NEUNTES KAPITEL
Die Invasion des Kriechozoiden

1

»Ich nenne ihn einen Kriechozoiden«, begann Liz. »Es tut mir leid, daß er tot ist - aber ein Kriechozoide war er trotzdem. Ich weiß nicht, ob die echten Kriechozoiden als solche geboren werden oder sich erst später entwickeln, aber da sie in jedem Fall irgendwann ihre schleimige Position im Leben einnehmen, spielt das wohl keine Rolle. Frederick Clawson nahm diese Position zufällig in Washington D. C. ein. Er hatte sich in die größte juristische Schlangengrube der Welt begeben, um Jura zu studieren.
Thad - die Kinder werden unruhig. Machst du ihnen ihr Nachtfläschchen zurecht? Und ich möchte bitte noch ein Bier.«
Er brachte ihr das Bier und ging dann in die Küche, um die Flaschen zu wärmen. Er schob einen Keil unter die Küchentür, damit sie offenblieb und er besser zuhören konnte - und stieß sich dabei die Kniescheibe. Das war ihm schon so oft passiert, daß er es kaum mehr zur Kenntnis nahm.
Die Sperlinge fliegen wieder, dachte er und rieb über die Narbe auf seiner Stirn, während er zuerst eine Kasserolle mit warmem Wasser füllte und sie dann auf den Herd setzte. Wenn ich nur wüßte, was zum Teufel das zu bedeuten hat.
»Den größten Teil der Geschichte haben wir von Clawson selbst erfahren«, fuhr Liz fort, »aber seine Perspektive war naturgemäß ein wenig schief. Thad sagt immer, wir alle wären die Heiden unseres eigenen Lebens, und Clawson hielt sich eher für einen Boswell als für einen Kriechozoiden - aber mit Hilfe der Informationen, die wir von Darwin Press erhielten, dem Verlag, der die Romane herausgebracht hat, die Thad unter Starks Namen schrieb, und anderen, die wir von Rick Cowley erhielten, konnten wir uns ein etwas objektiveres Bild machen.«
»Wer ist Rick Cowley?« fragte Alan.
»Der literarische Agent, der Thad unter beiden Namen betreut hat.«
»Und was wollte Clawson - Ihr Kriechozoide?«
»Geld«, sagte Liz trocken.
In der Küche holte Thad die Nachtfläschchen (nur halb voll, um das lästige Trockenlegen mitten in der Nacht auf ein Minimum zu reduzieren) aus dem Kühlschrank und setzte sie in die Kasserolle. Was Liz sagte, war richtig und falsch zugleich. Clawson hatte viel mehr gewollt als nur Geld.
Es war, als hätte Liz seine Gedanken gelesen.
»Nicht, daß Geld alles gewesen wäre, was er wollte. Ich bin nicht einmal sicher, ob es die größte Rolle spielte. Er wollte als der Mann gelten, der George Starks wahre Identität herausgefunden hatte.«
»Also so etwas wie der strahlende Held, der es endlich geschafft hat, den Incredible Spider-Man zu demaskieren?«
»So ist es.«
Thad steckte einen Finger in die Kasserolle, um die Wassertemperatur zu prüfen, dann lehnte er sich gegen den Herd und hörte zu. Ihm wurde bewußt, daß ihn nach einer Zigarette verlangte - zum ersten Mal seit Jahren verlangte ihn wieder nach einer Zigarette.

2

»Clawson war zu oft zur rechten Zeit am rechten Ort«, sagte Liz. »Er war nicht nur Jurastudent, er war auch Teilzeitangestellter in einer Buchhandlung. Er war nicht nur Angestellter in einer Buchhandlung, er war auch ein begeisterter Fan von George Stark. Und möglicherweise war er der einzige George-Stark-Fan im ganzen Land, der auch die beiden Romane von Thad Beaumont gelesen hatte.«
In der Küche lächelte Thad etwas säuerlich und prüfte abermals die Temperatur des Wassers in der Kasserolle.
