung von mir. Aber reg dich ab - hier ist sie.«
»Thad? Thad, bist du das?« Ihre Stimme klang mitgenommen und verängstigt, aber nicht panikartig. Nicht ganz.
»Ja, Liebling. Bist du okay? Und die Kinder?«
»Ja, wir sind okay. Wir...« Sie brach ab, und Thad konnte hören, daß der Bastard etwas zu ihr sagte, aber nicht, was er sagte. Sie sagte ja, okay, und dann war sie wieder am Apparat. Jetzt schien sie den Tränen nahe zu sein. »Thad, du mußt tun, was er verlangt.«
»Ja. Das weiß ich.«
»Aber er will, daß ich dir sage, daß du es nicht hier tun kannst. Die Polizei wird bald hier sein. Er - Thad, er hat gesagt, er hätte die beiden Männer umgebracht, die das Haus bewachten.«
Thad schloß die Augen.
»Ich weiß nicht, wie er es getan hat, aber er hat gesagt, er hätte es getan - und ich - ich glaube ihm.« Jetzt weinte sie wirklich. Versuchte, es nicht zu tun, weil sie wußte, es würde Thad aufregen, und weil sie auch wußte, daß er vielleicht etwas Gefährliches tun würde, wenn er aufgeregt war. Er umkrampfte den Hörer, preßte ihn ans Ohr und versuchte, gelassen auszusehen. Stark murmelte wieder im Hintergrund. Und Thad schnappte eines seiner Worte auf. Zusammenarbeit. Es war unglaublich. Einfach unglaublich.
»Er bringt uns von hier fort«, sagte sie. »Er sagt, du weißt, wohin wir fahren. Erinnerst du dich an Tante Martha? Er sagt, du sollst die Männer abhängen, die bei dir sind. Er sagt, er glaubt, du könntest das, weil er weiß, daß er es könnte. Er will, daß du heute abend vor Einbruch der Dunkelheit bei uns bist. Er sagt...« Ein verängstigtes Schluchzen brach aus ihr hervor. Ein zweites drängte ihm nach, aber es gelang ihr, es zu unterdrücken. »Er hat gesagt, daß du mit ihm zusammenarbeiten wirst, daß das Buch, wenn ihr beide es gemeinsam schreibt, das beste von allen werden wird. Er...«
Gemurmel. Gemurmel. Gemurmel.
Thad wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Finger in George Starks bösen Hals zu krampfen und ihn zu würgen, bis sie sich durch seine Haut gebohrt hatten und in seine Kehle eingedrungen waren.
»Er sagt, Alexis Machine ist von den Toten auferstanden und größer als je zuvor«, sagte sie. Und dann, mit schriller Stimme. »Bitte, tu, was er sagt, Thad! Er ist bewaffnet. Und er hat eine Lötlampe! Er sagt, wenn du auf irgendwelche verrückten Gedanken kommen solltest...«
»Liz...«
»Bitte, Thad, tu, was er sagt.«
Ihre Stimme brach ab, als Stark ihr den Hörer aus der Hand nahm.
»Eine Frage, Thad«, sagte Stark, und jetzt lag nichts Spielerisches oder Spöttisches in seiner Stimme. »Ich verlange eine Antwort, und die muß ehrlich und glaubwürdig sein, alter Freund, sonst müssen sie dafür büßen. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Ganz sicher? Was sie über die Lötlampe gesagt hat, stimmt nämlich.«
»Ja. Ja, verdammt nochmal!«
»Was hat sie gemeint, als sie fragte, ob du dich an Tante Martha erinnerst? War das eine Art Code, Thad? Hat sie versucht, mir eins auszuwischen?«
Thad sah das Leben seiner Frau und seiner Kinder plötzlich an einem einzigen dünnen Faden hängen. Das war keine Metapher, sondern etwas, das er regelrecht sehen konnte. Der Faden war eisblau, hauchfein, inmitten der ganzen Ewigkeit, die vor ihm liegen mochte, kaum zu erkennen. Alles hing von zwei Dingen ab - von dem, was er sagte, und davon, ob Stark es glaubte.
