38
Das Rosenholzkästchen, das Athenaide mir auf den Schoß gelegt hatte, war viktorianisch, aus knotigem Wurzelholz mit Perlmutt- und Ebenholzintarsien. »Ich verstehe das nicht«, murmelte ich verwirrt.
»Alles unter der Sonne ist käuflich«, sagte Athenaide mehr mit Bedauern als mit Stolz. »Alarmcodes, Kirchenschlüssel, sogar Polizisten. Gestern Abend haben wir unser Geld gut angelegt.«
In dem Kästchen lag ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Ein Tagebuch. Ich wollte es herausnehmen, doch Athenaide legte ihre Hand auf meine. »Ich habe Matthew erzählt, was ich wusste. Doch jetzt müssen Sie zuerst uns auf den neuesten Stand bringen.«
Ungeduldig erzählte ich von Westminster Abbey, Wilton House und Valladolid, doch von der Brosche an der Innenseite meiner Jacke sagte ich nichts. Ohne zu wissen warum, scheute ich mich, die Miniatur zu erwähnen. Athenaide sah mich prüfend an. Ich hatte das Gefühl, sie durchschaute mich. Trotzdem ließ sie, als ich mit meinem Bericht fertig war, meine Hand los und nickte.
Ich nahm das Buch aus dem Kästchen und schlug es auf. Mai 1881, stand dort in der zarten Handschrift, die mir bereits vertraut war. Ophelia Granville.
»Ihre Erinnerungen«, sagte Athenaide, als ich mich vorbeugte und zu lesen begann.
Neben mir rutschte Matthew ungeduldig auf dem Sitz herum. »Die ersten zehn Jahre kann ich in zwei Minuten zusammenfassen. Ihre Mutter starb, als sie noch klein war; ihr Vater war Arzt und leitete eine private Anstalt für Damen in der kleinen Stadt Henley-in-Arden. Die ›Gäste‹, wie Dr. Fayrer seine Patientinnen nannte, bewohnten in seinem großen alten Landsitz den einen Flügel. Den anderen teilte er sich mit seiner Tochter.«
»Keine ideale Situation für ein Kind«, bemerkte Athenaide. »Deswegen nahm ihr Vater sie, sooft er konnte, mit ins benachbarte Stratford, wo sie mit den Pfarrerskindern spielte.«
»Pfarrer Granville. Reverend J. Granvilles Kinder«, sagte Matthew.
»Granville?«, fragte ich.
»Mit den Töchtern des Pfarrers konnte sie nicht viel anfangen«, sagte Matthew. »Es gab noch einen älteren Sohn, der in Oxford studierte, doch ihr Liebling war Jeremy.«
»Jem Granville war der Sohn des Pfarrers von Stratford?«
»Anscheinend«, sagte Athenaide. »Eines Sonntags, als Ophelia zehn war, hatte der Pfarrer außer den Fayrers noch andere Gäste geladen. Darunter eine große, blauäugige Amerikanerin mit schwarzem Haar und weißen Strähnen. ›Überirdisch wie die Iren‹, beschreibt sie Ophelia. ›Wie eine Selkie-Frau oder eine Fee aus den Hügeln.‹ Kaum hatte sie den Raum betreten, war sie sofort der Mittelpunkt des Salons. Mit ihrem brillanten System praktischer Philosophie, das sie aus Shakespeares Stücken herauslas, schlug sie die ganze Gesellschaft in den Bann. Sie sagte, Shakespeares Stücke seien unter dem Deckmantel der Unterhaltung von den klügsten Köpfen des elisabethanischen Zeitalters verfasst worden, die ihr Publikum zu würdigen Gefäßen der höheren Bildung machen wollten, damit sie die Tyrannei verabscheuten und stets nach Freiheit strebten.«
»Delia Bacon«, sagte ich. »Sie muss es sein.«
»›Die Shakespeare-Lady‹, wie Ophelia und Jem sie nannten«, sagte Matthew.
