SIEBENTES KAPITEL
Polizeiangelegenheiten
1
Als die Polizei kam, saß Thad in seinem
Arbeitszimmer und schrieb.
Liz war im Wohnzimmer und las, während sich Wendy
und William in ihrem großen Laufstall miteinander vergnügten. Sie
ging zur Tür und schaute durch eines der schmalen Seitenfenster
hinaus, bevor sie öffnete. Das war eine Gewohnheit, die sie seit
Thads »Debüt in People«, wie sie es scherzhaft nannten, angenommen
hatte. Alle möglichen Leute - zum größten Teil flüchtige Bekannte,
dazu eine gute Portion neugieriger Ortsansässiger und sogar ein
paar völlig Fremde (übrigens ausschließlich Stark-Fans) - waren an
ihrer Haustür aufgetaucht. Thad hatte es das »Besichtigungs-Syndrom
des lebendigen Krokodils« genannt und vorausgesagt, daß es sich in
ein bis zwei Wochen wieder geben würde. Liz hoffte, daß er recht
hatte. Dennoch, fürchtete sie, könnte es sich bei einem der fremden
Besucher um einen irren Krokodiljäger handeln, einen von der Sorte
des Mörders von John Lennon, und deshalb schaute sie zuerst durch
das Seitenfenster hinaus. Sie wußte nicht, ob sie einen echten
Irren erkennen würde, wenn sie ihn vor sich sah, aber sie konnte
zumindest dafür sorgen, daß Thads Gedanken während der zwei
Stunden, die er jeden Vormittag am Schreibtisch verbrachte, nicht
abschweiften. Danach ging er selbst zur Tür, wobei er ihr immer
einen Blick zuwarf, der sie an einen schuldbewußten kleinen Jungen
erinnerte und bei dem sie nicht recht wußte, wie sie reagieren
sollte.
Bei den drei Männern, die an diesem
Samstagvormittag vor der Tür standen, handelte es sich allem
Anschein nach weder um Fans von Beaumont oder Stark noch um Irre -
es
sei denn, sie wären neuerdings dazu übergegangen, Streifenwagen
der Staatspolizei zu benutzen. Sie öffnete die Tür und verspürte
das leise Unbehagen, das die meisten unbescholtenen Bürger
empfinden, wenn die Polizei erscheint, ohne gerufen worden zu sein.
Wenn sie Kinder gehabt hätte, die bereits so groß waren, daß sie an
diesem regnerischen Samstagvormittag draußen herumtollten, hätte
sie sich vermutlich schon jetzt gefragt, ob ihnen vielleicht etwas
passiert war.
»Ja?«
»Sind Sie Mrs. Elizabeth Beaumont?« fragte einer
von ihnen.
»Ja, die bin ich. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ist Ihr Mann zu Hause, Mrs. Beaumont?« fragte ein
zweiter. Diese beiden trugen identische graue Regenmäntel und
Polizeimützen.
Nein, das ist der Geist von Ernest Hemingway,
den Sie da oben auf der Schreibmaschine hämmern hören. Diese
Antwort kam ihr in den Sinn, aber natürlich sprach sie sie
nicht aus. Zuerst kam die Angst, ob jemand einen Unfall gehabt
hatte, denn das Phantom-Schuldbewußtsein, das einen drängte, etwas
Grobes oder Sarkastisches zu sagen, etwas, das ungeachtet der
tatsächlich ausgesprochenen Worte besagte: Verschwinden Sie. Sie
sind hier unerwünscht. Wir haben nichts verbrochen. Verschwinden
Sie und suchen Sie sich jemanden, der es getan hat.
»Darf ich fragen, warum Sie ihn sprechen
möchten?«
Der dritte Polizist war Alan Pangborn.
»Polizeiangelegenheiten, Mrs. Beaumont«, sagte er.
»Können wir ihn bitte sprechen?«
2
Thad Beaumont führte nicht regelmäßig Tagebuch,
aber manchmal notierte er Ereignisse in seinem Leben, die ihn
interessierten, belustigten oder ängstigten. Er hielt derartige
Dinge in einer gebundenen Kladde fest, und seiner Frau war, obwohl
sie es nie ausgesprochen hatte, beim Gedanken
an diese Notizen immer etwas unbehaglich zumute. Die meisten von
ihnen waren seltsam leidenschaftslos und erweckten fast den
Eindruck, als stünde ein Teil von ihm abseits und kommentierte sein
Leben so, wie es sich seinem eigenen, fast gleichgültigen Blick
darbot. Nach dem Besuch der Polizei am Vormittag des 4. Juni
schrieb er eine längere Passage mit einer starken und recht
ungewöhnlichen Unterströmung von Gefühlen.
»Jetzt verstehe ich Kafkas Prozeß und
Orwells 1984 ein wenig besser. Es ist ein grober Fehler, sie
ausschließlich als politische Romane zu verstehen. Ich vermute, die
Depression, in die ich verfallen bin, nachdem ich The Sudden
Dancers beendet und festgestellt hatte, daß ich nichts mehr
schreiben konnte, war - von Liz’ Fehlgeburt abgesehen - die
schwerwiegendste emotionelle Erfahrung, die ich in meinem Leben
durchmachen mußte; aber das, was heute passiert ist, kommt mir
schlimmer vor. Vielleicht, rede ich mir ein, liegt es daran, daß
die Erinnerung noch ganz frisch ist, aber es steckt doch wesentlich
mehr dahinter. Ich glaube, wenn diese dunkle Zeit und der Verlust
meiner ersten Zwillinge im vierten Schwangerschaftsmonat verheilte
Wunden sind, von denen nur Narben zurückblieben, dann kann ich
davon ausgehen, daß auch diese Wunde verheilen wird, aber ich
glaube nicht, daß die Zeit imstande ist, sie wieder vollständig zu
glätten. Auch dies wird eine Narbe hinterlassen, die zwar kürzer,
aber auch tiefer ist - wie die Hinterlassenschaft eines plötzlichen
Messerhiebs.