»Ist die Verbindung zwischen dem Telefon und dem Bandgerät unterbrochen?«
»Natürlich!« sagte Stark. »Wofür hältst du mich?«
»Und hat Liz das gewußt, als sie mit mir sprach?«
Es folgte eine kurze Pause, und dann sagte Stark: »Sie brauchte nur hinzusehen. Die Drähte liegen auf dem Fußboden.«
»Aber hat sie es getan? Hat sie die Drähte gesehen?«
»Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, Thad.«
»Sie hat versucht, mir mitzuteilen, wohin ihr fahrt, ohne den Namen des Ortes zu nennen«, erklärte ihm Thad. Er bemühte sich um einen geduldigen Vortragston, geduldig und gleichzeitig eine Spur herablassend. Er wußte nicht, ob es ihm gelang, aber vermutlich würde George es ihn schnell genug auf die eine oder andere Art wissen lassen. »Sie meinte unser Sommerhaus. In Castle Rock. Martha Tellford ist Liz’ Tante. Wir mögen sie nicht. Und wenn sie angerufen und uns mitgeteilt hat, sie würde auf Besuch kommen, dann haben wir uns immer vorgestellt, daß wir nach Castle Rock verschwinden und uns in unserem Sommerhaus verstecken, bis sie gestorben wäre. Jetzt habe ich es gesagt, und wenn in unserem Telefon eine drahtlose Wanze steckt, George, dann ist es deine Schuld.«
Er wartete, schweißgebadet, ob Stark ihm das abkaufen würde - oder ob der dünne Faden, die einzige Verbindung zwischen seiner Familie und der Ewigkeit, reißen würde.
»Da ist keine Wanze«, sagte Stark endlich, und seine Stimme klang wieder entspannt.
Thad kämpfte gegen das Bedürfnis, sich gegen die Wand der Telefonzelle zu lehnen und vor Erleichterung die Augen zu schließen. Wenn ich dich je wiedersehen sollte, Liz, dachte er, dann drehe ich dir dafür, daß du ein solches Risiko eingegangen bist, den Hals um. Aber vermutlich würde er, wenn und falls er sie wiedersah, sie statt dessen küssen, bis sie keine Luft mehr bekam.
»Tu ihnen nichts«, sagte er. »Bitte, tu ihnen nichts. Ich mache alles, was du willst.«
»Das weiß ich. Ich weiß, daß du es tun wirst, Thad. Wir werden es gemeinsam tun. Zumindest zu Anfang. Und du setzt dich jetzt in Bewegung, Thad. Häng deine Wachhunde ab und sieh zu, daß du nach Castle Rock kommst. So schnell wie möglich, aber ohne Aufsehen zu erregen. Das wäre ein Fehler. Vielleicht solltest du dir einen anderen Wagen besorgen, aber die Einzelheiten überlasse ich dir. Schließlich bist du ein kreativer Mensch. Sieh zu, daß du vor Einbruch der Dunkelheit da bist, wenn du sie noch lebend antreffen willst. Versuch nicht, mich aufs Kreuz zu legen. Hast du verstanden? Versuch nicht, mich aufs Kreuz zu legen, und komm nicht auf irgendwelche schlauen Ideen.«
»Nein, das tue ich nicht.«
»So ist es. Du tust es nicht. Das einzige, was du tust, alter Freund, ist mitspielen. Wenn du Mist baust, werde ich es wissen. Wenn du das tust, wirst du nichts vorfinden als Leichen und ein Tonband, auf dem deine Frau dich verflucht hat, bevor sie gestorben ist.«
Ein Klicken. Die Verbindung war unterbrochen.

9

Als er wieder in den Suburban einstieg, kurbelte Manchester das Fenster an der Beifahrerseite des Plymouth herunter und fragte, ob zu Hause alles in Ordnung wäre. Thad sah dem Mann an den Augen an, daß es mehr war als nur eine müßige Frage. Offenbar hatte er doch etwas aus Thads Gesicht herausgelesen. Aber das machte nichts. Damit würde er fertig werden. Schließlich war er ein kreativer Mensch, und sein Verstand schien jetzt mit einem unheimlich-lautlosen Tempo zu rasen wie der französische Hochgeschwindigkeitszug. Wieder stellte sich die Frage: lügen oder die Wahrheit sagen? Und wie zuvor war es keine echte Alternative.
»Alles bestens«, sagte er. Seine Stimme hörte sich völlig normal und gelassen an. »Die Kinder sind ein bißchen quengelig. Und das geht Liz auf die Nerven.« Er ließ zu, daß seine Stimme sich ein wenig hob. »Und ihr beide scheint auch ein bißchen nervös zu sein, seit wir das Haus verließen. Es ist doch nichts passiert, das ich wissen müßte, oder?«
Selbst in dieser verzweifelten Lage war er noch imstande, Gewissensbisse zu spüren. Es war in der Tat etwas passiert - aber er war derjenige, der es wußte, und er würde nichts sagen.
»Nein«, sagte Harrison, der am Lenkrad saß und sich jetzt vorbeugte, um an seinem Partner vorbeireden zu können. »Wir können Chatterton und Eddings nicht erreichen, das ist alles. Vielleicht sind sie im Haus.«
»Liz sagte, sie hätte gerade frischen Eistee gemacht«, log Thad schnell.