Ophelia hatte Delia kennengelernt. Draußen prasselte der Regen gegen die Wagenfenster. Wir hatten Stratford hinter uns gelassen und rasten über dunkle Felder durch die Nacht. Athenaide erzählte weiter. »Der Mann aus Stratford, behauptete Miss Bacon, sei ein falscher Fuffziger gewesen, eine Karnevalsmaske, die sich die wahren Autoren aufsetzten, um nicht den Zorn der autokratischen Herrscher auf sich zu ziehen. Doch die Zeit sei gekommen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sagte sie. Dann, als wollte sie ein großes Geheimnis lüften, winkte Miss Bacon die Gesellschaft näher heran. ›Was Menschen Übles tun, das überlebt sie‹, flüsterte sie. ›Das Gute wird mit ihnen oft begrabene«
»Aber das ist dasselbe Zitat, das als Widmung in der Folio-Ausgabe in Valladolid steht«, sagte ich. »Dasselbe, das Ophelia in ihrem Brief an Mrs Folger verwendet hat.«
Athenaide blätterte durch das Tagebuch und zeigte auf eine Passage:
Die Wahrheit verbirgt sich in Dokumenten, flüsterte Miß Bacon, die in einem Hohlraum unter der Grabplatte des von ihnen auserwählten Mittlers versteckt seien - dem Grab von Shakespeare aus Stratford.
Sie habe gewisse Beweise dafür in Sir Francis Bacons Schriften gefunden - in seinen poetischen Schriften, wie sie augenzwinkernd sagte.
»Seien mit dem Leib meine Namen eingesargt.«
Ich runzelte die Stirn. Auch diesen Vers kannte ich aus der Folio in Valladolid. Doch wurde er falsch zitiert - ›Namen‹ im Plural statt ›Name‹ im Singular -, und außerdem stammte er nicht von Francis Bacon, sondern von Shakespeare, aus einem seiner Sonette. Andererseits glaubte Delia, dass Sir Francis und Shakespeare ein und dieselbe Person wären.
»Der Pfarrer gab Delia die Erlaubnis, das Grab zu öffnen«, erklärte Matthew.
Eine Woche später, an einem kühlen Septemberabend, begibt sich Delia Bacon in die Kirche, um ihre Mission zu erfüllen. Doch sie ist nicht allein. Abenteuerlustig waren Jem und Ophelia aus ihren Betten ausgerissen und haben sich zwischen den Kirchenbänken versteckt, bevor Delia zu Werke geht.
Sie hatten sie beobachtet.
Das Kirchenportal öffnet sich mit einem kalten Luftzug, und Delia taucht auf, von Herbstlaub umwirbelt. Im Altarraum hält sie die Laterne hoch und liest laut den Fluch, der auf dem Grabstein steht. Dann öffnet sie einen Sack, legt eine Decke auf den Boden vor das Grab und kniet sich hin. Sie hebt den Meißel über den Kopf wie einen Dolch. Währenddessen kauern Ophelia und Jem zwischen den Bänken.
Doch es geschieht nichts. Delia sitzt wie versteinert da - eine Hand gegen das Herz gepresst, schreibt Ophelia in ihrem Tagebuch, mit der anderen den Meißel schwingend wie ein Cherub das Flammenschwert, mit dem er das Tor zum Himmelreich bewacht. In dieser Position verharrt sie, bis die Turmuhr zehn schlägt. Dann, als wäre der Bann gebrochen, lässt sie den Arm sinken und kommt auf die Füße. Plötzlich wird sie von wildem Gelächter geschüttelt, das ebenso schnell wieder erstirbt. »›Was ist Wahrheit?‹, fragte Pilatus spöttisch«, ruft Delia in die Dunkelheit, »und wartete die Antwort nicht ab.« Ohne den Sack und den Meißel wieder einzupacken, läuft sie durch die Kirche und flieht in die Nacht.
»Aber wenn Delia das Grab nicht geöffnet hat«, fragte ich, »wer war es dann?«
»Die Kinder«, sagte Athenaide.
Ophelia und Jem.
»Mit Delias Werkzeug«, erklärte Matthew und blätterte die Seite um. Er las laut vor:
Ein dumpfer Brodem schlug uns entgegen. Doch es waren keine Gebeine in der Gruft. Kein gemeißeltes Ebenbild. Keine Truhe mit Papieren oder Gold. Kein blendendes Licht der Wahrheit. Nicht einmal die vertrocknete Haut einer Made oder der Panzer eines Käfers. Nichts bis auf einen leeren Hohlraum und den glatten Stein darunter. Nein -dort war eine Linie, ein schwacher Umriß in den Stein gehauen. Während Jem die Grabplatte über mir hochstemmte, machte ich einen Abrieb mit dem Papier und dem Bleistift, die Miß Bacon zurückgelassen hatte.
