NEUNTES KAPITEL
Die Invasion des Kriechozoiden
1
»Ich nenne ihn einen Kriechozoiden«, begann Liz.
»Es tut mir leid, daß er tot ist - aber ein Kriechozoide war er
trotzdem. Ich weiß nicht, ob die echten Kriechozoiden als solche
geboren werden oder sich erst später entwickeln, aber da sie in
jedem Fall irgendwann ihre schleimige Position im Leben einnehmen,
spielt das wohl keine Rolle. Frederick Clawson nahm diese Position
zufällig in Washington D. C. ein. Er hatte sich in die größte
juristische Schlangengrube der Welt begeben, um Jura zu
studieren.
Thad - die Kinder werden unruhig. Machst du ihnen
ihr Nachtfläschchen zurecht? Und ich möchte bitte noch ein
Bier.«
Er brachte ihr das Bier und ging dann in die Küche,
um die Flaschen zu wärmen. Er schob einen Keil unter die Küchentür,
damit sie offenblieb und er besser zuhören konnte - und stieß sich
dabei die Kniescheibe. Das war ihm schon so oft passiert, daß er es
kaum mehr zur Kenntnis nahm.
Die Sperlinge fliegen wieder, dachte er und
rieb über die Narbe auf seiner Stirn, während er zuerst eine
Kasserolle mit warmem Wasser füllte und sie dann auf den Herd
setzte. Wenn ich nur wüßte, was zum Teufel das zu bedeuten
hat.
»Den größten Teil der Geschichte haben wir von
Clawson selbst erfahren«, fuhr Liz fort, »aber seine Perspektive
war naturgemäß ein wenig schief. Thad sagt immer, wir alle wären
die Heiden unseres eigenen Lebens, und Clawson hielt sich eher für
einen Boswell als für einen Kriechozoiden - aber mit Hilfe der
Informationen, die wir von Darwin Press erhielten, dem Verlag, der
die Romane herausgebracht hat, die Thad unter Starks Namen schrieb,
und anderen, die wir
von Rick Cowley erhielten, konnten wir uns ein etwas objektiveres
Bild machen.«
»Wer ist Rick Cowley?« fragte Alan.
»Der literarische Agent, der Thad unter beiden
Namen betreut hat.«
»Und was wollte Clawson - Ihr Kriechozoide?«
»Geld«, sagte Liz trocken.
In der Küche holte Thad die Nachtfläschchen (nur
halb voll, um das lästige Trockenlegen mitten in der Nacht auf ein
Minimum zu reduzieren) aus dem Kühlschrank und setzte sie in die
Kasserolle. Was Liz sagte, war richtig und falsch zugleich. Clawson
hatte viel mehr gewollt als nur Geld.
Es war, als hätte Liz seine Gedanken gelesen.
»Nicht, daß Geld alles gewesen wäre, was er wollte.
Ich bin nicht einmal sicher, ob es die größte Rolle spielte. Er
wollte als der Mann gelten, der George Starks wahre Identität
herausgefunden hatte.«
»Also so etwas wie der strahlende Held, der es
endlich geschafft hat, den Incredible Spider-Man zu
demaskieren?«
»So ist es.«
Thad steckte einen Finger in die Kasserolle, um die
Wassertemperatur zu prüfen, dann lehnte er sich gegen den Herd und
hörte zu. Ihm wurde bewußt, daß ihn nach einer Zigarette verlangte
- zum ersten Mal seit Jahren verlangte ihn wieder nach einer
Zigarette.
2
»Clawson war zu oft zur rechten Zeit am rechten
Ort«, sagte Liz. »Er war nicht nur Jurastudent, er war auch
Teilzeitangestellter in einer Buchhandlung. Er war nicht nur
Angestellter in einer Buchhandlung, er war auch ein begeisterter
Fan von George Stark. Und möglicherweise war er der einzige
George-Stark-Fan im ganzen Land, der auch die beiden Romane von
Thad Beaumont gelesen hatte.«
In der Küche lächelte Thad etwas säuerlich und
prüfte abermals die Temperatur des Wassers in der Kasserolle.
