25. KAPITEL

Die schmutzige Lektion des Herzens

Ich wusste nicht, wann ich eingeschlafen war, doch ich erwachte, als Bella sanft meine Schulter berührte. Noch etwas benommen hob ich den Kopf und sah Nathan. Er war zwar wach, aber aufgrund der Betäubung nicht ansprechbar. Vor Stunden hatte ich mich auf einen Stuhl an der Seite des Bettes gesetzt. Als ich schließlich vor lauter Erschöpfung in einen leichten Schlaf fiel, war mein Oberkörper neben ihn auf das Bett gesunken. Jetzt tat mir der Rücken weh, und kalter Speichel klebte auf meiner Wange. „Guten Morgen.“

„Wir müssen reden“, sagte sie ohne eine Spur von Humor. „Über das Ritual.“

Ich hatte nicht angenommen, dass sie sich mit mir über das Wetter unterhalten wollte, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt für sarkastische Bemerkungen. „Sag mir einfach, was ich tun muss.“

Sie führte mich in die Küche, wo Max und Cyrus warteten. Max reichte mir einen Becher mit Blut, und Cyrus stand auf, um mir seinen Stuhl anzubieten. Ich machte eine Bewegung mit der Hand, dass er sich wieder setzen sollte. Dann wandte ich mich an Bella. „Also, weih mich in die blutigen Einzelheiten ein.“

Im Prinzip klang die Form des Rituals ziemlich einfach. Trotz seines unberechenbaren Zustands bestand Bella darauf, dass Nathan nicht noch einmal betäubt wurde. Wenn er dann während des Rituals zu sich kam, konnte er bei vollem Bewusstsein davon profitieren. Aber weil er immer noch besessen und nicht wirklich in der Lage war, seine Zustimmung zu geben, würde Max für ihn einspringen, sozusagen als Stellvertreter oder als magischer Bevollmächtigter. Das Ganze kam mir seltsam demokratisch vor für ein magisches Ritual. Aber natürlich waren meine Vorstellungen des „Magischen“ von diversen sensationslüsternen Berichten über Hexen und Fernsehshows mit David Copperfield geprägt. Die Kombination rief ein seltsames Bild in meinem Kopf hervor: Max in einer Robe, deren Kapuze seinen Kopf verhüllte, schwenkte brennende Kräuterbüschel, während Bella mich in der Mitte durchsägte.

Ich verdrängte die Szene und versuchte, mich auf Bellas Instruktionen zu konzentrieren. Gott sei Dank hatte sie offenbar nicht bemerkt, dass ich mit den Gedanken woanders gewesen war. „Sie werden bei vollem Bewusstsein sein und merken, was um Sie herum vorgeht, aber Sie werden weder Ihren irdischen noch Ihren Astralkörper kontrollieren können. Es ist sehr wichtig, dass Sie nicht in Panik verfallen, wenn Sie dort sind.“

„Dort? Wohin gehe ich denn?“ Mir war nicht klar gewesen, dass Bi-Lokation oder Astralreisen oder ein anderes der entsetzlich langweiligen Themen, für die sich Nathan interessierte, Teil des Rituals waren. Und ganz sicher war ich nicht darauf vorbereitet, auf irgendeine dieser Arten tatsächlich an einen anderen Ort transportiert zu werden.

Bella zögerte und schaute zu Max und Cyrus, dann sagte sie: „Sie gehen zurück in die Nacht, als Marianne starb.“

Souverän winkte ich ab und schnalzte mehrmals leise mit der Zunge. „Kein Problem. Dort war ich schon einmal.“

„Aber du hast nicht alles durch ihre Augen gesehen“, warf Cyrus ruhig ein. „Bist du sicher, dass du das aushalten wirst? Ist dir klar, dass du durchleben wirst, wie Nolen dich tötet?“

Der Horror von Cyrus’ Worten schockierte mich bis ins Mark, aber ich zwang mich, meine tapfere Fassade aufrechtzuerhalten. „Müsst ihr mich so anstarren, als wären wir auf dem Weg zu meiner Beerdigung? Ich schaff das schon.“

Max blickte zu Bella und hielt sich die Hand vor den Mund, als ob er die Worte zurückhalten wollte, die er dann doch sagen musste. „Ich finde, wir sollten langsam machen und uns alles noch einmal gut überlegen.“

„Nein!“ Ich stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Behandelt mich verdammt noch mal nicht so, als wäre ich aus Glas. Wenn das Ritual Nathan hilft, dann bringen wir es jetzt hinter uns!“

Keine Ahnung, warum ich immer einen öffentlichen Wutanfall bekommen musste, damit meine Genossen in die Gänge kamen, wenn wir eine gewaltige Aufgabe vor uns hatten, aber allmählich ging es mir auf die Nerven. Sicher war es nicht fair von mir. Wahrscheinlich waren sie nicht so wie ich an schmerzhaftes Entkommen und aufregende Abenteuer gewöhnt. Ich fühlte mich welterfahren und ein wenig stolz, wenn ich die Sache so betrachtete, doch eigentlich hätte ich gerne meine Erlebnisse gegen ein paar Jahre voller Langeweile eingetauscht.