Auf die nächste Seite hatte Ophelia ein mit blassem Graphit geschwärztes Blatt geklebt. Schwache weiße Linien deuteten eine Silhouette an, die ich schon einmal gesehen hatte: der lange Hals und der Kopf eines Schwans, Adlerschwingen, die sich zu Schweineköpfen verjüngten, ein Baby in einer Klaue und die Lanze in der anderen. »Das schimärische Tier«, sagte ich.
»Es ist noch da«, sagte Athenaide mit leuchtenden Augen.
»Sie haben es gesehen?«
Matthew nickte. »Die Kinder konnten es nicht entziffern«, fuhr er fort. »Jems Lehrer erkannte zwar, dass es sich um eine Schimäre handelte, doch in dieser Zusammensetzung hatte er noch nie eine gesehen. Als die beiden ihm verrieten, dass sie das Bild in einer Kirche gefunden hatten, mutmaßte er, dass es sich um ein Zeichen Satans handeln könnte.«
Einen Monat später, als Delia in die Anstalt von Henley eingeliefert wird, zeigt Ophelia ihr die Zeichnung. Der Anblick wühlt Delia auf, und sie beginnt sich in ihrem Sessel hin- und herzuwiegen. »Jener sei verflucht, der rührt an mein Gebeine«, murmelt sie wieder und wieder. »Jener sei verflucht…« Ein paar Wochen später kommt ihr Neffe und bringt sie nach Amerika zurück.
Bei ihrem nächsten Besuch in Stratford sagt Ophelia zu Jem, dass sie sich vor dem Fluch fürchte und die Zeichnung zurücklegen wolle. Doch Jem weigert sich, ihr dabei zu helfen. »Du bist genauso verrückt wie Miss Bacon«, weist er sie ab.
»Der kleine Feigling«, sagte Athenaide verächtlich. »Wahrscheinlich hatte er mehr Angst als sie.«
Ophelia soll Jem erst zehn Jahre später Wiedersehen. Jem war nach Oxford gegangen und hatte dann über Beziehungen eine Stelle als Tutor des jungen Grafen von Pembroke bekommen.
»Wilton House«, sagte ich.
Der junge Graf, fuhr Matthew fort, hatte den Titel und das Schloss erst kürzlich von einem Onkel geerbt, der im Ausland lebte -und starb, bevor er das Familienwissen weitergeben konnte. Es gab Gerüchte um Shakespeares Spuren im Haus, doch das war alles.
»Hat Jem die Briefe gefunden?«, fragte ich, und meine Hände schlossen sich fester um das Tagebuch.
Matthew lächelte. »Das schimärische Tier trieb ihn in Ophelias Arme zurück.«
Gemeinsam rekonstruieren Ophelia und Jem die Verbindung zwischen dem süßen Schwan aus dem Brief und dem Umriss der Schimäre. Jem weiß, welche Personen passen: Es sind Lady Pembrokes Schwan, Bacons Eber, Shakespeares Falke und Speer und der Adler und das Kind des Grafen von Derby. Der Einzige, den sie übersehen, ist Oxford, der zweite Eber oder Keiler.
Miss Bacon habe geglaubt, dass Shakespeare eine Verschwörung gewesen sei, erklärt Jem Ophelia, und er glaube inzwischen, dass sie recht hatte. Doch er geht noch weiter: »Seien mit den Leibern die Namen eingesargt.« Die Beweise, versucht er Ophelia zu überreden, müssen in den Gräbern aller Beteiligten liegen. Shakespeares Grab trägt das Zeichen der Schimäre; und er ist überzeugt, dass die anderen Gräber das gleiche Zeichen tragen.
Allerdings ist Lady Pembrokes Grab seit langer Zeit unter irgendwelchen Stufen in der Kathedrale von Salisbury versiegelt. Was Bacon angeht, so hatte man zwar seinen Gedenkstein in der Kirche von St. Albans gefunden, doch sein Grab ist verschwunden. Und selbst wenn Jem von Oxford gewusst hätte, dachte ich, hätte ihm das nicht viel geholfen. Die Kirche, in der Oxfords Gebeine lagen, war im 18. Jahrhundert geplündert worden, die letzte Ruhestatt des Grafen war unbekannt.
Somit blieb nur Derbys Grab in Lancashire.
Eine Wochen später brennen Ophelia und Jem durch.