»Ich glaube, er wollte aus seinen Vermutungen eine
Art großes Drama machen«, fuhr Liz fort. »Wie sich die Dinge
entwickelten, mußte er sich schon gewaltig anstrengen, um überhaupt
aus der Masse herauszuragen. Nachdem er zu dem Schluß gekommen war,
daß Stark tatsächlich Beaumont war und umgekehrt, rief er bei
Darwin Press an.«
»Starks Verlag.«
»Richtig. Er schaffte es, bis zu Ellie Golden,
Starks Lektorin, vorzudringen. Clawson erkundigte sich nach dem
Autorenfoto auf der Rückseite des Schutzumschlags. Er wollte die
Adresse des Mannes, der dort abgebildet war. Ellie erklärte ihm,
sie sei nicht befugt, die Adressen von Autoren des Verlages
bekanntzugeben.
Clawson sagte: >Ich will nicht Starks
Adresse, sondern die des Mannes auf dem Foto. Des Mannes, der als
Stark posiert.‹ Ellie erklärte, er sollte sich nicht
lächerlich machen - der Mann auf dem Foto wäre George Stark.«
»Und der Verlag hat nie verlauten lassen, daß Stark
nur ein Pseudonym war?« fragte Alan, offensichtlich interessiert.
»Er hat Stark all die Jahre als wirkliche Person
hingestellt?«
»Ja. Thad hat darauf bestanden.«
Ja, dachte Thad. Er holte die Flaschen aus
der Kasserolle und hielt sie an die Schläfe, um die Temperatur der
Milch zu überprüfen. Thad hat darauf bestanden. Im nachhinein
weiß Thad nicht recht, weshalb er darauf bestanden hat. Er hat
nicht einmal eine Ahnung, warum er das getan hat. Aber er hat
darauf bestanden.
Er kehrte mit den Flaschen ins Wohnzimmer zurück
und vermied dabei nur knapp eine Kollision mit dem Küchentisch. Er
gab jedem der Kinder eine Flasche. Sie hoben sie verschlafen an und
begannen zu saugen. Thad ließ sich wieder nieder. Er hörte Liz zu
und redete sich ein, daß ihm nichts ferner lag als das Verlangen
nach einer Zigarette.
»Auf jeden Fall«, fuhrt Liz fort, »wollte Clawson
noch mehr Fragen stellen - eine ganze Wagenladung voll Fragen,
nehme ich an -, aber Ellie spielte nicht mit. Sie sagte, er solle
doch Rick Cowley anrufen. Dann legte sie auf. Daraufhin rief
Clawson Ricks Büro an und bekam Miriam an den Apparat. Sie ist
Ricks geschiedene Frau und gleichzeitig seine
Geschäftspartnerin. Ein etwas merkwürdiges Arrangement, aber die
beiden kommen gut miteinander aus.
Clawson stellte ihr dieselbe Frage - ob George
Stark in Wirklichkeit Thad Beaumont wäre. Wie Miriam uns erzählte,
hat sie gesagt, so wäre es. Und sie wäre Dolly Madison. >Ich
habe mich von James scheiden lassen, Thad hat sich von Liz scheiden
lassen, und im Frühjahr heiraten wir!< Worauf sie auflegte. Dann
stürzte sie in Ricks Büro und informierte ihn, daß irgendein Typ
aus Washington die Nase in Thads geheime Identität zu stecken
versuchte. Dann wurde, wenn Clawson bei Cowley Associates anrief,
immer sofort der Hörer aufgelegt.«
Liz nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.
»Aber er hat nicht aufgegeben. Echte Kriechozoiden
geben niemals auf. Er hatte nur begriffen, daß er auf die höfliche
Tour nicht weiterkam.«
»Und er hat nicht bei Thad angerufen?« fragte
Alan.
»Nein. Kein einziges Mal.«
»Ich nehme an, Ihre Nummer steht nicht im
Telefonbuch.«
Thad lieferte einen seiner wenigen eigenen Beiträge
zu der Geschichte. »Sie steht nicht im öffentlichen Telefonbuch,
Alan, aber unser Anschluß hier in Ludlow ist im
Fakultätsverzeichnis aufgeführt. Das ist unvermeidlich. Ich bin
Lehrer und muß für meine Kollegen und Studenten erreichbar
sein.«
»Aber in die Höhle des Löwen hat sich der Kerl
nicht gewagt«, meinte Alan.