»Ich glaube, er wollte aus seinen Vermutungen eine Art großes Drama machen«, fuhr Liz fort. »Wie sich die Dinge entwickelten, mußte er sich schon gewaltig anstrengen, um überhaupt aus der Masse herauszuragen. Nachdem er zu dem Schluß gekommen war, daß Stark tatsächlich Beaumont war und umgekehrt, rief er bei Darwin Press an.«
»Starks Verlag.«
»Richtig. Er schaffte es, bis zu Ellie Golden, Starks Lektorin, vorzudringen. Clawson erkundigte sich nach dem Autorenfoto auf der Rückseite des Schutzumschlags. Er wollte die Adresse des Mannes, der dort abgebildet war. Ellie erklärte ihm, sie sei nicht befugt, die Adressen von Autoren des Verlages bekanntzugeben.
Clawson sagte: >Ich will nicht Starks Adresse, sondern die des Mannes auf dem Foto. Des Mannes, der als Stark posiert.‹ Ellie erklärte, er sollte sich nicht lächerlich machen - der Mann auf dem Foto wäre George Stark.«
»Und der Verlag hat nie verlauten lassen, daß Stark nur ein Pseudonym war?« fragte Alan, offensichtlich interessiert. »Er hat Stark all die Jahre als wirkliche Person hingestellt?«
»Ja. Thad hat darauf bestanden.«
Ja, dachte Thad. Er holte die Flaschen aus der Kasserolle und hielt sie an die Schläfe, um die Temperatur der Milch zu überprüfen. Thad hat darauf bestanden. Im nachhinein weiß Thad nicht recht, weshalb er darauf bestanden hat. Er hat nicht einmal eine Ahnung, warum er das getan hat. Aber er hat darauf bestanden.
Er kehrte mit den Flaschen ins Wohnzimmer zurück und vermied dabei nur knapp eine Kollision mit dem Küchentisch. Er gab jedem der Kinder eine Flasche. Sie hoben sie verschlafen an und begannen zu saugen. Thad ließ sich wieder nieder. Er hörte Liz zu und redete sich ein, daß ihm nichts ferner lag als das Verlangen nach einer Zigarette.
»Auf jeden Fall«, fuhrt Liz fort, »wollte Clawson noch mehr Fragen stellen - eine ganze Wagenladung voll Fragen, nehme ich an -, aber Ellie spielte nicht mit. Sie sagte, er solle doch Rick Cowley anrufen. Dann legte sie auf. Daraufhin rief Clawson Ricks Büro an und bekam Miriam an den Apparat. Sie ist Ricks geschiedene Frau und gleichzeitig seine Geschäftspartnerin. Ein etwas merkwürdiges Arrangement, aber die beiden kommen gut miteinander aus.
Clawson stellte ihr dieselbe Frage - ob George Stark in Wirklichkeit Thad Beaumont wäre. Wie Miriam uns erzählte, hat sie gesagt, so wäre es. Und sie wäre Dolly Madison. >Ich habe mich von James scheiden lassen, Thad hat sich von Liz scheiden lassen, und im Frühjahr heiraten wir!< Worauf sie auflegte. Dann stürzte sie in Ricks Büro und informierte ihn, daß irgendein Typ aus Washington die Nase in Thads geheime Identität zu stecken versuchte. Dann wurde, wenn Clawson bei Cowley Associates anrief, immer sofort der Hörer aufgelegt.«
Liz nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.
»Aber er hat nicht aufgegeben. Echte Kriechozoiden geben niemals auf. Er hatte nur begriffen, daß er auf die höfliche Tour nicht weiterkam.«
»Und er hat nicht bei Thad angerufen?« fragte Alan.
»Nein. Kein einziges Mal.«
»Ich nehme an, Ihre Nummer steht nicht im Telefonbuch.«
Thad lieferte einen seiner wenigen eigenen Beiträge zu der Geschichte. »Sie steht nicht im öffentlichen Telefonbuch, Alan, aber unser Anschluß hier in Ludlow ist im Fakultätsverzeichnis aufgeführt. Das ist unvermeidlich. Ich bin Lehrer und muß für meine Kollegen und Studenten erreichbar sein.«
»Aber in die Höhle des Löwen hat sich der Kerl nicht gewagt«, meinte Alan.
