26
Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber Sie haben es gemeint«, entgegnete sie. »Wie schnell wir vom Lob bei der Verdammung landen, wenn es um Glaubensfragen geht.«
Ich wollte protestieren, doch Athenaide ließ mich nicht zu Wort kommen. »Shakespeare, Mr Pearl, ist nicht nur Kunst. Er ist Religion.«
»Und Wissenschaft«, gab ich zurück, »die auf Beweisen fußt.«
»Und Sie sind die Beweise durchgegangen? Alle?« Athenaide sah Ben an. »Die Stratfordianer leiten Universitäten und Institutionen wie diese. Und die Universitäten verwalten die Wahrheit. Doch Lücken werden dort nicht unterrichtet, genauso wenig wie die Beweise, die eine andere Geschichte erzählen. Die Institutionen beschließen, was die Wahrheit ist.«
»Das ist nicht fair.«
»Wirklich nicht?«
Ich stöhnte. »Ich hätte es mir denken können. Ihre Faszination für ›Hamlet‹. Und Helsingor.«
»Ja, Helsingor«, wiederholte sie zufrieden. »Oxford - der echte Hamlet, in Helsingor, in Shakespeare.«
Ben sah von ihr zu mir. »Der echte Hamlet?«
»Die Oxfordianer lesen ›Hamlet‹ als die verdeckte Autobiografie des Grafen von Oxford«, erklärte ich.
»Sie enttäuschen mich«, sagte Athenaide. »Wer hat denn geschrieben: ›Die vielen seltsamen Parallelen zu Oxfords Leben, die ›Hamlet‹ aufweist, sind tatsächlich ein eigenes Studium wert.‹?«
Ich zuckte zusammen. Sie zitierte aus meiner Doktorarbeit. Als sie sagte, sie kenne meine Arbeit, hatte ich gedacht, sie würde von meiner Regiearbeit sprechen. Niemand las Doktorarbeiten, nicht einmal stolze Mütter. »Ich sagte, es gibt Parallelen, Athenaide. Das ist etwas anderes, als zu behaupten, es wäre seine Autobiografie.«
»Wie hätte es der lumpige Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford wagen können, eine der höchsten Persönlichkeiten des Königreichs vorzuführen? Und woher sollte er die Details kennen?«
»Jeder kannte die Details. Genau wie heute jeder die traurigen Details aus Michael Jacksons Leben kennt. Die Reichen und Berühmten haben immer im Rampenlicht gestanden, und manche tragen ihr Leben offen zur Schau. Viel interessanter ist das Warum. Warum wollen Sie - oder sonst jemand - den Mann, dessen Name auf den Titelblättern steht, unbedingt durch Oxford ersetzen?«
»Weil die Stücke wichtiger sind als die Titelblätter«, sagte sie schlicht. »Der Mann, der die Stücke schrieb, hatte eine gründliche, umfassende klassische Ausbildung, und er hatte Zugang zur hohen Literatur. Außerdem hatte er eine aristokratische Haltung und aristokratische Hobbys wie das Jagen und die Falknerei. Er kannte das Landleben aus der Perspektive der Landbesitzer. Er misstraute Frauen, liebte Musik, verachtete Habgier. Er kannte die Feinheiten der englischen Gesetzgebung und die Feinheiten des Segelns und der Navigation. Er verstand Italienisch und sprach fließend Französisch und Latein. Und vor allem, er lebte und atmete Dichtung. Soweit wir nachweisen können - nicht anhand von Annahmen, die wir aus den Stücken ziehen, sondern anhand der dokumentierten Fakten seines Lebens -, besaß William Shakespeare aus Stratford keine dieser Eigenschaften. Ergo hat er die Stücke nicht geschrieben.« Triumphierend setzte sie sich in einen Sessel unter der blinden Fensterreihe. »Oxford dagegen besitzt jede einzelne dieser Eigenschaften.«
»Nur eine nicht«, konterte ich. »Er starb zehn Jahre zu früh. Wir sind auf der Suche nach ›Cardenio‹, Athenaide. Ein Stück, das 1612 geschrieben wurde. Wie konnte ein Mann, der - wann starb? 1605? -«
»1604.«
»Wie konnte ein Mann, der 1604 starb, 1612 ein Stück geschrieben haben? Und Sie lassen nicht nur ›Cardenio‹ sausen. ›Macbeth‹, ›Othello‹, ›König Lear‹, ›Der Sturm‹, ›Ein Wintermärchen‹, ›Antonius und Kleopatra‹ - so ziemlich alle Stücke unter Jakob I. wären dahin. Das ist eine Menge Holz, das Sie eintauschen wollen, nur um einen Grafen zum Autor zu haben.«