Ich bin sicher, daß sich die Polizisten so
benahmen, wie es ihr Eid verlangt (wenn sie überhaupt einen ablegen
müssen, was vermutlich der Fall ist). Dennoch hatte ich das Gefühl
und habe es noch, daß ich Gefahr lief, in eine gesichtslose
bürokratische Maschine hineingezerrt zu werden, eine Maschine, die
ganz methodisch zu Werke gehen und mich in Fetzen reißen würde,
weil diese Maschine dazu da ist, Menschen in Fetzen zu reißen. Mein
Aufschrei würde die Reaktion der Maschine weder beschleunigen noch
verlangsamen.
Ich spürte, daß Liz nervös war, als sie nach oben
kam und mir sagte, die Polizei wollte mich wegen irgend etwas
sprechen, sich aber weigerte zu sagen, um was es sich handelte.
Sie sagte, einer der Polizisten wäre Alan Pangborn, der Sheriff
von Castle County. Ich bin ihm vielleicht ein- oder zweimal
begegnet, aber wiedererkannt habe ich ihn nur, weil der Castle
Rock Call von Zeit zu Zeit sein Foto gebracht hat.
Ich war neugierig und dankbar, eine Pause einlegen
und meine Schreibmaschine verlassen zu können, wo meine Romanhelden
die ganze letzte Woche darauf bestanden haben, Dinge zu tun, die
sie nicht tun sollten. Wenn ich überhaupt etwas dachte, dann
vielleicht, daß es sich um Frederick Clawson handeln könnte oder um
irgend etwas anderes im Zusammenhang mit dem People-Artikel.
Und so war es auch, allerdings nicht so, wie ich es mir vorgestellt
hatte.
Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, die Atmosphäre
der Begegnung, die dann erfolgte, richtig darzustellen. Ich weiß
nicht einmal, ob es eine Rolle spielt, aber es erscheint mir
wichtig, daß ich es versuche. Sie standen in der Diele, nicht weit
von der Treppe entfernt, drei große Männer (kein Wunder, daß manche
Leute sie Bullen nennen), und von ihren Regenmänteln tropfte das
Wasser auf den Teppich.
>Sind Sie Thaddeus Beaumont?< fragte einer
von ihnen - es war Sheriff Pangborn, und das war der Augenblick, in
dem der emotionale Umschwung einsetzte, den ich zu beschreiben
(oder zumindest anzudeuten) versuche. In die Neugier und die
Freude, von der Schreibmaschine erlöst zu sein, und sei es auch nur
für kurze Zeit, mischte sich Verwunderung. Und ein bißchen
Unbehagen. Mein voller Name, aber kein >Mister<. Wie ein
Richter, der einem Angeklagten sein Urteil verkünden will.
>Ja, der bin ich<, sagte ich, >und Sie
sind Sheriff Pangborn. Das weiß ich, weil wir ein Haus am Castle
Lake haben.< Dann streckte ich, wie jeder wohlerzogene
Amerikaner es getan hätte, die Hand aus.
Er sah sie nur an, und auf seinem Gesicht erschien
ein Ausdruck, als hätte er gerade die Tür seines Kühlschranks
geöffnet und festgestellt, daß der Fisch, den er fürs Abendessen
eingekauft hatte, verdorben war. >Ich habe nicht die Absicht,
Ihnen die Hand zu geben<, sagte er. >Sie können sie also
zurückziehen und uns beiden die Peinlichkeit ersparen.< Das war
eine überaus seltsame Bemerkung, eine regelrechte
Grobheit, aber es störte mich weniger als die Art, auf die er es
sagte. Es hörte sich an, als glaubte er, ich hätte den Verstand
verloren.
Und das bewirkte, daß ich es mit der Angst zu tun
bekam. Noch jetzt fällt es mir schwer zu glauben, wie rapide, wie
unvorstellbar rapide meine Gefühle das ganze Spektrum von
gewöhnlicher Neugier und einer gewissen Freude über die
Unterbrechung der gewohnten Routine zu nackter Angst durchliefen.
In diesem Moment wußte ich, daß sie nicht gekommen waren, um mit
mir über irgend etwas zu sprechen, sondern weil sie glaubten, daß
ich etwas verbrochen hatte, und im ersten Augenblick des
Entsetzens - >Ich habe nicht die Absicht, Ihnen die Hand zu
geben< - war ich sicher, daß das der Fall war.
Das war es, was ich festhalten muß. In dem
Augenblick der Totenstille, die auf Pangborns Weigerung, mir die
Hand zu geben, folgte, dachte ich tatsächlich, daß ich alles
verbrochen hatte - und mir nichts übrigblieb, als meine Schuld
einzugestehen.«
3
Thad ließ seine Hand langsam sinken. Aus dem
Augenwinkel heraus sah er Liz, deren zusammengekrampfte Hände wie
ein harter weißer Ball zwischen ihren Brüsten lagen, und plötzlich
wäre er gern wütend gewesen auf diesen Cop, der anstandslos in sein
Haus eingelassen worden war und sich dann weigerte, ihm die Hand zu
geben. Den Cop, dessen Gehalt, zumindest zu einem kleinen Teil, aus
den Steuern bezahlt wurde, die die Beaumonts auf ihr Haus in Castle
Rock zahlten. Den Cop, der Liz ängstigte. Den Cop, der ihn
ängstigte.