Die alte Krypta der Grafen von Derby liegt in Ormskirk, einem Marktflecken auf einer Tiefebene, die von einer Hügelkette im Osten und im Westen vom Meer begrenzt wird. »Ormskirk heißt so viel wie die ›Kirche des Wurms‹«, erklärt Jem Ophelia. »Oder Kirche des Drachen, in der Wikingersprache.« In der alten Gemeindekirche Saint Peter and Saint Paul führt er Ophelia in eine Seitenkapelle, die bis auf zwei ramponierte Marmorstatuen leer ist - einen Ritter und seine Dame. In der Mitte befindet sich eine Falltür, unter der eine steile Treppe nach unten führt.
Ich bat Matthew, mich weiterlesen zu lassen:
… schlug uns der Geruch von Knochen und Staub entgegen, von kaltem Stein und der Bitterkeit der neidischen, modernden Toten. Etwa dreißig Särge stapelten sich in Nischen an den Wänden. In der Mitte der Krypta war ein bunter Haufen von Sockeln mit steinernen Abbildern. Einige zeigten Damen in langen Gewändern, doch die meisten waren Männer, manche mit Perücke, andere in Rüstung, und drei in Wämsern und Strumpfhosen. Einer davon hielt eine steinerne Truhe.
In den Deckel war die Schimäre gemeißelt.
Jem holte mit dem Brecheisen aus und schlug zu.
»Ich fürchte, hier müssen wir aufhören«, sagte Athenaide, und ich blickte blinzelnd auf.
Wir hatten die Landstraße hinter uns gelassen. Stattdessen sah ich große Fabrikgebäude, grelle Scheinwerfer und eine riesige asphaltierte Piste. Dann hörte ich ein lautes Dröhnen. Der Wagen bog ab und blieb direkt vor Athenaides Jet stehen.
»Wo fliegen wir hin?«, fragte ich.
»Jems Schatz finden«, sagte Athenaide.
*
Sobald ich mich angeschnallt hatte, noch bevor das Flugzeug abhob, schlug ich Ophelias Tagebuch auf.
In der zersplitterten Steintruhe in der Krypta finden Jem und Ophelia ein Bildnis. Das Miniaturporträt eines jungen Mannes mit goldenem Haar vor einem Hintergrund aus Flammen.
Der Hilliard. Ich wollte nach der Brosche greifen, doch ich stoppte mich im letzten Moment. Ich spürte Athenaides Blick. Warum war der Hilliard in einer Truhe auf Derbys Grab verborgen?
»Da waren Briefe«, sagte Matthew unruhig.
Ich las weiter. Zwei Briefe, um genau zu sein. Auf Latein geschrieben, aus Valladolid. Jem übersetzt sie hastig für Ophelia. Der erste Brief ist eine Danksagung für ein Buch und ein Manuskript. Das Buch sei wunderbar, sagt der Schreiber - zu wunderbar. Er sei froh, es erhalten zu haben, doch er werde es nicht mitnehmen können. Das Manuskript dagegen werde er immer bei sich tragen. Das Stück sei noch viel besser als erwartet. Er habe laut lachen müssen, und das könne er dort, wo er hingehe, gut gebrauchen.
»›Cardenio‹«, sagte Athenaide.
»Und die Folio aus Valladolid«, sagte Matthew.
Es passte alles zusammen, das musste ich zugeben. Trotzdem war der Brief kein eindeutiger Beweis. Der Schreiber hatte das Buch nicht beim Namen genannt.
Der zweite Brief kommt ebenfalls aus Valladolid, aber er stammt nicht vom gleichen Absender. Mit seltsam triumphierendem Bedauern wird darin berichtet, dass William Shelton mit einem Erkundungstrupp nach Santa Fe in Neuspanien gereist sei, wo er die Seelen der Wilden zum richtigen Glauben habe bekehren wollen, doch er sei nie zurückgekehrt. Seit einem Gefecht mit den Wilden werde er vermisst und sei wahrscheinlich den Märtyrertod gestorben.
Es habe geografische Angaben gegeben, schrieb Ophelia, aber sie habe sie vergessen.
Im gleichen Moment tauchen Jems und ihr Vater in der Kirche auf.
Papa stürzte mit zornesfunkelnden Augen die Treppe herunter, doch als er mich sah, schmolz sein Ärger, und er stand vor mir wie ein alter Mann. Und obgleich ich tausendmal beschlossen hatte, standfest zu bleiben, verließ ich Jems Seite und stellte mich auf die meines Vaters. Pfarrer Granville schritt an uns vorbei und baute sich vor Jem auf, dann schlug er ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, daß der arme Jem sich um die eigene Achse drehte und in der stinkenden Gruft zu Boden stürzte.