»Daten«, sagte Athenaide und zuckte verächdich die Achseln. »Es wäre eine schwache Theorie, wenn sie nur wegen ein paar Daten nichtig würde. Vor allem, wenn sie so wackelig sind wie die, die vom Elfenbeinturm ausgegeben werden. ›Cardenio‹, sagen Sie, wurde Ende 1612 zum ersten Mal aufgeführt. Das heißt nicht, dass es im gleichen Jahr geschrieben wurde. Hier ist eine andere Möglichkeit: Oxford kann 1604 die Übersetzung von ›Don Quixote‹ in Auftrag gegeben haben, oder er hat sie selbst angefertigt. Dann schrieb er das halbe Stück - und starb. Ein paar Jahre später wird die Übersetzung veröffentlicht. Noch später lassen seine Freunde und sein Sohn das Stück von John Fletcher fertigstellen und bringen es genau im richtigen Moment auf die Bühne, um Oxfords alten Feinden, den Howards, die größten Unannehmlichkeiten zu bereiten.« Ihre Stimme wurde samtig, und sie sah mich herausfordernd an. »Sie wissen doch noch, dass sie Feinde waren?«
Dann wandte sie sich an Ben. »Das Familienoberhaupt der Howards, der alte Graf von Northampton, war ein Freund von Oxford und sein Cousin ersten Grades, doch als er damit seine Haut retten konnte, beschuldigte er Oxford, kleine Jungs in den Arsch zu ficken.«
»Athenaide«, platzte ich heraus. »Das ist doch verrückt. Das ist alles reine Spekulation. Statt eine gerade Linie zwischen zwei Punkten zu ziehen, folgen Sie der windigen Spritztour eines betrunkenen Junikäfers.«
Sie rümpfte die Nase. »Sie glauben also lieber, dass Shakespeares Stücke von einem womöglich analphabetischen Provinzrüpel mit mangelhafter Schulbildung geschrieben wurden, der sich die Feinheiten von Jura, Theologie, höfischer Etikette, Geschichte, Botanik, Falknerei und der Jagd aus den Fingern gesogen hat?«
Sie war wieder aufgestanden und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei ihr Blick über die Porträts der Höflinge an der Wand glitt. »›Ver‹ -ist der Wortstamm des lateinischen Worts für ›wahr‹. Nahe genug an ›Vere‹ - dem Familiennamen der Grafen von Oxford -, um zu einem der kindischen Wortspiele zu taugen, die in der Renaissance so beliebt waren. Die Grafen haben sich ›Verus nihil verius‹ als Motto ausgesucht. Zufälligerweise auch mein Motto, denn ich bin eine geborene Dever - die Verballhornung von de Vere: Der Name ziemte sich nicht für den Zweig der Familie, der außerhalb des Ehebetts entstanden war. Mit meinem Taufnamen hat mein Vater noch eins draufgesetzt. Athenaide. Eine Variation der helläugigen Athene, Schild- und Speerträgerin.« Die letzten, genüsslich vorgetragenen Worte waren an Ben gerichtet. »Der Graf von Oxford, Champion auf den Turnierplätzen, soll unter Athenes Schutz gestanden - und ihr sogar ähnlich gesehen haben. ›Seine Augen blitzen, sein Blick schüttelt Speere.‹ Sie wissen, wer mit Schüttelspeer gemeint ist?«
»Das ist eine Falschübersetzung, und das wissen Sie auch«, sagte ich trotzig. »Vultus tela vibrat: Der Blick blitzt, sprüht Nadeln.«
»Anscheinend kennen Sie die Fakten«, sagte Athenaide bewundernd. »Doch auch Ihre Übersetzung ist nicht ganz richtig. Sagen wir ›Pfeile schießem. Bei Ihnen klingt es mehr nach einem Nähstübchen als nach einem elisabethanischen Turnierplatz.«
»Schön. Aber er schüttelt keine Speere.«
Sie zuckte die Achseln. ›»Telum‹ ist ein Überbegriff für Wurfgeschosse, nicht der spezifische Begriff für ›Speer‹ oder ›Lanze‹ — na und? Aber ›vibrat‹ heißt ›er schüttelt. ›Vibrieren‹ kommt vom gleichen Stamm. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass man Pfeile nicht schüttelt? Genauso wenig wie Nadeln? Speere und Lanzen werden geschüttelt. Oder besser, Athene schüttelt ihren Speer, seit jemand vor fast dreitausend Jahren die ersten homerischen Gesänge vortrug, wo die grauäugige Göttin aus Zeus’ Kopf geboren wird und ihren spitzen Speer schüttelt, bis der ganze Olymp erzittert, die Erde stöhnt und die Wellen wild auf der weinroten See wogen.«
»Muss ein anstrengendes Baby gewesen sein«, bemerkte Ben lakonisch, und ich musste ein Kichern unterdrücken.