»Er hat sich mit uns in Verbindung gesetzt - brieflich«, sagte Liz. »Aber so weit sind wir noch nicht. Soll ich weiter erzählen?«
»Ja, bitte«, sagte Alan. »Es ist eine spannende Geschichte.«
»Also«, fuhr Liz fort, »es kostete unseren Kriechozoiden genau drei Wochen und vermutlich nicht einmal fünfhundert Dollar, um das herauszubekommen, wovon er ohnehin überzeugt war - daß Thad und George Stark ein und dieselbe Person waren.
Er fing mit dem Literary Market Place an, einem Verzeichnis der Namen, Adressen und Telefonnummern aller im Verlagswesen tätigen Leute - Schriftsteller, Lektoren, Verleger, Agenten. Damit und mit Hilfe der Personalnachrichten in Publisher’s Weekly ist es ihm gelungen, rund ein halbes Dutzend Angestellter von Darwin Press ausfindig zu machen, die die Firma zwischen dem Sommer 1986 und dem Sommer 1987 verlassen hatten. Eine von ihnen verfügte über die Information und war bereit, mit der Sprache herauszurücken. Ellie Golden war sich ziemlich sicher, daß es das Mädchen war, das 1985 und 1986 acht Monate als Sekretärin des Rechnungsprüfers gearbeitet hatte. Ellie beschrieb das Mädchen als >eine Kokain schnupfende Tussie aus Vassar<.«
Alan lachte.
»Thad glaubt auch, daß sie es war«, fuhr Liz fort, »weil sich herausstellte, daß es sich bei der rauchenden Kanone um Fotokopien von Tantiemeabrechnungen für George Stark handelte. Sie kamen aus dem Büro von Roland Burrets.«
»Dem Rechnungsprüfer von Darwin Press«, sagte Thad. Er hörte zu, behielt aber gleichzeitig die Zwillinge im Auge. Sie lagen jetzt mit erhobenen Fläschchen auf dem Rücken und drückten ihre mit den Schlafanzügen bekleideten Füße gegeneinander. Ihre Augen waren leicht glasig. Er wußte, bald würden sie endgültig einschlafen - und wenn sie es taten, würden sie es gemeinsam tun. Sie tun alles gemeinsam, dachte Thad. Die Kinder sind schläfrig, und die Sperlinge fliegen.
»Thads Name stand nicht auf den Fotokopien«, sagte Liz. »Tantiemeabrechnungen führen manchmal zu Schecks, aber sie sind keine Schecks, also brauchte der Name nicht daraufzustehen. Das ist Ihnen klar, nicht wahr?«
Alan nickte.
»Dennoch verriet ihm die Adresse das meiste von dem, was er wissen wollte. Sie lautete Mr. George Stark, P. O. Box 1642, Brewer, Maine 04412. Ein Blick auf die Karte von Maine hätte ihm verraten, daß der Ort, der unmittelbar südlich von Brewer liegt, Ludlow heißt, und er wußte, welcher angesehene, wenn auch nicht gerade berühmte Autor in Ludlow lebt. Thaddeus Beaumont. Welch ein Zufall!
Weder Thad noch ich haben ihn je persönlich kennengelernt, aber er hat Thad gesehen. Aus den Fotokopien, die er in die Hand bekommen hatte, wußte er, wann Darwin Press die vierteljährlichen Tantiemeschecks an seine Autoren abschickte. Normalerweise gehen diese Tantiemeschecks zuerst an den Agenten des Autors. Dann stellt der Agent einen neuen Scheck über die ursprüngliche Summe abzüglich seiner Kommission aus. Aber in Starks Fall schickte der Rechnungsprüfer diese Schecks direkt an das Postfach in Brewer.«
»Und wie erhielt der Agent seine Kommission?« fragte Alan.
»Der Anteil des Agenten wurde vorher abgezogen und ihm direkt überwiesen«, sagte Liz. »Auch das wäre für Clawson ein deutlicher Hinweis gewesen, daß George Stark nicht das war, was er zu sein vorgab - aber an weiteren Hinweisen hatte Clawson keinen Bedarf. Er wollte unumstößliche Beweise und machte sich auf, sie zu beschaffen.