»Er hat sich mit uns in Verbindung gesetzt -
brieflich«, sagte Liz. »Aber so weit sind wir noch nicht. Soll ich
weiter erzählen?«
»Ja, bitte«, sagte Alan. »Es ist eine spannende
Geschichte.«
»Also«, fuhr Liz fort, »es kostete unseren
Kriechozoiden genau drei Wochen und vermutlich nicht einmal
fünfhundert Dollar, um das herauszubekommen, wovon er ohnehin
überzeugt war - daß Thad und George Stark ein und dieselbe Person
waren.
Er fing mit dem Literary Market Place an,
einem Verzeichnis der Namen, Adressen und Telefonnummern aller im
Verlagswesen tätigen Leute - Schriftsteller, Lektoren, Verleger,
Agenten. Damit und mit Hilfe der Personalnachrichten in
Publisher’s Weekly ist es ihm gelungen, rund ein halbes
Dutzend Angestellter von Darwin Press ausfindig zu machen, die die
Firma zwischen dem Sommer 1986 und dem Sommer 1987 verlassen
hatten. Eine von ihnen verfügte über die Information und war
bereit, mit der Sprache herauszurücken. Ellie Golden war sich
ziemlich sicher, daß es das Mädchen war, das 1985 und 1986 acht
Monate als Sekretärin des Rechnungsprüfers gearbeitet hatte. Ellie
beschrieb das Mädchen als >eine Kokain schnupfende Tussie aus
Vassar<.«
Alan lachte.
»Thad glaubt auch, daß sie es war«, fuhr Liz fort,
»weil sich herausstellte, daß es sich bei der rauchenden Kanone um
Fotokopien von Tantiemeabrechnungen für George Stark handelte. Sie
kamen aus dem Büro von Roland Burrets.«
»Dem Rechnungsprüfer von Darwin Press«, sagte Thad.
Er hörte zu, behielt aber gleichzeitig die Zwillinge im Auge. Sie
lagen jetzt mit erhobenen Fläschchen auf dem Rücken und drückten
ihre mit den Schlafanzügen bekleideten Füße gegeneinander. Ihre
Augen waren leicht glasig. Er wußte, bald würden sie endgültig
einschlafen - und wenn sie es taten, würden sie es gemeinsam tun.
Sie tun alles gemeinsam, dachte Thad. Die Kinder sind
schläfrig, und die Sperlinge fliegen.
»Thads Name stand nicht auf den Fotokopien«, sagte
Liz. »Tantiemeabrechnungen führen manchmal zu Schecks, aber sie
sind keine Schecks, also brauchte der Name nicht
daraufzustehen. Das ist Ihnen klar, nicht wahr?«
Alan nickte.
»Dennoch verriet ihm die Adresse das meiste von
dem, was er wissen wollte. Sie lautete Mr. George Stark, P. O. Box
1642, Brewer, Maine 04412. Ein Blick auf die Karte von Maine hätte
ihm verraten, daß der Ort, der unmittelbar südlich von Brewer
liegt, Ludlow heißt, und er wußte, welcher angesehene, wenn auch
nicht gerade berühmte Autor in Ludlow lebt. Thaddeus Beaumont.
Welch ein Zufall!
Weder Thad noch ich haben ihn je persönlich
kennengelernt, aber er hat Thad gesehen. Aus den Fotokopien,
die er in die Hand bekommen hatte, wußte er, wann Darwin Press die
vierteljährlichen Tantiemeschecks an seine Autoren abschickte.
Normalerweise gehen diese Tantiemeschecks zuerst an
den Agenten des Autors. Dann stellt der Agent einen neuen Scheck
über die ursprüngliche Summe abzüglich seiner Kommission aus. Aber
in Starks Fall schickte der Rechnungsprüfer diese Schecks direkt an
das Postfach in Brewer.«
»Und wie erhielt der Agent seine Kommission?«
fragte Alan.
»Der Anteil des Agenten wurde vorher abgezogen und
ihm direkt überwiesen«, sagte Liz. »Auch das wäre für Clawson ein
deutlicher Hinweis gewesen, daß George Stark nicht das war, was er
zu sein vorgab - aber an weiteren Hinweisen hatte Clawson keinen
Bedarf. Er wollte unumstößliche Beweise und machte sich auf, sie zu
beschaffen.
