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Unten am Korral halfen wir Mr Jiménez drei Maultiere zu satteln -am Berg seien sie schlauer als Pferde, erklärte er uns. Und sie hielten den Durst besser aus. Nachdem wir die Maultiere auf einen Transporter geladen hatten, fuhren wir hinauf in die Berge.
Auf einer lieblichen Weide luden wir die Maultiere ab und zurrten die Sattel fest, während der Himmel heller wurde. Als wir in den Schatten der Berge ritten, tauchten wir wieder in die graue Kühle ein, die vor dem Sonnenaufgang herrschte. Den Morgen im Nacken, trotteten wir durch silbriges Gras und dunkle Mesquite-Sträucher und schlängelten uns durch Wälder von dünnen, durstigen Kakteen. Zu beiden Seiten ragten bleiche Steilwände in die Höhe, und bald ging es einen schmalen Canyon hinauf. Der Boden war trocken und sandig, und dann und wann lagen große Felsbrocken auf dem Weg. Eine Weile lang wurden die blanken Felswände nur hier und da von einem mit Gestrüpp bewachsenen Vorsprung unterbrochen.
Schließlich machte Mr Jiménez in einem breiten grasigen Kessel halt, dessen oberes Ende im Westen durch einen Absturz riesiger Felsen verengt wurde. »Das ist der Timon-Claim«, sagte er und stieg ab. Wie er angekündigt hatte, gab es kein Anzeichen, dass hier je gearbeitet wurde. An den Hängen wuchsen groteske Pflanzen mit dünnen Ästen wie Fangarme, die aussahen wie mit der Spitze in den Boden gerammte Kegel. Ansonsten war der trockene Boden von kleinen dunkelgrünen Agaven übersät, deren Blätter scharf wie Pfeilspitzen waren. Ocotillos und Schottenagaven. »Keiner zu Hause«, sagte Mr Jiménez. »Bis auf die Adler und Berglöwen hier oben, seit sie die Apachen vertrieben haben.«
Ein gellendes »Yup-yup-yup« hallte von den Felswänden wider. Weit oben am Himmel segelte ein riesiger Vögel auf unsichtbaren Winden. Ein Goldadler. Der Himmel war längst strahlend blau, doch der Canyon lag immer noch im blassen Schlaf der Dämmerung. Vor unseren Augen ergoss sich der Morgen über den Rand der Klippen wie flüssiges Gold.
Weiter oben hörte ich ein Zwitschern und sah einen Vogelschwarm, der in seltsam zackigem Flug den Canyon herunterkam. Dann hörte ich einen schrillen Schrei. Direkt vor uns schwenkte der Schwarm ab, erhob sich wirbelnd in die Lüfte, dann versank er in einer schwirrenden Spirale im Boden.
Es waren keine Vögel, stellte ich fest. Es waren Fledermäuse. Fledermäuse, die im Boden verschwanden. Das Schwirren der Spirale wurde schneller. Dann waren sie fort.
Ich sah Mr Jiménez an. »Da oben sind Höhlen.«
»Keine Stollen«, sagte Mr Jiménez leise. »Höhlen gibt es. Manchmal hörst du es beim Reiten - wenn die Hufe hohl klingen.«
»Wusste Athenaide davon?«
Er zuckte die Achseln. »Sie hat nur nach Stollen gefragt.«
Ich ging auf die Stelle zu, wo die Fledermäuse verschwunden waren. Hinter ein paar kleinen Mesquite-Sträuchern und anderen niedrigen Büschen war eine Grube. Als ich das Gestrüpp zur Seite zog, entdeckte ich ein Loch, nicht größer als mein Kopf. Ein feuchter, moderiger Geruch schlug mir entgegen, der etwas Stechendes hatte.
Matthew, der sich über meine Schulter beugte, rümpfte die Nase. Mr Jiménez schob den Hut zurück und kratzte sich am Kopf. »Hol mich der … Wie gesagt, ich hab gewusst, dass es hier oben Höhlen gibt. Aber ich hab nie einen Eingang gesehen.«
Ich auch nicht. Doch ich hatte genug gehört, um zu wissen, was wir hier vor uns hatten. »Jetzt sehen Sie einen.«
»Eingang scheint mir übertrieben«, sagte Matthew, »wenn man größer ist als eine Maus mit Flügeln.«
»Wart’s ab.«
Mr Jiménez nickte, dann ging er zu den Maultieren zurück und schnallte einen Spaten und ein paar Brecheisen vom Sattel ab. Beim ersten Spatenstich hörten wir ein wütendes Rasseln, und in dem Moment, als Mr Jiménez mich zur Seite riss, schoss eine alte Klapperschlange vor und hieb ihre Zähne an der Stelle in den Boden, wo ich eben noch gestanden hatte. Ein paar Augenblicke später glitt sie aus dem Loch und war in den Büschen verschwunden.
Mit fasziniertem Ekel sah ich ihr hinterher. Kleopatra, dachte ich. Gestern Nacht hatte Sir Henry versucht, mich in Polonius zu verwandeln; doch stattdessen hatte ich ihn getötet. Wie passend wäre es, wenn ich zur Strafe zufällig starb - auf die gleiche Weise wie eine von Shakespeares Königinnen?