»Wie Sie wollen«, sagte Thad gelassen. »Wenn Sie
mir schon nicht die Hand geben wollen, dann erklären Sie mir
vielleicht wenigstens, warum Sie hier sind.«
Im Gegensatz zu den Staatspolizisten trug Alan
Pangborn keinen Regenmantel, sondern eine wasserdichte Jacke, die
ihm nur bis zur Hüfte reichte. Er griff in die Innentasche, zog
eine Karte heraus und begann, sie abzulesen. Es dauerte einen
Moment, bis Thad begriffen hatte, daß er eine Version der vom
Gesetz vorgeschriebenen Warnung hörte.
»Wie Sie sagten, ist mein Name Alan Pangborn, Mr.
Beaumont. Ich bin Sheriff von Castle County, Maine. Ich bin hier,
weil ich Sie im Zusammenhang mit einem Kapitalverbrechen verhören
muß. Das Verhör wird auf dem Revier der Staatspolizei in Orono
geführt. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern...«
»Großer Gott«, sagte Liz, und praktisch
gleichzeitig hörte Thad sich sagen: »Moment mal. Einen Moment.« Er
beabsichtigte, die Worte herauszubrüllen, aber obwohl sein
Gehirn seine Lungen aufforderte, die Lautstärke auf das Gedröhn zu
steigern, mit dem er im Hörsaal für Ruhe sorgte, brachte er nicht
mehr hervor als einen sanften Einwand, den Pangborn mühelos
beiseite wischte.
»... und Sie haben das Recht auf juristischen
Beistand. Wenn Ihre Mittel das nicht erlauben, wird Ihnen ein
Anwalt gestellt.«
Er steckte die Karte wieder in die Tasche.
»Thad?« Liz drängte sich an ihn wie ein kleines
Kind, das Angst vor einem Gewitter hat. Ihre weit aufgerissenen
Augen starrten Pangborn an. Zwischendurch wanderte ihr Blick immer
wieder zu den Staatspolizisten, die ihr so groß vorkamen, daß sie
als Verteidiger in einer Profi-Football-Mannschaft hätten spielen
können, aber die meiste Zeit ruhte er auf Pangborn.
»Ich gehe mit ihnen nirgendwo hin«, sagte Thad.
Seine Stimme bebte, zitterte auf und ab, schlug um wie die eines
Jungen im Stimmbruch. Er versuchte immer noch, wütend zu sein. »Ich
glaube nicht, daß Sie mich dazu zwingen können.«
Einer der Staatspolizisten räusperte sich. »Die
Alternative, Mr. Beaumont«, sagte er, »besteht darin, daß wir
zurückfahren und uns einen Haftbefehl holen. In Anbetracht der
Informationen, über die wir verfügen, wäre das allerdings eine
Kleinigkeit.«
Er warf einen Blick auf Pangborn.
»Vielleicht ist es nur fair zu sagen, daß Sheriff
Pangborn von uns verlangt hat, daß wir den Haftbefehl gleich
mitbringen. Er hatte gute Argumente dafür, und wahrscheinlich hätte
er seinen Willen durchgesetzt, wenn Sie nicht - eine so bekannte
Persönlichkeit wären.«
Pangborn blickte angewidert drein, vielleicht wegen
dieses Umstands, vielleicht deswegen, weil der Staatspolizist Thad
über diesen Umstand informierte, wahrscheinlich wegen beidem.
Der Staatspolizist bemerkte den Blick, scharrte mit
den nassen Füßen, als wäre er verlegen, sprach aber trotzdem
weiter. »Wie die Dinge liegen, macht es mir nichts aus, Sie das
wissen zu lassen.« Er schaute fragend zu seinem Partner, der
nickte. Pangborn blickte weiter angewidert drein. Und wütend. Er
sieht aus, dachte Thad, als würde er mir am liebsten mit den
Fingernägeln den Bauch aufreißen und mir die Därme um den Kopf
wickeln.
»Das klingt sehr professionell«, sagte Thad.
Die Feststellung, daß er aber zumindest einen Teil seiner Fassung
zurückgewonnen hatte, erleichterte ihn. Er wollte wütend sein, weil
Wut die Angst gemildert hätte, aber er kam über den Zustand der
Bestürzung nicht hinaus. »Aber es läßt die Tatsache, daß ich keine
Ahnung habe, welche Dinge wie liegen, völlig außer acht.«
»Wenn wir glaubten, daß das der Fall ist, wären wir
nicht hier, Mr. Beaumont«, sagte Pangborn. Der Ausdruck des
Abscheus auf seinem Gesicht schaffte, was Thad von sich aus nicht
gelungen war. Jetzt war Thad plötzlich wütend.
»Was Sie glauben, ist mir völlig egal!« sagte Thad.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich weiß, wer Sie sind, Sheriff
Pangborn - meine Frau und ich haben ein Sommerhaus in Castle Rock,
seit 1973 - also seit lange vor der Zeit, zu der Sie zum ersten Mal
von diesem Ort gehört haben. Ich weiß nicht, was Sie hier wollen,
an die hundertsechzig Meilen von Ihrem Bezirk entfernt, oder
weshalb Sie mich mustern, als wäre ich ein Spritzer Vogeldreck auf
einem neuen Wagen, aber eines kann ich ihnen sagen - solange ich
das nicht weiß, begleite ich Sie nirgendwohin. Wenn Sie meinen,
einen Haftbefehl zu brauchen, dann ziehen Sie los und besorgen Sie
einen. Aber
dann werden Sie feststellen, daß Sie bis zum Hals in einem Kessel
mit heißer Scheiße sitzen, und ich sitze darunter und schüre das
Feuer. Weil ich nämlich nichts verbrochen habe. Das ist unerhört.