Bella erklärte mir den Rest des Prozesses ohne besondere Rücksichtnahme oder Zweifel an meiner Fähigkeit, an dem Ritual teilzunehmen, wofür ich ihr sehr dankbar war. Je länger sie redete, desto größer wurden meine Zweifel, und ein erneutes Angebot, das Ganze abzublasen, war das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte.

Um Mitternacht gingen Max, Bella und ich durch den Flur zum Schlafzimmer.

Cyrus blieb zurück, und als ich ihn fragte, was er während des Rituals tun würde, zuckte er mit den Schultern und sagte: „Vielleicht lege ich mich aufs Ohr.“

„Ich hielt es nicht für klug, ihn in das Ritual einzubeziehen, da er ja beteiligt war an dem ursprünglichen … nun ja.“ Bella räusperte sich und strich ihr Hemd glatt, dann legte sie die Handfläche auf die Tür. „Seid ihr bereit?“

„So bereit wie möglich“, sagte Max, wobei er seinen Kopf zur Seite rollte und den Nacken dehnte. „Was ist mit dir, Carrie?“

Ich holte tief Luft. In Kürze würde ich meinen Körper vollständig einer schon längst verstorbenen und wahrscheinlich nicht gerade freundlich gesinnten Geisterfrau überlassen, mit deren Mann ich in den letzten beiden Jahren geschlafen hatte. „Fangen wir an.“

Bella drückte die Tür auf und gab uns Zeichen, still zu sein. Nathan schlief tief und fest, und ich betete, dass er nicht zu früh aufwachte. Wir konnten es uns nicht leisten, dass etwas schieflief.

Wir nahmen die Plätze ein, die Bella uns vorhin angewiesen hatte, Max an Nathans Seite, ich auf dem Boden kniend am Bettende. Dann ging sie einen unregelmäßigen Kreis von einer Seite des Bettes zur anderen, wobei sie eine Linie aus weißem Sand aus einem Tonkrug streute. Der Kreis wurde durch das Bett selbst unterbrochen, doch sie streute die Linie direkt auf die Kissen, als ob es vollkommen normal wäre, zwei Händevoll Dreck auf ein Bett zu werfen.

In die vier Ecken des Zimmers platzierte sie vier Kerzen, trat dann in den kleinen Kreis. Dort ging sie hin und her und verteilte Rauch von einem brennenden Büschel Kräuter mit einer langen braunen Feder. Mit leiser Stimme, die weniger beeindruckend klang als die mächtigen Stimmen der Zauberer im Kino, sagte sie einfach: „Ich weihe diesen Raum und suche, nur Gutes darin zu tun.“

Max und ich schauten uns skeptisch an, und in mir regten sich unbehagliche Zweifel. Das hier fühlte sich zu sehr an wie ein selbst erfundenes Spiel, mit dem ein junges, gitarrespielendes Hippiemädchen seine Muse anrufen würde. Ich ermahnte mich eisern, dass Bella als Einzige wirklich eine Lösung gefunden hatte.

Über jeder der Kerzen, murmelte sie eine Beschwörungsformel und bat die Geister jeder Himmelsrichtung, ihre Kräfte unserem „Kreis“ zur Verfügung zu stellen. Als die Kerzen brannten und der Kreis geweiht war, reichte sie Max und mir jeweils eine dicke weiße Kerze.

„Nimm ihn an die Hand“, wies sie Max an. Dann nahm sie einen Bergkristall aus ihrer Tasche und hielt ihn mit der Spitze nach unten über ihrem Kopf. „Fea, Anubis, Hades, Luzifer, Kephas und alle Hüter der Unterwelt und des Lebens nach dem Tod mit euren mannigfaltigen Namen, tretet zu uns in diesen Kreis.“

Sie ging in die Knie und brachte dabei den Kristall in einem weiten Bogen nach unten, sodass er den Boden berührte. Die Kerzen flackerten und warfen unheimliche Schatten an die Wände. Ich hatte mich sicher in dem unsteten Licht getäuscht, aber ich hätte schwören können, dass sich der umrisshafte Kopf eines Schakals in einer der dunklen Ecken erhob und ein Rabe über die Decke flatterte. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Als ich den anderen nachdrücklich versicherte, dass ich der Aufgabe gewachsen war, hatte ich mir nicht wirklich vergegenwärtigt, wie ernsthaft dieses Ritual wirklich war.