Ihre heimliche Hochzeit ist ungültig, wie sich herausstellt, weil Ophelia noch nicht mündig ist. »Am nächsten Tag heirateten sie ein zweites Mal«, sagte Athenaide leise, »und diesmal waren die Väter die Zeugen. Aber die beiden durften nicht als Eheleute Zusammenleben, bis Jem genug Geld verdiente, um sie zu ernähren.«
»Keine leichte Aufgabe für den jüngeren Sohn eines Pfarrers«, bemerkte Matthew.
»Er wurde vor die Wahl gestellt«, fuhr Athenaide fort, »Indien oder Amerika.«
»Und er wählte Amerika«, sagte ich.
Athenaide nickte. »Er machte sich auf die Suche nach dem Manuskript, das der Priester bei sich zu tragen versprochen hatte.«
Das Flugzeug hatte die Reiseflughöhe erreicht. Wir schnallten uns ab und setzten uns an den Konferenztisch, wo wir das Tagebuch vor uns aufschlugen und die Geschichte weiterverfolgten.
Diesmal soll die Trennung fünfzehn Jahre dauern. Doch anstatt in Selbstmitleid zu versinken, engagiert Ophelia einen Lehrer und lernt Spanisch und Latein. Sobald sie über ihr eigenes Geld verfügen darf, reist sie nach Valladolid. Im Royal College of St. Alban zeigt man ihr den dortigen Bestand - auch die Folio-Ausgabe - und schickt sie weiter zum Archivo General de Indias in Sevilla. Nach einer beschwerlichen Suche findet sie schließlich den Augenzeugenbericht eines Überlebenden und anbei eine primitive Landkarte. Sie fertigt von beidem eine Kopie an und reist zurück nach London, wo sie eine First-Folio-Ausgabe ersteht.
»Das jakobäische Magnum opus«, sagte Matthew feierlich.
»Sie besaß eine Folio?«, platzte ich heraus.
»Kein Original«, erklärte Athenaide. »Ein Faksimile. Aber ein besonders schönes.«
Ophelia setzt ihren Namen auf die Seite gegenüber von Shakespeares Porträt. Darunter schreibt sie die Widmung, die sie in der Folio von Valladolid gesehen hatte. Dann legt sie die Ergebnisse ihrer Nachforschungen in Spanien in das Buch und schickt es als verspätetes Hochzeitsgeschenk an Jem.
Sprachlos rieb ich mir die Schläfen, während Matthew weiterblätterte. »Spulen wir fünfzehn Jahre vor«, sagte er. In der Zwischenzeit war Ophelias Vater gestorben, doch sie bleibt in dem alten Haus in Henley, im Wald von Arden, wenn auch ohne die Verrückten. Ansonsten scheint nicht viel passiert zu sein - als hätte sie sich mit einer Spindel in den Finger gestochen und wäre in einen Zauberschlaf gefallen, dachte ich. Und dann schreibt Jem, er habe gefunden, was er suchte.
Er könne es ihr nicht bringen, sagt er. Noch nicht. Stattdessen will er, dass sie zu ihm kommt - nach Tombstone im Territorium Arizona. Zuerst glaubt sie ihm nicht. Doch dann findet sie heraus, dass er auch einen Professor aus Harvard eingeladen hatte - und dass der Professor zugesagt hat.
»Auftritt Professor Child«, sagte Matthew.
Ophelia packt die Koffer und fährt mit dem nächsten Schiff nach Amerika. Als das Schiff in New York einläuft, brechen die Tagebucheinträge ab.
Eine Seite weiter hatte Ophelia von Neuem begonnen. »Für Jem«, stand oben auf dem Blatt. Sie schrieb mit einer anderen Tinte, und ihre Schrift wirkte gehetzt. Es war die Zusammenfassung der Geschichte, die sie in Delia Bacons Papieren gefunden hatte. Die Geschichte der Howards.
Frances Howards Geschichte, schrieb Ophelia, war keine Dreiecksgeschichte. Eher ein Dodekaeder!! Bevor Frances Howard Robert Carr kennenlernte, doch nach ihrer Heirat mit Essex, hatte ihre Familie sie auf ein weiteres Ziel angesetzt: auf Heinrich, den Fürsten von Wales, den engsten Freund ihres Mannes.