Das ist - verdammt - unerhört!«
Jetzt hatte seine Stimme die volle Lautstärke
erreicht, und die beiden Staatspolizisten schauten ein wenig
verschüchtert drein. Pangborn nicht. Er fuhr nur fort, Thad auf
diese beunruhigende Art zu mustern.
Im Nebenzimmer begann eines der Kinder zu
weinen.
»Großer Gott«, stöhnte Liz. »Was soll das alles?
Sagen Sie es uns!«
»Kümmere dich um die Kinder, Baby«, sagte Thad,
ohne den Blick von Pangborn abzuwenden.
»Aber...«
»Bitte«, sagte er, und nun weinten beide Kinder.
»Das kommt schon in Ordnung.«
Sie bedachte ihn mit einem letzten unsicheren
Blick, ihre Augen sagten Versprichst du mir das?, dann ging
sie ins Wohnzimmer.
»Wir müssen Sie im Zusammenhang mit dem Mord an
Homer Gamache verhören«, sagte der zweite Staatspolizist.
Thad hörte auf, Pangborn anzustarren, und wendete
seinen Blick dem Staatspolizisten zu. »An wem?«
»Homer Gamache«, wiederholte Pangborn. »Wollen Sie
etwa behaupten, der Name sagt Ihnen nichts, Mr. Beaumont?«
»Natürlich nicht«, sagte Thad verblüfft. »Homer
bringt unseren Müll auf den Schuttabladeplatz, wenn wir in Castle
Rock sind. Macht kleine Reparaturen an unserem Haus. Er hat in
Korea einen Arm verloren und dafür den Silver Star bekommen.«
»Den Bronze Star«, sagte Pangborn eisig.
»Homer ist tot? Wer hat ihn umgebracht?«
Jetzt sahen sich die beiden Staatspolizisten
überrascht an. Nach Kummer ist Verblüffung vielleicht das Gefühl,
das sich am schwersten vortäuschen läßt.
Der erste Staatspolizist erwiderte mit seltsam
sanfter Stimme: »Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß Sie es
getan haben, Mr. Beaumont. Deshalb sind wir hier.«
4
Thad sah ihn einen Augenblick lang völlig
fassungslos an, dann lachte er. »Himmel. Herr im Himmel. Das ist ja
Wahnsinn.«
»Wollen Sie sich einen Mantel holen, Mr. Beaumont?«
fragte der andere Staatspolizist. »Draußen regnet es ziemlich
stark.«
»Ich gehe nirgendwo mit hin«, wiederholte Thad
geistesabwesend, ohne den Ausdruck von Wut und Erbitterung, der
plötzlich auf Pangborns Gesicht erschienen war, zur Kenntnis zu
nehmen. Er dachte nach.
»Das werden Sie leider müssen«, sagte Pangborn.
»Auf diese oder auf die andere Art.«
»Dann muß es eben die andere sein«, sagte er, und
dann löste er sich aus seiner Gedankenversunkenheit. »Wann ist das
passiert?«
»Mr. Beaumont«, sagte Pangborn. Er sprach langsam
und sorgfältig formulierend, als wendete er sich an einen
Vierjährigen, und zwar einen nicht sonderlich intelligenten. »Wir
sind nicht hier, um Ihnen Informationen zu geben.«
Liz kehrte mit den Zwillingen zurück. Aus ihrem
Gesicht war alle Farbe gewichen; ihre Stirn leuchtete grellweiß.
»Das ist Irrsinn«, sagte sie. Sie ließ den Blick von Pangborn zu
den Staatspolizisten und wieder zurück zu Pangborn wandern.
»Totaler Irrsinn. Wissen Sie das nicht?«
»Hören Sie«, sagte Thad, trat zu Liz und legte
einen Arm um sie, »ich habe Homer nicht umgebracht, Sheriff
Pangbom, aber ich verstehe jetzt, warum Sie so wütend sind. Kommen
Sie mit in mein Arbeitszimmer. Dort können wir uns hinsetzen und
zusehen, ob wir etwas Licht in diese Angelegenheit
bringen...«
»Holen Sie Ihren Mantel«, sagte Pangborn. Dann
wendete er sich an Liz. »Entschuldigen Sie die harten Worte, aber
inzwischen habe ich so ziemlich allen Scheiß gehört, den ich an
einem regnerischen Samstagvormittag verkraften kann. Mr. Beaumont,
Sie kommen mit.«
Thad schaute zu dem älteren der beiden
Staatspolizisten. »Können Sie diesen Mann nicht zur Vernunft
bringen? Ihm
sagen, daß er sich eine Menge Ärger und Peinlichkeit ersparen
kann, nur indem er mir mitteilt, wann Homer ermordet wurde. Und wo.
Wenn es in Castle Rock war - und ich kann mir nicht vorstellen, was
Homer hier zu suchen gehabt hätte -, so kann ich nur sagen: ich bin
die letzten zweieinhalb Monate nicht aus Ludlow herausgekommen,
ausgenommen meine Fahrten zur Universität.« Er sah zu Liz hinüber,
die nickte.
Der Staatspolizist dachte kurz nach, dann sagte er:
»Entschuldigen Sie uns ein paar Minuten.«
Die drei Männer durchquerten die Diele. Es hatte
fast den Anschein, als würde Pangborn von den beiden
Staatspolizisten geführt. Sie gingen durch die Vordertür hinaus.