Du tust das für Nathan, erinnerte ich mich und wandte den Blick weg von den schattenhaften Formen, die über uns zu wachsen und sich zu vermehren schienen, während wir hilflos in dem Kreis standen.

„Bella …“, sagte Max, und sein raues Flüstern durchbrach die Stille im Raum.

Doch es herrschte nicht wirklich Stille. Eine seltsam vibrierende Spannung lag in der Luft und erfüllte den Kreis mit einem lauten, tonlosen Lärmen.

Bella hob die Hand, um Max zum Schweigen zu bringen, dann bedankte sie sich mit gemurmelten Worten bei jeder Gottheit, die sie gerufen hatte. Fea, die keltische Göttin mit den drei Gesichtern. Anubis, Gott des Todes. Hades, Herr der Toten. Luzifer, Abtrünniger Gottes. Satan, wenn ich mich richtig an meine katholische Erziehung erinnerte. Wenn die Geschichten über ihn stimmten, verstand ich nicht recht, warum er auf unserer Seite stehen sollte. Die kleinen Härchen in meinem Nacken hatten sich aufgestellt. Ich redete mir ein, dass ich die Wesen, die Bella eingeladen hatte, nicht fürchten musste. Im Grunde war ich ja selbst tot. Trotzdem konnte ich die bösartige Wolke, die mich zu umgeben schien, nicht ignorieren. Eine Million Finger schienen aus der Dunkelheit nach mir zu greifen und sich um meinen Hals zu legen, mir die Luftröhre und meine Arterien abzudrücken. Ich dachte an Cyrus’ Klauen, die mir bei unserer ersten Begegnung in der Leichenkammer die Kehle aufgeschlitzt hatten und wollte nur noch wegrennen.

Auch Max schien sich nicht ganz wohlzufühlen. Seine Schultern waren angespannt, als ob er sich gerne den Nacken gerieben hätte, doch er hatte keine Hand dafür frei. Nathan bewegte sich, ein langes Bein kam unter der Decke hervor und rutschte über die Bettkante. Er murmelte etwas, wurde immer aufgeregter und seine Stimme klang immer eindringlicher. Doch erst als er sich auf den Laken hin- und herwarf und laut schrie, konnte ich verstehen, was er sagte. Es war ein Gebet zum Erzengel Michael.

„Das wird ihnen nicht gefallen“, flüsterte Max, als ob die Gottheiten um uns herum ihn nicht hören könnten.

„Er ist besessen“, erinnerte sie ihn, oder vielleicht auch die Geister. „Er beleidigt sie nicht wissentlich.“ Bella erhob die Stimme, um Nathans inbrünstiges Gebet zu übertönen. „Wir bitten ergeben um die Loslassung der Seele von Marianne Galbraith, die durch das Sakrament der Ehe mit der Seele dieses Mannes vereint ist.“

Ein kalter Stich fuhr mir bei ihren Worten durchs Herz. Vereint mit seiner Seele. Eine solche Verbindung erschien mir so viel stärker als das Blutsband. Wenn mein Herz zerstört wurde, verband Nathan nichts mehr mit mir. Marianne war vor Jahren gestorben, doch ihre Verbindung zu ihm war immer noch so stark, dass sie seine Gedanken kontrollierte. Das Band zwischen ihnen war so stark, dass es sie von den Toten zurückrufen konnte.

Letztendlich war mein Blutsband zu Nathan der Verwesung anheimgegeben. Die menschliche Seele – sie war unsterblich. Am liebsten hätte ich mich übergeben.

„Ich brauche jetzt Nathans Zustimmung“, erinnerte Bella Max.

Er stammelte und schaute zu mir, dann zu seinem Freund, der sich in Panik auf dem Bett wand. „Bella, ich bin mir nicht mehr so sicher. Carrie sieht gar nicht gut aus …“

„Du bist hier, um an seiner Stelle die Zustimmung zu diesem Ritual zu erteilen. Das ist deine einzige Funktion in diesem Kreis. Wenn du das nicht tun kannst, dann solltest du gehen!“, fuhr Bella ihn an. Ihre Augen blitzten hart und wütend, aber ihre Hände zitterten. Sie hatte Angst.

Und da ich sah, wie sie sich fürchtete, bekam ich noch mehr Angst.

Max schluckte und schaute mich an. Ich hätte gerne irgendetwas zu ihm gesagt, aber ich war mir nicht sicher, ob ich wollte, dass er das Ritual stoppte oder nicht. Etwas lähmte mich. Vielleicht war Marianne schon in mir, und das war der Grund, warum ich keinen klaren Gedanken fassen und mich nicht mehr bewegen konnte. Oder es waren nur Angst und Trauer, die mich daran hinderten.