Eine Zeit lang war der Fürst so hingerissen von ihr gewesen, dass bereits Gerüchte einer königlichen Hochzeit am Hof kursierten, bevor überhaupt das Annullierungsverfahren ihrer ersten Ehe eingeleitet worden war. Dann aber hatte Frances Robert Carr kennengelernt und war ihrem Herzen gefolgt, ohne ihre Familie zu unterrichten. Irgendwann erfuhr der Fürst, wie freigebig die Dame mit ihrer Zuneigung war, und beleidigte sie in aller Öffentlichkeit.
»Die Handschuhgeschichte«, sagte ich. »Ich hatte nicht gewusst, dass Frances Howard die besagte Dame war.«
Ophelia reimt sich zusammen, welche Auswirkung diese Wendung des Schicksals auf ›Cardenio‹ gehabt haben könnte. Denn in dem Stück ging es um eine loyale Frau, die vom besten Freund ihres Mannes - dem Sohn des Herrschers - bedrängt wurde. Als Allegorie auf Frances, Essex und den Fürsten verstanden, hätte es Frances Howard gerechtfertigt und den Fürsten verdammt.
Doch dann hatten die Howards herausgefunden, was dem Fürsten zu Ohren gekommen war: dass Frances sich mit Robert Carr vergnügte. »Carr - Cardenio«, sagte Athenaide wieder.
Sein Name im Stück stellte das Anliegen der Howards auf den Kopf. Wie die Dinge lagen, musste selbst ein Blinder mit Krückstock bei Cardenio an Carr denken und damit auch an den eifersüchtigen Fürsten - zu einer Zeit, da Frances immer noch durch Namen und Gesetz an Essex gebunden war. Statt sie als loyale Ehefrau darzustellen, der übel mitgespielt worden war, machte das Stück sie zum Gespött: als eine Frau, die mit zu vielen Männern herumpoussierte.
Es musste aufgehalten werden.
Doch nichts geschah. Im Januar 1613 wurde ›Cardenio‹ bei Hof aufgeführt. Und im Juni desselben Jahres nahmen die King’s Men das Stück mit über den Fluss auf die öffentliche Bühne: ins Globe Theatre.
»Und zwei Wochen später«, sagte ich, »brennt das Globe ab.«
»Lieber Himmel«, sagte Matthew nach einem kurzen Schweigen. »Ich habe die zwei Daten nie miteinander in Verbindung gebracht.«
»Aber warum?«, fragte Athenaide bestürzt. »Warum hat Shakespeare ›Cardenio‹ am Globe aufführen lassen? Warum riskierte er den Zorn der Howards?«
»Warum hat er es überhaupt geschrieben?«, hielt ich dagegen. »Es ergibt keinen Sinn. Was ich neulich gesagt habe, gilt immer noch: Shakespeare war kein Mann, der Allegorien liebte. Außerdem hatte er, soweit ich weiß, keinen Grund, den Howards einen Gefallen zu tun.«
»Vielleicht wollte er ihnen gar nicht schmeicheln«, sagte Athenaide langsam. »Vielleicht war das Gegenteil der Fall. Sie haben gesagt, ein Howard hat William Shelton ins Priesterseminar nach Valladolid geschickt. Wenn das wahr ist, wollte sich Shakespeare möglicherweise rächen.«
Dein ew’ger Sommer doch soll nie verrinnen. Ich spürte die Brosche in meiner Jacke und musste an Sir Henrys Stimme denken, als er die Zeile vorgetragen hatte. »Wir müssen das Stück finden«, sagte ich angespannt.
Matthew schlug die nächste Seite auf. Wieder ein Neuanfang, wieder eine andere Tinte. August 1881, stand am oberen Rand.
Mein lieber Francis,
Du hast mich gebeten, die Geschichte zu beenden, und dieses Versprechen wenigstens will ich halten.
»Francis?«, fragte ich. »Wer ist Francis?«
Matthew überflog die Zeilen.
Als Ophelia in jenem Sommer in Tombstone ankommt, muss sie feststellen, dass Jem bereits seit einem Monat vermisst wird. Alles was er ihr hinterlassen hat, ist eine kurze Nachricht:
Wenn ich könnte, würde ich Berge versetzen, um zu Dir zu kommen.
Das mußt Du wissen. Doch wenn Du diese Zeilen liest, waren die Berge am Ende zu schwer für mich.
Ps. Falls Du Zweifel hast, in meinem jakobäischen Magnum opus habe ich die Stelle chiffriert -1623, die Seite mit der Signatur.