Um die Zeit, zu der die Tantiemeschecks verschickt wurden, setzte sich Clawson ins Flugzeug und kam hierher. Die Nächte verbrachte er im Holiday Inn, die Tage damit, das Postamt von Brewer >abzustecken<. Genau diesen Ausdruck gebrauchte er in dem Brief, den Thad später von ihm erhielt. Er legte sich auf die Lauer. Ganz wie in einem film noir. Allerdings mußte er seine Nachforschungen mit äußerst beschränkten Mitteln anstellen. Wenn >Stark< nicht am vierten Tag im Postamt von Brewer aufgetaucht wäre, um seinen Tantiemescheck abzuholen, dann wäre Clawson nichts anderes übriggeblieben, als seine Zelte abzubrechen und wieder in der Nacht zu verschwinden. Aber das wäre wahrscheinlich nicht das Ende gewesen. Wenn ein echter Kriechozoide einmal seine Zähne in etwas geschlagen hat, dann läßt er erst los, wenn er einen großen Brocken herausgebissen hat.«
»Oder wenn man ihm die Zähne herausschlägt«, knurrte Thad.
Er sah, daß Alan mit gehobenen Brauen in seine Richtung schaute, und grinste. Schlecht gewählte Worte. Irgendjemand hatte mit Liz’ Kriechozoiden offenbar genau das getan - oder Schlimmeres.
»Das ist ohnehin eine müßige Frage«, setzte Liz ihren Bericht fort, und Alan wendete sich wieder ihr zu. »So lange hat es nicht gedauert. Am dritten Tag, als er auf einer Parkbank gegenüber dem Postamt saß, sah er, wie Thads Suburban auf einen der Kurzzeitparkplätze vor dem Postamt einbog.«
Liz trank abermals einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. Als sie die Hand wieder senkte, lächelte sie.
»Und jetzt kommt der Teil, der mir am meisten Spaß macht«, sagte sie. »Ich finde ihn einfach köstlich. Clawson hatte eine Kamera, eine winzige, die man in der hohlen Hand verbergen kann. Wenn man eine Aufnahme machen wollte, spreizte man einfach die Finger so weit, daß die Linse freilag, und schwupp!, schon war es passiert.« Sie kicherte leise.
»In seinem Brief erklärte er, er hätte die Kamera von einer Versandfirma, die Ausrüstung für Spione verkauft - Wanzen für Telefone, eine Tinktur, die man auf Briefumschläge aufträgt, um sie zehn oder fünfzehn Minuten lang durchsichtig zu machen, Aktentaschen, die sich selbst vernichten, andere Dinge dieser Art. Geheimagent X-9 Clawson meldete sich zum Dienst. Ich wette, er hätte sich auch einen hohlen, mit Zyanid gefüllten Zahn beschafft, wenn er ihn auf legalem Wege hätte bekommen können. Er ging in seiner Rolle auf.
Auf jeden Fall bekam er ein halbes Dutzend passable Fotos. Keine Kunstwerke, aber man konnte erkennen, wen er aufgenommen hatte - und was der tat. Da war ein Foto von Thad, wie er sich in der Halle des Postamtes den Postfächern nähert, eines, wie er seinen Schlüssel in das Postfach mit der Nummer 1642 steckt, und eines, wie er einen Umschlag herausholt.«
»Er hat Ihnen Abzüge von diesen Fotos geschickt?« fragte Alan. Sie hatte gesagt, daß er Geld gewollt hatte, und Alan war sich ziemlich sicher, daß Liz wußte, wovon sie redete. Das Ganze roch nicht nur nach Erpressung; es stank danach.
»O ja. Und eine Vergrößerung des letzten. Man kann einen Teil des Absenders lesen - die Buchstaben DARW - und das Signet von Darwin Press darüber deutlich erkennen.«
»X-9 schlägt wieder zu«, sagte Alan.