Sobald sie ins Schloß gefallen war, überschüttete ihn Liz mit einer
Fülle fassungsloser Fragen. Thad kannte sie gut genug, um zu
wissen, daß ihre Bestürzung die Form von Empörung über die Cops -
sogar Wut auf sie - angenommen hätte, wenn sie nicht erfahren
hätte, daß Homer Gamache ermordet worden war. Sie war den Tränen
nahe.
»Das kommt schon wieder ins Lot«, sagte er und
küßte sie auf die Wange. Dann küßte er auch William und Wendy, die
aussahen, als fühlten sie sich nicht wohl in ihrer Haut. »Ich
glaube, die Staatspolizisten wissen bereits, daß ich die Wahrheit
sage, oder sind zumindest halbwegs davon überzeugt. Pangborn - nun
ja, er kannte Homer. Du hast ihn auch gekannt. Er hat einfach eine
Mordswut.« Und seinem Verhalten nach zu urteilen, muß er
irgendwelche unumstößlichen Beweise haben, die mich mit dem Mord in
Verbindung bringen, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Er durchquerte die Diele und blickte wie zuvor Liz
durch das kleine Seitenfenster hinaus. Unter anderen Umständen wäre
das, was er da sah, komisch gewesen. Die drei Männer standen auf
dem Vorplatz, fast, aber nicht ganz vor dem Regen geschützt, und
diskutierten hitzig. Thad konnte zwar ihre Stimmen hören, aber
nicht verstehen, was gesprochen wurde. Die beiden Staatspolizisten
redeten auf Pangborn ein, der den Kopf schüttelte und eine wütende
Erwiderung von sich gab.
Thad kehrte zu Liz zurück.
»Was machen sie?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Thad, »aber ich glaube,
die beiden Staatspolizisten versuchen, Pangborn dazu zu bringen,
daß er mir sagt, warum sie so sicher sind, daß ich Homer Gamache
ermordet habe. Oder zumindest einen Teil des Warum.«
»Armer Homer«, sagte sie. »Das Ganze kommt mir vor
wie ein böser Traum.«
Er nahm ihr William ab und sagte ihr noch einmal,
sie solle sich keine Sorgen machen.
5
Ungefähr zwei Minuten später kamen die Polizisten
wieder herein. Pangborns Gesicht war eine Gewitterwolke. Thad
vermutete, daß die Cops Pangborn gesagt hatten, was er bereits
wußte, aber nicht zugeben wollte: der Schriftsteller zeigte keine
Spur jener Nervosität, die auf Schuld hindeutete.
»Also gut«, sagte Pangborn.
Er versucht, Schroffheit zu vermeiden, dachte Thad,
und es gelingt ihm halbwegs. Nicht ganz, aber immerhin halbwegs.
Eine gute Leistung in Anbetracht der Tatsache, daß er seinen
Hauptverdächtigen für den Mord an einem einarmigen alten Mann vor
sich bat. »Diese Herren wünschen, daß ich Ihnen hier wenigstens
eine Frage stelle, Mr. Beaumont, und das werde ich tun. Können Sie
mir sagen, wo Sie sich in der Zeit vom 31. Mai, 23 Uhr, bis zum 1.
Juni, 4 Uhr morgens, aufgehalten haben?«
Thad und Liz wechselten einen Blick, und Thad
spürte, wie sich ein großes Gewicht auf seinem Herzen lockerte. Es
fiel nicht ganz ab, noch nicht, aber ihm war, als wären alle
Riemen, die dieses Gewicht hielten, gelöst worden. Jetzt fehlte nur
noch ein kräftiger Stoß.
»War es der Tag?« fragte er seine Frau. Er glaubte,
daß er es war, aber er hatte das Gefühl, daß es einfach zu gut war,
um wahr zu sein.
»Ich bin ganz sicher«, erwiderte Liz. »Der
einunddreißigste, sagten Sie, Sheriff?« Sie sah Pangborn mit
hoffnungsvollem Lächeln an.
Pangborn erwiderte ihren Blick voller Argwohn. »Ja,
Madam. Aber ich fürchte, Ihre unbewiesene Aussage wird
nichts...«
Sie achtete nicht auf seine Worte, sondern zählte
an den Fingern rückwärts. Plötzlich grinste sie. »Dienstag!
Dienstag war der einunddreißigste!« rief sie. »Gott sei
Dank!«
Pangborn blickte verwirrter und wütender drein als
je zuvor; die Staatspolizisten waren nur verwirrt. »Wollen Sie uns
sagen, was Sie meinen, Mrs. Beaumont?«
»Am Abend des einunddreißigsten hatten wir hier
eine Party!« erwiderte sie und bedachte Pangborn mit einem Blick,
der Triumph und heftige Abneigung verriet. »Wir hatten das ganze
Haus voller Gäste. War es nicht so, Thad?«
»Es war so.«
»In einem Fall wie diesem ist ein gutes Alibi eher
eine Veranlassung zum Argwohn«, sagte Pangborn, aber er blickte
noch verwirrter drein.