Um die Zeit, zu der die Tantiemeschecks verschickt
wurden, setzte sich Clawson ins Flugzeug und kam hierher. Die
Nächte verbrachte er im Holiday Inn, die Tage damit, das Postamt
von Brewer >abzustecken<. Genau diesen Ausdruck gebrauchte er
in dem Brief, den Thad später von ihm erhielt. Er legte sich auf
die Lauer. Ganz wie in einem film noir. Allerdings mußte er
seine Nachforschungen mit äußerst beschränkten Mitteln anstellen.
Wenn >Stark< nicht am vierten Tag im Postamt von Brewer
aufgetaucht wäre, um seinen Tantiemescheck abzuholen, dann wäre
Clawson nichts anderes übriggeblieben, als seine Zelte abzubrechen
und wieder in der Nacht zu verschwinden. Aber das wäre
wahrscheinlich nicht das Ende gewesen. Wenn ein echter Kriechozoide
einmal seine Zähne in etwas geschlagen hat, dann läßt er erst los,
wenn er einen großen Brocken herausgebissen hat.«
»Oder wenn man ihm die Zähne herausschlägt«,
knurrte Thad.
Er sah, daß Alan mit gehobenen Brauen in seine
Richtung schaute, und grinste. Schlecht gewählte Worte.
Irgendjemand hatte mit Liz’ Kriechozoiden offenbar genau das getan
- oder Schlimmeres.
»Das ist ohnehin eine müßige Frage«, setzte Liz
ihren Bericht fort, und Alan wendete sich wieder ihr zu. »So lange
hat es nicht gedauert. Am dritten Tag, als er auf einer Parkbank
gegenüber dem Postamt saß, sah er, wie Thads Suburban auf einen der
Kurzzeitparkplätze vor dem Postamt einbog.«
Liz trank abermals einen Schluck Bier und wischte
sich den Schaum von der Oberlippe. Als sie die Hand wieder senkte,
lächelte sie.
»Und jetzt kommt der Teil, der mir am meisten Spaß
macht«, sagte sie. »Ich finde ihn einfach köstlich. Clawson hatte
eine Kamera, eine winzige, die man in der hohlen Hand verbergen
kann. Wenn man eine Aufnahme machen wollte, spreizte man einfach
die Finger so weit, daß die Linse freilag, und schwupp!, schon war
es passiert.« Sie kicherte leise.
»In seinem Brief erklärte er, er hätte die Kamera
von einer Versandfirma, die Ausrüstung für Spione verkauft - Wanzen
für Telefone, eine Tinktur, die man auf Briefumschläge aufträgt, um
sie zehn oder fünfzehn Minuten lang durchsichtig zu machen,
Aktentaschen, die sich selbst vernichten, andere Dinge dieser Art.
Geheimagent X-9 Clawson meldete sich zum Dienst. Ich wette, er
hätte sich auch einen hohlen, mit Zyanid gefüllten Zahn beschafft,
wenn er ihn auf legalem Wege hätte bekommen können. Er ging in
seiner Rolle auf.
Auf jeden Fall bekam er ein halbes Dutzend passable
Fotos. Keine Kunstwerke, aber man konnte erkennen, wen er
aufgenommen hatte - und was der tat. Da war ein Foto von Thad, wie
er sich in der Halle des Postamtes den Postfächern nähert, eines,
wie er seinen Schlüssel in das Postfach mit der Nummer 1642 steckt,
und eines, wie er einen Umschlag herausholt.«
»Er hat Ihnen Abzüge von diesen Fotos geschickt?«
fragte Alan. Sie hatte gesagt, daß er Geld gewollt hatte, und Alan
war sich ziemlich sicher, daß Liz wußte, wovon sie redete. Das
Ganze roch nicht nur nach Erpressung; es stank danach.
»O ja. Und eine Vergrößerung des letzten. Man kann
einen Teil des Absenders lesen - die Buchstaben DARW - und das
Signet von Darwin Press darüber deutlich erkennen.«
»X-9 schlägt wieder zu«, sagte Alan.