»So ist es. X-9 schlägt wieder zu. Er hat die Vergrößerung sogar >die rauchende Pistole< genannt. Er ließ die Fotos entwickeln, dann flog er zurück nach Washington. Wenige Tage später bekamen wir seinen Brief mit den Fotos. Der Brief war wirklich ein Meisterwerk. Er bewegte sich haarscharf am Rande einer Drohung, ging aber nie über den Rand hinaus.«
»Schließlich war er Jurastudent«, sagte Thad.
»So ist es«, pflichtete Liz ihm bei. »Er wußte offensichtlich ganz genau, wie weit er gehen durfte. Thad könnte den Brief holen, aber ich kann ihnen auch erzählen, was darin stand. Er fing damit an, daß er erklärte, wie sehr er beide Hälften dessen bewunderte, was er Thads >gespaltenes Bewußtsein< nannte. Er berichtete, was er herausgefunden und wie er es angestellt hatte. Dann kam er zur Sache. Er hat uns den Haken sehr vorsichtig gezeigt, aber der Haken war da. Er erklärte, er wäre selbst ein angehender Schriftsteller, hätte aber wenig Zeit zum Schreiben - sein Studium verschlänge einen großen Teil seiner Zeit, aber das allein wäre nicht das Problem, da er darauf angewiesen sei, in einer Buchhandlung zu arbeiten, um seine Studiengebühren und andere Rechnungen bezahlen zu können. Er sagte, er würde Thad gern einiges von seinen Arbeiten zeigen, und wenn Thad sie für vielversprechend hielte, würde er sich vielleicht veranlaßt sehen, einen Unterstützungsvertrag auszuarbeiten, der ihm weiterhülfe.«
»Einen Unterstützungsvertrag«, sagte Alan nachdenklich. »Ist das der Ausdruck, der heutzutage üblich ist?«
Thad warf den Kopf zurück und lachte.
»Er ist zumindest der, den Clawson gebraucht hat. Ich glaube, den Schluß kann ich wörtlich zitieren. >Ich weiß, daß Ihnen dies auf den ersten Blick ziemlich dreist vorkommen muß, aber ich bin sicher, wenn Sie meine Arbeiten gelesen haben, werden Sie begreifen, daß ein derartiges Arrangement uns beiden zugute kommt.‹ Thad und ich waren eine Weile wütend, dann haben wir darüber gelacht, und ich glaube, danach waren wir wieder wütend.«
»Ja«, sagte Thad. »An das Lachen erinnere ich mich nicht mehr, aber wütend waren wir auf alle Fälle.«
»Schließlich waren wir so weit, daß wir darüber reden konnten. Wir haben fast bis Mitternacht darüber gesprochen. Wir hatten beide begriffen, was es mit Clawsons Brief und den Fotos auf sich hatte, und nachdem Thad über seine Wut hinweg war...«
»Der Kerl ist zwar tot«, warf Thad ein, »aber über meine Wut bin ich immer noch nicht hinweg.«
»Also gut, nachdem Thad mit dem Brüllen aufgehört hatte, war er fast erleichtert. Er hatte bereits seit einiger Zeit vorgehabt, Stark über Bord zu werfen und mit der Arbeit an einem langen, eigenen Roman angefangen. An diesem Roman arbeitet er jetzt. Er heißt The Golden Dog. Ich habe die ersten zweihundert Seiten gelesen, und ich finde ihn großartig. Viel besser als die letzten beiden Romane, die er als George Stark zu Papier gebracht hat. Also kam Thad zu dem Schluß...«
»Wir kamen zu dem Schluß«, sagte Thad.
»Okay, wir kamen zu dem Schluß, daß Clawsons Brief im Grunde ein verkappter Segen war und uns die Möglichkeit bot, etwas zu beschleunigen, was ohnehin bevorstand. Thads einzige Befürchtung war, daß Rick Cowley diese Idee nicht zusagen würde, weil George Stark der Agentur wesentlich mehr Geld einbrachte als Thad Beaumont. Aber er hatte nicht die geringsten Einwände. Er sagte sogar, daß es genügend Aufsehen erregen könnte, um sich vorteilhaft auszuwirken: auf Starks Backlist, auf Thads eigene Backlist...«
»Die nur zwei Titel enthält«, warf Thad mit einem Lächeln ein.