»Was sind Sie doch für ein törichter, arroganter
Mann!« rief Liz. Ihre Wangen waren jetzt lebhaft gerötet. Die Angst
war gewichen, Zorn trat an ihre Stelle. Sie wendete sich an die
Staatspolizisten. »Wenn mein Mann kein Alibi für die Tat hat, die
er begangen haben soll, nehmen Sie ihn mit aufs Revier! Wenn er
eines hat, dann sagt dieser Mann, das bedeutete wahrscheinlich nur,
daß er es trotzdem getan hat! Was ist los - fürchten Sie sich vor
ein bißchen ehrlicher Arbeit? Weshalb sind Sie überhaupt
hier?«
»Laß das, Liz«, sagte Thad ruhig. »Sie haben gute
Gründe für ihr Hiersein. Wenn Sheriff Pangborn sich seiner Sache
nicht so sicher wäre und nur auf blauen Dunst hin handelte, wäre er
allein gekommen.«
Pangborn bedachte ihn mit einem verdrossenen Blick,
dann seufzte er. »Erzählen Sie uns von der Party, Mr.
Beaumont.«
»Wir haben sie für Tom Carroll gegeben«, sagte er.
»Tom hat neunzehn Jahre lang der Englischen Fakultät der
Universität angehört und war in den letzten fünf Jahren ihr
Chairman.
Am 27. Mai, an dem das akademische Jahr offiziell endete, ist er
in Pension gegangen. Deshalb haben wir für ihn und seine Frau eine
Abschiedsparty gegeben.«
»Wie lange hat die Party gedauert?«
Thad grinste. »Nun, sie war vor vier Uhr morgens zu
Ende, aber nicht viel früher. Wenn sie einen Haufen
Englischprofessoren mit einem fast unerschöpflichen Vorrat an
Getränken zusammenbringen, können Sie ein ganzes Wochenende auf den
Kopf hauen. Die ersten Gäste trafen gegen acht ein, und wer waren
die letzten, Liebling?«
»Rawlie DeLesseps und diese junge
Geschichtsprofessorin, mit der er liiert ist«, sagte sie. »Die, die
allen Leuten verkündet >Nennen Sie mich einfach Billy, das tut
jeder<.«
»Stimmt«, sagte Thad. »Widerliche Person.«
Er lügt, und wir wissen es beide, besagte Pangborns
Blick ganz deutlich. »Und wann sind diese Freunde gegangen?«
Thad schauderte ein wenig. »Freunde? Rawlie, ja.
Aber diese Person ganz bestimmt nicht.«
»Gegen zwei«, sagte Liz.
Thad nickte. »Es muß mindestens zwei Uhr gewesen
sein, als wir sie zur Tür brachten. Es fehlte nicht viel, daß wir
sie hinauswarfen. Wie ich bereits andeutete - ich werde dem
Wilhelmina-Burks-Fanclub erst beitreten, wenn es in der Hölle
schneit, aber ich hätte trotzdem darauf bestanden, daß die beiden
bei uns übernachteten, wenn sie mehr als drei Meilen zu fahren
gehabt hätten oder es früher gewesen wäre. Aber um diese Zeit sind
an einem Dienstagabend - Entschuldigung, Mittwochmorgen - die
Straßen völlig leer. Abgesehen vielleicht von ein paar Rehen, die
über die Gärten herfallen.« Er machte abrupt den Mund zu. Vor
Erleichterung wäre er fast ins Schwatzen geraten.
Es folgte ein Moment der Stille. Die beiden
Staatspolizisten betrachteten den Fußboden. Auf Pangborns Gesicht
lag ein Ausdruck, den Thad nicht recht deuten konnte - er glaubte
nicht, ihn je zuvor wahrgenommen zu haben. Nicht Enttäuschung,
obwohl Enttäuschung ein Teil davon war.
Was zum Teufel geht hier vor sich?
»Nun, das ist recht überzeugend, Mr. Beaumont«,
sagte Pangborn schließlich, »aber noch lange nicht hieb- und
stichfest.
Was die Zeit angeht, zu der Sie dieses letzte Paar zur Tür
brachten, haben wir Ihre Behauptung und die ihrer Frau -
beziehungsweise ihre Schätzung. Wenn Ihre letzten Gäste so voll
waren, wie Sie zu glauben scheinen, dürften sie kaum in der Lage
sein, Ihre Aussage zu bestätigen. Und wenn dieser DeLesseps
wirklich ein guter Freund von Ihnen ist, dann erklärt er
vielleicht... wer weiß?«
Dennoch verlor Pangborn den Wind aus den Segeln.
Thad sah es und glaubte - nein, wußte - es, und den
Staatspolizisten erging es nicht anders. Dennoch war der Mann nicht
bereit aufzugeben. Die Angst, die Thad zuerst gefühlt hatte, und
die Wut, die darauf gefolgt war, verwandelten sich in Faszination
und Neugierde. Ihm war, als hätte er noch nie erlebt, wie
Unsicherheit, Verwirrung und felsenfeste Überzeugung dermaßen
miteinander im Kampf lagen. Die Tatsache der Party - und er mußte
sie als leicht zu überprüfende Tatsache akzeptieren - hatte ihn
erschüttert, aber nicht überzeugt. Auch die Staatspolizisten waren
nicht voll und ganz überzeugt. Der Unterschied bestand nur darin,
daß sie der Angelegenheit gelassener gegenüberstanden. Sie hatten
Homer Gamache nicht gekannt und nahmen deshalb nicht persönlich
Anteil. Pangborn hatte ihn gekannt und war unmittelbar
betroffen.
Ich habe ihn auch gekannt, dachte Thad.
Also bin ich vielleicht auch unmittelbar betroffen. Abgesehen
davon natürlich, daß es um meine Haut geht.