Athenaide ignorierte uns beide. »Außerdem«, fuhr sie fort, »in lateinisch-englischen Wörterbüchern der Renaissance konnte ›vultus‹ sowohl ›Blick‹ oder ›Ausdruck‹ als auch ›Wille‹ heißen. Was aus ›Vultus tela vibrau‹ ›Der Wille schüttelt Speere‹ macht. Oder ›will shakes spears‹.« Sie sah uns triumphierend an.
»Wirklich?«, fragte Ben.
»Wahrhaftig«, sagte sie mit einem bösen Lächeln. »Ein kleines lateinisches Wortspiel zu Ehren eines Mannes, dessen Familienmotto ein Wortspiel ist.«
Bens unverhohlene Bewunderung ärgerte mich. »Ein obskurer lateinischer Satz, der vielleicht ein Wortspiel ist, vielleicht auch nicht, und der Shakespeares erster Theateraufführung mehr als zehn Jahre zuvorkam. Das sind fünfzehn Jahre, bevor sein Name je auf einem Titelblatt auftauchte. Das ist kein Beweis. Das ist ein Zufall.«
»Ich glaube nicht an den Zufall«, gab Athenaide zurück, die vor dem Porträt der Königin stehen geblieben war. »Aber wenn wir schon von Zufällen sprechen, es ist belegt, dass das Wortspiel, das Sie nicht anerkennen wollen, in Gegenwart der Königin laut vorgetragen wurde: in Audley End, dem Familiensitz der Howards, für die wir uns neuerdings so brennend interessieren.«
Ihr Telefon schrillte, und sie nahm ab. »Herrgott noch mal«, knurrte sie. »Ich komme sofort«, sagte sie dann und legte auf.
»Was ist passiert?«
»Professor North ist nicht in sein Flugzeug gestiegen. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss die Feuerwehr spielen. Bis Nicholas zurückkommt, bin ich wieder da.«
Ben bewegte sich nicht von der Tür. »Beim nächsten Mal bitte allein«, sagte er nachdrücklich.
Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. »Ich bin mir meines Fehlers bewusst, Mr Pearl. Es wird nicht wieder Vorkommen. Ich habe Ihnen Ihre Bücher auf den Tisch gelegt, Katharine. Danken Sie mir, wenn ich zurück bin.«
Er trat zur Seite, und sie segelte hinaus.
»Was wissen Sie von diesem North?«, fragte Ben, als er die Tür abschloss.