Max räusperte sich und flüsterte: „Ja.“ Es war wie der Schlag des Hammers, nachdem der Richter das Urteil verkündet hat.

Mit einem warnenden Ton und einem unnahbaren Blick trat Bella nach vorn und entzündete Max’ Kerze. Dann wandte sie sich zu mir und bat auch um meine Zustimmung.

In diesem Moment kam meine Stimme zurück. Doch ich sagte nicht, ich hätte es mir anders überlegt, dieses Ritual sei nicht die Lösung. Ich öffnete den Mund und sagte ruhig: „Ja.“

Und dann hatte ich keine Kontrolle mehr über das, was mit mir geschah. Bella entzündete auch meine Kerze, doch sie trat nicht an ihren Platz zurück, sondern packte mich am Handgelenk und hob wieder die Kristallspitze über ihren Kopf. „Hüter des Lebens nach dem Tod, bringt nun die Seele von Marianne Galbraith in diesen Kreis.“

Bella schloss die Augen. Ihre Finger an meinem Handgelenk brannten wie Feuer. Ihr ganzer Körper schien mit einer unsichtbaren Macht zu vibrieren.

Ich holte immer wieder tief Luft, als wäre ich am Ertrinken und wartete darauf, dass die hohen Wellen über mir zusammenschlugen. Es wäre hilfreich, wenn ich wüsste, was jetzt passieren würde, doch über diesen Teil hatte Bella sich natürlich nicht ausgelassen. Die Spannung in der Luft dröhnte noch lauter. Nathan schrie inständig das Vaterunser, und ich schickte selbst ein kurzes Gebet zum Himmel.

Als das Warten unerträglich wurde, und es schon so aussah, als ob wir versagt hätten, trat Mariannes Seele in den Kreis. Ich konnte den genauen Moment spüren, als ihr Geist erschien. Nathan hörte für einen Moment auf zu toben, dann verfiel er in unkontrollierte Panik. Sein Körper bäumte sich auf dem Bett, gespannt wie die Sehne eines Bogens, und er brüllte, ein unendlich mitleiderregendes Schreien voller Schmerz und Angst. Ich hatte noch nie so etwas Schreckliches gehört. Er hatte furchtbare Angst, dass er sie wieder töten könnte. Ich erinnerte mich, wie er mich auf den Boden im Buchladen gepresst und mich mit einer Scherbe aus zerbrochenem Glas bedroht hatte. Er hatte sich nicht davor gefürchtet, mich zu töten.

Max war sichtlich erschüttert. Er umklammerte Nathans Handgelenk und wandte sich mit angstgeweiteten Augen zu Bella. „Wir müssen abbrechen!“

„Marianne Galbraith“, übertönte Bella Nathans Stimme. „Nimm diese leere Hülle und verfüge mit ihr nach deinem Gutdünken!“

Ich wollte mich aus Bellas Griff losreißen, doch sie zog mich nach vorn und drückte mir den Kristall auf die Stirn. Der Schmerz war so stark, als hätte sie mir den Kopf mit einer Axt gespalten. Die kühle, glatte Oberfläche des Steins fokussierte den Schmerz in einen dünnen Strang, der sich meinen Rücken hinunterzog, in meinen Körper reichte, sich in den Gliedern verzweigte. Der Strang wurde breiter, öffnete sich wie ein Teleskop, bis ich zum Bersten angefüllt war. Es gab keinen Platz mehr für mich in meinem Körper, und das Ding wuchs immer noch und drängte mich immer weiter zurück.

Meine Augen rollten nach oben. Als Letztes erblickte ich Max’ schreiendes Gesicht über mir, doch in meinen Ohren dröhnte ein entsetzliches Donnern, das jedes andere Geräusch auslöschte. Etwas flackerte silbern vor meinen Augen, und ich ging zu Boden. Das sanfte, einsaugende Gefühl, wenn meine Schöpfer mich in ihre Erinnerungen blicken ließen, war vielleicht etwas beunruhigend gewesen. Doch das hier war nur Schmerz und furchtbare Angst. Und dann – nichts mehr.

Als sie vor der großen Doppelflügeltür aus Eichenholz standen, musterte Marianne den Mann an ihrer Seite und verbarg nicht mehr, wie groß ihr der Unterschied zwischen ihnen erschien. Mein Mann ist so gut aussehend. Und ich bin fast eine Leiche.