»Sehen Sie«, sagte er geduldig. Er sah Pangborn
unverwandt in die Augen und versuchte, dessen Feindseligkeit nicht
mit gleicher Münze heimzuzahlen. »Machen wir Nägel mit Köpfen, wie
meine Studenten zu sagen pflegen. Sie haben gefragt, ob wir
eindeutig beweisen können, wo wir uns in der Nacht vom
einunddreißigsten Mai auf den ersten Juni aufgehalten
haben...«
»Wo Sie sich aufgehalten haben, Mr.
Beaumont«, sagte Pangborn.
»Okay, wo ich mich aufgehalten habe. Fünf
ziemlich problematische Stunden, in denen die meisten Leute im Bett
liegen. Durch nichts als pures Glück sind wir - bin ich,
wenn Ihnen das lieber ist - in der Lage, über mindestens drei
dieser
fünf Stunden Rechenschaft abzulegen. Vielleicht sind Rawlie und
seine widerliche Freundin um zwei gegangen, vielleicht auch halb
zwei oder Viertel nach zwei. Auf jeden Fall war es sehr spät.
Das werden sie bestätigen, und die Burks würde mir bestimmt
kein Alibi zurechtlügen. Ich glaube, wenn Billie Burks mich halb
ertrunken am Strand liegen sähe, würde sie mir noch einen Eimer
Wasser über den Kopf gießen.«
Liz bedachte ihn mit einem eigentümlich
verschmitzten Lächeln, als sie ihm William abnahm, der unruhig zu
werden begann. Anfangs verstand er nicht, was dieses Lächeln zu
bedeuten hatte, doch dann fiel es ihm ein. Es waren natürlich die
Worte ein Alibi zurechtlügen, eine Redewendung, deren sich
Alexis Machine, der Erzschurke der George-Stark-Romane,
gelegentlich bediente. Das war wirklich merkwürdig; er konnte sich
nicht erinnern, jemals eine der für Stark typischen Formulierungen
in einem Gespräch verwendet zu haben. Aber andererseits war er ja
auch nie des Mordes beschuldigt worden, und Mord war nun einmal
George Starks Domäne.
»Selbst wenn wir annehmen, daß wir uns um eine
Stunde geirrt haben und sie schon um eins gegangen sind, und wenn
wir weiter annehmen, daß ich eine Minute - eine Sekunde,
nachdem sie um die Ecke gebogen waren, in meinen Wagen gesprungen
und wie ein Wahnsinniger nach Castle Rock gerast wäre, hätte ich
keinesfalls vor halb fünf oder fünf dort eintreffen können. In
Richtung Westen gibt es keine Schnellstraße, wie Sie wissen.«
Einer der Staatspolizisten sagte: »Und diese Mrs.
Arsenault sagte, es wäre Viertel vor eins gewesen, als
sie...«
»Das tut hier nichts zur Sache«, unterbrach ihn
Pangborn schnell.
Liz gab einen erbitterten Laut von sich, und Wendy
horchte interessiert auf. William auf ihrem anderen Arm war in die
Betrachtung seiner Finger versunken. Zu Thad sagte sie: »Um eins
war noch ein ganzer Haufen Leute da.«
Dann holte sie zum Schlag gegen Pangborn aus.
»Was ist eigentlich los mit Ihnen, Sheriff? Warum
sind Sie so finster entschlossen, meinem Mann diesen Mord
anzuhängen?
Sind Sie beschränkt? Oder faul? Oder boshaft? Sie machen nicht den
Eindruck, als wären sie etwas von alledem, aber Ihr Verhalten ist
mir schleierhaft. Vielleicht war es eine Lotterie. War es das?
Haben Sie seinen Namen aus irgendeinem Zylinder gezogen?«
Pangborn fuhr ein wenig zusammen, von ihrer
wütenden Attacke offensichtlich überrascht und bestürzt. »Mrs.
Beaumont...«
»Ich fürchte, ich befinde mich im Vorteil,
Sheriff«, sagte Thad. »Sie glauben, ich hätte Homer Gamache
ermordet...«
»Mr. Beaumont, wir haben keine Anklage
erhoben...«
»Nein. Aber Sie glauben es, nicht wahr?«
Massive Ziegelröte - nicht von Verlegenheit,
sondern von Enttäuschung hervorgebracht - war langsam auf Pangborns
Wangen hochgestiegen, wie die Quecksilbersäule in einem
Thermometer.
»Ja«, sagte er, »das glaube ich. Trotz allem, was
Sie und Ihre Frau gesagt haben.«
Diese Antwort verblüffte Thad. Was mochte
vorgefallen sein, daß sich dieser Mann (der, wie Liz gesagt hatte,
ganz und gar keinen beschränkten Eindruck machte) seiner Sache so
sicher war? So verdammt sicher?
Thad spürte, wie ihn ein Schauder überlief - und
dann geschah etwas Seltsames. Einen Augenblick lang erfüllte ein
Phantomgeräusch sein Denken - nicht seinen Kopf, sondern sein
Denken. Es war ein Geräusch, mit dem sich ein fast
schmerzhaftes Empfinden von dejà vu verband, denn es war
fast dreißig Jahre her, seit er es zum letztenmal gehört hatte. Es
war das gespenstische Tschilpen von Hunderten, vielleicht Tausenden
von kleinen Vögeln.
Er hob eine Hand zur Stirn und berührte die kleine
Narbe, die sich dort befand, und wieder überkam ihn das Schaudern,
diesmal stärker, wie ein Draht, der durch sein Fleisch fuhr.
Lüg mir ein Alibi zurecht, George, dachte
er. Ich stecke in der Klemme, also lüg mir ein Alibi
zurecht.
»Thad?« fragte Liz. »Fehlt dir etwas?«
»Wie bitte?« Er drehte sich zu ihr um.