»... und auf das neue Buch, wenn es herauskommt.«
»Entschuldigen Sie - was ist eine Backlist?« fragte Alan.
Jetzt grinste Thad breit und sagte: »Die alten Bücher, die in keiner Buchhandlung im Schaufenster stehen.«
»Also machten Sie die Sache publik.«
»So ist es«, sagte Liz. »Zuerst bei Associated Press hier in Maine und dann bei Publisher’s Weekly, aber die Geschichte ging über die Fernschreiber - schließlich war Stark ein Bestsellerautor, und die Tatsache, daß es ihn nie gegeben hatte, lieferte interessantes Füllmaterial für die letzten Seiten. Und dann setzte sich People mit uns in Verbindung.«
»Wir bekamen noch einen Brief von Frederick Clawson, in dem er wütete und zeterte, wie gemein und widerwärtig und undankbar wir doch wären. Er schien zu meinen, daß wir kein Recht hätten, ihn auf diese Weise auszumanövrieren, denn schließlich wäre er es gewesen, der sich die ganze Arbeit gemacht hatte, wohingegen Thad lediglich die Bücher geschrieben hatte. Danach hat er abgeschaltet.«
»Und jetzt hat er ein für allemal abgeschaltet«, sagte Thad.
»Nein«, sagte Alan. »Er ist abgeschaltet worden - und das ist ein großer Unterschied.«
Schweigen breitete sich aus. Es hielt nicht lange an, aber es lastete schwer, sehr schwer.

3

Alan Pangborn dachte ein paar Minuten lang nach. Thad und Liz störten ihn nicht. Schließlich blickte er auf und sagte: »Okay. Warum? Warum fühlt sich jemand veranlaßt, ihn zu ermorden? Zumal nachdem das Geheimnis kein Geheimnis mehr war?«
Thad schüttelte den Kopf. »Wenn es mit mir zu tun hat oder den Büchern, die ich als George Stark geschrieben habe, dann weiß ich weder das Wer noch das Warum.«
»Und das alles wegen eines Pseudonyms?« fragte Alan nachdenklich. »Ich meine - nehmen Sie es mir nicht übel, Thad -, aber das war doch keine geheime Verschlußsache oder ein großes militärisches Geheimnis.«
»Ich nehme es ihnen nicht übel«, sagte Thad. »Im Gegenteil - ich bin ganz Ihrer Meinung.«
»Stark hatte eine Menge Fans«, sagte Liz. »Einige von ihnen waren wütend, als sie erfuhren, daß Thad keine Stark-Romane mehr schreiben würde. People hat etliche Leserbriefe bekommen und Thad einen ganzen Waschkorb voll. Eine Dame ist sogar so weit gegangen zu wünschen, Alexis Machine würde aus der Versenkung auftauchen und es Thad heimzahlen.«
»Wer ist Alexis Machine?« Alan hatte sein Notizbuch wieder hervorgezogen.
Thad grinste.
»Schwach, schwach, mein lieber Inspektor. Machine ist nur eine Romanfigur in zweien der Bücher, die George geschrieben hat. Dem ersten und dem letzten.«
»Eine Fiktion von einer Fiktion«, sagte Alan und steckte das Notizbuch wieder weg. »Großartig.«
Thad blickte ein wenig verblüfft drein. »Eine Fiktion von einer Fiktion«, sagte er. »Das ist gar nicht schlecht. Ganz und gar nicht schlecht.«
»Wie wäre es damit?« sagte Liz. »Vielleicht hat Clawson einen Freund - immer vorausgesetzt, daß Kriechozoiden überhaupt Freunde haben -, der ein fanatischer Stark-Fan war. Vielleicht wußte er, daß es im Grunde Clawsons Schuld war, daß das Geheimnis gelüftet wurde, und war dermaßen wütend darüber, daß es nun keine Stark-Romane mehr geben würde, daß er...« Sie seufzte, betrachtete einen Moment ihre Bierflasche, dann hob sie den Kopf wieder.