»Er hat ein Buch geschrieben, in dem er behauptet, dass Oxford Shakespeare war. Ansonsten nicht viel außer dem, was Matthew gesagt hat.«
»Aber er ist Shakespeare-Experte?«
»Ja.«
»Warum, meinen Sie, taucht er nicht auf? Reine Schüchternheit?«
»Zu seinem Profil würde es passen.«
»Es würde auch dazu passen, was mit anderen Shakespeare-Experten geschehen ist.«
Abrupt setzte ich mich. »Sie meinen, er könnte das nächste Opfer sein?«
»Ich meine, jemand sollte diese Möglichkeit in Betracht ziehen.« Er streckte sich. »Aber nicht wir. Kate - wir müssen anfangen darüber nachzudenken, was wir als Nächstes tun. Geht es nach Henley-in-Arden? Ophelias Elternhaus?«
»Wahrscheinlich. Wenn nicht nach Henley, so zumindest nach England. Genaueres weiß ich erst, wenn Dr. Sanderson zurück ist.«
»England bedeutet Pässe. Eine neue Identität. Die Risiken am Flughafen. Es wird nicht einfach.«
»Aber es ist machbar?«
»Ich brauche Zeit.«
»Trotzdem muss ich mir zuerst den Brief ansehen.«
»Könnten Sie sich vorstellen, allein hier zu bleiben, während ich die Vorbereitungen treffe?«
»Ich brauche keinen Babysitter rund um die Uhr. Schaffen Sie es raus und auch wieder rein?«
»Ohne Sie, ja.«
»Dann gehen Sie.«
Ben stand vor mir. »Machen Sie niemandem die Tür auf, Kate. Keiner Athenaide, keinem Matthew und keinem Dr. Sanderson.«
»Keiner Menschenseele«, antwortete ich.
»Mir können Sie öffnen.« Er lächelte.
»Woher weiß ich, dass Sie es sind?«
»Ich klopfe zweimal langsam, dreimal schnell. Es sei denn, es gibt ein geheimes Shakespeare-Klopfzeichen.«
»Sehr witzig.«
»Ich bin bald zurück.« Vorsichtig öffnete er die Tür, dann schlüpfte er hinaus.
Ich griff nach den Büchern, die Athenaide mitgebracht hatte. Es waren nur zwei: das Taschenbuch-Faksimile der First Folio und der Chambers-Band aus der Widener-Bibliothek. Die Briefe steckten alle noch darin - und es war sogar einer dazugekommen. Athenaide hatte Ophelias Brief an Jem zwischen die anderen gelegt. Ich zog ihn heraus.
Was hatte Ophelia an Emily Folger geschrieben? Wo blieb Dr. Sanderson? Wie lange dauerte es, bis neunundsiebzig zu zählen? Unruhig las ich die Briefe noch einmal.
Ich versuchte gerade, die Howard’schen Verwicklungen zu entwirren, als es klopfte und ich hochschreckte. Ein schlichtes doppeltes Klopfen. Nicht Bens kompliziertes Rauchzeichen.
»Kate Stanley«, sagte eine leise Stimme. Mir stockte der Atem. DCI Sinclair.
Ich schob die Briefe zurück in den Chambers-Band, nahm die Bücher an mich und wich von der Tür zurück.
»Ich weiß, dass Sie da drin sind.«
Hektisch sah ich mich im Zimmer um. Die Tür in der Nische war abgeschlossen. Der einzige Ausweg waren die Fenster, doch sie ließen sich nicht öffnen. Ich hätte die Scheibe einschlagen müssen.
»Hören Sie zu, Ms Stanley«, sagte Sinclair. »Ich weiß, dass Sie keine Mörderin sind, aber das FBI ist anderer Meinung. Wenn die Sie finden, verhaften sie Sie sofort und stellen die Fragen später. Wenn Sie aber mit mir Zusammenarbeiten, kann ich Ihnen Raum geben, zu finden, wonach Sie suchen.«
»Wie wollen Sie das tun?« Bestürzt stellte ich fest, dass ich laut gesprochen hatte.
»Kommen Sie jetzt mit, und ich kann Sie in einer halben Stunde in ein Flugzeug nach England setzen.«
England. Wie es aussah, musste ich genau dort hin. Nach Henley-in-Arden, in die Nähe von Stratford. Aber ich konnte mir erst sicher sein, wenn Dr. Sanderson mit dem Brief zurück war. Wo blieb er?
»Ich sorge dafür, dass Sie unbehelligt hier rauskommen, Kate.«
Sinclair hatte keine Befugnis in Amerika. Er konnte mir keine Garantie geben, und er konnte mir auch nicht drohen. Wenn es sich nicht ohnehin um eine Falle handelte. Doch wenn nicht, war sein Angebot illegal, denn er behinderte die Ermittlung in einem Kriminalfall auf fremdem Hoheitsgebiet. Warum sollte er mir ein solches Angebot machen? Was wollte er? »Was haben Sie davon?«, fragte ich.