»So ist es. X-9 schlägt wieder zu. Er hat die
Vergrößerung sogar >die rauchende Pistole< genannt. Er ließ
die Fotos entwickeln, dann flog er zurück nach Washington. Wenige
Tage später bekamen wir seinen Brief mit den Fotos. Der Brief war
wirklich ein Meisterwerk. Er bewegte sich haarscharf am Rande einer
Drohung, ging aber nie über den Rand hinaus.«
»Schließlich war er Jurastudent«, sagte Thad.
»So ist es«, pflichtete Liz ihm bei. »Er wußte
offensichtlich ganz genau, wie weit er gehen durfte. Thad könnte
den Brief holen, aber ich kann ihnen auch erzählen, was darin
stand. Er fing damit an, daß er erklärte, wie sehr er beide Hälften
dessen bewunderte, was er Thads >gespaltenes Bewußtsein<
nannte. Er berichtete, was er herausgefunden und wie er es
angestellt hatte. Dann kam er zur Sache. Er hat uns den Haken sehr
vorsichtig gezeigt, aber der Haken war da. Er erklärte, er wäre
selbst ein angehender Schriftsteller, hätte aber wenig Zeit zum
Schreiben - sein Studium verschlänge einen großen Teil seiner Zeit,
aber das allein wäre nicht das Problem, da er darauf angewiesen
sei, in einer Buchhandlung zu arbeiten, um seine Studiengebühren
und andere Rechnungen bezahlen zu können. Er sagte, er würde Thad
gern einiges von seinen Arbeiten zeigen, und wenn Thad sie für
vielversprechend hielte, würde er sich vielleicht veranlaßt sehen,
einen Unterstützungsvertrag auszuarbeiten, der ihm
weiterhülfe.«
»Einen Unterstützungsvertrag«, sagte Alan
nachdenklich. »Ist das der Ausdruck, der heutzutage üblich
ist?«
Thad warf den Kopf zurück und lachte.
»Er ist zumindest der, den Clawson gebraucht hat.
Ich glaube, den Schluß kann ich wörtlich zitieren. >Ich weiß,
daß Ihnen dies auf den ersten Blick ziemlich dreist vorkommen muß,
aber ich bin sicher, wenn Sie meine Arbeiten gelesen haben, werden
Sie begreifen, daß ein derartiges Arrangement uns beiden zugute
kommt.‹ Thad und ich waren eine Weile wütend, dann haben wir
darüber gelacht, und ich glaube, danach waren wir wieder
wütend.«
»Ja«, sagte Thad. »An das Lachen erinnere ich mich
nicht mehr, aber wütend waren wir auf alle Fälle.«
»Schließlich waren wir so weit, daß wir darüber
reden konnten. Wir haben fast bis Mitternacht darüber gesprochen.
Wir hatten beide begriffen, was es mit Clawsons Brief und den Fotos
auf sich hatte, und nachdem Thad über seine Wut hinweg
war...«
»Der Kerl ist zwar tot«, warf Thad ein, »aber über
meine Wut bin ich immer noch nicht hinweg.«
»Also gut, nachdem Thad mit dem Brüllen aufgehört
hatte, war er fast erleichtert. Er hatte bereits seit einiger Zeit
vorgehabt, Stark über Bord zu werfen und mit der Arbeit an einem
langen, eigenen Roman angefangen. An diesem Roman arbeitet er
jetzt. Er heißt The Golden Dog. Ich habe die ersten
zweihundert Seiten gelesen, und ich finde ihn großartig. Viel
besser als die letzten beiden Romane, die er als George Stark zu
Papier gebracht hat. Also kam Thad zu dem Schluß...«
»Wir kamen zu dem Schluß«, sagte Thad.
»Okay, wir kamen zu dem Schluß, daß Clawsons
Brief im Grunde ein verkappter Segen war und uns die Möglichkeit
bot, etwas zu beschleunigen, was ohnehin bevorstand. Thads einzige
Befürchtung war, daß Rick Cowley diese Idee nicht zusagen würde,
weil George Stark der Agentur wesentlich mehr Geld einbrachte als
Thad Beaumont. Aber er hatte nicht die geringsten Einwände. Er
sagte sogar, daß es genügend Aufsehen erregen könnte, um sich
vorteilhaft auszuwirken: auf Starks Backlist, auf Thads eigene
Backlist...«
»Die nur zwei Titel enthält«, warf Thad mit einem
Lächeln ein.