»Du bist so blaß.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er, und so war es.
Das Geräusch war verschwunden. Wenn es überhaupt dagewesen
war.
Er wendete sich wieder an Pangborn.
»Wie ich schon sagte, befinde ich mich in dieser
Sache in einem gewissen Vorteil. Sie glauben, ich hätte Homer
ermordet. Aber ich weiß, daß ich es nicht getan habe. Außer in
Büchern habe ich noch nie einen Menschen umgebracht.«
»Mr. Beaumont...«
»Ich verstehe Ihre Empörung. Er war ein netter
alter Mann unter dem Pantoffel seiner Frau, mit einem trockenen
Sinn für Humor und nur einem Arm. Auch ich bin empört. Ich werde
Ihnen helfen, wo ich nur kann, aber dazu müssen Sie auf diese
Polizei-Heimlichtuerei verzichten und mir sagen, warum Sie hier
sind - und wie Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind. Das
verstehe ich einfach nicht.«
Pangborn musterte ihn lange Zeit schweigend und
sagte dann: »Meine sämtlichen Instinkte erklären mir, daß Sie die
Wahrheit sagen.«
»Gott sei Dank«, sagte Liz. »Der Mann kommt zur
Vernunft.«
»Und wenn das der Fall ist«, fuhr Pangborn fort und
sah dabei nur Thad an, »dann knüpfe ich mir den Kerl bei A.S.R. and
I., der diesen Mist gebaut hat, persönlich vor und ziehe ihm das
Fell über die Ohren.«
»Was ist das?« fragte Liz.
»Armed Services Records and Identification«, sagte
einer der Staatspolizisten. »In Washington.«
»Ich habe noch nie erlebt, daß dort jemand Mist
gebaut hat«, fuhr Pangborn fort, ebenso nachdenklich wie zuvor. »Es
heißt, für alles gäbe es ein erstes Mal, aber... wenn diese Leute
keinen Mist gebaut haben und wenn bei Ihnen tatsächlich eine
Party stattgefunden hat, dann verstehe ich überhaupt nichts
mehr.«
»Können Sie uns nicht sagen, um was es eigentlich
geht?«
Pangborn seufzte. »Warum nicht, nachdem wir nun
schon so weit sind? Wann Ihre letzten Gäste gegangen sind, spielt
keine große Rolle. Wenn Sie um Mitternacht hier waren, wenn es
Zeugen gibt, die das beschwören können...«
»Mindestens fünfundzwanzig«, sagte Liz.
»... dann sind Sie aus der Sache heraus. Anhand des
Augenzeugenberichts der Dame, die mein Kollege erwähnte, und der
Autopsie des Gerichtsmediziners können wir ziemlich sicher sein,
daß Homer zwischen ein und drei Uhr nachts ermordet wurde. Er wurde
mit seiner eigenen Armprothese zu Tode geprügelt.«
»Großer Gott«, murmelte Liz, »und Sie haben
geglaubt, daß Thad...«
»Homers Wagen wurde vorgestern abend auf dem
Parkplatz einer Raststätte an der I-95 in Connecticut gefunden,
nicht weit von der Grenze des Staates New York entfernt.« Er hielt
einen Moment inne. »Er war voller Fingerabdrücke. Einige davon
stammten von Homer. Und eine ganze Menge von dem Täter. Etliche
seiner Fingerabdrücke waren hervorragend. Einer hatte fast die
Qualität eines Gipsabdrucks und befand sich auf einem Klumpen
Kaugummi, den der Kerl aus dem Mund genommen und mit dem Daumen
aufs Armaturenbrett gedrückt hat, wo er hart wurde. Der beste von
allen befand sich auf dem Rückspiegel. Er stand einem auf dem
Revier abgenommenen Fingerabdruck in nichts nach. Nur daß der auf
dem Rückspiegel mit Blut gemacht wurde statt mit Tinte.«
»Aber wieso Thad?« fragte Liz entrüstet. »Party
oder nicht Party - wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, daß
Thad...«
Pangborn sah sie an und sagte: »Als die Leute von
A.S.R. and I. die Fingerabdrücke in ihren Computer eingaben, kamen
die Militärdienstunterlagen Ihres Mannes heraus. Um ganz genau zu
sein - die Fingerabdrücke Ihres Mannes kamen heraus.«
Einen Moment lang konnten Thad und Liz sich nur
sprachlos anstarren. Dann sagte Liz: »Das muß ein Irrtum sein. Die
Leute, die diese Dinge überprüfen, machen doch gewiß hin und wieder
Fehler.«
»Ja, aber kaum Fehler dieser Größenordnung. Gewiß,
bei der Identifizierung von Fingerabdrücken gibt es Grauzonen. Die
Leute, die sich im Fernsehen Kojak und Barnaby Jones
ansehen, halten die Identifizierung von Fingerabdrücken für
eine exakte Wissenschaft; das ist sie nicht. Aber die Computer
haben einen großen Teil der Grauzonen beseitigt, und in diesem Fall
hatten wir besonders gute Abdrücke. Wenn ich sage, daß es die
Abdrücke Ihres Mannes waren, dann weiß ich, was ich sage. Ich habe
die Computer-Ausdrucke gesehen, und auch die Vergleichsbilder. Sie
sind sich nicht nur ähnlich.«
Jetzt richtete er den Blick auf Thad und fixierte
ihn mit seinen unerbittlichen blauen Augen.
»Sie stimmen genau überein.«
Liz starrte ihn mit offenem Mund an, und auf ihren
Armen begannen zuerst William und dann auch Wendy zu weinen.