»Ich will den verfluchten Mistkerl drankriegen, der es wagt, unter meiner Nase ein nationales Denkmal niederzubrennen, für das ich die Verantwortung hatte«, sagte er wütend. »Ich will den Kerl haben. Sie helfen mir, und ich helfe Ihnen.«
Ich warf einen Blick auf die Tür in der Ecke. Wo blieb Dr. Sanderson? Wo war Ben? »Ich brauche etwas Zeit.«
»Sie haben keine Zeit. Im Moment sucht Sie das FBI noch in New Mexico. Aber sobald sie die Suche dort aufgeben, werden sie zum gleichen Schluss kommen wie ich - dass Sie sich irgendwie in Mrs Prestons Flugzeug geschlichen haben.«
»Nein.« Ohne den Brief ging ich nirgendwohin.
Er rüttelte an der Tür, und ich wich weiter zurück. Dann legte ich die Bücher aufs Fensterbrett und griff nach einem Stuhl. Falls jemand durch die Tür kam, würde ich das Fenster einschlagen und versuchen zu fliehen.
»Allein kommen Sie hier nicht raus«, sagte Sinclair. »So weit ich sehe, sind Sie der gleichen Sache auf der Spur wie der Mörder, was bedeutet, dass Sie in größerer Gefahr schweben, als wenn Sie nur die Polizei am Hals hätten.«
»Das weiß ich, vielen Dank. Das Gleiche hat er mir mehr oder weniger selbst gesagt.«
»Sie haben mit ihm gesprochen?« Seine Stimme wurde schrill.
»Er hat mit mir gesprochen.«
»Haben Sie ihn erkannt?«
»Nein.«
Eine Pause entstand. »Wie gut kennen Sie den Kerl, mit dem Sie reisen?«
»Gut genug, um zu wissen, dass er es nicht ist, wenn Sie das meinen.«
Seine Stimme wurde noch eindringlicher. »Wer sonst hätte die Sache in Utah durchziehen können?«
»Der, der uns verfolgt hat.«
»Haben Sie jemanden gesehen?«
Ich hörte, wie das Schloss in der Nische klickte. Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich, wie die Tür einen Spalt aufging. Dr. Sanderson? Das FBI? Mein Griff um den Stuhl wurde fester.
Es war Athenaide. Sie hielt den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete mir, ihr zu folgen. Hinter der anderen Tür redete Sinclair weiter. »Es muss jemand sein, der immer in Ihrer Nähe war, Kate. Wahrscheinlich jemand, den Sie kennen.«
Nein, dachte ich. Das glaube ich nicht. Dann folgte ich Athenaide aus der Tür.
Sie schloss hinter uns ab. Wir standen in einem kargen Büro. Der Schreibtisch war leer, der Computer abgestellt. Die Fenster hatten Drahtgitterscheiben. Eine zweite Tür gegenüber stand offen. Athenaide eilte voraus.
Dahinter lag Dr. Sandersons Büro, das mit kostbaren Antiquitäten möbliert war. An drei Wänden hingen Porträts von Männern im Wams. An der vierten Wand waren Fenster, die fast vom Boden zur Decke reichten. Sie zeigten auf einen kleinen Wintergarten voller Pflanzen und Blumentöpfe. Das mittlere Fenster stand offen.
Draußen auf dem Flur hörte ich, wie jemand gegen die Tür des Founders’ Room polterte.
»Es ist Zeit«, sagte Athenaide. Sie stieg durch das Fenster und ging auf eine kleine Tür am hinteren Ende des Wintergartens zu. Ich folgte ihr.
Plötzlich standen wir auf einem hell erleuchteten Korridor, dessen Wände von Zettelkatalogen eingenommen wurden. Links drängte sich eine Menschentraube, und ich hörte Gemurmel und Gläserklirren, und einen Moment lang hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Dann fiel mein Blick auf den moosgrünen Teppichboden, und ich erinnerte mich.
Wir befanden uns auf dem Hauptflur, der die beiden Teile des Lesesaals miteinander verband, den Alten und den Neuen. Statt aus der Bibliothek herauszukommen, waren wir mitten in der Höhle des Löwen gelandet.