Nolen warf ihr ein Lächeln zu und drückte ihre Hand. Sie kannte dieses Lächeln. Es war nicht das Lächeln, mit dem er sie verzaubert hatte, als sie jung und hübsch gewesen war, und ihr nicht jeder Schritt Schmerzen bereitete. Es war auch nicht das Lächeln, als sie sich ihm im Lagerraum des Ladens ihres Vaters hingegeben hatte. Dieses Lächeln hatte sie schon seit einem Jahr nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen. Nicht, seit ihr letztes Kind geboren war. Kurz danach war sie krank geworden.

Nein, jetzt lächelte er aus Mitleid. Nie wieder würde er sie wie früher ansehen, auch nicht, wenn dieser „Wunderheiler“ ihr helfen konnte.

„Sehe ich wirklich präsentierbar aus?“ Marianne spielte mit der schweren Kette, die um ihren Hals lag. Wie oft willst du mich noch auf Kosten meines Vaters um die halbe Welt schleppen? Wie viele sinnlose Heilungsversuche muss ich noch über mich ergehen lassen, bevor du mich sterben lässt?

„Du bist wunderschön.“ Er lächelte und berührte den schweren Anhänger an ihrer Kehle. Ihre Haut berührte er nicht mehr. Er war gut darin geworden, ihren Körper nur dann anzufassen, wenn ein gesundheitlicher Grund es verlangte. „Auch wenn ich nicht finde, dass es dir steht. Aber es ist ein achtbares Zeichen. Niemand würde so ein Schmuckstück einfach weggeben.“

„Doch, wenn es ein Geschenk zur Abwehr von Krankheit ist.“ Das Ding war zu schwer. Ihre Schultern schmerzten. Wie würde er reagieren, wenn sie hier auf der Schwelle zusammenbrach und gleich den guten Eindruck ruinierte, den er machen wollte?

Ein Wunderheiler. Ich muss erst wieder an Wunder glauben können. Sie hatte es ihm nicht gesagt, aber sie glaubte nicht mehr an Gott. Jede Nacht, wenn er ihre Hände hielt und sie zusammen ihre Gebete sprachen, rezitierte sie nur leere Worte. Sie war zu wütend, um mit dem Herrn oder der Jungfrau Maria zu sprechen. Es galt als heilige Aufgabe, die Schmerzen Christi zu erdulden, doch an ihren schlimmsten Tagen, wenn der Krebs mit seinen ätzenden Klauen selbst ihre Knochen aufzulösen schien, beneidete sie Christus. Seine Leiden hatten nur zwei Tage angedauert. Und sie brachte es nicht über sich, die Gesegnete Mutter Gottes zu verehren. Wofür sollte Marianne sie preisen? Maria hatte den Verlust eines geliebten Sohnes ertragen müssen, aber Marianne war fünfmal durch diese Hölle gegangen, und sie hatte keines ihrer Kinder bei sich behalten können. Sie hatten in ihr den Berg Golgatha erklommen und waren in einem Blutsturz in den Himmel aufgestiegen. Die Frucht ihres Schoßes war weniger heilig, sie gebar die Krankheit, die sie jetzt von innen heraus zerstörte.

Nolen glaubte immer noch, dass Gott ihnen ein Wunder schenken würde, dass ihnen eine glückliche Zukunft nicht genommen, sondern sie nur weiter in die Ferne gerückt war. Um ihrem Mann Frieden zu verschaffen, spielte sie die Rolle der frommen Leidenden.

Die Tür vor ihnen öffnete sich. Marianne hatte angenommen, dass Jacob, Simon und Simons schöne junge Frau, Elsbeth, da sein würden. Sie hatten sich schon zweimal getroffen, als sie beide in der Villa zum Abendessen eingeladen worden waren. Oh, Nolen war viel öfter als sie hier zu Gast gewesen. Jacob hatte ein fast väterliches Interesse für ihn entwickelt, ihm Einladungen geschickt mit den Worten, er solle abends vorbeikommen und seine kranke Frau zu Hause ruhen lassen. Sie wusste nicht, was in diesen Nächten geschehen war, aber die Gruppe schöner, gelangweilt aussehender Menschen am Tisch überraschte sie. In ihren Augen lag ein seltsamer Hunger, als sie Marianne eindringlich musterten. In einem überwältigenden Moment der Klarheit merkte sie, dass etwas hier ganz und gar nicht in Ordnung war.

Doch ihr blieb keine Zeit mehr, ihre Intuition in die Tat umzusetzen und zu fliehen. Vor ihren Augen verwandelten sich die Gäste, die ihr gerade noch so beeindruckend und imposant erschienen waren, in Dämonen.

In Mariannes Welt gab es nichts mehr außer Klauen und Reißzähnen. Sie rissen und bissen in ihr Fleisch, aber sie hieß den Schmerz willkommen. Er fühlte sich so anders an als die Krankheit, die ihren Körper langsam verbrannte. Es ging schneller. Es war besser so.