»Aber das ist ziemlich dürftig, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Alan, dann sah er Thad an. »Sie sollten jetzt auf den Knien liegen und Gott für Ihr Alibi danken, selbst wenn Sie es vorher noch nicht für nötig hielten. Ihnen ist doch klar, daß Sie damit erst recht verdächtig sind?«
»Ja, ich glaube, in gewisser Hinsicht schon«, pflichtete Thad ihm bei. »Thad Beaumont hat zwei Bücher geschrieben, die kaum jemand liest. Das zweite, das vor elf Jahren erschienen ist, hat nicht einmal bei den Kritikern Anklang gefunden. Sie brachten nicht einmal soviel ein, daß die höchst bescheidenen Vorschüsse abgedeckt wurden; und es ist fraglich, ob sein nächstes Buch gedruckt werden wird, so wie die Dinge in der Branche liegen. Stark dagegen scheffelt Geld. In bescheidenen Ausmaßen, aber immerhin ungefähr viermal so viel, wie ich im Jahr als Professor verdiene. Da kommt dieser Clawson mit seiner sorgfältig formulierten Erpressungsdrohung. Ich mache ihm einen Strich durch die Rechnung, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als die Sache selbst publik zu machen. Kurze Zeit später wird Clawson ermordet. Es sieht aus wie ein großartiges Motiv, aber es ist keins. Es hat wenig Sinn, einen Erpresser umzubringen, nachdem man das Geheimnis selbst aufgedeckt hat.«
»Ja, aber Rache wäre denkbar.«
»Kann sein - aber nur, wenn Sie den Rest der Geschichte außer acht lassen. Was Liz Ihnen erzählt hat, trifft voll und ganz zu. Stark ging ohnehin der Sprit aus. Vielleicht hätte es noch ein weiteres Buch gegeben, aber nur eines. Und einer der Gründe dafür, daß Rick keinerlei Einwände hatte, war der, daß er es wußte. Und er hatte recht, was die Publicity anging. Der Artikel in People, so schwachsinnig er war, hat Wunder gewirkt. Rick sagte mir, daß Riding to Babylon nahe daran ist, wieder auf der Bestsellerliste zu erscheinen, und daß alle Stark-Romane gut verkauft werden. Dutton erwägt sogar, The Sudden Dancers und Purple Haze neu aufzulegen. Wenn Sie es unter diesem Blickwinkel betrachten, hat Clawson mir einen Gefallen getan.«
»Und wo stehen wir damit?« fragte Alan.
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß«, erwiderte Thad.
In das darauffolgende Schweigen hinein sagte Liz mit leiser Stimme »Es ist ein Krokodiljäger. Ich mußte gerade heute morgen an diese Leute denken. Es ist ein Krokodiljäger, und er ist total übergeschnappt.«
»Ein Krokodiljäger?« fragte Alan verwundert.
Liz erläuterte Thads »Besichtigungs-Syndrom des lebendigen Krokodils«. »Es ist möglich, daß es ein verrückter Fan war. Das ist nicht völlig abwegig, wenn man an den Mann denkt, der John Lennon ermordet hat, und an den, der versuchte, Ronald Reagan zu erschießen. Es gibt viele solche Leute. Und wenn Clawson so viel über Thad herausfinden konnte, hätte auch jemand anders eine Menge über Clawson herausfinden können.«
»Aber warum sollte ein solcher Mensch mich zum Schuldigen stempeln wollen, wenn er von meinen Büchern so angetan ist?« fragte Thad.
»Nicht von deinen Büchern«, erklärte Liz mit Nachdruck. »Stark ist derjenige, den der Kerl liebt. Dich haßt er vermutlich ebenso, wie er Clawson gehaßt hat. Du hast gesagt, du wärest froh, daß Stark tot ist. Das könnte für einen Wahnsinnigen Grund genug sein, dich zum Mörder zu stempeln.«
»Die Geschichte will mir trotzdem nicht in den Kopf«, sagte Alan. »Die Fingerabdrücke...«
»Sie sagen, Fingerabdrücke wären noch nie kopiert oder manipuliert worden, Alan, aber da sie sich an beiden Tatorten fanden, muß es eine Methode geben. Es ist die einzige Erklärung.«
Thad hörte sich selbst sagen: »Nein, du irrst dich, Liz. Wenn es einen solchen Kerl gibt, dann muß es nicht nur so sein, daß er Stark liebt.« Er blickte auf seine Arme herab und sah, daß sie mit einer Gänsehaut bedeckt waren.