Es war die Menschenmenge, die mich verwirrt hatte, doch jetzt begriff ich. Der Eröffnungsempfang der Konferenz hatte begonnen.
»Gehen Sie«, flüsterte Athenaide. »Tauchen Sie in der Menge unter.«
»Aber Dr. Sanderson«, protestierte ich. »Der Brief.«
»Er hat mich zu Ihnen geschickt«, sagte sie. »Sie treffen ihn in dreißig Minuten zwei Blocks weiter westlich. Mit einer hübschen Aussicht auf den Sonnenuntergang, hat er gesagt. Sie erkennen die Stelle, wenn Sie sie sehen.«
»Großartig, Athenaide. Jetzt muss ich nur noch beim FBI Spießruten laufen.«
»Ich schlage vor, Sie nehmen den Haupteingang«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Hinten haben Sie schon die Pferde scheu gemacht. Vorne auf dem Rasen schenken Kellner in Renaissance-Kostümen Sekt aus. In der Großen Halle neben dem Ausgang ist eine Auslage mit Kostümen. Borgen Sie sich eins.«
»Aber Ben -«
»Ich werde ihm sagen, wo Sie sind. Und jetzt gehen Sie.«
Sie gab mir einen kleinen Schubs, und ich trat in den Alten Lesesaal. Es war mehr als voll. Der Raum platzte aus allen Nähten.
Hoch über uns fiel das Abendlicht durch die bunten Fenster. Im Saal herrschte ein Babel der verschiedensten englischen Akzente, dazu Deutsch, Japanisch, Französisch und Russisch. Irgendwo spielte ein Quartett Madrigale. Ich wurde gegen einen Mann in einer Druidenkutte gedrückt - wahrscheinlich der Erzmagus -, doch ich kämpfte mich weiter.
Auf der anderen Seite des Raums rief jemand meinen Namen.
Im nächsten Moment schob sich Athenaide an mir vorbei und lief geschmeidig die Treppe hinauf zur Galerie. Sie lehnte sich über die Balustrade und klingelte mit einem hellen, silbernen Glöckchen.
Die Menge wurde still und sah erwartungsvoll zu ihr hinauf.
»Ich möchte Sie alle herzlich willkommen heißen«, begann Athenaide.
Währenddessen drängelte ich mich durch die Menge zu einem hohen gemeißelten Kamin vor, von dem aus ich die Flügeltür der Großen Halle erreichte. Sie war genauso getäfelt wie der Founders’ Room, nur dass die Große Halle fünf- bis sechsmal größer war und eine hohe Gewölbedecke hatte. Normalerweise wurde der Raum für Ausstellungen genutzt. Es war der einzige Ort der Bibliothek, der der Öffentlichkeit zugänglich war. Heute Abend aber waren hier die reich gedeckten Tische aufgebaut, an denen später das üppige Galadinner serviert würde. Ich lief im Slalom um die Tische, auf den Museumsshop und den Ausgang zur Straße zu.
In einer Ecke der Halle befand sich, wie Athenaide versprochen hatte, ein Podest mit Schaufensterpuppen in Kleidern aus der Shakespeare-Zeit - keine echten Renaissance-Trachten, sondern Kostüme aus großen Hollywoodproduktionen. »Leihgabe der Athenaide Dever Preston Collection« stand auf einer Plakette.
In der Mitte stand Laurence Olivier als Hamlet verkleidet. Mit einem Ruck zog ich ihm den dunklen Umhang vom Rücken und schwang ihn mir über die Schulter. Dann streckte ich den Kopf durch die Tür. Links, am anderen Ende des Korridors vor dem Founders’ Room wimmelte es plötzlich von Menschen.
Ich drückte die Bücher an mich und wandte mich nach rechts. Eine Glastür führte hinaus auf den Rasen, wo Kellner aus dem 16. Jahrhundert den Gästen aus dem 21. Jahrhundert auf Silbertabletts Sekt servierten. In Sir Oliviers Mantel gehüllt, schlenderte ich durch die Menge. Als auf dem Bürgersteig eine Gruppe von Passanten vorbeikam, trat ich von der Wiese und schloss mich ihnen an. Dann eilte ich so unauffällig wie möglich die Capitol Street hinauf.