»Deswegen ist das Buch so wichtig«, sagte Matthew. »Jem hat in einer Chiffre darin vermerkt, wo sein Schatz liegt.«
Ich beugte mich vor. »Athenaide. Die Rancher, denen Sie Ophelias Briefe abgekauft haben … hatten sie auch Bücher? Irgendwelche Bücher?«
Sie sah mich an. »Ja.«
»War eine First-Folio-Ausgabe dabei?«
»Kein Original. Ein altes Faksimile.«
Das musste der Band sein, den Ophelia Jem geschickt hatte. »Sie haben es gesehen?«
»Ich habe es gekauft.«
Ich sprang auf. »Sie haben das Buch? Sie besitzen es? Warum haben Sie mir nichts davon erzählt?«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass er auch Bücher hatte«, erklärte Athenaide kurz. »Aber Sie wollten nur seine Papiere sehen, und den einen Brief, den ich hatte, habe ich Ihnen gezeigt.« Bedächtig faltete sie die Hände. »Ich bin Sammlerin, Katharine. In diesen Dingen bin ich lieber übervorsichtig. Aber ich mache meine Fehler auch wieder gut. Wir fliegen hin, so schnell wir können.«
»Lies weiter, Kate«, sagte Matthew.
Ich griff nach dem Buch und ging beim Lesen in der Kabine auf und ab.
In Tombstone ist Ophelia der Hysterie nahe und verlangt zu Jems Wohnung gebracht zu werden, doch niemand will sie dorthin bringen oder ihr sagen, wo er gewohnt hat. Am Ende schickt die Wirtin, bei der Ophelia abgestiegen ist, einen Mann los, Jems Sachen zu holen.
Er kommt mit Büchern zurück. Ophelia schließt sich in die Wohnstube ein und hält die Seite mit der Signatur der Shakespeare-Ausgabe über eine Kerze, als eine Frau hereinpoltert, mit gelbem Haar, französischem Akzent und einem Dekollete, das höchstens bei einem Silvesterball schicklich wäre. Sie verlange ihr Eigentum zurück, behauptet die Blondine und reißt die Bücher auf dem Tisch an sich. Ophelia weigert sich, die First Folio Edition herauszugeben, und zeigt der Frau ihre Unterschrift auf dem Vorsatzblatt - Ophelia Fayrer Granville.
»Seinen Namen hat er vielleicht Ihnen gegeben«, zischt die Frau, »aber seine Liebe gab er mir.«
Innerhalb eines Augenblicks bricht für Ophelia eine Welt zusammen. Ohne zu wissen, was sie tut, stolpert sie aus dem Haus in den Garten und bleibt unter einer von dunkelgrünen Rosenblättern umrankten Laube stehen. Die Blütezeit ist längst vorbei, doch noch immer hängen trockene weiße Röschen zwischen den Blättern.
»Erlauben Sie mir, Ihnen Gesellschaft zu leisten«, sagt eine Stimme.
Anfangs dachte ich, Du wärst ein Elf oder ein Waldgeist, der sich im Rosenbusch verbarg. Doch dann sah ich zum ersten Mal die Güte unter Deinem weißen Bart. »Schicken Sie siefort«, bat ich, und Du verbeugtest Dich und gingst.
»Sie ist fort«, sagtest Du, als Du zurückkamst. Was Du im Garten an jenem Abend sonst noch sagtest, weiß ich nicht mehr, bis auf dies -daß die Lady-Banks-Rose der Hitze, der Kälte und der Trockenheit widersteht, die den meisten anderen Rosen den Garaus machen. Und doch blüht sie treu jedes Jahr aufs Neue, in süßer Überfülle.
»Francis«, sagte ich plötzlich. »Der Elf unter dem Rosenbusch war Francis Child.«
»Child von der Child-Bibliothek?«, fragte Matthew.
»Er hatte zwei Leidenschaften im Leben: Rosen und Shakespeare«, sagte ich. Mein lieber Francis, hatte Ophelia ihn angeredet.
Während der nächsten Tage brüten sie gemeinsam über Jems Folio, doch sie finden nichts. Als sie nicht weiterwissen, mieten sie Pferde und eine vierköpfige bewaffnete Eskorte und reiten in die Berge, um Jems Claims zu untersuchen.
»Das leuchtet ein, oder?«, fragte Matthew aufgeregt. »Wenn er etwas gefunden hat, musste er einen Claim abstecken.«
Matthew hatte recht. Ich habe etwas entdeckt, hatte Jem an Professor Child geschrieben. Nicht alles gleißt, was Gold ist, hatte er noch gesagt.