»Nein?« fragte Alan.
Thad schaute sie beide an.
»Ist euch schon der Gedanke gekommen, daß derjenige, der Homer Gamache und Frederick Clawson umbrachte, glaubt, daß er George Stark ist?«

4

Auf den Stufen vor der Haustür sagte Alan: »Ich halte Sie auf dem laufenden, Thad.« In der Hand hielt er Fotokopien von Frederick Clawsons beiden Briefen, die Thad auf dem Kopierer in seinem Arbeitszimmer gemacht hatte. Thad kam der Gedanke, daß die Tatsache, daß Alan Fotokopien akzeptiert hatte, anstatt auf der Herausgabe der Originale zu bestehen, das deutlichste Anzeichen dafür war, daß er seinen Verdacht vollständig oder zum größten Teil über Bord geworfen hatte.
»Und kommen zurück, um mich zu verhaften, wenn Sie das Hintertürchen in meinem Alibi gefunden haben?« fragte Thad lächelnd.
»Ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird. Ich bitte Sie lediglich darum, daß Sie mich auf dem laufenden halten.«
»Sie meinen, falls sich irgend etwas tut?«
»Ja, das meine ich.«
»Es tut mir leid, daß wir Ihnen nicht mehr helfen konnten«, sagte Liz.
Alan lächelte. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch einen Tag bleiben sollte, was eine weitere Nacht in einem Zimmer des Ramada Inn bedeutet hätte, oder ob ich nach Castle Rock zurückfahre. Ich fahre zurück, und zwar noch heute abend. Meine Frau fühlt sich in letzter Zeit nicht recht wohl.«
»Nichts Ernstes, hoffe ich«, sagte Liz.
»Migräne«, erklärte Alan knapp. Er setzte sich in Bewegung, dann drehte er sich noch einmal um. »Da ist noch etwas.«
Thad warf Liz einen gespielt verzweifelten Blick zu. »Jetzt kommt es«, sagte er. »Der Zeigefinger des alten Columbo im verknautschten Regenmantel.«
»Nichts dergleichen«, sagte Alan, »aber die Polizei in Washington hat im Clawson-Mord etwas zurückgehalten. Das ist allgemein üblich; es hilft, die Spinner auszusondern, die gern Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben. An der Wand in Clawsons Wohnung stand etwas geschrieben.« Alan zögerte und setzte dann fast entschuldigend hinzu: »Zum Schreiben wurde das Blut des Opfers benutzt. Wenn ich Ihnen sage, was dort stand - geben Sie mir Ihr Wort drauf, daß Sie es für sich behalten werden?«
Sie nickten.
»An der Wand stand >Die Sperlinge fliegen wieder<. Sagt das einem von Ihnen etwas?«
»Nein«, sagte Liz.
»Nein«, sagte Thad nach ganz kurzem Zögern mit unbeteiligt klingender Stimme.
Einen Augenblick lang ruhte Alans Blick auf Thads Gesicht. »Sind Sie ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
Alan seufzte. »Ich hatte mir keine große Hoffnungen gemacht, aber es schien mir einen Versuch wert. In dieser Sache gibt es so viele verrückte Querverbindungen, und das hätte gleichfalls eine sein können. Gute Nacht, Thad, Liz. Denken Sie daran, sich zu melden, wenn sich irgend etwas tut.«
»Wird gemacht«, sagte Liz.
»Sie können sich darauf verlassen«, pflichtete Thad ihr bei.
Einen Moment später waren sie wieder im Haus und hatten die Tür zugemacht, womit sie Alan Pangborn ebenso ausgeschlossen hatten wie die Dunkelheit, in der er seine lange Heimfahrt antreten würde.