»Das also ist es«, sagte Harrison. Er lächelte Thad an, der jetzt ein wenig stärkere Gewissensbisse verspürte. »Vielleicht ist noch etwas davon übrig, wenn wir ankommen.«
»Vielleicht.« Thad schlug die Tür des Suburban zu und steckte den Zündschlüssel ins Schloß - mit einer Hand, die ihm so gefühllos vorkam wie ein Holzklotz. Fragen wirbelten ihm durch den Kopf, tanzten ihre eigene komplizierte und nicht sonderlich erfreuliche Gavotte. Waren Stark und seine Familie schon nach Castle Rock unterwegs? Er hoffte es - wünschte sich, daß sie außer Reichweite waren, wenn die Nachricht, daß sie entführt worden waren, an alle Polizeidienststellen ging. Wenn sie Liz’ Wagen benutzten und jemand ihn erkannte, oder wenn sie noch in Ludlow oder in der Nähe davon waren, konnte es schwere Probleme geben. Mordsprobleme. Es war eine grauenhafte Ironie, daß er nur hoffen konnte, daß Stark entkam - aber das war nun einmal die Lage, in der er sich befand.
Und was das Entkommen anging - wie sollte er Harrison und Manchester loswerden? Das war eine weitere interessante Frage. Nicht, indem er ihnen in dem Suburban davonfuhr, das stand fest. Der Plymouth, den sie fuhren, sah zwar mit seinem staubigen Lack und den schwarzen Reifen nach nichts aus, aber das rauhe Dröhnen im Leerlauf deutete darauf hin, daß unter der Haube eine Menge Kraft steckte. Er glaubte, daß es ihm gelingen würde, sie abzuhängen - er hatte schon eine Idee, wie und wo das möglich war -, aber wie sollte er es bewerkstelligen, daß man ihn auf der hundertsechzig Meilen langen Fahrt nach Castle Rock nicht wieder aufspürte?
Er hatte nicht die leiseste Ahnung - er wußte nur, daß er es irgendwie schaffen mußte.
Erinnerst du dich an Tante Martha?
Er hatte auf Starks Frage, was das bedeutet, gelogen, und Stark hatte die Lüge geschluckt. Also wußte der Mistkerl nicht alles, was in seinem Kopf vorging. Martha Tellford war tatsächlich Liz’ Tante, und sie hatten, meist im Bett, im Scherz darüber gesprochen, daß sie vor ihr davonlaufen würden; aber sie hatten von so exotischen Gegenden wie Aruba oder Tahiti geredet, weil Tante Martha alles wußte, was es über das Sommerhaus in Castle Rock zu wissen gab. Sie war dort viel öfter zu Besuch gewesen als in Ludlow. Und Tante Martha hatte sich in Castle Rock am liebsten auf der Müllkippe aufgehalten. Sie war ein eingetragenes, zahlendes Mitglied der Nationalen Schützenvereinigung, und sie ging zur Müllkippe, um Ratten abzuschießen.
»Wenn du willst, daß sie abreist, mußt du es ihr sagen.« Thad erinnerte sich, wie er das eines Nachts gegen Ende von Tante Marthas endlosem Sommerbesuch zu Liz gesagt hatte - war es 1979 oder 1980 gewesen? Aber das spielte vermutlich keine Rolle. »Sie ist deine Tante. Wenn ich es ihr sage, kommt sie vielleicht auf die Idee, ihre Winchester auf mich anzulegen.«
»Ich weiß nicht, ob die Blutsverwandtschaft in diesem Fall etwas ausmacht«, hatte Liz erwidert. »Sie hat so einen Blick in den Augen...« Liz hatte im Bett neben ihm geschaudert, erinnerte er sich, dann hatte sie gekichert und ihn in die Rippen gestoßen. »Also los. Gott haßt Feiglinge. Sag ihr, wir sind Naturschützer, auch wenn es sich um Müllkippen-Ratten handelt. Bau dich vor ihr auf, Thad, und sage >Hau ab, Tante Martha! Du hast deine letzte Ratte auf der Müllkippe geschossen! Pack deine Koffer und verschwinde!‹«
Natürlich hatte keiner von ihnen Tante Martha zum Verschwinden aufgefordert; sie hatte ihre täglichen Ausflüge zur Müllkippe fortgesetzt, wo sie Dutzende von Ratten abschoß (und, wie Thad argwöhnte, auch ein paar Möwen, wenn die Ratten in Deckung gingen). Endlich war der gesegnete Tag gekommen, an dem Thad sie zum Portland Jetport fuhr und sie in das Flugzeug nach Albany setzte. Bevor sie an Bord ging, hatte sie ihm auf ihre irritierende Männerart die Hand geschüttelt - fast so, als wollte sie sich nicht verabschieden, sondern eine geschäftliche Abmachung besiegeln - und ihm erklärt, es könnte durchaus sein, daß sie im folgenden Jahr wiederkäme.