»... und auf das neue Buch, wenn es
herauskommt.«
»Entschuldigen Sie - was ist eine Backlist?« fragte
Alan.
Jetzt grinste Thad breit und sagte: »Die alten
Bücher, die in keiner Buchhandlung im Schaufenster stehen.«
»Also machten Sie die Sache publik.«
»So ist es«, sagte Liz. »Zuerst bei Associated
Press hier in Maine und dann bei Publisher’s Weekly, aber
die Geschichte ging über die Fernschreiber - schließlich war Stark
ein Bestsellerautor, und die Tatsache, daß es ihn nie gegeben
hatte, lieferte interessantes Füllmaterial für die letzten Seiten.
Und dann setzte sich People mit uns in Verbindung.«
»Wir bekamen noch einen Brief von Frederick
Clawson, in dem er wütete und zeterte, wie gemein und widerwärtig
und undankbar wir doch wären. Er schien zu meinen, daß wir kein
Recht hätten, ihn auf diese Weise auszumanövrieren, denn
schließlich wäre er es gewesen, der sich die ganze Arbeit gemacht
hatte, wohingegen Thad lediglich die Bücher geschrieben hatte.
Danach hat er abgeschaltet.«
»Und jetzt hat er ein für allemal abgeschaltet«,
sagte Thad.
»Nein«, sagte Alan. »Er ist abgeschaltet worden -
und das ist ein großer Unterschied.«
Schweigen breitete sich aus. Es hielt nicht lange
an, aber es lastete schwer, sehr schwer.
3
Alan Pangborn dachte ein paar Minuten lang nach.
Thad und Liz störten ihn nicht. Schließlich blickte er auf und
sagte: »Okay. Warum? Warum fühlt sich jemand veranlaßt, ihn zu
ermorden? Zumal nachdem das Geheimnis kein Geheimnis mehr
war?«
Thad schüttelte den Kopf. »Wenn es mit mir zu tun
hat oder den Büchern, die ich als George Stark geschrieben habe,
dann weiß ich weder das Wer noch das Warum.«
»Und das alles wegen eines Pseudonyms?« fragte Alan
nachdenklich. »Ich meine - nehmen Sie es mir nicht übel, Thad -,
aber das war doch keine geheime Verschlußsache oder ein großes
militärisches Geheimnis.«
»Ich nehme es ihnen nicht übel«, sagte Thad. »Im
Gegenteil - ich bin ganz Ihrer Meinung.«
»Stark hatte eine Menge Fans«, sagte Liz. »Einige
von ihnen waren wütend, als sie erfuhren, daß Thad keine
Stark-Romane mehr schreiben würde. People hat etliche
Leserbriefe bekommen und Thad einen ganzen Waschkorb voll. Eine
Dame ist sogar so weit gegangen zu wünschen, Alexis Machine würde
aus der Versenkung auftauchen und es Thad heimzahlen.«
»Wer ist Alexis Machine?« Alan hatte sein Notizbuch
wieder hervorgezogen.
Thad grinste.
»Schwach, schwach, mein lieber Inspektor. Machine
ist nur eine Romanfigur in zweien der Bücher, die George
geschrieben hat. Dem ersten und dem letzten.«
»Eine Fiktion von einer Fiktion«, sagte Alan und
steckte das Notizbuch wieder weg. »Großartig.«
Thad blickte ein wenig verblüfft drein. »Eine
Fiktion von einer Fiktion«, sagte er. »Das ist gar nicht schlecht.
Ganz und gar nicht schlecht.«
»Wie wäre es damit?« sagte Liz. »Vielleicht hat
Clawson einen Freund - immer vorausgesetzt, daß Kriechozoiden
überhaupt Freunde haben -, der ein fanatischer Stark-Fan war.
Vielleicht wußte er, daß es im Grunde Clawsons Schuld war, daß das
Geheimnis gelüftet wurde, und war dermaßen wütend darüber, daß es
nun keine Stark-Romane mehr geben würde, daß er...« Sie seufzte,
betrachtete einen Moment ihre Bierflasche, dann hob sie den Kopf
wieder.