»Sind da, wo das Vieh herkam, noch mehr davon?«, fragte Matthew nervös.
Mr Jiménez spuckte auf den Boden. »Unwahrscheinlich. Falsche Jahreszeit zum Nisten. Außerdem, wir haben den Kerl geärgert, und er ist rausgekommen. Hätte er Gesellschaft gehabt, wäre die auch mit rausgekommen.«
Ich hätte damit rechnen müssen, dachte ich grimmig. Wenn ich in diese Höhle hinabstieg, musste ich sehr viel vorsichtiger sein, falls ich lebendig wieder rauskommen wollte.
Der Boden um das Loch war relativ locker. Trotzdem war es harte Arbeit, Steine und Erde abzutragen. Es dauerte zwei Stunden, bis die Öffnung groß genug war, dass Matthew hinuntersteigen konnte. Darunter gähnte ein Spalt oder Kamin im massiven Fels. Matthew kletterte ein Stück hinein, dann kam er zurück. »Weiter drinnen wird es etwas breiter. Nicht viel. Gerade so, dass man sich durchquetschen kann. Aber wir brauchen Licht.«
Ich beugte mich hinunter. Das Tageslicht drang nur ein kurzes Stück in die Erde; dahinter war vollkommene Dunkelheit. Doch still war es nicht. Im Hintergrund konnte ich das Fiepen der Fledermäuse hören.
»Habt ihr schon mal eine Höhle erforscht?«, fragte Mr Jiménez.
»Ich schon«, sagte ich.
Er sah mich fest an. »Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«
Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe. Als Teenager in den ersten paar Sommern bei Tante Helen war ich mit den Jungs von der Nachbarranch in die Höhlen in der Nähe geklettert. Nicht weil ich sonderlich scharf darauf war, sondern weil sie mich sonst ausgelacht hätten. Ich machte so lange mit, bis ich mir ihren Respekt verdient hatte, dann hörte ich auf. Ich hatte ein paar Grundsätze über das Höhlenklettern gelernt, aber mehr auch nicht. Außerdem waren die Höhlen, in denen wir uns als Kinder herumtrieben, zwar nicht offiziell erschlossen, doch seit einem halben Jahrhundert von mutigen Teenagern aus drei angrenzenden Countys erforscht. In einer vollkommen jungfräulichen Höhle wie dieser hatte ich nichts zu suchen.
Andererseits konnten wir es uns nicht leisten zu warten. Ben würde auch nicht warten.
Langsam nickte ich.
»Wenn sie reingeht, gehe ich auch«, sagte Matthew.
»Das musst du nicht.«
»Du bist verrückt, wenn du denkst, ich würde dich allein gehen lassen.«
Vielleicht hätte ich protestieren sollen. Aber die erste Regel beim Höhlenklettern war: Geh nie allein.
Mr Jiménez ging zu seinem Maultier zurück, und diesmal kam er mit zwei alten, verbeulten Helmen wieder. Die Dinger mit den Lampen dran. »Haben unseren Jungs gehört«, sagte er. »Nola meinte, ihr könnt sie vielleicht gebrauchen. Altes Gerät, aber es sind neue Batterien drin.«
»Das sind nur zwei«, sagte ich.
Mr Jiménez schnallte den Spaten wieder am Sattel fest. »Ich komme nicht mit. Nicht meine Vorstellung von Freizeitvergnügen, freiwillig in die Grube zu steigen. Aber ich lass euch das Funkgerät hier. Wenn ihr rauskommt, funkt ihr mich an, dann komme ich und hole euch ab.« Er zeigte mir, wie man das Walkie-Talkie benutzte, und wir fanden ein sicheres Versteck zwischen zwei Felsen, wo wir es zurückließen. Dann stieg er auf und ritt mit den drei Maultieren davon.
Ein letztes Mal saugte ich die Sonne und den Wind auf, mit jedem Quadratzentimeter meiner Haut und Kleidung; es würde eine Weile dauern, bis ich wieder Tageslicht zu Gesicht bekäme. Ich suchte die Gegend ab, doch ich sah nichts als das Spiel des Windes im bleichen Gras und weit oben den Adler, der seine Kreise zog. »Er ist irgendwo da draußen«, sagte ich. »Ben. Und er ist auf dem Weg hierher.«
Ros hat ihren Namen geändert, hatte er in der Bibliothek geflüstert. Vielleicht sollten wir auch deinen ändern. In Lavinia. Trotz der Sonne fröstelte ich.
»Hey.« Matthew legte den Arm um mich und zog mich an sich. »Da muss er erst mal an mir vorbei.«
Hinter Matthew klaffte die Höhle wie ein schwarzes Loch im hellen Stoff des Morgens. Lavinias Liebhaber war vor ihren Augen ermordet und in eine Grube in der Wildnis geworfen worden. Die verfluchte dunkle Gruft des Mords, hatte Shakespeare geschrieben. Kurz danach wurde sie …
Ich vertrieb den Gedanken und lächelte Matthew unsicher an. »Danke.«
»Auf Shakespeare«, sagte er, und dann küsste er mich.
Auf die Wahrheit, dachte ich, egal, welche.
Wir setzten uns die Helme auf und knipsten die Lampen an. Ich schob die Brosche an der Kette vorsichtig in mein Hemd. Dann stiegen wir hinab in die Finsternis.