Doch Athenaide schüttelte den Kopf. »Ich bin überall gewesen«, sagte sie. »Bei jedem einzelnen Claim. Es ist nichts da. Keine Stollen. Keine Gräber. Keine Gebäude. Nichts, was sich im Entferntesten als das geheime Versteck eines Priesters aus dem 17. Jahrhundert eignen würde.«
Ungeduldig las ich weiter:
Du wirst Dich jener Tage erinnern, wie süß und heiß sie waren, und des letzten Nachmittags, als wir im Gras der Senke lagen, hoch über uns der Adler und die Männer hinter der Biegung des Flusses, die im Wasser tollten und lachten.
Ich will Dir sagen, woran ich mich erinnere. Nachdem ich fünfzehn Jahre gewartet hatte, lernte ich an einem einzigen Nachmittag, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden. Ich weiß, daß es unmöglich ist, doch ich sehe weiße Rosen vor mir, die auf uns herabschwebten wie duftender Schnee.
Als sie am Abend nach Tombstone zurückreiten, treffen sie auf halbem Weg eine schwer bewaffnete Rettungsmannschaft, die sie zurück in die Stadt eskortiert. Am Vorabend war der Apachenführer Geronimo ausgebrochen, er hatte im Schutz der Dunkelheit mit Mann und Maus das Reservat verlassen. Ein weiterer Apachenkrieger, der im Norden von Sonora kämpfte, hatte in New Mexico eine breite Schneise der Verwüstung angerichtet.
Ophelia und Francis wollen sich nur noch einen Claim ansehen -Kleopatra. Doch über Nacht hatte sich die Welt verändert. Niemand würde sie auch nur einen Kilometer hinter die Stadtgrenze begleiten, und erst recht nicht in die Berge. Sie können nicht einmal Pferde mieten und allein losziehen. »Verschwendung von guten Tieren«, knurrt der Mann und spuckt auf den Boden. Ihre Suche ist vorbei.
Nach einem einsilbigen Abendessen liegt Ophelia die ganze Nacht wach. Vor Anbruch des Morgens steht sie auf und zieht sich an. Die Shakespeare-Folio hinterlässt sie der Wirtin mit der Nachricht: »Für die blonde Frau.« Vor die Tür des Professors legt sie eine einzelne getrocknete Rose. Und dann geht sie.
Abrupt endete die Geschichte.
»Blättern Sie weiter«, sagte Athenaide.
Auf einer leeren Seite schwebte ein einzelner Satz.
Es wird ein Kind geben.
Die Worte tanzten vor meinen Augen. »Sie hat es ihm nie gesagt«, erklärte Athenaide leise. »Sie ging nach England zurück, nahm einen anderen Namen an und begann Vorlesungen zu halten, wie Delia einst, und auch sie hatte Erfolg damit. Doch sie kehrte nie zu Jems Claims zurück, und sie hat sich nie wieder mit dem Professor in Verbindung gesetzt. Sie hätte es nicht ertragen, dass man sie ansah, wie sie die blonde Frau angesehen hatte, schreibt sie, und auch den Gedanken nicht, dass die Frau des Professors fühlte, was Ophelia an jenem ersten Abend für Jem gefühlt hatte.«
Ich sah auf.
»Einen letzten Teil hat sie noch geschrieben«, sagte Matthew. »1929.« Er blätterte zum Ende des Tagebuchs vor, wo Ophelias Schrift wieder die Seiten füllte. Ich las den letzten Eintrag.
… ist längst eine wunderschöne Frau. Wenn sie nach ihrem Vater fragt, sage ich immer, sie sei Shakespeares Tochter.
Wahrscheinlich hätte ich wissen müssen, daß sie zum Theater gehen würde. Sie hat Erfolge in London und in New York gefeiert - auch wenn selbst das der Vergangenheit angehört. Manchmal frage ich mich, ob Du sie je gesehen hast und ob Dein Herz dabei in Deiner Brust pochte, ohne daß Du wußtest, weshalb.
Ich habe sie nach Shakespeare genannt, und nach den Rosen, die ihr Vater so liebte: Rosalind.
Rosalind Katherine Howard.
»Aber das ist Ros’ Name.« Plötzlich hatte ich ein flaues Gefühl im Magen.
»Ja, meine Liebe«, sagte Athenaide.
Am Ende der Seite stand ein letzter Satz:
Liebe find’t zuletzt ihr Stündlein,
das weiß jeder Mutter Kind.
Ich lehnte mich an Matthews Schulter und begann zu weinen.