»Aber das ist ziemlich dürftig, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Alan, dann sah er Thad an.
»Sie sollten jetzt auf den Knien liegen und Gott für Ihr Alibi
danken, selbst wenn Sie es vorher noch nicht für nötig hielten.
Ihnen ist doch klar, daß Sie damit erst recht verdächtig
sind?«
»Ja, ich glaube, in gewisser Hinsicht schon«,
pflichtete Thad ihm bei. »Thad Beaumont hat zwei Bücher
geschrieben, die kaum jemand liest. Das zweite, das vor elf Jahren
erschienen ist, hat nicht einmal bei den Kritikern Anklang
gefunden. Sie brachten nicht einmal soviel ein, daß die höchst
bescheidenen Vorschüsse abgedeckt wurden; und es ist fraglich, ob
sein nächstes Buch gedruckt werden wird, so wie die Dinge in der
Branche liegen. Stark dagegen scheffelt Geld. In bescheidenen
Ausmaßen, aber immerhin ungefähr viermal so viel, wie ich im Jahr
als Professor verdiene. Da kommt dieser Clawson mit seiner
sorgfältig formulierten Erpressungsdrohung. Ich mache ihm einen
Strich durch die Rechnung, aber mir bleibt nichts anderes übrig,
als die Sache selbst publik zu machen. Kurze Zeit später wird
Clawson ermordet. Es sieht aus wie ein großartiges Motiv, aber es
ist keins. Es hat wenig Sinn, einen Erpresser umzubringen, nachdem
man das Geheimnis selbst aufgedeckt hat.«
»Ja, aber Rache wäre denkbar.«
»Kann sein - aber nur, wenn Sie den Rest der
Geschichte außer acht lassen. Was Liz Ihnen erzählt hat, trifft
voll und ganz zu. Stark ging ohnehin der Sprit aus. Vielleicht
hätte es noch ein weiteres Buch gegeben, aber nur eines. Und
einer
der Gründe dafür, daß Rick keinerlei Einwände hatte, war der, daß
er es wußte. Und er hatte recht, was die Publicity anging. Der
Artikel in People, so schwachsinnig er war, hat Wunder
gewirkt. Rick sagte mir, daß Riding to Babylon nahe daran
ist, wieder auf der Bestsellerliste zu erscheinen, und daß alle
Stark-Romane gut verkauft werden. Dutton erwägt sogar, The
Sudden Dancers und Purple Haze neu aufzulegen. Wenn Sie
es unter diesem Blickwinkel betrachten, hat Clawson mir einen
Gefallen getan.«
»Und wo stehen wir damit?« fragte Alan.
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß«,
erwiderte Thad.
In das darauffolgende Schweigen hinein sagte Liz
mit leiser Stimme »Es ist ein Krokodiljäger. Ich mußte gerade heute
morgen an diese Leute denken. Es ist ein Krokodiljäger, und er ist
total übergeschnappt.«
»Ein Krokodiljäger?« fragte Alan verwundert.
Liz erläuterte Thads »Besichtigungs-Syndrom des
lebendigen Krokodils«. »Es ist möglich, daß es ein verrückter Fan
war. Das ist nicht völlig abwegig, wenn man an den Mann denkt, der
John Lennon ermordet hat, und an den, der versuchte, Ronald Reagan
zu erschießen. Es gibt viele solche Leute. Und wenn Clawson so viel
über Thad herausfinden konnte, hätte auch jemand anders eine Menge
über Clawson herausfinden können.«
»Aber warum sollte ein solcher Mensch mich zum
Schuldigen stempeln wollen, wenn er von meinen Büchern so angetan
ist?« fragte Thad.
»Nicht von deinen Büchern«, erklärte Liz mit
Nachdruck. »Stark ist derjenige, den der Kerl liebt. Dich haßt er
vermutlich ebenso, wie er Clawson gehaßt hat. Du hast gesagt, du
wärest froh, daß Stark tot ist. Das könnte für einen Wahnsinnigen
Grund genug sein, dich zum Mörder zu stempeln.«
»Die Geschichte will mir trotzdem nicht in den
Kopf«, sagte Alan. »Die Fingerabdrücke...«
»Sie sagen, Fingerabdrücke wären noch nie kopiert
oder manipuliert worden, Alan, aber da sie sich an beiden Tatorten
fanden, muß es eine Methode geben. Es ist die einzige
Erklärung.«
Thad hörte sich selbst sagen: »Nein, du irrst dich,
Liz. Wenn es einen solchen Kerl gibt, dann muß es nicht nur so
sein, daß er Stark liebt.« Er blickte auf seine Arme herab und sah,
daß sie mit einer Gänsehaut bedeckt waren.