Und dann lag sie im Sterben. Selbst als sie Gott schon aus ihrem Herzen verbannt hatte, bat sie ihn noch um den Tod, und jetzt wurde ihr dieser Wunsch erfüllt. Ihre Sicht schwand und kehrte wieder wie eine Welle, die über den Strand spült, aber es war nicht beängstigend. Sie war eher enttäuscht, als ihre Sehkraft sich wieder einstellte, denn sie wollte wissen, was auf der anderen Seite der Dunkelheit lag. Sie wollte wissen, ob sie für ihren Unglauben verdammt wurde, oder ob sie doch recht gehabt hatte. Der Lohn für ihre Leiden schien zum Greifen nah, doch dann wurde er ihr grausam entrissen. Schmerz explodierte in ihrem Kopf, als sie auf dem Boden aufschlug. Die tastenden Hände hatte sie fallen lassen.

Sie waren allein mit demjenigen, den sie unter dem Namen Simon kannte. Nolen betete, er rief Maria und den Erzengel um Hilfe an gegen den Dämon, der ihn in den Armen hielt. Simons Hände streichelten ihren Gatten, als wäre er sein Liebhaber. Gib dich ihm hin, drängte sie Nolen wortlos. Dann ist es bald vorbei. Du wirst ihn langweilen und er tötet dich.

Aber Simon hatte nicht vor, Nolen mit Gewalt zu nehmen. Er wollte ihm etwas viel Niederträchtigeres zufügen. Mit sanften, zärtlichen Berührungen wollte er ihn verführen, damit er aus erzwungener Lust in den Liebesakt einwilligte, und Nolens eigener Körper ihn verriet, weil er Vergnügen empfand bei dieser unverzeihlichen Sünde.

Das ist meine Schuld. Trauer ergriff sie, und sie bereute ihre Bitterkeit. Es war ein prächtiger Moment, um ihre Liebe wiederzufinden, eine Weltreise entfernt von ihrer Heimat, kurz vor ihrem Tod.

Simon ließ sich Zeit mit Nolen, und Marianne war zu schwach, um sich abzuwenden. Ihr Gatte weinte, als Cyrus’ Mund und Hände ihn zitternd zum Höhepunkt brachten, während im selben Moment das Monster in ihn eindrang.

„Das hat Ihnen Ihr Gatte angetan, Marianne“, ächzte Simon, der vor Lust aufkeuchte, als er seine Hüften gegen Nolens Körper presste. „Sagen Sie ihm, wie sehr Sie ihn dafür hassen.“

Sie fand ihre Stimme wieder und flüsterte ein schwaches „Nein.“ Obwohl sie ihn verachtet hatte, liebte sie ihn. Sie würde nicht zulassen, dass er in dem Glauben starb, sie hätte ihn verspottet. Ihr Blick hing noch einen Moment an Nolens Fingern, die vergebens auf dem glitschigen Marmorboden nach Halt suchten. Dann schlossen sich ihre Augen.

Als das Leben langsam ihren Körper verließ, wünschte sich Marianne, dass sie die Kraft hätte, um ihre Freude hinauszuschreien. Bald würden sie beide aus dieser Welt scheiden, zu Tode gefoltert in den Händen dieser Monster. Und dann war sie frei von diesem Schmerz, der viel schlimmer war als alles andere. Sie musste nicht mehr in dieser sterbenden Hülle auf der Erde wandeln, sie musste nicht mehr zusehen, wie sie sich in den Augen ihres Gatten von einer begehrenswerten Frau in eine unberührbare Märtyrerin verwandelte.

Ich musste es Nathan sagen. Der Gedanke schreckte mich auf, vor allem, weil er mir glasklar durch den Kopf schoss. Ich wusste sofort, wo ich mich befand und was vor sich ging, aber wo war ich gewesen? Ich hatte alles gesehen, aber es war nicht ich selbst gewesen. Marianne hatte wirklich meinen Körper übernommen. Als sie nun in der Vergangenheit starb, entglitt ihr die Kontrolle.

Mit aller Konzentration gelang es mir, mich ein wenig von ihrer flackernden Seele abzulösen. Schmerz hielt mich wie ein Netz aus silbernen Fäden, doch ich kämpfte mich durch sie hindurch. Es war, als müsste ich in knietiefem Wasser rennen, aber der Kampf lohnte sich. Ich konnte Geräusche aus meiner eigenen Zeit hören, und zwar Bella, die mir befahl, nicht länger dagegen anzukämpfen.

„Es ist wichtig.“ Ich erkannte meine eigene Stimme nicht. War es Mariannes Stimme, oder war ich immer noch Marianne, die Carries Stimme nicht kannte? Wo endete sie? Wo begann ich?