»Verdammt gute Strecke«, hatte sie gesagt. »Muß sechs oder sieben Dutzend von diesen kleinen Biestern erwischt haben.«
Sie war nicht wiedergekommen, obwohl einmal nicht viel daran gefehlt hatte (dieser drohende Besuch war in letzter Minute durch eine Einladung nach Arizona abgewendet worden, wo es, wie Tante Martha ihnen am Telefon mitteilte, noch Abschußprämien für Kojoten gab).
In den Jahren nach ihrem letzten Besuch war »Erinnerst du dich an Tante Martha?« zwischen Liz und Thad zu einer Art Code-Ausdruck geworden. Er bedeutete, daß einer von ihnen die.22er aus dem Schuppen holen und einen ganz besonders lästigen Gast abschießen sollte, genau wie Tante Martha die Ratten auf der Müllkippe abgeschossen hatte. Jetzt, da er darüber nachdachte, glaubte Thad sich zu erinnern, daß Liz diese Redewendung auch während der Vorarbeiten für den People-Artikel gebraucht hatte. Hatte sie sich nicht zu ihm umgedreht und geflüstert: »Ob diese Myers sich wohl an Tante Martha erinnert?«
Dann hatte sie die Hand vor den Mund gehalten und gekichert.
Mächtig komisch.
Aber jetzt war es kein Scherz.
Und jetzt ging es auch nicht um das Abschießen von Ratten auf der Müllkippe.
Wenn er sie nicht mißverstanden hatte, dann hatte Liz ihm sagen wollen, er sollte ihnen nachkommen und George Stark töten. Und wenn sie wollte, daß er das tat - Liz, die schon weinte, wenn sie hörte, daß im Tierschutzheim von Derry heimatlose Tiere eingeschläfert worden waren -, dann mußte sie überzeugt sein, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder starb Stark - oder sie und die Kinder.
Harrison und Manchester musterten ihn befremdet, und Thad begriff, daß er, in seine Gedanken versunken, fast eine volle Minute mit laufendem Motor am Steuer gesessen hatte. Er hob die Hand, deutete einen Gruß an, setzte zurück und bog in die Maine Avenue ein, die aus dem Campus herausführte. Er versuchte, sich auf das Problem zu konzentrieren, wie er den beiden entkommen konnte, bevor sie über ihre Funksprechgeräte erfuhren, daß ihre Kollegen tot waren. Er versuchte nachzudenken, aber er hörte immer wieder nur Starks Stimme, die ihm erklärte, wenn er Mist baute, würde er bei seiner Ankunft im Sommerhaus in Castle Rock nur ihre Leichen vorfinden und ein Tonband, auf dem Liz ihn verflucht hatte, bevor sie gestorben war.
Und er sah immer noch Martha Tellford am Lauf ihrer Winchester entlangvisieren, einer erheblich größeren Waffe als der.22er, die im verschlossenen Schuppen des Sommerhauses lag, und auf die fetten Ratten zielen, die zwischen den Abfallhaufen und den orangerot glimmenden Müllbränden herumhuschten. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß ihn danach verlangte, Stark zu erschießen, aber nicht mit einer.22er.
Der gerissene George hatte etwas Größeres verdient.
Eine Haubitze mochte ungefähr das richtige Kaliber haben.
Die Ratten, die vor dem glitzernden Chaos aus zerbrochenen Flaschen und zerbeulten Blechdosen hochsprangen, und ihre Körper, die sich zuerst krümmten und dann, Fell und Eingeweide verspritzend, zerbarsten.
Ja, zu sehen, wie so etwas mit George Stark passierte - das wäre herrlich.
Er umklammerte das Lenkrad so heftig, daß seine linke Hand in ihren Knochen und Gelenken regelrecht aufzustöhnen schien.
Er entspannte sich - versuchte es zumindest -, tastete in seiner Brusttasche nach dem Percodan, das er eingesteckt hatte, fand es und schluckte die Tablette hinunter.
Und begann, über die Kreuzung in der Schulzone von Veazie nachzudenken. Die mit den Stopzeichen an allen vier Fahrspuren.
Und außerdem begann er über das nachzudenken, was Rawlie DeLesseps gesagt hatte. Psychopompen hatte Rawlie sie genannt.
Die Vorboten der Untoten.