»Nein?« fragte Alan.
Thad schaute sie beide an.
»Ist euch schon der Gedanke gekommen, daß
derjenige, der Homer Gamache und Frederick Clawson umbrachte,
glaubt, daß er George Stark ist?«
4
Auf den Stufen vor der Haustür sagte Alan: »Ich
halte Sie auf dem laufenden, Thad.« In der Hand hielt er Fotokopien
von Frederick Clawsons beiden Briefen, die Thad auf dem Kopierer in
seinem Arbeitszimmer gemacht hatte. Thad kam der Gedanke, daß die
Tatsache, daß Alan Fotokopien akzeptiert hatte, anstatt auf der
Herausgabe der Originale zu bestehen, das deutlichste Anzeichen
dafür war, daß er seinen Verdacht vollständig oder zum größten Teil
über Bord geworfen hatte.
»Und kommen zurück, um mich zu verhaften, wenn Sie
das Hintertürchen in meinem Alibi gefunden haben?« fragte Thad
lächelnd.
»Ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird. Ich
bitte Sie lediglich darum, daß Sie mich auf dem laufenden
halten.«
»Sie meinen, falls sich irgend etwas tut?«
»Ja, das meine ich.«
»Es tut mir leid, daß wir Ihnen nicht mehr helfen
konnten«, sagte Liz.
Alan lächelte. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich
konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch einen Tag bleiben
sollte, was eine weitere Nacht in einem Zimmer des Ramada Inn
bedeutet hätte, oder ob ich nach Castle Rock zurückfahre. Ich fahre
zurück, und zwar noch heute abend. Meine Frau fühlt sich in letzter
Zeit nicht recht wohl.«
»Nichts Ernstes, hoffe ich«, sagte Liz.
»Migräne«, erklärte Alan knapp. Er setzte sich in
Bewegung, dann drehte er sich noch einmal um. »Da ist noch
etwas.«
Thad warf Liz einen gespielt verzweifelten Blick
zu. »Jetzt kommt es«, sagte er. »Der Zeigefinger des alten Columbo
im verknautschten Regenmantel.«
»Nichts dergleichen«, sagte Alan, »aber die Polizei
in Washington hat im Clawson-Mord etwas zurückgehalten. Das ist
allgemein üblich; es hilft, die Spinner auszusondern, die gern
Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben. An der Wand in
Clawsons Wohnung stand etwas geschrieben.« Alan zögerte und setzte
dann fast entschuldigend hinzu: »Zum Schreiben wurde das Blut des
Opfers benutzt. Wenn ich Ihnen sage, was dort stand - geben Sie mir
Ihr Wort drauf, daß Sie es für sich behalten werden?«
Sie nickten.
»An der Wand stand >Die Sperlinge fliegen
wieder<. Sagt das einem von Ihnen etwas?«
»Nein«, sagte Liz.
»Nein«, sagte Thad nach ganz kurzem Zögern mit
unbeteiligt klingender Stimme.
Einen Augenblick lang ruhte Alans Blick auf Thads
Gesicht. »Sind Sie ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
Alan seufzte. »Ich hatte mir keine große Hoffnungen
gemacht, aber es schien mir einen Versuch wert. In dieser Sache
gibt es so viele verrückte Querverbindungen, und das hätte
gleichfalls eine sein können. Gute Nacht, Thad, Liz. Denken Sie
daran, sich zu melden, wenn sich irgend etwas tut.«
»Wird gemacht«, sagte Liz.
»Sie können sich darauf verlassen«, pflichtete Thad
ihr bei.
Einen Moment später waren sie wieder im Haus und
hatten die Tür zugemacht, womit sie Alan Pangborn ebenso
ausgeschlossen hatten wie die Dunkelheit, in der er seine lange
Heimfahrt antreten würde.