„Ich möchte sterben.“ Nun spürte ich den Teppichboden unter meinen Knien, gleichzeitig lag ich mit dem Rücken auf kühlem Marmor. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich schüttelte Mariannes Kopf, und sie schüttelte meinen. Ich richtete mich auf wackligen Beinen auf, während sie sich daran freute, wie kräftig meine waren. „Nolen, ich möchte sterben.“

Wir waren allein im Speisezimmer des Souleaters. Nathans Bett stand nun dort, und er war mit Handschellen daran gefesselt. Aber in seinem Gesicht war keine Spur des Wahnsinns zu sehen, der ihn gequält hatte.

Ich berührte ihn mit Mariannes Hand, spürte seine Haut in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Sein Hals zuckte, als er schluckte, und eine Träne lief ihm über das Gesicht. „Ich will dich nicht wieder töten. Ich muss dich immer töten, wenn ich die Augen schließe.“

„Du kannst mich nicht länger bei dir behalten. Es tut weh, wenn ich in diesem Körper bin.“ Hatte ich das gesagt, oder war sie es, die sprach? Redete sie von der Vergangenheit oder von dem, was sie gerade durchlebte? „Es hat so wehgetan, Nolen. Du hast meine Gebete erhört. Du hast mir den Tod geschenkt. Nun lass mich gehen.“

In der Vergangenheit hatte eine Geisterhand sich um Mariannes Handgelenk gelegt, während sie die Hand nach ihrem Gatten ausstreckte, um ihn zu befreien. In der Gegenwart hielt Max meinen Arm zurück, als ich Nathan die Fesseln abnehmen wollte.

„Lass sie“, drängte Bella, und dann war Nathan frei.

Erst kämpfte er dagegen an, versuchte, den Wahnsinn zurückzuhalten. „Ich kann nicht. Ich will, dass du bei mir bleibst.“

„Du kannst mich nicht haben.“ Ich hörte meine Stimme, die mit einem weichen schottischen Akzent sprach. Es war Mariannes Stimme. „Töte mich. Zum letzten Mal. Lass uns beide frei sein.“

Als er ihren Körper in seine Arme schloss, bekam ich fast keine Luft mehr. Als seine Reißzähne meinen Nacken durchbohrten, schrie sie seinen Namen.

Tränen liefen ihm über sein Gesicht, während er mein Blut trank. Dieser Teil gehörte unverwechselbar zu mir. Auch wenn Mariannes Seele meinen Körper kontrollierte, und mein Bewusstsein zwischen ihren Erinnerungen und Gedanken umherstrich, war es sein Blut, das er aus meinen Adern trank. Es musste ihm wie Hohn erscheinen, als er es schmeckte, aber dadurch erkannte er die Wahrheit und konnte sie akzeptieren. Egal, wie oft er diese Nacht wieder und wieder durchlebte, er konnte nicht ungeschehen machen, was er getan hatte, doch jetzt wusste er, dass er sich deswegen nicht schuldig fühlen brauchte.

Als ich starb, hauchte auch Marianne ihren letzten Atemzug aus, aber ich fiel aus größerer Höhe. Ihre Augen schlossen sich auf dem Boden von Cyrus’ Tanzsaal, ihr zweiter Tod war eine noch größere Erleichterung als der erste, und dieses Mal starb sie mit dem Namen ihres Mannes auf den Lippen.

Mit einem Ruck erwachte ich, als ihre Seele meinen Körper verließ, und ich zitterte heftig, da mir Nathan zu viel Blut ausgesaugt hatte. Seine Lippen lagen noch an meinem Nacken, aber er trank nicht mehr. Er küsste mein verwundetes Fleisch und weinte, wobei er mich an seinen harten Oberkörper presste.

„Sie ist tot“, hörte ich Bella sagen, und einen schrecklichen Moment lang dachte ich, sie meinte mich.

Nathan hob den Kopf. Er schaute mir in die Augen, und sein Blick wurde kalt. Eis legte sich um mein Herz. Ich war nicht die, die er wollte. Für eine Sekunde hatte er wieder seine Frau in den Armen gehalten. Jetzt war sie fort, und nur ich war ihm geblieben.

Allerdings musste ich ihm zugutehalten, dass er seinen Schmerz schnell maskierte. Er versuchte, für mich zu lächeln, und tat so, als ob er vor Freude weinte, weil er wieder mit mir vereint war. „Habe ich dir wehgetan?“

Mehr als du ahnst. Ich wusste nicht, ob meine Stimme meinen Schmerz verraten würde, deshalb antwortete ich nicht. Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung und versuchte aufzustehen.

Ich brach zusammen, aber Max fing mich auf. Statt mir ein paar aufmunternde Worte zu sagen, flüsterte er: „Ich hätte dich das nicht tun lassen dürfen.“

Auch er hatte es gesehen. Er hatte Nathans Enttäuschung gesehen, als er merkte, dass nur ich diejenige war, die in seinen Armen lag.

„Ich versorge Nathan, kümmere du dich um sie.“ Bella gab noch immer Instruktionen.

Ich wollte auf sie einprügeln, ihr das Gesicht zerkratzen oder sie anbrüllen, aber ich war zu schwach, und es war auch nicht ihre Schuld. Sie hatte versprochen, dass sie Nathan von dem Zauber des Souleaters befreien würde, und genau das hatte sie getan. Sie hatte nicht garantiert, dass ich dabei weder verletzt noch mich sonst irgendwie ausgebrannt fühlen würde.

Max hob mich vom Boden und trug mich ins Wohnzimmer, wo er mich auf die Couch legte. „Ich mach jetzt erst mal etwas Blut für dich warm.“

„Besser, du lässt mich gleich ganz ausbluten.“ Es sollte wie ein Witz klingen, doch die Vorstellung erschreckte ihn, das war deutlich in seinem Gesicht zu sehen.

„Sag das nicht. Du bist nur total durch den Wind nach dieser Tortur.“ Max drückte meine Hand. „Ich kann mir nicht vorstellen, was du gerade durchgemacht hast.“

„Es war die Hölle.“ Ich konnte kaum sprechen und musste husten, wobei etwas Feuchtes auf meine Lippen spritzte. Als ich es wegwischen wollte, sah ich, dass es Blut war.

Max ging in die Küche und machte dort einen schrecklichen Lärm. Er beeilte sich, als ob mein Leben davon abhinge, dass ich möglichst schnell Blut zu mir nahm. Wahrscheinlich war mein geschwächter Zustand sogar wirklich gefährlich. Aber es brauchte einiges mehr, um mich zu töten.

Die Dielenbretter im Flur quietschten, und Nathan trat aus dem Schatten. Seine Haare klebten ihm noch am Kopf, und seine Haut war von den Symbolen verunstaltet, die er sich vor Ewigkeiten, so schien es mir, eingeritzt hatte. Doch wenigstens war er halb angezogen und trug ein paar Jeans, außerdem war der wilde Hass in seinen Augen verschwunden.

Die Zärtlichkeit in seinem Gesicht brach mir das Herz, als er mir mit der Handfläche das Haar aus der Stirn strich. „Ich danke dir.“

„Geht schon in Ordnung. Ich war schon auf schlimmeren Dinner-Partys eingeladen.“ Ich lächelte schwach, aber innerlich zerriss es mich. Ich liebte ihn so, dass ich mich selbst, zumindest symbolisch, auf dem Altar seines Schmerzes opferte. Er verstand offensichtlich, was ich für ihn getan hatte, aber ich konnte nicht vergessen, wen er wirklich wollte. Ich würde niemals Marianne sein. Und er war nicht bereit, sie aufzugeben.

Und er wusste, dass ich es wusste. Er nahm meine Hand in seine und küsste meine Handfläche. „Hass mich nicht.“

„Ich kann dich nicht hassen. Ich liebe dich viel zu sehr.“ Ich kämpfte nicht länger gegen die Tränen an. Er hielt mich im Arm, aber es war ein bittersüßer Trost. Es war nicht genug für mich, ihn zu berühren, seinen Geruch einzuatmen, die Anziehung der Blutsbande zwischen uns zu spüren. Aber mehr würde ich nie von ihm bekommen.

Wenigstens waren wir uns jetzt im Klaren darüber.

Wieder quietschten die Dielenbretter, als Bella zu uns trat. Max kam aus der Küche, und Nathan ließ mich widerwillig los.

Ich wischte mir die Augen, als ich sah, dass Bella die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Nach allem, was ich gerade gesehen und durchgemacht hatte, konnte ich Nathan noch nicht erklären, warum Cyrus in unserer Wohnung war. Ich hatte noch nicht die Kraft dazu. „Vielleicht ist das jetzt nicht der richtige Moment …“

„Wo ist er?“ Bella ging in mein Zimmer. Sie machte das Licht an und stieß einen Fluch aus.

„Von wem redet sie?“, fragte Nathan, an dessen Schulter ich mich festhielt, um aufzustehen.

Ich wusste schon, wo er war, bevor sie mit dem gefalteten Papier in der Tür meines Zimmers erschien. Wir hatten keine Zeit, um auf Nathans Gefühle Rücksicht zu nehmen. „Sie redet von Cyrus. Und ich weiß, wohin er gegangen ist.“